Über das Buch:
Mason Rogers ist neu im Team der Küstenwache, doch für Rissi Dawson ist er kein Unbekannter. Düstere Geheimnisse aus der Vergangenheit verbinden die beiden …
Gemeinsam übernehmen sie die Ermittlungen, als ein Mitarbeiter einer Ölbohrinsel ums Leben kommt. Die Indizien legen nahe, dass es kein Unfall gewesen ist, sondern Mord. Als ein Tropensturm aufzieht und die Bohrinsel bedroht, beginnt ein gefährlicher Wettlauf gegen die Zeit. Allein auf sich gestellt, müssen Rissi und Mason alles riskieren, um die Identität des Killers aufzudecken – bevor er erneut zuschlagen kann.
Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Im deutschsprachigen Raum wurde sie durch ihre sehr erfolgreiche Alaska-Serie rund um die fünf McKenna-Geschwister bekannt. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.
Kapitel 7
Ein grelles Licht strahlte direkt in Rissis Gesicht. Instinktiv wandte sie den Kopf ab und blinzelte, als schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten.
»Endlich!«, grollte Chase.
Rissi starrte in die Richtung, aus der das Licht kam. Dann sah sie nach oben, um den Helikopter der Küstenwache zu suchen, aber über ihr waren nur der sternenlose dunkle Himmel und Stille.
Das Summen eines Bootsmotors drang an ihr Ohr. Ein Schlauchboot mit Außenbordmotor kam auf sie zu und hüpfte dabei auf der stürmischen Meeresoberfläche auf und ab.
Ein zweiter Scheinwerfer ging an und warf sein Licht auf die schwarzen Wellen, sodass die Bewegungen um sie herum sichtbar wurden.
Stachelrochen, wie Mason gesagt hatte.
Rissi war froh, dass es keine Aale oder Haie waren. Doch dann wurde ihr bewusst, dass all diese Rochen, die sie umgaben, giftige Stacheln mit Widerhaken besaßen. Schlagartig kehrte die Angst zurück.
Die Lichter wurden größer und heller, bis Rissi nichts mehr erkennen konnte. Sie hob die Hand.
»Die tun Ihnen nichts«, sagte ein Mann in dem Boot, als er neben ihnen war. Rotblonde Locken zeichneten sich gegen das grelle Licht des Scheinwerfers ab. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen aus dem Wasser.«
Hände packten Rissi unter den Armen und zogen sie nach oben. Mason umfasste ihre Hüfte und hob sie hoch, während der Fremde zog. Rissis Rücken bog sich über die runde Seitenwand des Schlauchboots und mit einem stechenden Schmerz in der rechten Seite fiel sie auf eine nasse Gummioberfläche.
Sie blickte zu einem zweiten Mann auf, der sich über sie beugte. Dunkle, glatte Haare, durchdringende Augen und ein paar Jahre jünger als der erste Mann. »Ich bin Nate«, sagte er. »Und das …«, er zeigte auf den Mann, der sie heraufgezogen hatte, »das ist Trevor.«
»Rissi Dawson«, sagte sie. »Danke.« Die Luft brannte in ihrer Lunge, während sie darauf wartete, dass Mason nach ihr ins Boot kletterte. Warum dauerte das so lange? Er war noch immer im Wasser. Wie konnte er sich so leicht an der Oberfläche halten, obwohl es aussah, als würde er sich kaum bewegen?
»Geben Sie mir mal einen der Scheinwerfer«, sagte Mason zu Nate.
»Okay.« Nate reichte den Scheinwerfer rüber.
Mason ließ den Lichtkegel über die aufgewühlten Wellen wandern und drehte sich dabei einmal langsam im Kreis. Dann ein zweites Mal … noch langsamer. »Komm schon … komm schon!«
Rissi zitterte in der kalten Nachtluft.
Warum kletterte Mason nicht ins Boot?
»Max muss noch im Heli sein.« Mason atmete mehrmals tief ein und aus.
Rissi erstarrte. »W…was hast du vor?« Er wollte doch nicht ernsthaft …?
»Runtergehen und ihn suchen.«
»Er ist nicht im Heli!«, rief Chase. »Bei dem Aufprall ist er rausgeschleudert worden. Ich habe versucht, ihn zu packen, aber alles ging so schnell. Er ist nicht mehr drin, Mann.«
Mason entfernte sich vom Schlauchboot.
»Irgendwo da unten muss er sein.« Er nahm noch ein paar tiefe Atemzüge. »Ich muss es wenigstens versuchen.«
Rissi stockte der Atem. Mach das nicht!
Mason tauchte ins Wasser. Das Letzte, was Rissi sah, waren seine Schuhsohlen, bevor er ganz unter der Oberfläche verschwand.
Chase sah kopfschüttelnd zu Rissi herüber. »Der Typ ist verrückt!«
Rissi schluckte. Während ihrer gemeinsamen Zeit als Teenager hatte er sich immer um andere gekümmert. Sogar, wenn es ihm selbst schadete. Sie schätzte diese Eigenschaft von ihm sehr, aber es machte sie zugleich nervös.
Bitte bring ihn zu mir zurück. Warme Tränen kullerten über ihre kalten Wangen. Und lass ihn Max finden, auch wenn es unmöglich erscheint.
Trevors Lichtkegel landete auf Chase mit dem immer noch bewusstlosen Joel im Rettungsgriff und dann auf Bob, der mit weit aufgerissenen Augen wild um sich schlug.
Geschickt manövrierte er das Boot so, dass es neben Chase und Joel hielt.
Trevor und Nate zogen beide Männer an Bord und begaben sich dann zu Bob, der jetzt endlich stillhielt.
Als er schließlich ebenfalls in dem Schlauchboot war, seufzte Bob laut – doch das Geräusch wurde gleich darauf von herannahenden Hubschrauberrotoren übertönt.
Der Helikopter der Küstenwache schwebte über ihnen und die Seitentür ging auf. Eine Frau stand dort und hielt die Haltestange umklammert. Rissi kniff die Augen ein wenig zusammen. Es war zu weit und zu dunkel, um sicher zu sein, aber die Figur und die langen dunklen Haare der Frau weckten in ihr die Hoffnung, dass es sich um Brooke Kesler handeln könnte.
Erleichterung durchströmte Rissi, bis sie über den Bootsrand blickte und Masons Scheinwerfer nicht mehr sehen konnte. Wie tief war er hinuntergetaucht?
* * *
Caleb ging im Büro auf und ab, wo sie sich alle versammelt hatten, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten. Alle wollten dabei sein, wenn der Anruf kam und sie hörten, dass Rissi und Mason in Sicherheit waren. Eine andere Option gab es nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass –
Caleb erstickte den Gedanken gleich im Keim.
