Eckhard Lange
Dafür und Dagegen
Roman nach Motiven der Artus-Sage
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Inhaltsverzeichnis
Titel
DIE NACHRICHT
1.Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
DIE GRENZE
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
DIE WOHNUNG
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
DER FRIEDHOF
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
DIE TRAUERFEIER
DIE ZELLE
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
DAS VERHÖR
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
DAS ANGEBOT
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
DIE FAHRT
DAS GRAB
27. Kapitel
28. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
DER RUF
32. Kapitel
EIN NACHTRAG: DIE ARTUS-SAGE
Impressum neobooks
Regen! Seit drei Tagen Regen – Regen überall, ständig, ergiebig. Er fällt aus einem grauen Himmel herab, aus tief sich bettenden Wolkenkissen, die jede Hoffnung auf einen Sonnenstrahl zu verbieten scheinen. Er feuchtet die verwitterten, grau gewordenen Dachpfannen, tropft aus ebenso grauen, verbogenen und durchlöcherten Rinnen auf den grauen Zement des Fußwegs, benetzt die grau gerahmten Fensterscheiben. Es scheint, als gäbe es keine Farbe mehr in dieser Stadt, als würde sie von diesem regennassen Grau überzogen wie von einer Tarnkappe, von dem Grau der Häuser, der Straßen, des Himmels, von dem Grau des Daseins überhaupt, das die Stadt und das ganze Land auszeichnet in den Augen vieler, die dort zu leben gezwungen sind, seit eine ebenso graue Mauer aus ragenden Betonteilen jene Insel inmitten der Stadt umschließt, jenes nun weltenferne Eiland der Farben, der nächtlich herüberflackernden bunten Lichter, der geschäftigen Lebensfreude, der aufbegehrenden, respektlos gewordenen Jugend. Und selbst der farblose Regen erscheint hier grau, diesseits der Mauer.
Artur Penn steht am Fenster und starrt durch die herabrinnenden Tropfenbahnen hindurch auf all das Grau vor seinen Augen. In der Hand hält er das Schreiben, ebenfalls aus grauem Papier, das ihm jene seit längerem erwartete und nun doch so unangemessen überraschende Nachricht übermittelte: „Ihr Vater ist heute gegen 7.30 Uhr in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Wegen der näheren Begleitumstände und mit Blick auf die nun zu treffenden Maßnahmen erbitten wir baldmöglichst Ihr persönliches Erscheinen nach vorheriger Terminabsprache.“
Nun ist er also tot, der alte Herr, der ja noch gar nicht so alt war und doch uralt, was seine Welt, seinen Lebensinhalt betraf. Und er, Artur, muss sein Erbe antreten, das er so oft verleugnet hatte und das ihn doch tiefer prägte, als er sich je eingestehen konnte. Er muß diesen Mann beerdigen, der ihn gezeugt und dann doch verleugnet hatte – zwar nicht offiziell, aber doch mit alledem, was er nach jener lustvollen Nacht mit der Frau eines anderen, damals, vor dreißig Jahren, mit Blick auf deren Folgen angeordnet hatte. Und vielleicht war das sogar ein Segen für diesen Sohn, weil er dadurch nicht in jene untergehende Welt hineingewachsen ist, die sich so grauenvoll selbstgerecht und selbstverliebt gebärdet hatte und die dann noch viel grauenvoller endete, wie der abgesplitterte Putz, die unübersehbaren Einschusslöcher an den Häusern gegenüber noch immer erzählen.
Er muß diesen Mann beerdigen und irgendwie auch beerben, und er würde unvermeidbar jener vergangenen Welt begegnen müssen – all den Menschen, die in ihr gelebt haben und mit ihr untergingen, obwohl sie noch irgendwie am Leben sind. Er würde wohl auch seiner Schwester begegnen, Tochter seiner Mutter aus vorangegangenen Zeiten, die ihm fremd ist, die er nur einmal als Kind gesehen hat bei einem Besuch mit der Mutter in Schweden, zu der er auch später nie Kontakt aufgenommen hatte in einer merkwürdigen Scheu. Und doch: Irgendetwas verbindet uns, bindet uns aneinander, das ahnte er mehr als dass er es wusste, und es ist nicht die gemeinsame Mutter.
Er wird sich nun auch wieder den eigenen Erinnerungen stellen müssen, die manchmal ungewöhnlich verzerrt und mit anderen Bildern durchtränkt seine Träume bestimmen – Erinnerungen etwa an den efeuberankten Schloßbau, den ein Großvater errichtet haben soll und in dem der Vater wohnte, an den großen Park mit oft unbekannten Bäumen, der in die weite Schleife des Flusses eingebettet ist; undeutliche Erinnerungen auch an einen abseits gelegenen Wirtschaftshof, auf dem Kinder Holzscheit um Holzscheit einen hohen Turm aufschichteten zur Versorgung der Kamine im Schloß, auf dem ihre Väter Wildschweinen das Fell abzogen, um es ausgespannt unter das vorstehende Schuppendach zu hängen. All das sind Bilder, deren Sinn sich ihm damals nicht erschließen wollte und die darum seine Träume in fantastische Welten verwandelten – manche davon bis in diese graue Gegenwart hinein.
Artur Penn blickt noch immer hinaus in all das Grau ringsherum. Hat er diese Bilder je in Farbe geträumt? Er weiß es nicht, und er glaubt es auch nicht. Auch sie werden wohl immer nur Grau geblieben sein. War nicht auch das Schloß unter dem Efeu grau verputzt? Ach, das Schloß! Er hat es vor einigen Jahren einmal wiedergesehen, als er mit einer Delegation nach Kolobrzeg reisen musste – in die alte pommersche Hansestadt Kolberg an der Persante mit ihrem Hafen, ihrem gotischen Rathaus und den vielen Trümmern, die der Krieg auch dort hinterlassen hatte.
Er hatte sich an einem tagungsfreien Nachmittag von einem redseligen Taxichauffeur für wenige Zloty dorthin fahren lassen, um seine Erinnerungen zu überprüfen. Seine Herkunft hat er dort vorsorglich niemand verraten, noch war damals die Furcht groß, es könne jemand Besitzansprüche anmelden auf ehemaliges Eigentum, selbst wenn die Regierung des sozialistischen Bruderlandes DDR solche Bestrebungen weit von sich wies. Aber er war eben Deutscher, er war, was er sonst abgelegt hatte mit seinem neuen Namen, ein Pendragon, und er war geboren in eben diesem Schloß, das nun als Kinderheim diente. Dabei war es für den Knaben damals nicht zum Heim geworden, früh hatte der Vater ihn fortgegeben, und nur aus wenigen Besuchen kamen die Bilder seiner Erinnerung zusammen. Doch der Park, seit dem Weggang der freiherrlichen Familie verwildert, hatte noch immer jenen Zauber, den er als Kind empfunden hatte, wenn er unter den herabhängenden Zweigen eines mächtigen Baumes ein Versteck suchte oder sich trotz Verbot einen Weg durch den verschilften Ufersumpf bis zum Fluß hin bahnte.
