Maike Braun

Die Leiden des Henri Debras

Ein historischer Roman über die Hysterie

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

VORBEMERKUNG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Impressum neobooks

VORBEMERKUNG

Die Geschichte beruht auf meinem wahren Fall. Die medizinische Diskussion entspricht – soweit ich das mit über hundert Jahren Abstand beurteilen kann – dem der damaligen Zeit. Die Ausgestaltung der Figuren, insbesondere ihre Motivation, ist jedoch frei erfunden. Die Recherche erfolgte anhand der Originaltexte, soweit diese verfügbar waren.



Ich danke Beate Paul für wertvolle Tipps zu Stil und Sprache, sowie meiner Familie für die Geduld, mit der sie meine Launen während des Schreibens ertragen hat.



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Kapitel 1



Ich blicke aus dem Fenster auf eine Landschaft, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, wie ich in sie hineingeraten bin.

Am Feuer singen die Kosaken. Es riecht nach verkohltem Fleisch.

Ein Schweißtropfen rinnt meine Stirn hinunter, in meine Augenhöhle, brennt. Ich wische ihn nicht weg, ich will keine Aufmerksamkeit erregen.

Eine Zigeunerin löst sich aus der Gruppe von Männern und Frauen, die in der Mitte des Raumes kauern. Die Männer beginnen, mit der Zunge zu schnalzen. Das Mädchen hebt den Rock, wirft ihn aus wie ein Netz. Ich drehe den Kopf zur Wand. Es ist schlimm genug, zuhören zu müssen.

Jemand packt mich am Arm, schiebt mich zur Mitte hin. Das Mädchen kommt auf mich zu. Der Rock verbirgt nichts mehr. Ich schließe die Augen.

„Henri, Henri“, skandieren die Männer.

Die Frauen klatschen dazu rhythmisch in die Hände.

Ich spüre Bewegung. Der Gestank lässt nach. Gestank von wochenaltem Schweiß. Etwas anderes mischt sich darunter. Ein süßlicher Geruch. Wie von einer giftigen Pflanze. Ich öffne die Augen. Die Zigeunerin steht vor mir. Ich starre in ihr Gesicht, will die nackten Beine nicht sehen. Ihre Augen sind braun. Erde im Frühling. Ich strecke die Hand nach ihr aus. Sie lacht. Eine Ecke ihres Schneidezahns ist abgebrochen. Angespitzt. Wie bei einer Bisamratte. Groß. Gefährlich. Gierig.

„Ich will nicht“, rufe ich.

Der Bursche, der mich festhält, drückt mich zu Boden.

Ein anderer zieht mir die Beine unter dem Leib weg. Ich liege flach auf dem Rücken. Das Mädchen schwenkt seinen Rock über meinen Kopf. Ich presse die Augen zusammen, Kiefer, Brust. Doch ich muss atmen.

Sie ziehen mir die Hosen herunter. Ich spüre nacktes Fleisch an meinen Beinen. Glitschig. Heiß. Fordernd.

„Aufhören! Hört auf!“

Die Meute johlt. Das Mädchen reitet mich wie einen Gaul. Ich will sie abschütteln. Mich herauswinden. Ein Knie aufstellen. Die Burschen halten mich fest. Der abgebrochene Schneidezahn des Mädchens blitzt vor meinem Gesicht auf und ab. Kommt näher, immer näher. Ich rieche die Fäulnis dahinter. Schreie. Will weg. Warum bin ich überhaupt hier? Ich gehöre nicht hierher. So helft mir doch! Hilfe!

„Хвáтит!“, brüllt jemand – es reicht.

Das Mädchen lässt von mir ab. Der Hauptmann steht über mir. Die Zigeunerin hält er am Arm gepackt. Er bedeutet mir aufzustehen. Ich ziehe meine Hose hoch. Er mustert mich abfällig, nimmt das Mädchen mit.

Ich verkrieche mich in eine Ecke. Wann hat dieser Marsch endlich ein Ende?



Am Vorabend des 18. Januar 1886 saß Eugène Tisson vor dem verglimmenden Feuer und schwitzte. Den Überrock hatte er bereits abgestreift. Jetzt krempelte er sich die Hemdsärmel hoch.

Ihm gegenüber saß Doktor Lantier, ehemals Schiffsarzt auf der Dahomé, eine Decke über die Beine gelegt, die Krawatte so akkurat wie an einem Sonntagmorgen vor dem Kirchgang, und goss sich Rotwein ein. Er hob das Glas gegen das Flackern des Kaminfeuers, schwenkte die Flüssigkeit etwas hin und her, roch daran und führte es langsam zum Mund.

Tisson schüttelte den Kopf.

„Manche Dinge werde ich nie verstehen“, sagte er mit Blick auf den Wein in der Hand des Doktors.

Ein Lächeln schlich sich in die Falten auf Lantiers Gesicht.

„Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Die einzige rote Flüssigkeit, mit der du dich auskennen musst, ist Blut. Und selbst damit – zumindest was ich über Nervenheilkunde weiß – auch nur selten.“

Tisson leerte sein Wasserglas und setzte es heftiger als beabsichtigt auf dem Beistelltisch ab. Lantier schaute verwundert auf.

„Tut mir leid“, sagte Tisson. „Vielleicht habe ich einfach nicht das Zeug dazu, sollte doch besser Chirurg werden.“ Er hob seine Hände und betrachtete sie. „Der Professor meinte, grobe Hände seien ein Zeichen für einen groben Verstand.“ Er ließ die Hände in den Schoß sinken.

„An deinem Kopf gibt es nichts auszusetzen. Er leistet gute Arbeit“, sagte Lantier. „Und deine Hände auch. Das habe ich selbst oft genug gesehen.“

Tisson legte ein neues Holzscheit auf. Er wollte nicht in Erinnerungen über ihre gemeinsame Zeit auf der Dahomé schwelgen, er wollte über die Zukunft sprechen, über den nächsten Tag, über den Beginn seiner Assistententätigkeit bei Professor Aupy. „Wussten Sie, dass er jünger ist als ich?“

„Und?“

„Und er ist schon Professor. Während ich –“

„- während du dir das Schulgeld erarbeiten musstest, deinen Abschluss, das Baccalauréat, an einer Abendschule nachgeholt hast –“

„Trotzdem –“, unterbrach ihn Tisson und verstummte, als er seine Unhöflichkeit bemerkte.

Der Doktor schmunzelte. „Das Kalb und der Ochs. Weißt du noch?“

Tisson nickte. So wurden der Doktor und er auf der Dahomé genannt. Er, das Kalb, dem nichts schnell genug ging, und der Doktor, der stur wie ein Ochse Kurs hielt.