Er räusperte sich und schüttelte die lähmende Angst ab, die ihn zu ersticken drohte.
»Warum dauert das so lange?« Er musste etwas tun – irgendwas –, um zu helfen.
»Sweet Home Alabama …«
Noah griff hastig nach seinem Telefon. »Rowley.«
Endlich. Caleb hielt die Luft an und suchte in Noahs Miene nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass es gute Nachrichten gab. Sie mussten gut sein. Rissi musste in Sicherheit sein. Und Mason auch. Auch wenn er von der offensichtlichen Verbindung zwischen den beiden nicht begeistert war, wollte er nicht, dass Mason etwas zustieß. Er gehörte zum Team.
Noah wandte ihnen den Rücken zu. »Ja«, sagte er. »Und?« Seine Schultern sackten einen Zentimeter. »Okay. Danke für den Anruf. Bitte sag Bescheid, wenn es was Neues gibt.«
Noah beendete das kurze Gespräch und drehte sich zu den anderen um. Caleb stand dicht vor ihm. Die anderen Kollegen saßen auf den Sofas gegenüber der Fallwand. Gabby Rowley – Finns Freundin und zudem Noahs Schwester – war dazugekommen, als sie von den Ereignissen erfahren hatte. Rissi und sie waren gute Freundinnen geworden, seit Gabby wieder in der Stadt war.
»Noah!«, fauchte Gabby jetzt. »Nun sag schon!«
Caleb holte Luft. Nur die Schwester seines Chefs durfte sich diesen Tonfall erlauben, aber er war froh, dass sie Druck machte. Der Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, während er wartete.
Noah sah sie der Reihe nach an. »Die Notrettung ist jetzt vor Ort.«
»Danke, Jesus«, sagte Emmy.
»Danke, Rettungsdienst«, fügte Logan hinzu. Er wollte doch wohl nicht ausgerechnet jetzt ihren Glauben mit seinen hartnäckigen Zweifeln kritisieren?
Emmy funkelte ihn an.
»Ich will nur sagen, ich bin froh darüber, dass die Notrettung da ist. Ehrlich«, beteuerte Logan. »Jetzt ist nun wirklich nicht der richtige Augenblick, um auf die Schwächen in euren Überzeugungen hinzuweisen.«
Caleb hielt es nicht mehr aus. »Ist Rissi okay?« Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Und Mason?«
»Brooke hat Rissi in einem Schlauchboot gesehen, als sie ankamen; es geht ihr gut.«
»Und Mason?«, wiederholte Finn und rutschte auf der Couch nach vorne.
Noah rieb sich die Nase. »Er war nicht in dem Boot. Mehr wissen wir im Moment nicht. Brooke hat Meldung gemacht, sobald sie dort waren, weil sie wusste, dass wir darauf warten. In den nächsten Minuten müssten wir mehr erfahren.«
Caleb schloss für einen Moment die Augen. Bitte lass es für alle gut ausgehen.
* * *
Zwei Rettungsschwimmer sprangen aus dem Helikopter und platschten ins Wasser. Wieder wurde Rissi komplett durchnässt, als das Wasser von ihrem Eintauchen aufspritzte.
Die beiden schwammen zum Boot.
»Alle in Ordnung?«, fragte Jason. »Ris? Mann, habe ich mir Sorgen gemacht.«
»Mir geht es gut«, antwortete sie.
»Du bist nicht verletzt?«, vergewisserte sich Brad.
»Ich habe nichts, aber zwei von uns fehlen. Einer ist nach dem Absturz nicht aufgetaucht – der Pilot, Max – und CGIS-Agent Mason Rogers. Er ist runtergetaucht und versucht, Max zu finden.«
»Ich würde ja sagen, das ist verrückt, aber wir reden hier von Mason«, sagte Jason, während er in das Boot kletterte und sich neben den noch immer bewusstlosen Joel kniete.
Rissi runzelte die Stirn. »Du kennst Mason?«
Jason nickte, während er Joels Puls fühlte. »Ich habe in Kodiak mit ihm zusammengearbeitet, bevor ich hierher versetzt wurde.« Er richtete sich auf. »Okay, wir haben einen Puls. Er atmet, aber es klingt angestrengt. Wir bringen ihn besser in den Heli, damit Brooke sich um ihn kümmern kann.«
Es war also tatsächlich Brooke. Rissi war erleichtert. Joel war in guten Händen.
»Ich will dich ja nicht ablenken«, sagte Rissi, »aber Mason ist seit mehr als zwei Minuten unten.« Ihre Knie zitterten. Wo blieb er nur?
Brad gab Brooke im Helikopter ein Zeichen. Gleich darauf wurde der Korb heruntergelassen und pendelte über den Meereswellen hin und her. »Mason hat gestern und heute Morgen um fünf Uhr eine Stunde mit uns trainiert«, sagte Brad. »Er ist ein guter Schwimmer. Und er weiß, was er tut.« Er sah zu Jason hinüber. »Ich suche Mason, während du Joel und ihn hier« – er zeigte auf Bob Stantons verletztes Bein – »raufbringst.«
»Alles klar«, nickte Jason.
Brad wollte gerade steuerbords vom Boot springen, als es hinter Rissi platschte. Sie drehte sich um und sah Mason, der keuchend Luft holte. Danke, Jesus. Adrenalin strömte durch ihre kalten Glieder.
»Mann. Das waren mindestens drei Minuten«, sagte Chase beeindruckt. »Sie haben echt was drauf in Sachen Tauchen.«
»Hast du den Piloten gefunden?«, fragte Jason.
»Leider nicht.« Mason schüttelte den Kopf und hievte sich ins Boot.
»Die Geschichten, die Jason über dich erzählt hat, sind also wahr?«, wollte Brad wissen.
Mason zog die Augenbrauen hoch und ließ sich neben Rissi nieder.
»Will ich wissen, was für Geschichten das sind?«, fragte sie.
»Nur ein paar von unseren Kodiak-Erlebnissen«, erwiderte Jason, während er mit geübten Handgriffen arbeitete. »Ein Kutter ist für euch unterwegs, aber diese beiden befördern wir im Korb.« Jason zog Joels Lider hoch und leuchtete mit einer dünnen Taschenlampe in seine Augen. »Brad, kannst du den Kollegen hier nehmen?«
»Sicher.«
»Vorsicht auf dem Weg zum Korb. Wir wissen nicht, was er für Verletzungen hat.«
»Alles klar.«
Brad sprang aus dem Schlauchboot und schwamm nebenher, während der Korb dicht über der Wasseroberfläche schwebte – durch die Öffnungen sprudelten bei jeder Bewegung die Wellen.