Platikow, das Schloß und der Park, die Burgruine dicht daneben – es wurde für den Knaben zum Paradies, weil es so unerreichbar blieb, weil irgendein Engel mit flammendem Schwert es bewachte und nur gelegentlich für ein paar Ferientage den Weg dorthin freigab, bis das Flammenschwert auch all die anderen vertrieb, die – anders als er – dort Wohnrecht hatten, sei es seine schöne und doch so fremde Mutter, seien es jene barfüßigen Kinder, denen immerhin der Wirtschaftshof für ihre Spiele blieb, auch wenn ihnen der Park verschlossen war.
Artur Penns Gedanken verirren sich, er wendet sich vom Fenster ab, legt den Brief auf den Schreibtisch, der voller Papiere und Bücher den Raum fast ausfüllt.Er wird die Reise beantragen müssen, eigentlich kein Problem für ihn angesichts seiner Stellung im Staat und angesichts dieses Anlasses, der es auch anderen erlauben würde, das Land für angemessene Zeit zu verlassen. Auch sonst hat er das kapitalistische Ausland, zu dem auch die andere Hälfte Deutschlands gerechnet wird, zu Lesungen oder Kongressen besuchen können, es ist ihm nicht fremd, und doch befällt ihn jedes Mal das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Und dieses Mal wird das Gefühl wohl stärker sein als je zuvor: Kann er sich sonst hinter seinem Werk verbergen, mit vorgegebener Wortwahl die offiziellen Gastgeber auf Distanz halten – den Kontakt zum breiten Publikum findet er schon dank seiner natürlichen Zurückhaltung selten und dann nur höchst oberflächlich – morgen muß er Menschen begegnen, keinen Funktionären, keinen Berufskollegen drüben, und er muß mit Gefühlen rechnen, bei den anderen ebenso wie vielleicht auch bei sich selbst; Gefühlen, die er in Büchern zwar routiniert beschreiben kann, die ihn selber jedoch unsicher und ratlos machen. Er weiß das. Und er fürchtet das auch.
Sie hatten sich zum Abschied alle auf dem Platz unter dem Uhrenturm, zwischen den Seitenflügeln des Schlosses, in bekannter Rangfolge aufgestellt: die beiden Hausdiener in ihrer Livree, die Köchin mit ihren beiden Hilfskräften, der herrschaftliche Kutscher, der Gärtner, der Forstbedienstete, und gegenüber die Verwalter der zwölf freiherrlichen Güter und ihre Vertreter. Vorne, neben der Tordurchfahrt, warteten dann auch noch die Knechte vom Wirtschaftshof, die Mützen in der Hand, die Mägde im Sonntagskleid und die größeren Kinder. Draußen endlich, wo der Torweg in die gepflasterte Straße zur Stadt hin mündet, denn seit langem ist Platikow mit Stadtrecht begabt, standen die Honoratioren, angeführt vom Bürgermeister, danach der Landarzt und der Apotheker, der Forstmeister und der Postmeister; standen auch die Schüler der Stadtschule mit schwarzweißroten Fähnchen wie zu Kaisers Geburtstag, und der Schulmeister summte aufgeregt immer wieder den ersten Ton des Liedes, das die Knaben und Mädchen gleich anstimmen sollten.
Dann endlich war es soweit: Ulrich von Pendragon, Sohn des Freiherrn und Gutsbesitzers, trat in Begleitung seiner Eltern aus dem Portal. Allerdings nicht in der Paradeuniform eines Ulanenfähnrichs, sondern in schlichtem Feldgrau. Und niemand hielt ihm sein Pferd bereit, sondern der Vater höchstselbst würde ihn mit dem Automobil, das er sich als erster der Junker in dieser Gegend zugelegt hatte, zum Bahnhof chauffieren. Man schrieb das Jahr 1914, und es war ein herbstlich schöner Septembertag, an dem der junge Herr als Offiziersanwärter ins Feld ziehen würde, das frisch erworbene Patent in der Rocktasche. Er hatte sich freiwillig gemeldet, zum frühest möglichen Termin, um den Sieg an der Westfront nicht noch zu verpassen.
Die Menschen, die ihm dort zum Abschied zuwinkten, hatten kaum eine Vorstellung von dem, was ihn in den nächsten Jahren erwarten würde. Die wenigen Veteranen des deutsch-französischen Krieges, die einst im preußischen Heer in den Kampf um Mars la Tour und Metz gezogen waren, hatten in all den Jahren mit Sedanfeiern und Heldengedenktagen längst ihre Erlebnisse verklärt oder vergessen. Und dort, im hinterpommerschen Junkerland, auf den Gütern, in den Dörfern und Landstädten, wusste man wenig von der großen Politik, für die man nicht zuständig war und die Adel und höhere Beamte planten und beschlossen. Und weil die Junker, die Gutsherren, seit eh und je das Geschick des Landes bestimmten, wusste man sich meist auch in guten Händen.
Noch war niemand aus Platikow und von den umliegenden Gütern gefallen, und die beiden Verwundeten, die irgendwo in Belgien in einem Lazarett lagen, schrieben vaterländisch stolze Briefe nach Hause. Man war nicht kriegsbegeistert dort zwischen den Wäldern und Seen des pommerschen Hügelrückens, so wie in Berlin und den anderen großen Städten des Reiches, nein, das wird niemand behaupten können, man nahm ihn hin als notwendiges Schicksal, und der Kaiser würde schon wissen, was dem Reich nützt.
Daß der junge Herr nun so fröhlich und siegesbewusst in den Krieg zog, das war er schließlich seinem Stand schuldig: Waren die Freiherrn von Pendragon nicht stets Offiziere gewesen, im Dienst der Preußenkönige und nun eben des Kaisers, hatten sie nicht die Pflicht, das Vaterland zu schützen, so wie sie ihre Untertanen schützen sollten – auch wenn das ja genau genommen längst nicht mehr ihre Untertanen waren. Aber diese Erkenntnis war auf den Gütern des Herrn noch nicht so recht angekommen: Herr von Pendragon, der Herr Baron, wie er allseits genannt wurde, war nun einmal der Gutsbesitzer, ihm gehörte das Land, die Äcker und Wiesen, der Wald und das Holz darin, ihm gehörten die Ställe und Scheunen und auch die Insthäuser, in denen die Gutsarbeiter wohnten.