Lantier nippte an seinem Weinglas. „Du machst das schon.“

„Es scheint einfach kein Ende zu nehmen“, sagte Tisson. „Noch ein Jahr als Assistent, der Nachweis selbstständigen wissenschaftlichen Arbeitens, eine Dissertation. Ich will endlich meine Approbation, will endlich die Erlaubnis, als Arzt praktizieren zu dürfen.“

Er starrte ins Feuer. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie nach dem Tod des Vaters die Arztrechnungen verbrannte. Sie hatte die Papiere gegen die Brust gepresst, eins nach dem anderen herausgezogen und einzeln ins Feuer geworfen. Er war klein gewesen, höchstens sieben, und für einen Moment hatte er geglaubt, sie reiße sich das Herz heraus. Stück für Stück.

Er blickte auf. Der Doktor hatte die Augen geschlossen. Tiefe Schatten hatten sich in seinem Gesicht eingenistet.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Tisson.

Lantier zuckte zusammen. „Was? Doch, doch. Ich habe nur darüber nachgedacht, was du gesagt hast.“

„Ich weiß, ich bin zu ungeduldig.“ Tisson nahm einen Blasebalg und fachte die Glut an. „Aber ich möchte das, was ich gelernt habe, endlich in die Tat umsetzen und Menschen helfen.“

„Nicht jedem kann man helfen, nicht alles kann man heilen“, sagte Lantier.

„Die Fallsucht meines Vaters vielleicht nicht. Aber die Leiden meiner Mutter hätte man kurieren können. Diese Landärzte sind doch nur bessere Quacksalber.“

„Ein hartes Urteil, mein Freund.“

„Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.“ Tisson ging zum Fenster, sprach in die Dunkelheit hinaus: „Die Wissenschaft schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran und diese Alchemisten verschreiben Wässerchen und schicken einen in die Kirche, weil ihnen nichts Besseres einfällt.“

„Für viele ein Trost.“

„Für meine Mutter nicht ausreichend.“ Sie war über den Verlust des Vaters nie hinweggekommen und war zwei Jahre darauf an einer Lungenentzündung gestorben. „Ich glaube einfach, meine Mutter hätte gerettet werden können.“

„Manchmal versucht ein Arzt sein Bestes und es reicht trotzdem nicht“, sagte der alte Schiffsarzt.

„Lieber Doktor, was wollen Sie mir damit sagen?“

„Mein Herz macht nicht mehr lange mit.“

Tisson fiel vor dem alten Mann auf die Knie. „Das darf nicht sein. Dagegen gibt es Mittel. Ich werde das nicht zulassen.“

Lantier schüttelte langsam den Kopf. „Kümmere dich lieber, um die, denen du wirklich helfen kannst.“

Am nächsten Morgen betrat Eugène Tisson die Abteilung für Nervenheilkunde des Hôpital Saint-André in Bordeaux. Er wurde dort bereits von einer Schwester erwartet. Sie führte ihn sofort wieder aus dem Gebäude heraus, quer durch den parkähnlichen Garten auf die andere Seite des Hospitals, wo sich die Männer befanden. Der Professor sei dort gerade auf Visite.

Tisson stieß die Tür zum Krankensaal auf. Etwa vierzig Betten waren paarweise vor den Fenstern angeordnet. Auf jeder Seite stand ein Nachttisch, am Fußende des Bettes ein Stuhl. In der Mitte des Saals befanden sich Rollwagen mit Spucknäpfen, Lappen und Schröpfköpfen.

Professor Aupy, ein schmächtiger, nach der neuesten Mode gekleideter Mann, ließ sich von einer Schwester Bericht erstatten.

Tisson trat auf ihn zu. „Eugène Tisson“, sagte er und streckte seine Hand aus.

„Wer?“

„Der neue Assistent.“

„Richtig, richtig.“ Aupy schüttelte flüchtig seine Hand. Dann fragte er die Schwester nach einem Patienten. Sie führte ihn zu dessen Bett. Tisson folgte. Der Mann lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. Lediglich die Augen rollte er hin und her. Als er Tisson bemerkte, hob er die Hand, ließ sie kurz darauf wieder fallen und begann zu wimmern.

„Tabes dorsalis – fortschreitende Lähmungen kombiniert mit Wahnanfällen“, sagte Aupy und fragte die Schwester, wann der Patient das letzte Mal seine Medizin eingenommen habe.

Die Schwester legte die Fingerspitzen aneinander und senkte den Kopf.

„Hab ich mir doch gedacht. Der Kerl ist stur“, erklärte Aupy. „Ich experimentiere mit verschiedenen Zusammensetzungen. Was nicht zuckersüß ist, spuckt er sofort wieder aus.“ Er wies die Schwester an, den Sirup zu holen.

Plötzlich geriet der Mann in Bewegung. Er wedelte mit den Händen, schlug um sich, schien einen unsichtbaren Gegner abzuwehren. Aupy bekam ihn am Arm zu fassen, zog einen Ledergurt unter der Matratze hervor und schnallte den Mann am Bettgestell fest. Tisson wies er an, die Beine festzugurten. Der Mann bäumte sich noch einmal auf, dann lag er still. Nur die Augen rollte er hin und her.

Aupy richtete sich auf. „Auch eine Neuerung von mir“, sagte er. So könne man, wenn nötig, mehrere Patienten gleichzeitig ruhig stellen und müsse nicht warten, bis die Arrestzelle zur Verfügung stehe.

„Arrestzelle?“ Tisson konnte sich in diesen hell getünchten Räumen keine Kammern mit Ketten und Eisenhaken vorstellen.

„Hinter der Tür. Neben der Wäschekammer“, sagte Aupy.

In dem Moment kam die Schwester mit einem dunklen Glasfläschchen zurück. Der Patient stöhnte auf und presste die Lippen aufeinander. Die Schwester zählte dreißig Tropfen eines zähflüssigen, schwarzen Saftes ab. Tisson fragte sich, wie sie den Patienten zu überreden gedachte, den Sirup hinunterzuschlucken, als Aupys Hand nach vorne schnellte. Mit geübtem Griff bohrte er Zeigefinger und Daumen in die Wangenmulde des Mannes, so dass dieser den Mund aufsperren musste. Die Schwester schob den Löffel hinein, Aupy den Arm unter dem Nacken des Mannes durch. Mit einer Hand hielt er dessen Nase zu, mit dem Handballen der anderen drückte er gegen den Unterkiefer. Der Mann wurde rot, burgunderrot, violett. Dann schluckte er.

„Braver Junge“, sagte Aupy und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab, das ihm die Schwester reichte.

Sie solle ihn noch eine Weile angeschnallt lassen und die verabreichte Dosis notieren. Aupy zog einen Spiegel aus der Tasche und zog sich den Scheitel nach. Dann eilte zum nächsten Bett, Tisson hinterher.

„Passiert das häufiger?“, fragte er.

„Wenn ihm der Sirup nicht süß genug ist“, meinte Aupy, während er das Krankenblatt des nächsten Patienten überflog.

