Danke, meine niedlichen Freunde
und Mutter Sissi,
von der ich alles lerne.
Ich bin so um die 40. Das sagt man heute auf Partys, zu denen einen keiner einlädt, noch nicht mal zu verdammten Stehpartys oder EVENTMANAGER-GEBURTSTAGEN lädt einen eine Sau ein, und wenn doch, wäre da sicher ein dicker Mann mit Schweiß, der fragte: Na, wie alt sind wir denn? Und statt ihm mit einem Bauchschuss zu antworten, dass seine Scheißgedärme auf den Boden klatschen und gegen den Cindy-Sherman-Original-Abzug mit Nummerierung, sagt man, den Kopf zu Boden geneigt: Ich bin so um die 40. Ich bin 176 Zentimeter groß, ich wiege 56 Kilogramm, ich habe irgendwelche Haare, meine Augen sind blau, aber nicht sehr, und meine Haut wird immer weicher oder das Fleisch darunter, das kann ich nie auseinanderhalten. Ich wohne in einer deutschen Stadt, die wirkt, als wäre sie komplett besoffen. Ich mache fast alles für Geld, und nichts davon interessiert mich. Ich habe mich für kaum etwas bewusst entschieden, ich habe es passieren lassen, das Leben. Wenn man isst, schläft, keine Drogen nimmt, sich sauber hält und nicht weiter auffällt, dann passiert es einem so, das Leben, man muss da keine Verrenkungen machen. Ich lebe alleine, weil das auch so passiert ist. Ich arbeite irgendetwas, danach gehe ich nach Hause, mache mir tiefgekühlte Sachen warm, esse die im Bett, schaue fern, schlafe, und am nächsten Morgen geht alles von vorne los. Ich mache die meisten Dinge, weil alle sie so machen. Alle wohnen und arbeiten, falls sie nicht arbeitslos sind, alle essen was und haben Schlafprobleme, besonders in meinem Alter, weil sie Angst haben, nicht wieder aufzuwachen. Aber das würde der dicke Mann überhaupt nicht wissen wollen. Er wäre auch bereits nach einer Minute verschwunden. Denn so ist das heute: Keiner hört mehr wem zu. Da kann man noch so interessante Sachen erzählen.
Es ginge durchaus noch unerfreulicher: An einem Sonntag zum Beispiel. Im Herbst zum Beispiel, im Sommer oder egal wie das Zeug heißt, denn Jahreszeiten sind uninteressant geworden, nicht zu unterscheiden, seit die Welt begonnen hat, sich in einer Geschwindigkeit aufzulösen, mit der keiner gerechnet hat.
O-Ton Welt Damit habe ich irgendwie nicht gerechnet!
Die wenigen, die sich für etwas außerhalb ihrer selbst interessieren, wissen, dass sich die Anzeichen für den Untergang häufen. Aber sie denken auch: Jede Zeit ist den Menschen vermutlich als die furchtbarste erschienen.
O-Ton Melchior und Michelangelo Findest du unsere Zeit nicht auch verkommen, Michel? Ja, Melchi, ich glaube, die Welt hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Inquisition und die Pest, Frauen brennen auf Scheiterhaufen, ich glaub, das geht nicht mehr lange.
Wollen wir uns mal nicht so wichtig nehmen. Denken die Pessimisten, die eigentlich Realisten sind, weil sie erkannt haben, dass es keine andere Spezies gibt, die so habgierig, boshaft, verkommen und neurotisch ist wie der Mensch. Und trinken einen Kaffee, einen Schnaps. Was sollen sie sonst auch trinken? Oder tun?
Es ist:
Zu spät für Lösungen.
Es gibt:
Keinen Anfang und kein Ende.
Keine Konturen.
Die Menschheit ist schon immer Scheiße gewesen. Und nun ist auch noch die Welt, auf der sie herumläuft, zu einem Haufen Dings geworden, aufgestapelte, wurmstichige Bretter, alles, was Leute mit Schwung, Gier und Dummheit aufgehäuft hatten in ein paar Tausend Jahren. Zieht man ein Teil heraus, stürzt der Rest in sich zusammen.
Einige Bretter sind entnommen worden.
Keiner hat mehr eine Ahnung. Alle wissen gleich viel. Jede Sekunde kann jeder eine neue Meinung haben und sie, ist er dumpf genug, auch äußern. Aber alles ist falsch. Die Zeit der Meinungen ist vorbei. War früher, als die Welt überschaubar schien, sich Gut und Böse besser bestimmen ließen. Es hat zu viele Menschen heute, zu viele Schattierungen, zu viel Geräusch, gibt weder links noch rechts, nur ein wenig Moral existiert noch. Aber was das ist, bestimmt jeder für sich.