Und wenn er ein guter Herr war, dann ließ er die Dächer flicken und die Zäune herrichten, dann sorgte er für einen ordentlichen Schulunterricht und wählte einen Pastoren, der den Leuten tatsächlich aufs Maul schauen konnte, dann beschenkte er seine Leute an den Festtagen und hielt auch ein paar Häuser vor für diejenigen, die alt und gebrechlich waren oder durch einen Unfall zum Krüppel wurden. Das war seine Christenpflicht, und die Freiherren von Pendragon hielten sich zugute, dass sie ordentliche Christenmenschen waren. Und darum war es auch billig, dass der junge Herr nun auszog in diesen großen Krieg.
Der Abschied am Bahnhof war kurz und nicht ohne Herzlichkeit: Der Herr Baron umarmte noch einmal seinen Ältesten, schlug ihm leicht auf die Schulter und wünschte ihm Glück und Gottes Beistand. Und als der junge Herr ins Coupé kletterte, salutierte der Bahnhofsvorsteher, ehe er das Signal zur Weiterfahrt gab. Gemeinsam blickten die beiden dem Zug nach, der in einer weiten Kurve in Richtung Stettin dampfte, dann sagte der Beamte leise: „Möge er heil und gesund zurückkommen, der junge Herr!“ Der Baron nickte ihm zu: „Wollens hoffen, Pritzkoleit. Es steht alles in Gottes Hand.“ Und dann drehte er sich rasch dem Wagen zu.
Er wusste es besser als all die andern hier: Dies war keine Fahrt ins Manöver, dies war der Beginn eines Krieges, in dem Haubitzen und Mörser und vielleicht sogar Giftgas das Geschehen bestimmten. Und es konnte jeden treffen, jeden. Er war stolz auf seinen Sohn, der sich so früh freiwillig gemeldet hatte, selbstverständlich, aber er hätte es dennoch lieber gesehen, Ulrich hätte noch ein wenig gewartet. Als Vater durfte er das denken, mein Gott ja, als Vater durfte man das. Jedenfalls, wenn seine Mutter nicht dabei war, die sich sowieso allzu große Sorgen um den Jungen machte.
Ulrich von Pendragon war 22 Jahre alt, als er aus diesem unseligen Krieg nach Platikow zurückkehrte. Er hatte ihn bis auf eine kleinere Verwundung, die ihn zwei Zehen am linken Fuß kosteten, körperlich unversehrt überstanden. Aber er war wie manche seiner Kameraden zutiefst verbittert über den Ausgang dieses vierjährigen Ringens, und er lastete ihn nicht der Heeresleitung, sondern den Machenschaften in Berlin an, die in der Ausrufung einer Republik gipfelten. Er empfand es als Schmach, wie ein geschlagener Krieger zurückkehren zu müssen, obwohl er mit seiner Kompanie die Stellung jahrelang gehalten hatte. Dass dies nicht ausreichen konnte für einen Sieg, dass das Land erschöpft war, die Ressourcen aufgebraucht, die Menschen kriegsmüde, diese Erkenntnis verschloß sich seinem Gehirn.
Er kannte die Schrecken des Trommelfeuers, das Stöhnen der Verwundeten, das ganze Leiden der Frontkämpfer; die Nöte einer hungernden Bevölkerung, die Sorgen der Mütter, die die Männer in den Fabriken ersetzen mussten und dennoch ihre Kinder nicht satt bekamen, die Wut der gemeinen Soldaten, die sich als Kanonenfutter für fremde Interessen sahen – das galt ihm nichts. So kehrte er zurück, wie er aufgebrochen war: als Herr auf seinen Gütern, als Angehöriger eines Standes, der ein Recht darauf hatte, dem Land seinen Stempel aufzudrücken.
Was er aber vorfand, war ein Gutsbetrieb, der sich zunehmend verschuldet hatte. Die Privilegien des Kaiserreichs waren nun ebenfalls verschwunden, der wirtschaftliche Konkurrenzkampf jedoch war ungewohnt. Und nach und nach hatten auch die Sozialisten Fuß gefasst bei den Landarbeitern und Deputanten. Nein, es war nicht mehr seine Welt, in der er jetzt notgedrungen leben musste. Und solange der Vater versuchte, das jahrhundertealte Erbe am Leben zu erhalten, war er in Platikow überflüssig. Nur die alten gesellschaftlichen Konventionen zu bedienen, Jagden zu veranstalten, Pferde zu züchten, bei den Soireen auf den umliegenden Gütern plaudernd auszuschauen nach einer standesgemäßen Braut – das alles widerstrebte ihm zutiefst. Und obwohl er alles Revolutionäre zutiefst verabscheute, war er doch selbst zu einem heimlichen Revolutionär geworden, genauso entwurzelt wie die vielen einfachen Soldaten, genauso enttäuscht vom Leben, genauso auf der Suche nach einer neuen Idee.
Ulrich von Pendragon hatte sich in die beiden großen Zimmer zurückgezogen, die am linken Ende des Hauptflügels ihm und seinem jüngeren Bruder als Schlafräume dienten. Der Bruder war zur Zeit auf einem der väterlichen Güter, um den praktischen Teil seiner Ausbildung zu absolvieren. So stand Ulrich allein am Fenster und schaute auf den Park hinaus, in dem die zwei früher mit ein paar Gleichaltrigen aus den höheren Ständen der Stadt Räuber und Gendarm gespielt hatten und in dem er später mit seiner braunen Stute Wilhelmina für die Parforcejagd trainiert hatte.
Die alten Bäume verfärbten ihr Laub wie eh und je, und in die beginnende Dämmerung hinein klang der erste Schrei eines Kauzes, der ihm als Kind oft einen Schrecken eingejagt hatte, weil ihre alte Kinderfrau so unheimliche Geschichten zu erzählen wusste von diesen nächtlichen Jägern. Und doch: Wie wunderbar geborgen hatte er sich damals fühlen können in einer überschaubaren Welt, in der jeder seinen Platz hatte und seine Aufgabe zu erfüllen, und der Vater hatte ihn gelehrt, den eigenen Platz selbstsicher, aber nie hochmütig zu bewahren, weil alle ihre Leute Anteil hatten am Ertrag der Ernte und darum auch Anrecht auf Versorgung und Schutz vor jeglicher Willkür, zu der mancher Verwalter immer noch neigte. Aber auch wenn der Baron seit langem nicht mehr Gerichtsherr war auf seinen Gütern – für Recht zu sorgen war ihm von Gott aufgetragen, und allein Gerechtigkeit erhöht ein Volk, wie geschrieben steht.