Jason hob Joel hoch, brachte ihn zum Bootsrand und schob ihn dann über die Kante. Brad schlang die Arme um ihn und schwamm rückwärts zu dem Korb, während Jason Bob Stanton für den Umstieg fertig machte. »Der Kutter kommt innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten und holt euch anderen ab.«
»Wir bringen Vorräte und Freiwillige zur Freedom«, erklärte Trevor und zeigte mit dem Daumen über die Schulter zu einem zwölf Meter langen Schiff, das jetzt ganz zu sehen war. Einige besorgte Menschen standen an Steuerbord. »Sie können mit zu unserem Versorgungsschiff, während sie auf den Kutter warten. Da ist es wärmer und bequemer als im Schlauchboot.«
Chase’ nasses Gesicht verzog sich gereizt. »Ihr kommt von der Freedom?«
»Ja.«
»Na, super.« Er legte den Kopf in den Nacken. »Wir sind bei den Ökofreaks gelandet.«
»Wir sind Wissenschaftler«, gab Trevor scharf zurück.
»Wir sind ein Forschungsschiff der Marine«, fügte Nate hinzu.
»Das der Dauntless von Anfang an Schwierigkeiten gemacht hat.«
»Warte mal«, sagte Trevor und wischte sich ein paar Regentropfen von der Brille. »Ihr gehört zur Dauntless?«
»Aber so was von.«
»Fantastisch.« Trevor schob die noch immer nasse Brille auf seiner breiten Nase höher. »Wir haben den Feind gerettet.«
»Hey! Feind?«, schaltete Rissi sich ein. »Ich glaube, das ist ein bisschen übertrieben.«
»Ich bitte Sie!«, schnaubte Chase. »Die demonstrieren die ganze Nacht, versuchen unsere Arbeit zu stören, hetzen die Leute auf …«
»Wir hetzen?« Trevors Stimme wurde lauter. »Das ist ja wohl die Höhe.« Er wandte sich zu Rissi um und zeigte auf Chase. »Die haben mit der Hetze angefangen.«
Chase straffte die Schultern. »Jetzt hören Sie auf, einen solchen Mist –«
»Es reicht!«, brüllte Jason. »Wir müssen diese Männer medizinisch versorgen. Wenn wir von hier weg sind, könnt ihr zwei euch streiten, so viel ihr wollt.«
»Stimmt. Sorry.« Chase hob entschuldigend die Hände.
»Ich entschuldige mich auch«, sagte Trevor. »Und wir müssen auch zurück zur Freedom und … mit unserer Forschung weitermachen.«
Chase hustete. »Mit der Belästigung der Dauntless, meinen Sie.«
Jason zog warnend eine Augenbraue hoch, während er Bob Stanton an Brad übergab, und die beiden Männer schwiegen mürrisch. Nachdem Brad den Verletzten angeschnallt hatte, zog Brooke den Korb in den Hubschrauber hinauf.
»Liegt die Freedom in der Nähe des Bohrschiffs?«, fragte Rissi.
»Ja«, antwortete Trevor zögernd.
»Könntet ihr uns hinbringen?«
Trevors Miene verfinsterte sich. »Ihr seid auch von der Firma?«
»Mason Rogers und ich sind Ermittler der Küstenwache. An Bord der Dauntless hat es einen Todesfall gegeben und wir sind auf dem Weg dorthin, um zu ermitteln.«
Trevor sah Nate an. »Einen Todesfall?«
Nate seufzte. »Das tut mir leid, aber leider überrascht es mich nicht.«
»Ein Mann ist tot«, warf Chase ein. »Da könntet ihr ja mal ein bisschen Respekt zeigen.«
»Respekt vor dieser Umweltsünde? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
»Nein. Respekt vor einem Menschenleben.«
»Die Bohrplattform schlechtzumachen, die ihn umgebracht hat, ist nicht respektlos. Wenn überhaupt, ist es eher das Gegenteil«, entgegnete Nate. »Immerhin ist das nicht nur eine riesige Umweltsünde, sondern auch einer der gefährlichsten Arbeitsplätze der Welt.«
»Schluss jetzt«, sagte Mason und blickte mit grimmiger Miene aufs Wasser hinaus. »Heute Nacht ist mehr als ein Mann gestorben. Das ist nicht der richtige Moment, um einander die Augen auszukratzen.«
Trevor und Chase verstummten, aber diesmal entschuldigte sich keiner von beiden.
Nate rieb sich die Augen und blickte zu dem Versorgungsschiff hinüber. »Der Kutter braucht nicht rauszukommen. Wir können euch zur Dauntless bringen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Jason. Als Nate nickte, wandte er sich an Rissi und Mason. »Ihr solltet euch wenigstens auf irgendwelche Verletzungen untersuchen lassen, bevor wir abhauen.«
»Mir geht es gut«, sagten Rissi und Mason wie aus einem Mund.
Jason schüttelte den Kopf. »Natürlich.«
»Mir auch«, fügte Chase hinzu. »Karl, der Doc auf der Bohrinsel, kann uns verarzten, wenn es nötig sein sollte.«
Jason überlegte einen Moment und seufzte dann. »Also sagen wir dem Kutter, dass er umdrehen kann, wenn ihr sicher seid?«
Rissi wollte etwas sagen, aber Jason hob die Hand und schnitt ihr das Wort ab.
»Egal.« Er schüttelte den Kopf und pfiff leise. »Ich kenne die Antwort schon.«
Vielleicht fand er Mason und sie anstrengend, aber es ging ihr wirklich gut – nur eine kleine Wunde, als sie sich beim Durchschneiden des Gurtes gepikst hatte, und ein Kratzer beim Verlassen des sinkenden Hubschraubers.
Rissi bewegte sich vorsichtig. Abgesehen von der Prellung an der Seite. Die Schnitte konnte sie leicht selbst verarzten. Im schlimmsten Fall hatte sie eine geprellte Rippe. So schnell wie möglich die Ermittlungen aufzunehmen, bevor irgendwelche Beweise verloren gingen, war jetzt ihre oberste Priorität.
Kapitel 8
Der Scherwind der Rotoren formte das Wasser zu langen, ausgedehnten weißen Flächen, als der Helikopter davonflog.
Das kleine Rettungsboot tanzte auf den Wogen und Salzwasser spritzte am Bug auf, bevor sie sich auf den Weg zur Taucherplattform des Versorgungsschiffes aufmachten.