Zu nah sind sich die Länder durch den unentwegt überall Tag und Nacht rauschenden Fluss manipulierter Informationen. Zu billig die Reisen, dass jeder überallhin kann und sich eine Meinung bilden, im Urlauberreservat.
Alle wissen Bescheid.
Zu unklar die Lage.
Der letzte große Krieg hat begonnen. Die geschickt eingeleitete Schlacht der Giganten. Ein paar Godzillas verteilen die Weltherrschaft neu. Ob sie bedacht haben, dass es im Anschluss vielleicht keine Welt mehr geben wird?
Aber auch wir hier unten haben was zu tun. Unterentwickelte Nebenkriege für die kleinen Leute. Seit ein paar Jahren ist die scheinbare Ordnung der Welt, die durch Diktatur und Mord, Gesetze und Folter hergestellte Ordnung der Welt, durcheinandergeraten. Die Twin Towers, Aufräumarbeiten in Afghanistan und dem Irak, viele kleine Plakate mit Friedenstauben, tote Russen in der Oper, tausend Attentate, die kaum mehr einen interessieren.
Europa ist noch ruhig, ruht sich noch aus in seiner vermeintlichen Überlegenheit. Doch es ist ungemütlich geworden. Auf allen Kontinenten bricht die Wirtschaft zusammen, Handyanschlüsse werden gesperrt, Jungjournalisten machen Karriere als Obdachlose, Broker erhängen sich. Überall werden westliche Touristen entführt. Hunderttausend Menschen im Land, davon 30 Prozent Teenager, bringen sich Jahr für Jahr um, ohne andere mit in den Tod zu nehmen – was für eine Verschwendung. Keiner glaubt, keiner will mehr etwas. Außer persönliches Glück. Doch woher soll das kommen, wohin gehen – zu Leuten, die nicht bei sich sind? Da will doch keiner hin.
In allen Ländern, die nicht von Weißen bewohnt sind, wird weiterhin massiv gestorben an Hunger und Seuchen. Die Bürgerkriege sind so zahlreich, dass man mit ihrer Registrierung nicht nachkommt, sich nicht im Ansatz die Namen all der neuen Zwergstaaten merken kann, von denen jeden Tag ein paar entstehen. Es wohnt ohnehin keiner mehr da, alle gestorben im Unabhängigkeitskrieg. Also nichts Neues.
In Europa ist es spannender. Malaria, Beri-Beri und die Krätze, die in unseren Breitengraden, in unseren überlegenen Leibern nix verloren hatten, sich aber wegen der Klimaveränderung prima entwickeln konnten, erobern den Norden, was aber nicht weiter schlimm ist, weil der sowieso gerade weggespült wird.
Es ist das dritte Jahr der Flut. Das Fernsehen zeigt, wie in den Jahren zuvor, per Live-Cam 24 Stunden lang Überschwemmung. All die nutzlos Schlaflosen können in den frühen Morgenstunden beobachten, wie Kühe in den großen Abfluss der Erde strudeln und übergewichtige Menschen, die ihren Lebenshöhepunkt nie gehabt haben, kleine Sandsackwälle gegen meterhohe Wassermassen errichten. Schwitzend versuchen sie, seltsame Couchgarnituren aus hellem Kunstholz mit Bezügen, auf denen lilafarbene Dreiecke torkeln, gegen die Plörre aus Kot und aufgeweichten Gräbern zu schützen. Sie weinen in die Kameras, während das Wasser einen Totenschädel gegen ihre dicken Knie spült.
O-Ton Ossi Herbert Mein Hab und Gut – alles dahin. 40Jahre Arbeit, stückweit umsonst. Erst hat uns die DDR betrogen um unseren gerechten Lohn, und dann kamen die Wessis und die Treuhand und der Teuro. Von vorne bis hinten beschissen. Ich bin Frührentner, da, sehn Sie, na, Sie sehen nichts, da ist das Bein weg. Noch mal alles aufbauen, das kann ich vergessen. Und von wegen Entschädigung, da lach ich, wie das aussieht, wissen wir: 50Mark Begrüßungsgeld und ein Bündel Bananen. An dem Haus hatte ich ja so weit alles selber gemacht. Zuletzt den Grillplatz im Garten. Mit Platten auf dem Boden und einer Laube, und die Bänke hatte ich angemalt, da hinten, sehen Sie, da, wo der Fluss so breit ist, überdacht hatte ich das und mit Glitzerschlangen geschmückt, und noch letztes Wochenende haben wir da gesessen. Freunde und ihre Frauen. Wir haben Ferkel gegessen und Korn getrunken, wir haben gelacht und Karten gespielt, und selbst mit meiner Frau habe ich mich wieder verstanden. Auch sexuell. Dann war ich so voll, dass ich kotzen musste, das schöne Ferkel kam wieder raus, ich dachte, wie der Spieß durch seinen Mund ging, und dass es eigentlich aussah wie ein gegrillter Mensch. Da hinten stand mein Auto. Ein Mercedes. Gebraucht zwar, aber immerhin ein Einspritzer und mit Handschaltung, wegen des Beines. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ohne Auto sind mir die Hände gebunden. Die Einbauküche ist noch nicht abbezahlt. Meine Frau ist ertrunken, als sie versucht hat, die Couch zu retten. Die war erst drei Monate alt.