Jetzt aber saß der Vater manchen Tag über seinen Büchern, um zu rechnen, jetzt musste er mit Bankiers verhandeln und um Kredite feilschen, damit er die Zeit bis zur nächsten Ernte überbrücken konnte und den Leuten ihren Lohn auszahlen, der nun in vielen Dingen an die Stelle von Naturalien getreten war. Und dann waren da diese selbsternannten Arbeiterführer, die aus Stettin herüberkamen und überall die Leute aufwiegelten mit ihren abstrusen Ideen vom Klassenkampf und einer proletarischen Revolution. Bei den Alten ernteten sie meist nur ungläubiges Kopfschütteln mit ihren Reden, doch die Jungen, die aus dem Krieg Zurückgekehrten waren anfällig geworden für das, was sie Sozialismus nannten.
Ulrich von Pendragon musste lächeln: Es geschahen schon merkwürdige Dinge hier in der tiefsten Provinz. Da war er doch kürzlich in eine solche Versammlung hineingeraten, und etliche jüngere Gutsarbeiter ereiferten sich so sehr, dass sie dem Sohn des Gutsherrn gegenüber nahezu handgreiflich zu werden drohten. Doch dann hatte er sich als Leutnant vorgestellt, und prompt fielen sie zurück in militärischen Gehorsam: Jawoll, Herr Leutnant! Zu Befehl, Herr Leutnant! Das saß ihnen noch in den Knochen nach vier Jahren Krieg. Aber wie lange würde dieses Gefühl noch dauern?
Der junge Baron trat ins Zimmer zurück, sein Blick fiel auf den mächtigen Eichenschrank, der nicht nur die Kleider der beiden Brüder bewahrte, sondern tief genug war, um als Höhle zu dienen bei ihren Spielen. Er öffnete die Tür: Tatsächlich, da waren noch die Einstichlöcher ihrer selbstgebastelten Pfeile, mit denen sie auf eine handgemalte Scheibe an der Innenseite gezielt hatten. Wie oft hatten sie den Türflügel rasch zugeschlagen, wenn einer der Hausdiener ins Zimmer trat oder gar der Vater, um mit unschuldsvollem Gesichtsausdruck nach ihren Schulheften zu greifen.
Der jüngere Bruder war übrigens der geschicktere Schütze, seine Pfeile saßen meist näher an der Mitte. Heute hätte ich wohl mehr Übung, dachte Ulrich. Wie viele Male hatte er in all diesen vier Jahren den Abzug seines Revolvers durchgedrückt, da draußen im Graben, wenn der Feind zum Angriff antrat. Und wie oft mochte er getroffen haben, irgendeinen Franzosen oder Engländer, einen dieser armen Teufel, die für ihr Vaterland ins Feld gezogen waren genau wie er. Dabei hatten sie doch alle ihr Vaterland, Freund wie Feind, fest umgrenzt, unbestritten. Und dann hatte er sich gefragt: Wieso bin ich hier eigentlich in diesem fremden Land? Wem diene ich damit – meinem Kaiser, meinem Volk, meiner Heimat?
Ja, es waren revolutionäre Gedanken, die Ulrich von Pendragon, dieser pommersche Landedelmann, Glied einer uralten Adelsfamilie, auf den Gütern rings um Platikow ansässig seit Jahrhunderten, blaublütig und standesbewußt, plötzlich in den Sinn kamen angesichts des tausendfachen Sterbens um sich herum – Gedanken, die er sich in aller Eile wieder selbst verbot zu denken. Aber die sich nie ganz verdrängen ließen, die ihn umtrieben, belasteten, unsicher machten, und die er so manches Mal nur mit kräftigen Schlucken aus einer gewissen Flasche vertrieben hatte.
Und jetzt, da sein Vaterland diesen Krieg verloren gegeben hatte und alle Ordnung in Frage gestellt war, jetzt, da all dieses Kämpfen und Sterben vergeblich erschien – jetzt stellten sich diese Fragen drängender als je zuvor. Und eines war ihm plötzlich bewusst geworden: Hier in Platikow, in der pommerschen Provinz, würde er niemals eine Antwort finden. Die Kreise, in denen er verkehrte, verkehren musste, wussten sie nicht, weil sie schon die Fragen nicht verstanden. Plötzlich sah Ulrich es klar und deutlich: Er musste fort, dorthin, wo darüber geredet und gestritten wurde.
Der dumpfe Gong schallte durch die Flure, der wie stets zum Abendessen in den Speisesaal rief, wo sich unter den strengen Blicken der Vorfahren, die aus ihren geschnitzten, goldgefassten Rahmen auf die Lebenden herabblickten, die Familie und einige Auserwählte um den mächtigen Eichentisch versammelten, der schon Generationen der Pendragons zu ihren Mahlzeiten gedient hatte. Jeder hatte dort seinen angestammten Platz, und jeder erhielt sein Essen nach festgelegter Rangfolge, wie es die Ordnung gebot.
Geordnet war auch alles andere: Wer zu welcher Zeit das Wort ergreifen durfte, ehe das allgemeine und zwanglose Gespräch freigegeben wurde, wenn der letzte Gang mit einem letzten Trunk beschlossen worden war. Da konnte Ulrich dann endlich aussprechen, was er soeben beschlossen hatte: „Ich werde ein Studium beginnen.“ Erstaunen ringsum, fragende Blicke. „Es scheint mir wichtig, dass jemand in unserer Familie sich zum Juristen ausbilden lässt. Du weißt selbst, Vater, wie schwer es heute geworden ist, einen Betrieb wie den unseren ohne den Rat von Anwälten zu führen. Mein Bruder hat inzwischen beste Kenntnis vom Wirtschaften hier auf den Gütern, er kann das sicherlich weit besser als ich.“
Und als ob er den Einwand des Vaters erspürte, ergänzte Ulrich: „Ich weiß – die Leitung von Platikow steht dem Erstgeborenen zu. Aber was spricht dagegen, den Besitz gemeinsam zu verwalten – der eine mit den Kenntnissen des Juristen, der andere mit dem Wissen um die Landwirtschaft. Du kennst deine Söhne, Vater. Wir streiten uns zwar gelegentlich, aber wir reden miteinander, und wir hören auch aufeinander, wenn es um die besseren Argumente geht. Doch noch bist du hier Herr auf Platikow, und das hoffentlich noch recht lange.“
Der Vater sah ihn aufmerksam an, und er musste sich eingestehen, dass er juristischen Rat schon oft genug hätte gebrauchen können. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Königsberg oder Berlin. Und ich wähle die letztere. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird es im Osten Gebietsveränderungen geben. Die Polen werden Zugang zur Ostsee erhalten, das melden alle Gazetten. Dann liegt Königsberg außerhalb des Reiches. Was nützt mir dann eine ehemals ruhmreiche Fakultät! Nein, ich bevorzuge Berlin. Und außerdem: In der Reichshauptstadt wird auch in Zukunft über Deutschland entschieden, hier kann man Verbindungen knüpfen, die auch uns in der Provinz zugute kommen. Und ich will nicht nur studieren. Wie auch immer das Reich aussehen wird, irgendwer muß es regieren.“
Der alte Baron lächelte: „Und das wirst du dann sein? Gut, auch Bismarck hat einmal als Landjunker angefangen. Aber das waren andere Zeiten.“ Ulrich lächelte zurück: „Erst einmal würde es mir reichen, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Das ist Ziel genug für die nächste Jahre. – Du bist also einverstanden?“ Der Vater nickte. „Fast alle unserer Vorfahren dienten als Offiziere. Aber werden wir nach diesem Krieg noch eine Wehrmacht haben, noch Offiziere brauchen? Beamte aber brauchen wir immer, und bislang stellte der Adel auch die höchsten Staatsbeamten. Und das sind nun einmal vor allem Juristen. Nein, deine Pläne sind einsehbar. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Und damit war alles entschieden.