Tisson bemerkte einen Mann, Mitte zwanzig, der auf dem Stuhl neben seinem Bett saß. Er trug Straßenkleidung, in seinen Händen drehte er eine Mütze.

„Wer ist das?“, fragte er.

„Henri Debra. Er wurde in der Nähe von Konstantinopel aufgelesen und hat keine Ahnung, wie er dorthin kam“, erklärte Aupy und hastete zum Ausgang. „Lassen Sie uns lieber zu den Frauen gehen, das ist wesentlich interessanter. Hier gibt es sonst nur noch ein paar Kopfverletzungen und Schwachsinnige.“

Tisson folgte ihm, als der Mann mit der Mütze auf sie zukam. Er griff nach Aupys Hand. Der wich einen Schritt zurück.

„Herr Professor“, rief der Mann, „bitte helfen Sie mir. Ich bin nicht wie die anderen hier.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Tabes-Patienten.

„Schon gut, schon gut“, sagte Aupy. „Schwester Pauline wird sich um Sie kümmern.“

Sofort eilte die Schwester herbei, legte eine Hand auf Henris Arm. Der Mann senkte den Kopf.

„Ich kann ihn mir anschauen“, sagte Tisson und ging einen Schritt auf Henri zu.

„Später, mein Lieber, später“, meinte Aupy und ging weiter.

Tisson eilte dem Professor nach. Der Patient wollte ihm folgen, doch die Schwester hielt ihn zurück.

„Bitte, Herr Doktor, ich bin nicht verrückt“, rief er Tisson hinterher.

Der drehte sich noch einmal nach dem Mann um. Gern hätte er etwas Tröstendes gesagt, ihm aufmunternd zugenickt, doch die Schwester hatte ihn bereits zu seinem Bett zurückgeführt.

„Für den Patienten mögen Sie schon Doktor sein“, sagte Aupy auf dem Korridor, wischte sich eine Strähne und das Lächeln aus dem Gesicht, „aber für mich sind Sie das noch lange nicht.“

„Ich wollte nicht voreilig erscheinen“, sagte Tisson. „Der Mann schien mir interessant. Was ist über ihn bekannt?“

„Ich vermute: Epileptiker“, sagte Aupy. „Sein Vater starb an Hirnerweichung. Es scheint in der Familie zu liegen.“

Tisson folgte Aupy die Treppe hinunter und einen weiteren Gang entlang.

„Ich würde mir den Mann gern genauer anschauen“, beharrte er.

„Ich dachte, Sie sind hier, um die Hysterie zu studieren? Da werden Sie bei Männern nicht viel Glück haben.“

„Ich weiß“, sagte Tisson. „Aber Sie behandeln doch auch andere Nervenleiden.“

„Aber meine Forschung gilt der Hysterie. Und die meiner Studenten ebenso.“

Aupy hastete weiter den Korridor entlang.

“Wohin gehen wir?“, fragte Tisson.

Aupy blieb abrupt stehen. „Werden Sie mir jetzt den ganzen Tag nachlaufen wie eines dieser Schoßhündchen, die gerade bei der Damenwelt so in Mode gekommen sind?“

Tisson stieß die Luft aus. Dies war sein erster Tag. Er war auf die Unterstützung des Professors angewiesen.

„Ja, schon gut. Kommen Sie mit. Ich will sowieso noch einmal mein Manuskript für die Vorlesung durchgehen.“

Sie verließen das Gebäude, eilten durch den Garten. Aupys Arbeitszimmer befand sich am Kopfende der Frauenstation auf der Westseite des Hospitals.

Tisson hatte sich das Untersuchungszimmer des Professors anders vorgestellt. Zwar gab es einen Tisch mit einigen Glasbehältern und Tiegeln, einem Mikroskop, vor allem aber gab es Bücher. Handbreite, griffeldünne, in Leder eingebundene, Atlanten, Pamphlete, Zeitschriften, alle nebeneinander eingepasst wie Ziegel eines Fachwerkshaus. Tisson sog die Luft ein. So viele Bücher und alle unter seinen Fingerspitzen. Er strich über Lederrücken, betastete Goldlettern. Über das Wesen und die Behandlung der Hysterie, las er. Charakteristik und Symptomatologie der Hysterie, Hypochondrie und Hysterie: Enthüllungen über die Natur derselben, Die Hysterie und ihre Heilung. Er zog den letzten Band heraus, schlug ihn auf. Das schwere Papier lag rau unter seinen Fingern.

Die Hysterie, stand dort, sei eine schwer zu fassende Krankheit. Sie wandle ständig ihre Gestalt und finde neue Ausdrucksformen. Deswegen, so las Tisson weiter, sei es von allergrößter Bedeutung, die Hysterie in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen als solche zu erkennen.

Tisson seufzte. Es gab noch viel zu lernen.

„Hören Sie auf, so zu schnauben.“

Tisson drehte sich um. Aupy kratzte mit seiner Feder über das Papier, als hätte er nichts gesagt.

Tisson ertappte sich dabei, wie er langsam die Luft durch den Mund entweichen ließ. Er stellte das Buch zurück und betrachtete die Zeichnungen an der anderen Wand. Eine Kopie des Synoptischen Tableaus des großen, vollständigen und regelmäßigen hysterischen Anfalls von Richer. Man sah Miniaturen von Frauen mit verrenkten Körpern, die Arme hinter dem Rücken verknotet, den Kopf zurückgeworfen, den Leib aufgebäumt. Alle Posen waren einem der vier Stadien der Hysterie gemäß Charcot, dem Meister der Nervenheilkunde, zugeordnet.

Tisson kannte das Klassifizierungsschema auswendig.

„Muskelzuckungen, Konvulsionen des gesamten Körpers, leidenschaftliche Gebärden und schließlich Delirium“, sagte er und warf einen Blick über die Schulter auf Aupy, der immer noch schrieb.

Tisson studierte die Photographie neben dem Tableau. Sie zeigte eine mit einem Anstaltshemd bekleidete Frau, die sich in ihrem Bett aufbäumte. Nur der Kopf und ihre Füße berührten die Matratze.

„Bisher konnte niemand diesen arc-en-ciel, dieses Aufbäumen, außerhalb der Salpêtrière in Paris beobachten“, murmelte er.