So unerheblich, ob sie ihre Pappmaché-Häuser wieder errichten oder sich in Höhlen verkriechen, zu erwarten steht von den Menschen nichts Überraschendes. Nachdem das Wasser abgezogen, die gold-blau-gelb gestreiften Tapeten wieder angebracht, werden sie Kredite aufnehmen, um sich rasch neue, große Autos zu kaufen. Sie werden in die Supermärkte kriechen, über eingetrocknete Schlammschollen, und billig Fleisch kaufen, Früchte und Zeug, das anderenorts für Pfennige produziert worden ist.
O-Ton Manni Ich hab’s auch nicht so dicke. Ich muss schon auf den geldwerten Vorteil achten, und grad beim Essen kann ich mir keine großen Sprünge erlauben.
Sich aufregen, wenn sie erfahren, dass die Brocken, die in ihren Leibern verwesen, von mit Pestizid vollgestopften toten Tieren stammen. Sie werden schreien: Mein Hab und Gut, wenn sich ihre Körper auf Couchgarnituren auflösen. Und der letzte oder vielleicht erste Gedanke ihres Lebens wird sein: Die da oben haben uns verarscht.
Das ist er also, der Beginn des neuen Jahrtausends.
Was gerade hinter uns liegt, ist mäßig interessant.
Die 80er-Jahre mit dieser fast rührenden Anbetung des Geldes waren harmlos gewesen im Vergleich zu den 90ern, dem Jahrzehnt der komplett verblödeten Jugend, die Millionen mit nicht existierenden Dingen verdiente, jeder sein eigener Börsenguru, die Welt im globalen Wahn, da wurde aufgekauft, expandiert, ausgebeutet und gelebt, als seien alle unsterblich. Weil die Bevölkerung der westlichen Welt hoffnungslos überaltert war, wurde Jugend als luxuriöse Qualität verehrt. Zwanzigjährige schrieben Bücher, Fünfzehnjährige machten Millionen mit Musik, Vierzehnjährige waren Top-Models. In Zeitungen, Magazinen und im Fernsehen erklärten minderjährige Schwachköpfe im deliriösen Orgasmus ihrer eigenen Größe die Welt. Alle anderen waren Verlierer, alt oder ohne Lehrstelle, waren Ausländer oder Proleten, tanzten verzweifelt, mit Drogen zugedröhnt, auf Technoparaden und ließen sich als Spaßgeneration beschimpfen. Das Jahrzehnt hatte den Körper zum heiligen Dings erklärt, gerade weil keiner mehr Körper brauchte, Männer keine Muskeln mehr benötigten, denn der neue Mittelstand, das neue Mittelmaß, die geistige Elite, hockte vor Computern, während ihre Frauen jung und straff sein mussten, und so waren die 90er auch das Jahrzehnt der Schönheitschirurgie, der Hülle, der Leere. Was nun wohl kommen mochte?
Aufräumen zum Neubeginn?
O-Ton Kakerlaken Yes Sir.
Ach, was könnte ich mich wieder aufregen, wie ich da so liege und an meinem verkommenen Körper entlang in den Fernseher sehe. Soso – begleitet vom Wackeln des Kopfes, wenn er noch wackeln könnte und nicht abgetrennt zwischen meinen Beinen läge –, die Luftfahrt mal wieder. Mehrere Flugzeuge sind abgestürzt, außerdem haben Terroristen sich und andere in diversen arabischen und asiatischen Ländern aus verschiedenen Gründen in die Luft gesprengt, was aber nur als Lauftext unter den Überschwemmungsbildern gesendet wird. Zu viele Attentate, zu weit weg, von denen kaum noch einer was wissen will. Ach Göttchen, denken die Leute, wenn sie so einen zerfetzten Terroristen sehen, den Mund zu einem letzten Allah Hu Akbar aufgerissen, an einem Kopf, der sich irgendwo, aber jedenfalls nicht mehr auf dem Körper befindet, in den Trümmern eines Busses, eines Einkaufszentrums oder eines Restaurants, inmitten zerfetzter Leiber verhasster Ungläubiger. Nicht schon wieder diese kaputten Fundis, denken die Leute und konzentrieren sich auf das Bild eines Sofas im Fluss (Dreiecke im Dessin), das auf den Schaumkronen tanzt.