Was Ulrich bislang keinem Menschen verraten hatte: Die ganzen vier Jahre, die er an der Westfront verbrachte, hatte er ein Tagebuch geführt. Allerdings trifft dieser Begriff nicht ganz: Es gab keine durchgehenden, täglichen Eintragungen, das verbot schon die jeweilige militärische Situation – aber in den Zeiten relativer Ruhe an der Front hatte er immer wieder zu dem abgeschabten Heft gegriffen, um nicht nur Geschehnisse, skurrile oder tragische Erlebnisse zu notieren, sondern auch allerlei Reflexionen, Gedanken über Krieg und Frieden, eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft, über den Menschen, seine Leidenschaften, Fehler und Irrtümer, seine Wünsche und Fantasien. Das alles fand sich, wild vermischt, nur dem jeweiligen Augenblick geschuldet und seiner Stimmungslage, in diesen Schulheften, die er in versiegelten Päckchen nach und nach heimgeschickt hatte und die nun ungeöffnet in jenem barocken Schrank lagen. Er hatte sie auch nach der Heimkehr nicht angerührt, wusste er doch nicht, wozu sie ihm eigentlich dienen könnten.
Sagten wir, niemand wisse von dieser Marotte des jungen Offiziers? Nein, auch das wäre falsch: Es gab einen, der davon wusste, ja, der ihn mehrfach zum Schreiben ermuntert hatte, auch wenn ihm der Inhalt meist unbekannt blieb: Es war sein direkter Vorgesetzter, Hauptmann Merlin, nur wenig älter als er und einer der wenigen bürgerlichen Kompaniechefs im Heer des Reiches. Mit ihm verband den jungen Ulrich von Pendragon bald eine besondere Freundschaft, und sie beruhte auf dem gemeinsamen Interesse an der Ausdruckskraft der Sprache – nicht gerade verbreitet unter den übrigen Offizieren der Division.
Merlin hatte bereits einige Semester Slawistik studiert, ehe die Mobilmachung ihn vor ganz andere Herausforderungen stellte. Und er war froh, wenigstens einen Gleichgesinnten im Offizierskorps zu finden, in dem er auch sonst als Außenseiter galt: Sein Studienziel, seine bürgerliche Herkunft, und vor allem seine Abstammung trennten ihn von den Kameraden aus den deutschen Adelsfamilien mit ihrem meist generationenlangen Stammbaum.
Er war Sorbe, aufgewachsen als Sohn eines kleinen Industriellen in Bautzen, aber mit einer Mutter, die die alten slawischen Traditionen einschließlich ihrer Muttersprache bewahrte und an den Sohn weitergab, während der Vater alle Hinweise auf die Herkunft lieber verbarg und sich ganz als nationalliberaler deutscher Patriot gab, bis hin zur Änderung des Namens in die unverfängliche, eher deutsch klingende Fassung „Merlin“. Er hatte auch durch seine Beziehungen dafür gesorgt, dass der Sohn das Offizierspatent erhielt, was zwar laut kaiserlichem Erlaß jedem gutbürgerlichen jungen Mann möglich war, doch immer noch selten genug gewünscht und noch seltener zugebilligt wurde.
Bei einem nächtlichen Gespräch nach einem fehlgeschlagenen Sturm auf die feindlichen Linien, der die Kompanie stark dezimiert hatte, entdeckten die beiden eine Art Seelenverwandschaft, denn Ulrich hatte zu Hause in Platikow bislang zwar hier und da ein paar Verse geschrieben oder auch ein kleines Essay verfasst, aber alles wohlverwahrt und gut verschlossen in den Tiefen jenes Schrankes versteckt.
Die Enttäuschung über den gescheiterten Angriff, die Sorge um die Verwundeten, die bittere Notwendigkeit, die Angehörigen der Gefallenen zu benachrichtigen – das alles hatte Merlin seinem jungen Stellvertreter anvertraut und mit Freude bemerkt, dass dieser nicht nur ähnlich dachte, sondern auch manches von seinen Gedanken schriftlich niedergelegt hatte. Fortan war Literatur ein Gesprächsstoff, über den sie sich austauschten, und gelegentlich las der eine dem anderen auch einige eigene Zeilen vor und bat um dessen Urteil.
Merlin hatte nach dem Abschied das lange unterbrochene Studium wieder aufgenommen, und zwar in Berlin, und das war letztlich auch der Grund, warum Ulrich sich für die dortige Universität entschieden hatte. Brieflich waren die beiden stets in Kontakt geblieben, nun könnten sie ihre Gespräche fortsetzen. Und Ulrich von Pendragon wollte sich zwar, wie mit dem Vater vereinbart, an der juristischen Fakultät einschreiben, aber er würde wohl so manche Vorlesung bei den Germanisten besuchen, das war sein fester Vorsatz.
Verwandtschaftliche Beziehungen hatten ihm eine Bleibe bei einer Berliner Zimmerwirtin beschafft, so dass er ohne große Sorgen in die Reichshauptstadt reisen konnte. Den Zugwechsel in Stettin nutzte er, dort das Herzogsschloß zu besichtigen. Auch Pommerns regierende Fürsten waren slawischer Abstammung gewesen, bis der letzte Bogislaw aus dem Geschlecht der Greifen starb. Dort ruht er nun in der Krypta neben seinen Vorfahren – auch wenn seine Erben, die Brandenburger und die Schweden, siebzehn Jahre gebraucht hatten, den aufgebahrten Herzog endlich zu bestatten.