„Das wird sich jetzt ändern.“ Aupy warf den Federhalter aus der Hand und sprang auf. „Deswegen bin ich zurück nach Bordeaux gekommen. Ich werde Charcots Methoden hier einführen. Sie haben von der Pariser Schule gehört? Von der Salpêtrière, diesem Moloch von einem Krankenhaus?“ Er befeuchtete sich die Fingerspitzen mit der Zunge und zwirbelte die Enden seines Schnurrbartes. „Bald schon wird alle Welt von der Schule Bordeaux’ sprechen.“

Aupy nahm ein Manuskript von einem Stapel Unterlagen und hielt es hoch. „Wir werden die Wissenschaft vorantreiben. Im modernsten Hospital, mit den modernsten Methoden. Uns wird gelingen, was keiner zuvor vermochte.“

Er ging um den Schreibtisch herum, tippte sich an die Schläfe und flüsterte: „Wir werden den Sitz der Hysterie finden. Hier oben. Die Gelehrten werden nach Saint-André pilgern statt an die Salpêtrière. Zu mir statt zu Charcot.“

Tisson musterte den schmalen Mann, wie er im Raum stand, die Füße schulterbreit, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen das zusammengerollte Manuskript. Der jüngste Professor in der Geschichte Bordeaux’. Verfasser eines Standardwerkes über Sehstörungen bei Hysterischen. Wie man hörte, hervorragender Pianist. Busenfreund des Bürgermeisters. Dieser Mann konnte Charcot das Wasser reichen. Und er, Tisson wäre dabei, würde Seite an Seite mit ihm die Wissenschaft revolutionieren.

Aupy drückte Tisson das Manuskript in die Hand, nahm den Talar vom Haken, und stürmte aus dem Zimmer, Tisson hinterher.

„Gehen wir zur Vorlesung?“

Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, zog Aupy die Robe vollständig über und sprang die Treppe hinunter. „Legen Sie das Skript auf dem Pult ab und dann halten Sie sich im Hintergrund“, rief ihm Aupy über die Schulter zu.

Tisson stieß die Luft aus und setzte Aupys Talar nach.

Der Vorlesungssaal befand sich im Erdgeschoss direkt unter dem Speisesaal. Allerdings war er nur halb so groß. Die deckenhohen Fenster gaben den Blick auf einen der kleineren Gärten zwischen den Gebäudetrakten frei. Gaslampen erhellten zusätzlichen den Raum. Auf der linken Seite ging eine schmale Tür zu einem Nebenzimmer ab.

Etwa zwanzig Studenten standen in Grüppchen beieinander und plauderten, kippelten auf ihren Stühlen oder kritzelten vor sich hin.

Aupy stürmte auf das Rednerpult zu. Augenblicklich verstummten die Studenten, stellten ihre Stühle aufrecht, zupften an ihren Anzugärmeln und schlugen frische Seiten in ihren Notizbüchern auf. Ihr Blick war auf Aupy geheftet.

Dieser klopfte mehrmals mit den Handknöcheln auf das Rednerpult. Tisson legte das Manuskript vor ihm ab, trat zur Seite. Alle Sitzplätze waren belegt. Er ging auf einen der für die Patienten reservierten Stühle hinter dem Pult zu.

Aupy zog unter dem Pult ein Schemel hervor und stieg darauf.

„Meine Herren“, begann er, „ich werde Sie mit der modernen Nervenheilkunde vertraut machen.

„Möglicherweise“, sagte er und räusperte sich, „möglicherweise, sind Sie aus anderen Vorlesungen muntere Plauderstunden gewöhnt. Das wird jetzt anders. Möglicherweise sind Sie es gewohnt, monotone Vorträge zu hören. Auch das wird jetzt anders.“

Er wippte ein paar Mal auf dem Schemel auf und ab und setzte dann seinen Vortrag fort.

„Wir sind hier zwar – aus Pariser Sicht – in der Provinz. Aber deswegen sind wir noch lange nicht provinziell.“

Aupy verstummte. Tisson wartete auf ein Zeichen, auf einen Hinweis, auf eine Geste des Professors, mit der er ihn, seinen neuen Assistenten, den Studenten vorstellen würde. Doch Aupy fuhr mit seiner Vorlesung fort, als habe er ihn bereits vergessen.

„Ich werde Sie auf den neuesten Stand der Wissenschaft bringen“, sagte Aupy. „Vor allem aber werde ich Ihnen praktische Erfahrung vermitteln. Im Gegenzug verlange ich ungeteilte Aufmerksamkeit, Fleiß und Disziplin. Wem das zu anstrengend ist, der sollte jetzt besser gehen.“

Er schaute sich im Raum um. Niemand sprach.

„Nun gut“, sagte Aupy, strich die oberste Seite seines Manuskripts mit beiden Händen glatt.

Die Hysterie“, begann er, „aus dem Griechischen hystéra oder Gebärmutter abgeleitet, ist eine Frauenkrankheit.“

Jemand lachte. Aupy blickte von seinem Manuskript auf.

„Wer auch immer das war, er hat zu früh gelacht.“

Tisson bemerkte einen Rotschopf ganz links in der vordersten Reihe, der auf seiner Unterlippe kaute.

„Heutzutage ist die Wissenschaft viel weiter als noch vor fünfzig, ja zwanzig Jahren. Wir wissen, dass die Hysterie ein Nervenleiden ist.“

Aupy hielt inne, musterte wiederum die Studenten.

„Wenn Sie Hysterie hören“, fuhr er fort, „denken Sie wahrscheinlich an Frauen, die zu Boden sinken, sich krümmen, winden. Sklavinnen ihres Geschlechts.“

Er schaute erneut auf, Brennpunkt der Aufmerksamkeit, sprach weiter.

„Diese Krankheit ist heimtückisch, trügerisch, wechselhaft. Auf leisen Sohlen stiehlt sie sich in das Leben der Betroffenen. In die Waschhäuser, die Blumengeschäfte, die Hutmacherstuben. Greift heimlich nach ihrem Opfer. Eine Hand, ein Bein wird taub. Die Krankheit kriecht den Arm hinauf und setzt sich im Kopf fest. Pocht von innen gegen den Schädel, drängt hinaus, trübt die Sicht, lässt die Patienten Farben sehen, wo keine sind, Grau, wo Blumen blühen.“

Er hielt inne.

„Die Hysterie“, fuhr Aupy fort, „wütet im Innern dieser bedauernswerten Geschöpfe, verdreht ihre Eingeweide, verknotet, verstopft sie.“

Er blätterte um. „Wussten Sie, dass hysterische Frauen häufig tagelang keinen Harn lassen können? Sie müssen katheterisiert werden.“

Aupy beugte sich über das Pult, Tisson konnte ihn kaum verstehen. „Trauen Sie sich das zu? Bei einem fünfzehnjährigen Mädchen?“

Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Rotschopfs. Lauernd. Gierig.

Widerlich, dachte Tisson.

Aupy fuhr fort: „Die Hysterie höhlt die Kranke von innen aus, lange bevor sie in Form von Attacken aus der Patientin herausbricht, explodiert, ihr ganzes Gift dem Betrachter, dem Arzt, Ihnen, entgegenschleudert. Sind Sie dafür gewappnet?“

Tisson atmete tief ein. Er war bereit. Jahrelang hatte er sich darauf vorbereitet.