Eine Frau Anfang dreißig mit braunen Locken, die zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden waren, bückte sich zu ihnen hinunter, um sie in Empfang zu nehmen. »Ihr Armen«, sagte sie und streckte Rissi die Hand entgegen.
Rissi ergriff die ausgestreckte Rechte. Die Hand der Frau war schmal und kalt.
Mason legte eine Hand auf Rissis Rücken, um sie zu stützen, und sie zuckte zusammen. Vielleicht hatte sie sich doch mehr verletzt, als sie gedacht hatte. Sie trat auf die metallene Taucherplattform und Mason folgte ihr.
»Ich heiße Gwyneth«, sagte die Frau, als Chase, Trevor und Nate ebenfalls an Bord gingen. »Wärmen Sie sich erst mal auf.«
Wenige Minuten später hatte Rissi eine kuschelige Decke um die Schultern gelegt und nahm den Becher mit Tee entgegen, den Gwyneth ihr hinhielt.
»Danke.« Sie schlang die Hände um den Becher und ließ die Wärme durch ihre zitternden Glieder strömen.
Dann sah sie zu Mason hinüber. Als sie die Schnittwunden auf seinen Handrücken sah, riss sie die Augen auf. »Was ist denn da passiert?«
Er blickte auf seine Hände hinunter und zuckte mit den Schultern. »Das kommt von dem Absturz.«
Als er sie vor der explodierenden Windschutzscheibe abgeschirmt hatte.
»Das ist nichts«, fügte er hinzu.
Rissi sah Gwyneth an. »Haben Sie einen Erste-Hilfe-Koffer an Bord?«
»Natürlich.« Gwyneth wandte sich der schlaksigen jungen Frau zu, die gerade in der engen Kombüse erschien. »Sarah, könntest du bitte mal den Verbandskasten holen?«
Sarah nickte und ihre zu einem Zopf geflochtenen blonden Haare fielen ihr über die Schulter.
»Das ist nicht nötig, ehrlich«, protestierte Mason.
Rissi ignorierte ihn. »Danke«, sagte sie und nahm den Verbandskasten entgegen.
»Ihr könnt unten die Kabine benutzen.«
»Danke«, wiederholte Rissi.
»Die Treppe runter und dann bis zum Ende des Ganges«, erklärte Gwyneth. »Da haben Sie mehr Platz und sind ungestört. Wir müssten die Freedom … und die Dauntless« – sie sprach den Namen der Bohrplattform mit offensichtlicher Verachtung aus – »in etwa einer halben Stunde erreichen.«
»Alles klar.« Rissi stand auf und wartete darauf, dass Mason sich ihr anschloss. Er wusste doch sicherlich, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte …
Er seufzte, erhob sich aber.
Rissi stieg die Treppe hinunter und ging zur Tür am Ende des Korridors. Nachdem sie die Ziehharmonikatür zurückgeschoben hatte, trat sie ein und tastete nach dem Lichtschalter, den sie beim dritten Versuch fand.
In dem Raum waren zwei Schreibtische an der Wand des Schiffes befestigt, dazu gab es zwei Stühle und zwei Laptops. Karten mit den Wanderrouten der Stachelrochen waren an einer Pinnwand über dem Backbord-Tisch befestigt.
»Die hätten wir vorhin gebrauchen können«, sagte Rissi.
»Wohl wahr.«
Sie zog einen der Stühle heraus. »Setz dich.«
»Ich würde ja widersprechen, aber –«
»Es würde eh nichts nützen.« Rissi lächelte, während sie den zweiten Stuhl ihm gegenüber platzierte.
Dann holte sie die Dinge aus dem Verbandskasten, die sie brauchte – Wundsalbe, Alkoholtupfer und Pflaster.
»Okay, wenn du dich jetzt um meine Hände kümmerst, brauchen wir den Arzt auf der Dauntless nicht mehr zu sehen. Abgemacht?«
Rissi zog den ersten Alkoholtupfer heraus. »Konzentrieren wir uns jetzt erst mal auf dich.«
Sie fing mit seiner linken Hand an.
»Das könnte brennen«, warnte sie mit Blick auf den Alkoholtupfer.
»Kein Problem«, erwiderte Mason.
Natürlich nicht. Nach den Schlägen, die er von Hank erhalten hatte, war ein bisschen Brennen für ihn sicher wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels.
Rissi wischte vorsichtig mit dem weißen Wattepad über Masons Wunden und vergewisserte sich, dass keine kleinen Glassplitter zurückgeblieben waren. So gering der Schmerz auch für ihn sein mochte, sie beugte sich instinktiv vor und blies auf seine Hände, um das Brennen zu lindern und –
Mason räusperte sich.
Sie blickte auf. In seinen grünen Augen lag etwas Unerklärliches. »Alles in Ordnung?«
»Klar«, sagte er, aber es klang gepresst.
Als Nächstes versorgte sie die Schnitte mit Wundsalbe und zum Schluss mit Pflastern. »So«, sagte sie und verstaute die restlichen Materialien wieder in der Tasche.
»Danke«, sagte er.
»Das war mal eine Abwechslung.«
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Wie meinst du das?«
»Dass ich für dich sorge und nicht andersrum.«
Seine Miene wurde weich und sein Blick suchte ihren. Die Luft zwischen ihnen war aufgeladen. »Du hast –«
»Klopf, klopf«, sagte Sarah an der offenen Tür. »Hier drin alles okay?«
»Ja«, nickte Mason, ohne den Blick von Rissi abzuwenden.
»Gwyneth hat frischen Tee für Sie gemacht. Kommen Sie und trinken Sie ihn, solange er noch heiß ist. Der wärmt Sie auf.«
Trotz der noch immer nassen Kleidung war Rissi alles andere als kalt.
Als sie die Bordküche betraten, drehte Gwyneth sich zu ihnen um. »Ich habe die Dauntless angefunkt, um ihnen zu sagen, dass wir drei von ihren Leuten haben.«
»Die sind nicht unsere Leute«, gab Chase zurück und runzelte die Stirn. Er warf seinen Blick zu Rissi und Mason hinüber. »Die sind Außenseiter.«
Mason legte den Kopf schief. »Das klingt jetzt fast so, als wollten Sie uns nicht an Bord haben.«
Chase hob seinen Kaffeebecher hoch. »Sie können das deuten, wie Sie wollen.«
Kapitel 9
»Was meinst du mit Sie kommt nicht zurück?« Caleb hatte Mühe, nicht laut zu werden.