Diese traurige Anekdote erschien Ulrich wie ein Gleichnis: Die europäischen Großmächte jener Zeit zerteilten dieses Land, Deutsche und Schweden tilgten auch die letzte Erinnerung an slawische Herrschaft. Doch was war in Pommern schon slawisch, was deutsch? Wieviele Ehefrauen aus deutschen Fürstenhäusern haben das Wendentum der Greifen fünf Jahrhunderte hindurch verwässert, und wie viele sich so national und deutsch gebärdender Junkerfamilien zählen Wenden zu ihren Vorfahren! Sollte also nicht auch Merlin das Recht haben, beides zu sein, Sorbe und Deutscher?
Der Freund empfing ihn auf dem Stettiner Bahnhof im Norden Berlins und begleitete ihn zu seiner neuen Bleibe. Sie lag günstig, Ulrich konnte die Friedrich-Wilhelm-Universität mit einem kürzeren Fußmarsch erreichen. Vor allem aber logierte er nicht weit entfernt von der kleinen Wohnung, die Merlin gemietet hatte. Es dauerte eine Weile, bis der junge von Pendragon zu einem echten Studenten mutierte. Es galt ja nicht nur, die Jahre des Krieges zu verdrängen, die ihn von den meisten zwar nur unwesentlich jüngeren, aber weitaus unreiferen Kommilitonen trennten; es war diese ungezwungene, von nur wenig Konventionen geprägte Lebensart, die er erst lernen musste.
Und der Freund hielt ihn davon ab, sich vorschnell einer jener Korporationen anzuschließen, denen gerade Studenten aus dem Adel wie selbstverständlich beitraten. Aber es reizte ihn auch nicht, mit einem Säbel auf dem Paukboden herumzufuchteln; er hatte diese Waffe in ganz anderen Zeiten geführt und dem Gegenüber nicht nur lächerliche Schmisse zugefügt. Und dennoch schienen ihm die Burschenschaften ein Hort des Hergebrachten, des von zu Hause Gewohnten zu sein. Nun gut, er könne sich ja immer noch entscheiden, sagte er sich. Vielleicht war es doch sinnvoll, zunächst dieses neue und ungewohnte Leben um ihn herum zu beobachten. Und vorerst war er ja auch nicht auf Protektion angewiesen, mit dem monatlichen Wechsel des Vaters blieb er finanziell unabhängig.
Bei aller Freude über das neugewonnene Wissen blieb Ulrich von Pendragon doch auf seine Weise der pommersche Junker und verabschiedete Offizier. Und so erhielt er am 12. März 1920 Besuch von einem pommerschen Nachbarn, der wie er an der Westfront gekämpft hatte, aber keinen Abschied genommen, sondern sich einem Freikorps angeschlossen hatte und nun südlich von Berlin Dienst tat. Ulrich ließ ihn eintreten und bot ihm ein Glas Wein an, das der andere jedoch ablehnte: „Ich kann zur Zeit keinen Alkohol gebrauchen, lieber Pendragon, die Umstände erfordern äußerste Nüchternheit.“ Und auf einen fragenden Blick hin fuhr er fort, indem er sich vorbeugte und die Stimme senkte: „Es stehen große Veränderungen bevor im Reich. Ich kann Ihnen da keine Einzelheiten verraten, aber wir brauchen alle Patrioten, und vor allem alle Frontoffiziere für unsere Sache.“
„Und um welche Sache handelt es sich?“ fragte Ulrich vorsichtig. „Sie kennen die Bedingungen der Sieger: Die Reichswehr wird praktisch zerschlagen, die Korps sollen aufgelöst werden. Das können wir Offiziere nicht hinnehmen. Aber diese Herren in der Reichregierung sind ja unfähig, den Alliierten die Stirn zu bieten. Heute Nacht werden wir in Berlin einmarschieren, Lüttwitz hat der Regierung ein Ultimatum gestellt und jetzt das Kommando übernommen. Wir sind sicher, dass die Kameraden von der Reichwehr sich uns anschließen werden. Diese unfähige Regierung wird hinweggefegt, ein neuer Reichskanzler steht schon bereit. Jetzt heißt es, zusammenzustehen, Herr Kamerad. Und ich bin sicher, Sie machen da ebenfalls mit.“ Er blickte sein Gegenüber herausfordernd an.
Plötzlich war die politische Gegenwart wieder ganz nahe, die Ulrich von Pendragon so lange aus seinem Leben herausgehalten hatte. Das alles klang einleuchtend, aber es war doch letztlich auch Meuterei. Nur dass diesmal nicht irgendwelche gemeinen Soldaten oder Matrosen sich auflehnten, sondern Offiziere an der Spitze standen. Und immerhin war General von Lüttwitz Oberbefehlshaber der Reichswehr hier in Berlin, ein verdienter Militär von altem, schlesischem Adel.
Doch Ulrich zögerte. Das alles kam zu überraschend, er wusste zu wenig von der politischen Lage, kannte die Forderungen und Ziele der Putschisten nicht – und ein Putsch war es doch allemal, was hier geplant war. Wenn er sich wenigstens erst einmal mit Merlin darüber beraten könnte! Und eines war sicher: Es würde nicht ohne Blutvergießen abgehen, Gustav Noske hatte auf Arbeiter schießen lassen, er würde auch auf rebellierende Truppen schießen – wenn es denn regierungstreue Soldaten geben wird.
Ulrich richtete sich auf und legte seinem Besucher die Hand auf die Schulter. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Zieselitz. Aber ich kann nicht in ein paar Stunden zum Kampf antreten, ohne Waffen, ohne Uniform. Ich bin kein wilder Revoluzzer wie diese Spartakus-Leute. Wir sind doch Offiziere, das muß man sehen können. Und was ich dazu brauche, liegt daheim in Platikow.“ Werner von Zieselitz war sichtlich enttäuscht, aber er konnte dem nichts entgegensetzen. Und außerdem drängte die Zeit, er hatte noch einige Besuche vor sich.