Aupy richtete sich wieder auf: „Natürlich nicht. Deswegen sind Sie ja hier. Sie sind hier, um die Vorboten dieser Krankheit erkennen, um sie von anderen Nervenkrankheiten unterscheiden zu lernen. Um sie zu bannen, zu bändigen, zu brechen.“

Er drehte sich zu Tisson um, stutzte, als habe er jemand anderes erwartet, und sagte: „Führen Sie die Patienten herein.“



Tisson betrat das Nebenzimmer, wo er die Kranken vermutete. Eine Schwester saß auf einem Stuhl und flickte ein Anstaltshemd. Drei Mädchen standen am Fenster, verglichen ihre Halsbänder, glucksten. Als sie ihn bemerkten, steckten sie die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.

Er räusperte sich. „Würden Sie mir bitte folgen?“

Kichern.

Er räusperte sich abermals.

„Würden Sie mir bitte folgen?“, äffte ihn eines der Mädchen nach.

Die Schwester legte ihre Handarbeit in einen Korb, stand auf. Augenblicklich verstummten die Mädchen, knöpften einen Ärmel zu, steckten Strähnen hoch und banden sich hastig die Samtbänder wieder um.

Eines nach dem anderen trippelten sie in den Vorlesungssaal, setzten sich in eine Reihe neben Tisson. Warteten.

Er studierte ihre Gesichter. Sie wirkten ernst. Die Hände im Schoß gefaltet, den Mund geschlossen, den Blick auf Aupy gerichtet.

Nur die, die ihn nachgeäfft hatte und jetzt am weitesten von ihm entfernt saß, schien zu lächeln. Er betrachtete sie genauer, ihre Nase, die Wangen, ihre roten Lippen. Ihre Blicke kreuzten sich. Sie zwinkerte ihm zu, als wolle sie ihm Mut machen.

Er lehnte sich zurück, damit sie ihn nicht länger sehen konnte. Nach einer Weile schielte er erneut zur Seite, sah das Profil des Mädchens neben ihm, wie es Aupy fixierte. Er beugte sich weiter vor und warf ihr, am Ende der Reihe, einen Blick zu, schnell, flüchtig. Sie beachtete ihn nicht. Sie hatte nur Augen für Aupy. Wie alle anderen.

Der rief die Patientin auf dem Platz direkt neben Tisson auf. Tisson bot ihr seinen Arm an, sie ignorierte ihn. Er setzte sich wieder, vermeinte den Lufthauch eines Lächelns auf seiner Wange zu spüren, wandte sich dem Mädchen am Ende der Reihe zu – nichts. Ihr Blick stur geradeaus, ins Gesicht gemeißelt.

Währenddessen ließ Aupy seine Patientin vor dem Pult auf und ab gehen. Sie zog das linke Bein nach. Ein Arm hing schlaff herab.

„Einseitige Lähmungserscheinungen“, erklärte er, hob die linke Hand des Mädchens und ließ das Gelenk plötzlich wieder los. Mit einem dumpfen Laut schlug der Arm gegen den Rock. Aupy trat von hinten an die Patientin heran und schnippte an ihrem linken Ohr. Keine Reaktion. Am rechten sofort.

„Gepaart mit linksseitiger Taubheit“, dozierte er weiter und kehrte ans Rednerpult zurück. Verloren stand die Patientin im Raum.

Tisson führte sie schließlich zum Platz zurück. Aus den Augenwinkeln nahm er erneut ein Zwinkern war. Er zwang sich, geradeaus zu sehen. So einfach ließ er sich nicht narren. Sanft drückte er seine Begleiterin auf den Stuhl hinab. Sie faltete die Hände im Schoß und heftete ihren Blick auf Aupy.

Der rief die nächste Patientin auf und schickte Tisson, die Farbtafeln zu holen.

Dieses Mal wandte Tisson den Kopf, doch das Mädchen mit dem roten Mund schien ihn nicht wahrzunehmen. Das Lächeln verschwunden, weggewischt. Eine Täuschung? Die Lippen leicht nach oben gebogen. Fährten eines Lächelns?

Während Aupy das eingeschränkte Sehvermögen des zweiten Mädchens demonstrierte, links sah es nur schmutziges Grau, rechts funkte und blitzte es am Rande des Gesichtsfeldes, versuchte Tisson den Blick des geheimnisvollen Mädchens zu erhaschen. Doch sie ließ sich nicht ablenken. Jeder Augenblick galt Aupy, die Miene entspannt, sich ihrer Sache gewiss.

„Arlette, treten Sie bitte vor“, sagte Aupy.

Sie erhob sich. Glitt über den Boden, ein Flattern in den Mundwinkeln, kaum sichtbar, vielleicht nicht einmal ihr selbst bewusst.

Tisson konzentrierte sich auf Aupys Vortrag.

„Arlette leidet unter einer Reihe von Symptomen. Erstickungsgefühle, Augenmigräne und einer besonders ausgeprägten Form der hysterischen Anästhesie oder des stark verminderten Schmerzempfindens.“

Aupy ging auf Arlette zu. Knöpfte den rechten Ärmel ihres Kleides auf und rollte ihn nach oben. Seine Finger verweilten einen Moment auf ihrem Unterarm. Arlette blickte auf. Er zog die Hand zurück.

Das Mädchen wirkte gelassen, ja heiter. Die Vorahnung eines Lächelns, das sich jedoch durch nichts festmachen ließ. Die Lippen einen Spalt geöffnet.

Aupy bat Tisson um eine Nadel. Die Studenten beugten sich auf ihren Stühlen vor. Tisson brachte ihm ein mit Samt beschlagenes Kästchen, das mehrere fußlange Nadeln enthielt.

Da war es wieder. Er hatte es gesehen. Arlette hatte gelächelt, kurz nur, als sie die Nadeln sah, aber es war eindeutig ein Lächeln gewesen. Dieses Mal war sich Tisson sicher.

Aupy blickte Arlette direkt in die Augen. Dann nahm er die Nadel und berührte ihren entblößten Unterarm.

Arlette blinzelte. Aupy hob erneut die Nadel an – und stach sie durch Arlettes Arm.

Tisson stieß einen Schrei aus. Ein Stuhl polterte zu Boden. Der Rotschopf sprang herbei, reckte den Kopf über Arlettes Arm.

Und Arlette lächelte. Offen. Sichtbar.

Den Blick fest an Aupy geheftet. Doppelgestirn, um das die Welt rotierte. Die Nadel als Achse. Quer durch das Fleisch. Tisson war es, als spüre er den Stich in seiner eigenen Brust.

Der Rotschopf streckte die Finger nach der Wunde aus. Suchte nach Blut. Es kam keines.

Tisson wischte seine Hand zur Seite. Der Rotschopf zuckte zusammen. Stierte ihn an. Maß ihn mit den Augen. Wich zurück.