»Du kennst doch Ris«, antwortete Finn. »Unabhängigkeit geht ihr über alles.«
Gabby stieß Finn mit einem Hüftschwung an. »Das klingt so, als wäre das was Schlechtes.«
Finn lächelte und küsste ihre Nasenspitze. »Es ist überhaupt nicht schlecht, aber manchmal ist es gefährlich.«
»Du willst also sagen, dass ich eine Gefahr bin?« Gabby lächelte ihn verführerisch an.
Finn schob seine Finger zwischen ihre. »So kann man es auch ausdrücken.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Darf ich fragen, wie du es ausdrücken würdest?«
»Kommt schon!«, brummte Caleb. Er gönnte den beiden ja ihr Glück. Wirklich. Aber an diesem Abend hatte er keinen Sinn für die zwei Turteltauben.
Er stapfte zu Noahs Schreibtisch. »Findest du es klug, dass Rissi und Mason zur Dauntless fahren, ohne sich von einem Arzt untersuchen zu lassen?« Noah hatte die Oberaufsicht in ihrem Team und in der Region. Er könnte die beiden zurückpfeifen.
»Wie Finn schon sagte: Rissi ist unabhängig und dickköpfig. Wenn sie das Gefühl hat, dass sie mit den Ermittlungen weitermachen kann, und Mason bei ihr ist der gleichen Meinung, dann verlasse ich mich auf die Entscheidung der beiden.«
Mason bei ihr. Die Worte taten weh. Caleb hatte bemerkt, wie Rissi Mason angesehen hatte – und wie der ihren Blick erwidert hatte.
Caleb seufzte. Er hatte zwei Möglichkeiten. Entweder er sagte Rissi klar und deutlich, was er empfand, und hoffte auf ein Wunder. Oder er litt stillschweigend vor sich hin, während er sich zurückhielt und zusah, wie die beiden einander immer näherkamen. Er hätte schon vor Monaten was sagen sollen, als seine Gefühle für Rissi sich von Freundschaft in – konnte er wagen, es so zu nennen? – Liebe verwandelt hatten. Er hatte eine unangenehme Situation bei der Arbeit vermeiden wollen, aber Rissi als erfahrene Psychologin musste doch wissen, was Caleb für sie empfand. Also sollte er sich wohl ein Herz fassen und die Unterhaltung mit ihr führen, die er vor sich hergeschoben hatte. Es war an der Zeit. Leider wusste er jetzt schon, wie sie ausgehen würde.
* * *
»Trevor hat mir erzählt, dass ein Mann auf der Dauntless gestorben ist. Was ist passiert?« Gwyneth drehte ihr Honigstäbchen zwischen den Fingern. Sie hatte Rissi auch eins für ihren Tee angeboten. Es war köstlich.
»Ich fürchte, wir können laufende Ermittlungen nicht kommentieren«, antwortete Rissi.
Gwyneth rollte weiter das Honigstäbchen zwischen ihren lackierten Fingernägeln hin und her.
Rissi konzentrierte sich auf den makellosen gelben Nagellack der Frau. Gwyneth war ganz anders, als sie sich eine Ökoaktivistin vorgestellt hatte. Nicht dass Aktivisten keinen Sinn für Mode haben durften, aber die Demonstrantinnen, die Rissi bis jetzt kennengelernt hatte, waren eher … nun ja, eher sehr natürlich gewesen. Keine von ihnen hatte neongelben Nagellack benutzt.
»Aber wenn es zweifelsfrei ein Unfall gewesen wäre, dann wären Sie nicht hier«, gab Gwyneth zurück, während sie Rissi in die Augen sah.
Rissi beschloss zu schweigen.
Gwyneth rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Es tut mir leid, dass jemand ums Leben gekommen ist, aber es war doch nur eine Frage der Zeit.«
Rissi neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Wieso das?«
»Weil diese Ölplattformen nicht nur eine große Umweltsünde sind, sondern auch zu den gefährlichsten Arbeitsplätzen der Welt gehören.«
Rissi fiel auf, dass Nate den gleichen Ausdruck benutzt hatte. Es klang so, als wäre das einer ihrer Glaubenssätze.
Gwyneth legte die Unterarme auf den Tisch. »Großen Ölkonzernen wie Textra geht es nur darum, Geld zu scheffeln. Denen sind Menschenleben egal.«
Rissi trank einen Schluck Tee und dachte über Gwyneths Worte nach, vor allem aber über die Körpersprache und die Mimik der jungen Frau.
Gwyneth war feindselig, temperamentvoll und ziemlich intelligent. Oder wenigstens vermittelte sie diesen Eindruck, ob es ihr bewusst war oder nicht.
»Ihr seid doch diejenigen, denen Menschenleben egal sind«, konterte Chase, als wollte er Gwyneth provozieren. »Euch sind Tiere doch wichtiger als Menschen und entsprechend interessiert ihr euch auch nur dafür.«
Rissi trank noch einen Schluck Tee. Die warme Flüssigkeit rann ihre ausgetrocknete Kehle hinunter, während sie abwartete, wie diese Unterhaltung sich entwickeln würde.
Mason hatte sich zurückgelehnt und nahm seinen Kaffeebecher, den Arm über die Arbeitsplatte hinter ihrer Bank gelegt. Sein Arm lag dicht über Rissis Schulter. Nah genug, sodass sie ihn spüren konnte, aber zu weit weg, um sie zu berühren. Auch wenn sie sich nach Letzterem sehnte.
Reiß dich zusammen, Mädchen! Du bist kein verliebter Teenager mehr. Du bist eine starke, vernünftige Frau. Auch wenn Masons plötzliches Erscheinen diese Gefühle wieder geweckt hatte. Wobei … wem wollte sie hier eigentlich was vormachen? Ihre Gefühle für ihn waren nie verschwunden gewesen. Wie das nach all den Jahren der Trennung möglich war, wusste Rissi nicht, aber es stimmte.
»Tiere sind unschuldig.« Gwyneths Stimme klang jetzt schärfer. »Im Gegensatz zu den meisten Menschen.«
Chase lehnte sich an die Küchenzeile und schnaubte verächtlich, während er den Kopf schüttelte. »Jetzt bin ich also schuldig. Wow. Sie sind wirklich unfassbar, Gwyneth. Die Jungs auf dem Bohrschiff reden alle von Ihrer Schönheit, aber sie wissen nicht, was für eine –«
»Immer anständig bleiben«, schnitt Mason ihm das Wort ab. »Es sind Damen anwesend.«
Chase’ Unterkiefer zuckte, als er die Lippen zusammenpresste. »Damen. Bei der hier würde ich zustimmen«, sagte er und nickte in Rissis Richtung.