Er erhob sich: „Schon gut, Pendragon. Da kann ich eben so schnell auch nichts machen. Aber wir rechnen mit Ihnen, wenn die Sache sich hinziehen sollte.“ Er reichte dem anderen die Hand und griff nach seinem Mantel. „Wünschen Sie uns Glück, Herr Kamerad,“ sagte er zum Abschied. Ulrich blickte ihm nach, wie er die Stiege hinuntereilte. „Jetzt werden schon wieder Deutsche auf Deutsche schießen,“ murmelte er. „Und irgendwann werde ich auch dazwischen sein. Und ich weiß noch nicht einmal, auf welcher Seite.“
Der junge Baron sollte Recht behalten: Es gab Tote in den nächsten Tagen, mehr als genug. Aber dem Putsch war kein Erfolg beschieden. Es waren nicht die Kameraden von der Reichswehr, und es waren auch nicht die streikenden Arbeiter, die ihn zusammenbrechen ließen. Es waren die Beamten, diese unterwürfigen und doch selbstbewussten Männer mit ihren Ärmelschonern, die sich an das oberste Gesetz aller preußischen Beamten hielten: Zu sagen hat allein der Vorgesetzte. Und das war nicht irgend ein Hergelaufener, das war letztlich der Minister. Und der war zwar geflohen, aber er war und blieb der Vorgesetzte, Repräsentant des Staates, dem sie dienten, wie sie bislang dem Kaiser gedient hatten.
So war Ulrich von Pendragon froh, nicht in die Sache verwickelt worden zu sein. Und er zog daraus seine Lehren: Halte dich möglichst aus allem heraus, warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Was du selber denkst, behalte für dich. Dies sind nicht mehr die Zeiten, in denen alles überschaubar ist, seine Ordnung hat und auch behält. Er war in diesen Tagen zum Skeptiker geworden, und das war der erste Schritt zu einem Zyniker. Doch das alles war ihm nicht bewusst.
Aus dem Fenster seines Logis hatte Ulrich die Lastkraftwagen fahren sehen, besetzt mit den Soldaten des Freikorps, hatte auf Helme und Gewehre geblickt und Schüsse aus dem Regierungsviertel gehört. Er hatte auch auf Gruppen streikender Arbeiter hinuntergeblickt, die zum Lustgarten zogen. Das alles hatte ihn aufgewühlt, und es hatte ihn zweifeln lassen an der Vernunft des Menschen, an seinem Verstand, seinem Urteilsvermögen. So wurde eine simple Aufgabe, in einem juristischen Seminar den Studenten gestellt, zu einem Wendepunkt in seinem Leben.
Der Professor – er konnte sich später trotz allen Grübelns nie seines Namens erinnern - hatte eine einfache Szene geschildert: „Stellen Sie sich bitte folgendes vor, meine Herren: Sie befinden sich auf der Straße und beobachten, wie eine Mutter mit einem kleinen Jungen an der Hand auf dem Trottoir, oder, wie man neuerdings sagt, auf dem Bürgersteige entlanggeht. Da nähert sich hinter ihrem Rücken ein Automobil auf der Fahrbahn. Ehe es jedoch die beiden überholt, reißt sich das Kind plötzlich von der Hand der Mutter los und läuft auf die Straße. Der Fahrzeuglenker bemüht sich, das Gefährt noch zum Stehen zu bringen, doch es erfasst das Kind und schleift es mit sich. Der Junge ist also dadurch verwundet, vielleicht sogar getötet worden. Soweit das Faktum.
Wie aber werden Sie es später schildern? Sie werden es kaum ohne Emotionen tun, denn das Schicksal dieser drei Personen wird sie berühren. Und – das ist der eigentliche Punkt: Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch sofort für oder gegen die eine oder andere Person Stellung beziehen, unbewußt bereits ein Urteil fällen. Und dieses Urteil wird in ihren Bericht hineinfließen, ohne dass Sie es wollen oder auch nur bemerken. Das aber wiederum wird von Ihrer eigenen Situation abhängen.
Nehmen wir an, Sie haben häufiger Gelegenheit, in einem Automobil zu fahren, Sie besitzen vielleicht sogar die Erlaubnis zum Führen eines solchen – werden Sie sich nicht auf die Seite des Chauffeurs schlagen? Sie können ja seinen Schrecken, sein vergebliches Bemühen, den Unfall zu vermeiden, nachempfinden; und folglich werden Sie dem Kind alle Schuld zuweisen, vielleicht auch die Mutter anklagen, sie hätte den Knaben festhalten müssen.
Ist Ihnen jedoch das Automobil fremd, dann erscheint es Ihnen gefährlich, und Sie fordern vom Fahrzeugführer ausreichend Vorsicht, die Sie hier also vermissen. Haben Sie gar kleinere Geschwister oder vielleicht einen Neffen im Kindesalter, mit dem Sie gerne ein wenig spielen, leiden Sie mit dem Kind, entschuldigen seine natürliche Lebhaftigkeit, die Ihnen ja vertraut ist, und verlangen die gebotene Rücksicht und Weitsicht von den Erwachsenen.
Und vielleicht fühlen Sie auch mit der Mutter, die dieses Kind mit Schmerzen geboren hat und es nun mit Schmerzen wieder verlieren muß. Das alles prägt Ihre Wahrnehmung und damit auch Ihre Aussage, und diese Aussage ist dann Grundlage für die Entscheidung, die ein Richter treffen muß. Ganz abgesehen davon, dass es auch dem Richter nicht immer gelingt, solche eigenen Erfahrungen aus seinem Urteil herauszuhalten. Versuchen Sie bitte für die nächste Sitzung, jeweils zwei Zeugenaussagen zu formulieren, ohne dabei die Fakten zu verändern.“
Am Abend suchte Ulrich den Freund Merlin auf. Er schilderte ihm, was er in dieser Sitzung erfahren hatte, und schloß: „Wenn das schon für eine simple Zeugenaussage gilt, die ja nur Tatsachen wiedergeben soll, um wie viel mehr ist dann jede literarische Äußerung, ja bereits jeder Artikel des Journalisten im Tageblatt weit ab von der Wirklichkeit, von der Wahrheit.“
„Du meinst also, es gibt im Grunde keine Objektivität?“ fragte Merlin zurück, und als Ulrich nur traurig nickte, fuhr er fort: „Aber es gibt eine innere Wahrheit, deine eigene Wahrheit. Und sie ist deshalb wahr, weil du mit ihr etwas ändern, Menschen bewegen willst. Es gibt die Wahrheit des Besseren, des Gerechten, ja, des Guten. Ist es nicht Aufgabe aller Literatur, für sie einzutreten?“
Doch Ulrich war wenig überzeugt: „Der Professor erwartet, dass seine Studenten verschiedene Wahrheiten formulieren, nur so, gleichsam zur Übung. Damit macht er sie zu Herren über die Wahrheit. Entscheidend ist allein die Formulierung der Aussage, der Stil. Das Lied, das du singst – wer bestimmt darüber? Wirklich du selbst, oder nicht doch der, dessen Brot du essen möchtest, essen musst, um nicht zu verhungern? Und wie steht es dann mit diesem anderen Sprichwort, das ja wohl aus der Bibel stammt: Niemand kann zwei Herren dienen? Wirklich nicht? Wenn es ums Brot geht – da reicht oft der eine Herr nicht. Und muß er dann vom anderen wissen?“
Merlin blickte den Freund aufmerksam an: „Möglich ist vieles. Möglich ist alles, wenn du nur nach dem Stil, der Formulierung fragst. Wer nur gefallen will, wer allein seine Lieder zu Brot machen will, braucht nur das nötige Geschick. Auf seine innere Wahrheit darf er dabei nicht mehr hören, und auf sein Gewissen schon gar nicht. Er hat vielleicht Erfolg, weil er den jeweils Mächtigen schmeichelt. Aber er wird nicht in die Geschichte der Literatur eingehen, da bin ich gewiß. Was wir nach Jahrzehnten, nach Jahrhunderten noch lesen, bedenken, bewundern, das hatte diese innere Wahrheit, denn sie ist zeitlos. Oder sagen wir so: Das hat eine Seele.