Mit einem Ruck zog Aupy die Nadel wieder heraus. Entließ Arlette aus seinem Blick. Strich sich über den Schnurrbart und ermahnte seine Zuhörer zur Ruhe.

Er trommelte gegen das Pult, während die Studenten wieder ihre Plätze einnahmen. Arlettes Blick war ausdruckslos, wie zuvor, wie der ihrer Gefährtinnen, erloschen.

Aupy sprach: „Sie sehen also: Die Hysterie kann sehr viele Formen annehmen und zu erstaunlichen Resultaten führen.“ Er bedeutete Tisson, die Patienten wieder hinaus zu bringen.

Zurück in seinem Arbeitszimmer fragte Aupy Tisson, wie ihm die Darstellung gefallen habe.

Tisson dachte an Arlettes lächelndes und doch nicht lächelndes Gesicht und suchte nach einer geeigneten Antwort, als Aupy fortfuhr: „Die heutige Demonstration war erst der Anfang. Wir werden jede Woche neue Fälle vorstellen, Statistiken aushängen, Hysterische in den verschiedenen Stadien eines Anfalls vergleichen.“

Er schob die Hand unter seine Weste, die Lider halb geschlossen.

„Die Schule Bordeaux’. Das klingt gut, finden Sie nicht? Ich werde für Bordeaux sein, was Charcot für Paris ist. Sind Sie bereit dazuzugehören?“

Tisson nickte.

„War ja auch nicht anders zu erwarten.“

Er solle sich von Schwester Marguerite die Krankenakten der Frauenstation geben lassen und sie studieren. Wenn er damit fertig sei, könne er wieder kommen und Bericht erstatten.

„Worauf warten Sie? Ich bin beschäftigt. Gehen Sie, gehen Sie.“

„Ich habe noch kein Arbeitszimmer.“

„Kein Arbeitszimmer, kein Arbeitszimmer. Fragen Sie Schwester Marguerite, die kümmert sich darum.“



Tisson betrat die Frauenstation. Schwester Marguerite sei gerade im Keller bei den Unheilbaren, er solle später wieder kommen. Er versuchte zu erklären, dass das nicht ginge, da er nicht wissen, wo er sich in der Zwischenzeit aufhalten solle.

„Es ist schönes Wetter. Gehen Sie in den Garten“, sagte die Schwester. „Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.“ Man habe schon genug Ärger mit herumstreunenden Stallburschen.

„Ich verstehe“, sagte Tisson. Aber er sei kein Stallbursche, sondern der neue Assistent des Professors und als solcher benötige er ein Arbeitszimmer.

In diesem Moment hörte er eine Stimme, von der er nicht sagen konnte, ob sie zu einer Frau oder einem Mann gehörte. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“

Eine Schwester, das Gesicht wie das Gewand in graue Falten gelegt, stand vor ihm. Ihre buschigen Augenbrauen schoben sich aufeinander zu wie zum Kampf zweier Raupen.

Er stellte sich vor. Die Raupen entspannten sich.

„Ihr Arbeitszimmer befindet sich hinter der Tür am Ende der Männerstation“, sagte sie.

„Aber da ist doch nur die Arrestzelle.“

„Und die Wäschekammer.“ Sie lächelte. „Wir haben die Arrestzelle für sie frei geräumt. Ein Schreibtisch und ein Regal sind schon drin.“

„In der Arrestzelle?“

„In der ehemalige Arrestzelle, jetzt Ihrem Arbeitszimmer. Das Schloss habe ich entfernen lassen. Sie können also nicht von außen eingeschlossen werden.“

„Das liegt auf der anderen Seite des Hospitals. Das ist meilenweit vom Professor entfernt. Weiß er davon?“

„Der Professor befasst sich nicht mit Nebensächlichkeiten. Ich schlage vor, Sie beziehen Ihr Zimmer – bevor jemand anderes auf die Idee kommt.“

Tisson presste seine Tasche gegen den Leib und eilte durch den Garten, stieg die Treppen hinauf, durchquerte die Männerstation, schloss die Tür am Ende der Station auf, betrat den winzigen Vorraum und stieß die eisenbeschlagene Tür der ehemaligen Arrestzelle auf.

Ein Schreibtisch, ein Regal und Gitter vor den Fenstern. So also sah sein Zimmer im modernsten Hospital Frankreichs aus. Hier also sollte er die Wissenschaft vorantreiben, seine Entdeckungen machen, den Ruhm der Schule Bordeaux’ begründen. Er trat ans Fenster. Es stank nach Bleichlauge. Im Gebäude gegenüber war die Wäscherei untergebracht.

Tisson wischte den Staub vom Schreibtisch, holte einen Bogen Papier aus seinem Ranzen und schrieb an Lantier.



Lieber Doktor,

mein erster Tag als Assistent von Professor Aupy ist vorüber. Abgesehen von einer Rüge seitens des Professors, ich solle mich bitteschön nicht mit männlichen Patienten abgeben, einer Vorlesung, in der ich mich vor allem durch Mitgefühl für die Patientinnen statt wissenschaftlicher Neugier auszeichnete, und einer ehemaligen Arrestzelle als Arbeitszimmer, verlief der Tag ohne nennenswerte Zwischenfälle.



Er strich das Wort Rüge durch, das klang zu streng, schrieb Hinweis stattdessen, las den Brief noch einmal, ersetzte Arrestzelle durch Besenkammer. Auch das klang zu dramatisch. Er zerknüllte den Brief. Lantier würde ihn beim nächsten Besuch darauf hinweisen, dass er als Landarzt über eine ganze Villa verfügen könnte.

Tisson nahm einen neuen Bogen, als es an der Tür klopfte.

„Herein“, sagte er und fuhr mit der Feder über das Blatt. Es blieb blank. Er schüttelte den Federhalter. Nur ein Kratzen.

Wieder klopfte es.

„So kommen Sie doch herein.“

Als es ein drittes Mal klopfte und niemand eintrat, marschierte Tisson zur Tür und riss sie auf.

Vor ihm stand Henri Debra.

Kapitel 2





Der Doktor hat ein grobes Gesicht, ein gutes Gesicht. Seine Hände packen zu, halten fest. Das mag ich.

Er fragt, was mich hierher bringt und schraubt seinen Federhalter auseinander. Er füllt ihn mit schwarzem Blut. Dann setzte er den Deckel wieder auf. So etwas habe ich noch nie gesehen.

„Was ist das?“, frage ich und deute auf das seltsame Schreibgerät.

Ein Lächeln spaltet das breite Gesicht des Doktors.

„Eine ganz neue Erfindung“, sagt er. Ein Geschenk von einem guten Freund, der viel herumkommt.“

Ich komme auch viel herum. Mehr als mir lieb ist.