Dann sah er Gwyneth an. »Aber die da ist ein Hai.«
Kapitel 10
Rissi war noch nie auf einer Bohrinsel gewesen und wusste nicht, was sie erwartete. Die Dauntless war die erste Ölplattform vor der Ostküste und Rissi hatte die Kontroversen bei ihrem Bau in den Nachrichten verfolgt. Aber die ganze Berichterstattung hatte sie nicht auf die Komplexität und Größe der Anlage vorbereitet, die über dem Wasser in den Nachthimmel hinaufragte. Es war, als hätte man eine Fabrik auf einen Tanker gebaut.
Ein Mann stand auf der Ladeplattform und wartete darauf, dass sie anlegten. Als Trevor das Versorgungsboot an den Metallsteg manövrierte, konnte Rissi den Wartenden besser erkennen. Eins siebzig vielleicht, würde sie sagen. Etwa achtzig Kilo. Kahlköpfig – sie wartete, bis Trevors Scheinwerfer sein Gesicht erfasste – blaue Augen. Sein zerklüftetes Gesicht verstärkte den kernigen Eindruck.
Der Mann hob seine mit Öl verschmierte, schwielige Hand und winkte.
»Ist das sein Ernst?«, schnaubte Trevor. »Der Typ bekämpft uns tagtäglich und jetzt winkt er uns zu?«
»Er begrüßt nicht uns«, widersprach Nate und deutete mit einem Nicken zu Rissi, Mason und Chase hinüber. »Er begrüßt sie.«
»Schön, dass Sie da sind«, sagte der Mann. »Klingt so, als hätten Sie einen furchtbaren Abend hinter sich.« Er gab Rissi die Hand.
»Das ist die Untertreibung des Jahres«, erwiderte Chase und schob sich an Rissi vorbei, um als Erster den Anleger zu betreten.
»Ladies first«, sagte der Mann mehr an Chase gerichtet als an Rissi, aber Chase drehte sich nur um und überquerte die hydraulische Plattform. Seine Miene war mürrisch.
Der Mann streckte die Hand aus und Rissi ergriff sie. »Danke«, sagte sie und betrat das schwankende Metall, während das Wasser über die Seiten schwappte.
Mason legte eine Hand stützend auf ihren unteren Rücken und ein Wimmern entwich ihren verräterischen Lippen.
»Alles okay?« Sein Flüstern streifte ihr Ohr.
Ihr Rücken schmerzte von den Prellungen.
Sie hasste blaue Flecken. Sie waren ein Zeichen von Schwäche. »Mir geht es gut.«
»Mhm«, machte Mason, während er sie prüfend ansah. Ihm konnte sie nichts vormachen. Hatte sie noch nie gekonnt, wenn sie verletzt war.
»Ed Scott«, stellte sich der Mann vor, der sie begrüßt hatte, und Rissi wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu.
»Special Agent Rissi Dawson vom CGIS.« Sie schüttelte seine Hand.
»Ich bin froh, dass Ihnen nichts passiert ist.«
»Da sind wir schon zu zweit«, sagte Mason. Er warf Rissi einen vielsagenden Blick zu, bevor er sich Ed zuwandte und ihm ebenfalls die Hand gab. »Mason Rogers.«
»Freut mich, Sir.«
Der Außenbordmotor brummte laut. Rissi drehte sich zu Trevor und Nate um, die gerade ablegten.
»Ich kann euch gar nicht genug dafür danken, dass ihr uns gerettet habt«, rief sie.
»Für Sie und Mason haben wir das gern gemacht«, rief Trevor zurück.
»Ist das euer Ernst?«, fragte Ed, die Hände auf den braunen Ledergürtel um seine Hüften gestemmt. »Ihr stichelt selbst heute noch?«, brüllte er. »Zwei Männer liegen im Krankenhaus und ein Pilot wird vermisst.«
»Und einen Toten gibt’s bei euch auf dem Schiff«, schrie Trevor zurück. »Wer ist denn wohl daran schuld?«
Ed machte eine verächtliche Handbewegung, während Trevor und Nate die etwa hundert Meter zwischen der Freedom und der Dauntless zurücklegten und ihr Boot hinter das Schiff lenkten.
Dann fuhr Ed sich mit einer Hand über seinen kahlen Schädel. »Lassen Sie sich von denen nicht ärgern«, sagte er. »Denen ist das Meeresgetier wichtiger als die Menschen.«
»Es gibt doch sicher Leute, die sich für beides interessieren«, antwortete Rissi. Jede Geschichte hatte zwei Seiten.
»An Bord der Freedom habe ich davon nichts bemerkt, aber ja, ich bin sicher, manchen ist beides wichtig. Mir zum Beispiel«, gab Ed zurück.
Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet. Nicht bei seiner Feindseligkeit gegenüber den Demonstranten auf der Freedom.
»Umweltaktivisten, zumindest die, denen ich begegnet bin, glauben, dass ich ein schlechter Mensch bin, dem die Natur völlig egal ist – nur weil ich für einen Ölkonzern arbeite. Doch das stimmt nicht. Textra Oil hält sich an die strengen nationalen und regionalen Auflagen.« Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Ich bin auf und im Wasser groß geworden. Mehr als Trevor jemals von sich behaupten kann.«
»Der Typ kann nicht mal schwimmen«, murmelte Chase.
»Echt nicht?« Rissi war erstaunt.
»Tatsächlich nicht.« Ed schüttelte den Kopf. »Neulich hat eine Gruppe an Bord der Freedom versucht, einen der Stachelrochen zu markieren, um seine Wanderroute nachzuvollziehen. Trevor hat sich zu weit vorgebeugt und ist reingefallen. Man hätte glauben können, die Welt geht unter. Gwyneth musste reinspringen und ihn retten.«
»Gwyneth ist …«, setzte Mason an.
»… auf jeden Fall interessant, um es mal so zu sagen«, beendete Ed den Satz.
»Sie scheinen die Leute von der Freedom ja ziemlich gut zu kennen«, bemerkte Mason.
»Die nerven uns auch schon lange. Seit ich auf der Bohrplattform bin, ist noch kein Tag vergangen, an dem sie uns nicht schikaniert haben. Selbst wenn wir unsere drei Wochen Freizeitausgleich nehmen, gibt es welche von denen, die uns auch an Land nicht in Ruhe lassen. Gwyneth stand irgendwann mal bei mir zu Hause auf der Matte und hat versucht, mich zu überzeugen.« Ed schüttelte den Kopf. »Dabei ist sie es, die keine vernünftigen Argumente gelten lässt.«
»Wie genau haben die Aktivisten Sie denn schikaniert?«, wollte Mason wissen.
»Abgesehen davon, dass sie rufen und Banner schwenken und Stinkbomben an Bord werfen?«, fragte Chase.