Was du da angedeutet hast, das wird immer seelenlos bleiben. Weil der, der es schrieb, seine Seele verkauft hat, an wen auch immer – an den Mammon, oder an eine Klasse, an eine Ideologie, an einen Herrscher. Und ich sage dir das eine: Er wird vielleicht angesehen sein, vielleicht auch reich, an Einfluß oder an Geld, aber er wird nicht glücklich sein. Niemals. Das ist sein Preis. Und der ist hoch – zu hoch, findest du nicht auch?“
Man müsste es ausprobieren, dachte Ulrich, aber er sprach es nicht aus. Er wollte dem Freund nicht wehtun. Und er war sich auch nicht sicher, ob er es könnte. Aber die Versuchung blieb. Er musste an Dr. Faustus denken: Hatte Goethe nicht eben diese Versuchung geschildert – die eigene Seele zu verkaufen gegen... ja, gegen was? Und hatte nicht eben dieser Faust bekannt, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen? Wie wäre es dann, nur die eine zu verkaufen? Ihm bliebe ja immer noch die andere. Er musste lächeln. Merlin aber wertete dieses Lächeln als Zustimmung, doch das war ein Irrtum. Er würde ihn erst viel später erkennen.
Die Lage in der Hauptstadt hatte sich weitgehend normalisiert, die Zeitungen berichteten nur noch von Aufständen und Kämpfen aus anderen Teilen des Reiches. Aber die Spaltung der Gesellschaft war auch hier geblieben, Linke und Rechte standen sich unversöhnlich gegenüber; Monarchisten, Demokraten und Kommunisten stritten nicht nur mit Worten, sondern oft genug auch mit Fäusten und Gewehren um die Macht. Das spiegelte sich auch in der Presse Berlins. Urich von Pendragon verfolgte nicht nur die verschiedenen Berichte unterschiedlich gefärbter Zeitungen mit großem Interesse, vor allem, wenn sie die gleichen Ereignisse nicht nur kontrovers kommentierten, sondern auch sehr unterschiedlich berichteten. Immer wieder kam ihm dann jene Übung aus dem juristischen Seminar in den Sinn, und immer wieder auch das Gespräch mit Merlin, dem nachdenklichen, besonnenen Freund.
Es gab noch ein anderes Interesse an Berlins Zeitungen: Ulrich hatte begonnen, gelegentlich kleine Artikel, vor allem über kulturelle Ereignisse, bei dieser oder jener Redaktion einzureichen, und war erfreut, dass sie oft auch angenommen wurden. Zunächst war es einfach sein Stolz darauf, etwas Schriftliches von sich veröffentlicht zu sehen, bald aber stellte er fest, dass er die Honorare gut verwenden konnte. Zwar erhielt er stets pünktlich den monatlichen Wechsel des Vaters, aber was vor kurzem noch ausreichte für einen angemessenen Lebenswandel, das erwies sich zunehmend als knapp bemessen.
Langsam schwand der Wert des Geldes dahin, Armut und Elend nahmen ringsherum sichtbar zu. Die Last des verlorenen Krieges, die immensen Forderungen der Sieger machten alle Anstrengungen der unterschiedlichen Regierungen zunichte, die Währung stabil zu halten und die Wirtschaft zu fördern. Da war zusätzlicher Verdienst durchaus angebracht und erwünscht, zumal er meist direkt ausgezahlt und so auch rasch wieder ausgegeben werden konnte.
Seit Herbst des Jahres 1922 war der Verfall der Währung unübersehbar geworden, alle sprachen nun von der drohenden Inflation, und bald stiegen die Beträge in schwindelnde Höhe, die man für das tägliche Brot zu zahlen hatte. Der monatliche Wechsel des Vaters, zwar längst jedes Mal erhöht, war am Ende des Monats nur noch ein Zehntel wert und bald noch weniger. Da wurde jede zusätzliche Zahlung zum Geschenk, das so rasch wie möglich gegen Ware getauscht werden musste. Bald waren diese Einkünfte wichtiger als die Unterstützung aus Platikow, und Ulrich begann, hektisch für möglichst verschiedene Blätter zu schreiben.
Und nun, teils aus der Not heraus und teils aus lange verdrängter Lust am Experiment, bediente er Zeitungen ganz unterschiedlicher Tendenz mit ebenso unterschiedlichen Berichten über ein und dasselbe Ereignis, getarnt durch mehrere Pseudonyme. Das zahlte sich nicht nur finanziell aus, denn er konnte schließlich nicht mehrere Veranstaltungen gleichzeitig besuchen, wohl aber über dieselbe mehrfach berichten; es wurde auch zu einer zynischen Erfahrung, wie weit er gehen konnte im Verzicht auf jene innere Wahrheit, wie weit er seine Seele verkaufen konnte, ohne dass sein Gewissen ihm Einhalt gebot.
Der Freund erfuhr von alledem nichts, und manchmal schien es, als würde er auch vor sich selbst dieses Geheimnis hüten, viele Seelen in sich zu tragen, die doch letztlich seelenlos waren. Längst war es wie ein Zwang geworden, diese pure Lust am Formulieren, diese bedenkenlose Bedienung jeglicher Propagandamaschinerie ohne Rücksicht auf Wahrheit, auf die innere Wahrheit.
Ulrich von Pendragon hatte den Pakt mit dem Teufel geschlossen, und der geforderte Preis war, dass er bald selbst nicht mehr seine eigene Wahrheit kannte, dass er sich zu oft wie jener Dr. Jekyll in Mr. Hide verwandelt hatte beim Verfassen seiner Artikel, um noch jederzeit zurückkehren zu können in das andere Leben. Ja, es geschah immer häufiger, dass er während des Schreibens das, was er gerade zu Papier brachte, selber für wahr hielt.
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