Man brauche die Feder nicht ständig in Tinte zu tauchen, erklärt er. „Der Füller trägt gewissermaßen sein Tintenfass mit sich.“

Eine schöne Idee: alles bei sich zu haben, das man braucht. Er reicht mir den Federhalter. Ich schüttele den Kopf.

„Ich kann nicht schreiben.“

Außerdem habe ich Angst, dass sich das Ding von mir nicht zähmen lässt, mit mir macht, was es will.

„Das kann man lernen“, sagt er und wie zum Beweis wird die Feder lebendig, rast über die Seite, zuckt wie ein Dämon.

Er legt den Füller wieder zur Seite. Ich stoße ihn mit dem Finger an. Er rührt sich nicht.

Ich möchte ihm von meiner Unrast erzählen. Davon, dass sich meine Brust anfühlt wie eine aufgezogene Spiralfeder, bevor mich der Dieb packt.

Doch ich sage: „Ich habe gesehen, wie Sie hier eingezogen sind. Auf der Männerstation. Bleiben Sie lange?“

„Wer weiß, jetzt vielleicht schon. Wurde Ihre Krankengeschichte bereits aufgenommen?“

Ich weiß nicht, was er meint.

„Dann machen wir das jetzt“, sagt er und schlägt eine frische Seite in seinem Notizbuch auf.

Er fragt mich nach meinem Namen. Ich nenne ihn. Er fragt mich nach meinem Beruf, meiner Adresse. Ich nenne sie ihm. Er fragt nach meinem Alter.

Ich erinnere mich nicht daran. Nicht an mein Geburtsjahr, nicht an den Monat und nicht an den Tag.

„Vielleicht fällt es Ihnen später ein.“

Er hat sanfte Augen, als er das sagt.

Er fragt mich nach meinen Vater, ich mag nicht darüber reden. Nach meiner Mutter, wie sie im Bett lag, die Hände gefaltet, und das letzte Sakrament erhielt. Ich sehe sie vor mir in diesem Moment, ihr zartes Lächeln wie der erste Frühlingswind. Ich erzähle ihm davon.

Der Doktor nickt, seine Augen sind fast geschlossen. Hört er noch zu? Das Schreibgerät schläft auf dem Tisch.

Als ich ihm von meinen Kopfschmerzen berichte, richtet er sich auf.

„Sprechen Sie weiter. Was passiert als nächstes?“

„Die Welt verschwindet. Ich verschwinde.“

Er hakt nach. Seine Feder duckt sich über dem Blatt wie eine Spinne vor dem Absprung.

„Ich stehe in unserer Straße vor dem Gemüseladen“, erkläre ich. „Links davon befindet sich der Hutmacher, rechts der Fleischer.“

Er nickt mir aufmunternd zu.

Ich erzähle, wie die Welt von den Rändern her aufgefressen wird, bis sie sich ganz auflöst.

Er schaut mich an. Ich sehe den Unglauben in seinen Augen. Er hält mich für einen Schwindler.

Er kann es nicht verstehen. Er gehört hierher. Mit seinem neuartigen Federhalter. Er gehört in dieses Hospital mit den dicken Mauern und dem schönen Garten, an diese Schreibtisch, selbst wenn er staubig ist. Ihn treibt nichts davon.

„Henri“, sagt er und seine Stimme klingt wie das Summen von Bienen an einem Lavendelstrauch. Ich soll ihm ganz genau erzählen, was passiert. Vielleicht kann er mir doch helfen.

„Es ist nichts mehr da“, sage ich. „Kein Gemüse, keine Hüte, keine Kalbsköpfe.“

Was ich stattdessen sehe, will er wissen.

„Nichts“, sage ich. „Ich sehe nichts. Es ist alles wie von einer Tafel gewischt. Tage, Wochen, manchmal auch Monate später, wache ich in einer wildfremden Stadt auf.“

Seine Feder gerät in Bewegung. Huscht über die Seite. Hinterlässt eine schwarzleuchtende Spur.

„Haben Sie Kinder?“, frage ich.

Er hält inne. Schaut mich an. Schüttelt den Kopf.

Ich möchte gern Kinder. Mit Kindern ist alles anders. Sie vertäuen einen in der Welt.

Ich erzähle ihm von einem Mädchen, das ich unten im Hof bei den Waschweibern gesehen habe.

„Sie ist nicht wie die anderen“, sage ich und verstumme.

Wie soll ich es ihm erklären?

Über den Schreibtisch hinweg greift er nach meinem Arm, nimmt meine Hand in die seine. Er wird mich festhalten, wenn ich wieder weglaufen will. Das spüre ich.

Er bittet mich, weiter zu sprechen.

„Ich höre einen Namen. Von einer Stadt, von einem Land. Dann kommen die Kopfschmerzen, alles verschwimmt und ich marschiere los. Ich suche diesen Namen, diese Stadt, dieses Land. Als ob ein Fremder sich meinen Körper ausleiht. Mit ihm spazieren geht. Quer durch Europa.“

Ich blicke auf, er nickt mir zu, ich fahre fort.

„Wenn dieser Herumstreuner, dieser Dieb, genug hat oder in Schwierigkeiten gerät, lässt er meinen Körper am Straßenrand liegen wie einen ausgetretenen Schuh. Dort finde ich mich wieder.“

„An mehr erinnern Sie sich nicht?“

Ich schüttle den Kopf. Er lässt meine Hand los. Gleich wird er mich wegschicken. Doch er notiert nur etwas in seinem Buch. Die Feder tanzt über das Papier. Ein schöner Anblick. Ich möchte auch tanzen lernen.

Die Tür fliegt auf. Eine Schwester marschiert herein. Nicht die von der Station. Eine andere. Mit Augenbrauen quer über das Gesicht wie ein Galgen.

„Hier stecken Sie also“, sagt sie streng und knallt einen Stapel Akten auf den Schreibtisch des Doktors.

„Schwester Marguerite, würde es Ihnen etwas ausmachen?“, sagt der. „Ich führe gerade ein Gespräch mit einem Patienten.“

Eine ihrer Augenbrauen krümmt sich.

„Das würde es“, sagt sie.

Der Doktor sieht wütend aus. Seine Lippen ziehen sich in den Bart zurück.

Aus einem an ihrem Gürtel befestigten Beutel holt sie ein braunes Glasfläschchen, streckt es mir entgegen. Es sieht aus wie das, aus dem sie dem Kranken auf der Station gegeben haben. Ich will nicht ruhig gestellt werden. Ich will nicht festgeschnallt werden.

Ich stehe auf. Sie packt mich am Arm. Ich schüttle sie ab.

„Jeden Morgen nehmen Sie davon einen Löffel. Dann fühlen Sie sich spätestens in einem Monat besser“, sagt sie.

„Ich bin nicht wie der Mann heute Morgen. Ich bin nicht verrückt.“

„Deswegen bekommen Sie ja auch etwas anderes“, sagt sie.