»Ja«, sagte Rissi, die verstehen wollte, wie tief die Feindschaft zwischen den beiden Gruppen ging.
»Heute Morgen, nachdem Mannschaft eins zum Heimaturlaub aufgebrochen war«, begann Ed, »ist Erik runtergetaucht, um sich eines der Steigrohre anzusehen, das immer eine Druckwarnung sendet. Dabei hat er entdeckt, dass zwei der Tarierungsplatten verkeilt waren. Deshalb haben wir Chase gebeten zu kommen.«
»Lass mich raten«, sagte Chase. »Gwyneth und Nate sind wieder unter der Plattform getaucht?«
»Zu welchem Zweck?«, fragte Mason. In seinen grünen Augen mit den grauen Flecken – wie winzige Unwetterwolken, dachte Rissi – lag Neugier.
»Sie behaupten, dass sie die Stachelrochen und andere Meerestiere beschützen, weil unsere Monsteranlage sie angeblich gefährdet.«
»Aber Sie glauben …?«, soufflierte Mason.
»Plötzlich muss eines unserer Steigrohre repariert werden? Sagen Sie es mir«, gab Ed zurück.
»Ich würde ihnen so was zutrauen – oder auch die Betriebsstörung, die Greg das Leben gekostet hat«, sagte Chase.
Rissi war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Das war eine direkte Schuldzuweisung.
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Mason. »Sie glauben also, dass Gwyneth oder jemand aus ihrem Team für Gregs Tod verantwortlich ist?«
Chase zuckte mit den Schultern. »Möglich ist es.«
Rissi versuchte, sich diese Möglichkeit vorzustellen.
»Aber ich fürchte, wir müssen diese Unterhaltung auf Eis legen, bis Sie alle Karl besucht haben«, sagte Ed.
»Karl?«, fragte Rissi. »Ist das der Arzt, den Chase erwähnt hat?«
»Genau.« Ed nickte.
»Danke, aber ich kann Ihnen versichern, dass mir nichts fehlt«, sagte Rissi und ignorierte den Schmerz in ihrer rechten Seite.
Ed lachte. »Ihr Vorgesetzter hat mich gewarnt, Sie würden das sagen.«
Rissi zog die Augenbrauen hoch. »Sie haben mit Noah Rowley gesprochen?«
»Er hat mich angefunkt, sobald ihm klar war, dass Sie nicht zurückgefahren sind, um sich durchchecken zu lassen. Wenn Sie sich nicht untersuchen lassen, soll ich Sie vom Schiff schmeißen.«
Sie musterte Eds undurchdringliche Miene. Der Mann meinte das ernst.
»Dann gehen wir also mal zu Karl«, sagte Mason und streifte ihre rechte Seite, als er wieder eine Hand auf ihren Rücken legte.
Rissi zog eine Grimasse und biss sich auf die Innenseite der Wange, um ein Stöhnen zu unterdrücken. »Mir geht es gut, Mason.«
Er senkte den Kopf ein wenig und blickte sie dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie konnte ihm nichts vormachen.
»Also gut.« Sie seufzte. »Bringen wir es hinter uns.«
»Super.« Ed wandte sich an Chase. »Okay, es kann losgehen.«
»Wird auch Zeit«, sagte Chase und betätigte den Stromschalter. »Ich hätte auch die Leiter an Backbord nehmen können.«
»Die Plattform ist sicherer«, antwortete Ed.
»Man kann genauso gut Leitern und Treppen benutzen, um das Bohrschiff zu verlassen.« Chase legte den Hebel um und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
»Haltet euch fest«, warnte Ed, während die Plattform ruckartig aufwärtsstieg.
Rissi umklammerte die Reling und Mason tat es ihr gleich. Chase verschränkte nur die Arme vor der Brust. So viel zum Thema feindselig …
Als sie auf dem obersten Deck angekommen waren, sah Rissi, dass ein anderer Mann dort wartete. Braune halbkurze Haare, wahrscheinlich ein paar Zentimeter kleiner als Ed, aber von ähnlicher Statur.
»Adam«, sagte Ed zu dem Mann, der höchstens eine Handvoll Jahre älter war als Rissi selbst. »Würdest du diese drei bitte sofort zu Karl bringen?«
»Natürlich.« Adam nickte.
»Ich verzichte«, sagte Chase.
»Nein«, entgegnete Ed. »Tust du nicht.«
»Ich arbeite nicht für dich.« Chase’ Stimme war so kalt wie die Meeresluft, die sie umgab.
»Du stehst bei Textra unter Vertrag, ganz zu schweigen davon, dass du auf der Gehaltsliste der Firma stehst. Also musst du dich auch an die Firmenregeln halten.«
Chase lachte freudlos. »Hierfür gibt es eine Regel?«
»Wenn du einen Unfall hattest oder irgendwie verletzt wurdest, muss ein Arzt dir grünes Licht geben, bevor du wieder an die Arbeit gehen kannst.«
»Ach, egal.« Chase stapfte davon.
Ed holte tief Luft und atmete dann hörbar wieder aus. »Beachtet ihn gar nicht. Er ist manchmal …« Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, reden wir nicht darüber, wie er manchmal ist.« Ed wandte sich an den Mann, der immer noch am Rand der Plattform wartete. »Das hier sind übrigens Ermittler von der Küstenwache, die Agenten Mason Rogers und Rissi Dawson.«
»Adam Jones«, stellte der Mann sich vor. »Schön, dass Sie es hierher geschafft haben.« Er gab ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Nach dir«, sagte Mason und trat zur Seite, um Rissi auf der Rampe, die von der Plattform herunterführte, den Vortritt zu lassen.
Mason war schon als Teenager auf eine etwas tollpatschige Weise aufmerksam gewesen, aber jetzt war er ein aufmerksamer, rücksichtsvoller Gentleman. Das gefiel Rissi.
Er folgte ihr an Deck.
Riesige Konstruktionen – weiße Gebäude, gelbe Rohre und Fabrikanlagen – zogen sich über das gesamte Oberdeck. Das Surren von Maschinen erklang von allen Seiten.
»Die hier müssen Sie immer tragen, wenn Sie an Deck sind«, sagte Adam und nahm weiße Helme aus einem gelben Metallkäfig.
»Alles klar.« Rissi setzte den zu großen Helm auf und ignorierte – oder versuchte es zumindest – das Lächeln, das um Masons Mundwinkel zuckte. Entweder gefiel ihm ihr Anblick mit diesem Ding auf dem Kopf oder sie sah so aus, wie sie sich fühlte: völlig idiotisch.
Adam zog selbst ebenfalls einen Helm über seinen Kopf. »Der Doc ist im Hauptturm.« Er zeigte aufs Heck der schwimmenden Bohrplattform und auf ein Gebäude, das mindestens sechs Stockwerke hoch war, wie Rissi anhand der Fensterreihen abschätzte. In der obersten Etage zogen sich die Fenster ganz um die gebogene Front.
»Das ist die Brücke.« Adam Jones ging weiter, während er sprach. »Die Schaltzentrale. Die anderen Kontrollräume sind auch in dem Turm, wie wir es nennen, außerdem die Unterkünfte, Gemeinschaftsräume, der Fitnessraum, Küche und ein kleiner Shop für Sachen, die man vergessen hat mitzubringen.«
Nachdem sie das Gebäude erreicht hatten, führte Adam Rissi und Mason durch die erste Tür auf der linken Seite. Der Turm war weiß – eine merkwürdige Farbwahl für einen Ort, an dem Öl gefördert und gelagert wurde. Aber abgesehen von ein paar dunklen Spuren auf dem Linoleum sahen die Räumlichkeiten erstaunlich sauber aus.
»Hier ziehen wir uns nach der Arbeit um«, erklärte Adam und zeigte auf eine Tür zu ihrer Rechten. »Dadurch bleibt der Rest ziemlich sauber.« Er deutete in Richtung Treppe. »Die Krankenstation ist im dritten Stock.« Er ging voran, als sie die rote Metalltreppe hinaufstiegen. »Es tut mir leid, was mit Max passiert ist.«
Hatte seine Stimme bei dem Namen gezittert? »Kannten Sie Max?«, fragte Rissi.
»Ja.« Adam zögerte und warf einen Blick über seine Schulter. »Er fliegt unsere Crews –«, er stockte kurz, »ich meine, er hat unsere Crews hin- und hergeflogen.«
»Rogers! Dawson!«
Rissi drehte sich um und sah Ed auf der untersten Stufe stehen, der zu ihnen hinaufblickte. »Das hätte ich beinahe vergessen. Special Agent Rowley hat gesagt, Sie sollen sich melden, sobald Karl Ihnen grünes Licht gegeben hat.«
»Alles klar«, erwiderte Mason.
Hoffentlich gab Karl ihnen grünes Licht. Im schlimmsten Fall hatte sie eine geprellte Rippe. Gebrochen war sie eindeutig nicht. Den Schmerz hatte sie schon einmal erlebt und das hier tat nicht annähernd so weh.
Rissi wollte nur mit den Ermittlungen beginnen. Und sie hatte überhaupt keine Lust darauf, eine Stunde lang das Versuchskaninchen zu spielen, während ein Fremder sie untersuchte – noch dazu ein männlicher Fremder. Ihr Magen drehte sich um. Sie suchte sich grundsätzlich Ärztinnen, weil sie immer noch ein Problem damit hatte, wenn ein fremder Mann sie berührte.
Außerdem kannte sie ihren eigenen Körper und wusste, was gut für ihn war. Und dass ein fremder Mann sie berührte, geschweige denn mit Stethoskopen oder Holzstäbchen an ihr herumdrückte, gehörte eindeutig nicht dazu.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mason leise, als sie Adam den Gang im dritten Stock hinunter folgten und dabei an der Küche vorbeikamen. »Ris?«, fragte er noch einmal. Er würde nicht lockerlassen.
Sie hatte gehofft, sie könnte sich vor einer Antwort drücken, aber sie hätte wissen müssen, dass Mason sich nicht abwimmeln ließ, wenn er sich Sorgen um sie machte. Ein warmes Gefühl durchströmte sie, wenn sie daran dachte, dass er wieder Teil ihres Lebens war – zumindest körperlich. Mental und emotional war er die ganze Zeit bei ihr gewesen, war durch ihre Gedanken, Erinnerungen und Träume getanzt.
Liebes Tagebuch,
heute ist der erste Tag, an dem ich etwas in dir aufschreibe. Du bist ein kostbares Geschenk von Mason.
Jedes Mal, wenn ich seinen Namen schreibe, jedes Mal, wenn ich an ihn denke, wird mir ganz komisch. Es ist ein seltsames Gefühl, aber eines, das ich keinen Tag lang missen möchte.
Ich frage mich, was er von mir denkt. Ob er an mich denkt.
Er muss sich ja Gedanken gemacht haben, sonst hätte er mir nicht dieses Geschenk gemacht. Ich weiß nicht einmal, wie er es geschafft hat, es zu kaufen. Es ist wunderschön und hat das Wappen von Aslan in Bronze auf dem dunkelroten Einband. Er weiß, wie sehr ich die Narnia-Bücher liebe. Vielleicht lesen wir uns in unserem Versteck heute Abend wieder daraus vor. Wenn er sich reinschleicht, nachdem Hank eingeschlafen ist.
Ich bete, dass er zu mir kommt. Letzten Monat war er jede Nacht hier. Er ist der einzige Friede, den ich hier habe. Bei ihm fühle ich mich sicher …
»Ris …« Masons Flüstern wurde drängender und sein Atem kitzelte sie im Ohr. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Sie schluckte und wandte sich wieder der Gegenwart zu. »Mir geht es gut.«
Er sah sie prüfend an. »Ich weiß es besser.«
Super. Er hatte immer noch die Fähigkeit, sie komplett zu durchschauen.
Sie seufzte. »Ich mag keine männlichen Ärzte.« Sie blickte nach vorne. Das hatte sie noch nie jemandem verraten. Jetzt fragte sie sich, was er über dieses Geständnis dachte. Sie fürchtete, er könnte es ihr als Schwäche auslegen.
Mason lächelte sanft. »Na, dann können wir das natürlich nicht zulassen.«
Sie sah ihn erstaunt an. Noah hatte angeordnet, dass sie sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen mussten. Während ihrer Zeit im Kinderheim – auch als Hanks Horrorhaus bekannt – hatte Mason Hanks Regeln und Befehle als etwas betrachtet, das es zu brechen galt. Aber die Regeln damals hatte ein Mann aufgestellt, der Freude daran gehabt hatte, andere zu quälen – nicht ihr fürsorglicher, vertrauenswürdiger Vorgesetzter beim CGIS.
Mason ging ruhig weiter, ohne ein Wort zu sagen. War ihm nicht bewusst …?
»Noah wird uns sofort hier rausholen, wenn wir nicht von medizinischem Fachpersonal grünes Licht kriegen«, warnte sie.
»Dann ist es ja gut, dass ich ausgebildeter Sanitäter bin«, flüsterte Mason.