„Was ist das?“, fragt der Doktor.

Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe, fügt „Gegen seine Fallsucht“ hinzu.

Ich falle nicht, ich verschwinde. Ich hebe die Hand. Will sie aufklären.

„Keine Widerrede. Sie gehen jetzt nach Hause und schlucken brav jeden Tag Ihre Arznei.“

Nach Hause? Ich will nicht nach Hause. Dort kommt er wieder, der Dieb.

„Ich möchte hier blieben - beim Doktor.“

Die Schwester bleckt die Zähne. Sie sind schief.

„Der Doktor ist noch gar kein Doktor“, sagt sie. „Der einzige Doktor, den es hier gibt, ist der Herr Professor. Und der sagt, Sie sollen nach Hause gehen.“

Ich schaue den Doktor an, der keiner ist.

„Ich rede mit dem Professor“, sagt er.

„Trotzdem gehen Sie jetzt nach Hause“, sagt die Schwester.

Ich drücke mich gegen die Wand. Ich will da nicht hinaus, wo sie mit Gurten warten und den Patienten Pech einflößen.

Die Schwester faucht den Doktor an. Er schnaubt zurück. Mein Schädel pocht.

Wie soll mich der Doktor heilen, wenn ich nicht im Hospital bin?

„Henri, bitte tun Sie, was Schwester Marguerite sagt.“

„Herr Doktor, Monsieur, lassen Sie mich nicht im Stich.“

Der Doktor legt seine Hände auf meine Schultern, blickt mich an. Seine Augen haben die Farbe von Harz in der Sonne. Fast kann ich die Pinien riechen. Er verspricht mir, mich nicht im Stich zu lassen. Er gibt mir sein Wort.

Die Schwester drängt mich zur Tür hinaus. Ich drehe mich zum Doktor um. Er wird mich heilen. Er muss mich heilen.

„Sie haben es mir versprochen.“

Ich stolpere über die Türschwelle. Die Tür fällt zu. Der Doktor ist verschwunden.



„Tisson, was gibt’s denn nun schon wieder?“

Aupy blickte kurz von seinem Schreibtisch auf, dann wühlte er weiter in den Unterlagen, die darauf verstreut waren.

„Ich wollte mit Ihnen nochmals über Henri Debra sprechen.“

Aupy beugte sich quer über den Schreibtisch und deutete mit dem Finger auf den Boden. „Liegt da etwas?“

Tisson wollte gerade den Kopf schütteln, als er unter dem Tisch eine Zeichnung entdeckte. Auf dem Blatt war ein Zackenmuster abgebildet, das Tisson entfernt an die Umrisse einer mittelalterlichen Befestigungsanlage erinnerte. Er reichte sie Aupy.

„Wegen Henri Debra“, begann er erneut.

Aupy verglich die Zackenlinie mit einer ähnlichen in der aktuellen Ausgabe der Revue Médical.

„Wusste ich es doch“, murmelte er, klappte das Journal zu und musterte Tisson. „Was ist mit ihm? Wenn er sich weigert, seine Arznei zu nehmen, binden Sie ihn fest.“

Tisson winkte ab. Das sei nicht nötig. Der Patient sei kooperativ. Er habe sich gerade lange mit ihm unterhalten. „Seine Krankheit ist recht ungewöhnlich. Ein Anfall scheint bei ihm den Zwang zu reisen hervorzurufen.“

Aupys Schnurrbart zuckte. „Was wollen Sie mir damit sagen? Dass er nicht entlassen werden soll? Wollen Sie mich belehren?“

„Nein, sicher nicht. Ich würde ihn nur gern etwas länger beobachten. Er könnte doch einmal die Woche zur Nachuntersuchung ins Hospital kommen.“

„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, unser Gebiet ist die Hysterie und nicht die Epilepsie? Im Übrigen: Wie behandelt man die Fallsucht?“

„Mit Brom Kalium.“

„Exakt. Genau das bekommt er. Hat Ihnen Schwester Marguerite nicht die Krankenakten gebracht?“

Tisson nickte.

“Dann sind Sie doch beschäftigt. Studieren Sie die Akten. Machen Sie eine Aufstellung über sämtliche Neuzugänge im letzten Jahr. Alter, durchschnittliche Verweildauer, Häufigkeit der Anfälle, Symptome etcetera etcetera. Vor allem aber achten Sie auf Störungen im Sehvermögen. Notieren Sie, welcher Art diese Störungen sind. Im Zweifelsfall befragen Sie die Patientinnen erneut.“

Aupy setzte sich an den Schreibtisch, schob die Papiere zur Seite, zog ein leeres Blatt aus der Schublade hervor und begann zu schreiben.

„Auch bei Henri kündigt sich ein Anfall durch eine Verengung des Sehfeldes an.“

„Tisson! Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, können Sie Ihre Sachen packen und sich von mir aus als Landarzt im Finistère niederlassen.“



Die nächsten Wochen verbrachte Tisson damit, das Sehvermögen aller Neueinweisungen der letzten sechs Monate auszuloten. Er maß die Farbwahrnehmung, die Sehstärke und die Ausdehnung des Gesichtsfeldes. Letzteres stellte die aufwändigste Messung dar. Dazu arretierte er den Kopf der Patientin, wies sie an, einen zentralen Punkt zu fixieren und bewegte dann einen Metallstift auf einem Försterbogen, einer halbkreisförmigen Schiene, langsam von außen in Richtung Nasenspitze. Die Patientin gab ein Handzeichen, sobald sie den Stift wahrnahm. Dasselbe wiederholte er in Zwanzig-Grad-Schritten bis er einen Halbkreis durchschritten hatte.

Schob er den Stift zu schnell, wurde die Messung ungenau. War er zu langsam, verloren die Patientinnen die Geduld und begannen die Augen hin und her zu bewegen. Dann musste er wieder von vorne beginnen. Darüber hinaus beklagten sich die Frauen ständig, dass er nicht mit ihnen rede. Er versuchte ihnen zu erklären, dass er sich konzentrieren müsse. Doch einige schienen sich regelrecht einen Spaß daraus zu machen, ihn abzulenken. Vor allem die Mädchen, die sich schon länger im Hospital befanden. Tisson nahm sich vor, mit Schwester Marguerite darüber zu sprechen, wie man den Alltag für die Patientinnen interessanter gestalten könne, damit diese nicht ihre gesamte jugendliche Vergnügungssucht an ihm austobten.

Hinzu kam, dass er die Messblätter selbst anfertigen musste, da Aupy die wenigen Vordrucke für sich behielt. Tisson verbrachte mehrere Tage damit, konzentrische Kreise auf ein Blatt Papier zu zeichnen und die Gradzahlen von null bis hundertachtzig in Zwanzigerschritten darauf abzutragen.