Bei mir scheint jedoch alles ruhig. Der Boden trocken, die Wände nicht von großen Rissen zerteilt. Der Sonntag gewinnt in meinem Wettkampf der Depressionen nach Pfingsten und Weihnachten den Trostlosigkeitspokal in Bronze: Ein kleiner Hund, der überfahren an einer Straße liegt. Mit Sockel und Kupferplatte.
O-Ton Hund Ich bin so müde von Elend, Traurigkeit und Hass, von dem, was Menschen sich antun. Es wäre doch so einfach, anders zu leben – aber sie wollen nicht hören. Darum gehe ich heim.
Chor: Oh Erlöser, da geht er hiiiieeeen, und zwar heim.
Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mich für die Welt zu interessieren. Ich lese Zeitungen und Bücher über den Islam, den Osten, den Westen, den Vaterländischen Krieg, das Dritte Reich, Schwackelschutzwert – das ganze Zeug, und all diese Informationen führen zum Begreifen von nichts. Ich weiß unterdes, wo der Irak liegt – gesehen habe ich ihn nicht, aber auf einer Karte nachgeschaut, die werden ja nicht lügen da – und welche Länder Südamerikas mit Dollar zahlen, ich weiß, wer Pol Pot war, und dass Stalingrad umbenannt worden ist, leuchtet mir auch ein. Ich habe begriffen, dass mein Gehirn nicht das eines Genies ist. Mit jeder neuen Information wächst meine Erstarrung, denn ich verstehe immer weniger. Ich bewege mich durch die Wohnung in der komplett spannungsfreien Haltung eines angetretenen Käfers
– all die Fliegen, die ich als junger Mensch verletzt habe, um sie danach gesund zu zähmen, die toten Haustiere, die ich in eine goldene Büchse legte, sie vergrub und jede Woche nach dem Stand der Verwesung schaute, Indizien des späteren Serienmörders, der ich hätte werden können, wäre ich nicht zu träge zu allem –
die eines automatisch bei Dunkelheit, Depression und nach zu langem Liegen einnimmt.
Heute würde man sagen, dass meine Wohnung 300Euro kostet, jedoch weigere ich mich, das Wort EURO auszusprechen. Ich schäme mich des albernen Wortes, sehe die gealterten Sozialdemokraten mit ihren gelben Krawatten und ihren roten Brillengestellen, die es sich ausgedacht haben, ein Wort wie Kinder in Trachten, die um einen Maibaum tanzen, auf dem alle Flaggen Europas wehen, sehe sie abends vergeblich zu onanieren trachten, die Herren, ob des Gedankens, eine neue Währung erfunden zu haben, aber leider kommt da nichts, die Prostata, Sie wissen schon.
Meine Wohnung ist auf jeden Fall billig. Nachdem ich den Mietvertrag unterschrieben und angeekelt die dunkle Bude betrachtet hatte, dachte ich, dass ich wenigstens viel Geld für informative, lehrsame Reisen übrig haben würde. Außerdem wäre ich in dem spannenden Leben, das mir bevorstünde, vermutlich sowieso nicht oft zu Hause, denn da wäre die Welt, und die würde ich erforschen mit meinen interessanten Bekannten.
Ich bin dann auch mal auf Mallorca gewesen. Alleine.
Die Wohnung ist ein fensterloser Gang, ein kleines Zimmer mit Gartenbank und Tisch, ein Klo, eine Küche mit einem Spiegel über der Spüle zum Waschen und Betrachten des Gesichts, ein kleines Zimmer, darin ein Bett und ein Fernseher, ein wenig Verwüstung zu schauen. Dort höre ich seit Stunden Christian Death, Siouxsie & The Banshees, DAF und Jeffrey Lee Pierce. Dazwischen Stille, angenehm unterbrochen vom unangemessen lauten Aufschlagen des Regens, gleich springenden Brokern.
Irgendwann, gestern oder vor hundert Jahren, bin ich in diese Stadt gekommen, die mir weder Heimat noch besonders attraktiv war.
Es hat sich nicht viel verändert seitdem. Zwar stehle ich keine Portemonnaies mehr aus den Umkleidekabinen von Chiropraktikern und sammle keine Zigarettenkippen von der Straße, doch halte ich mich noch immer in derselben Wohnung (300 EURRRRRO) auf – 40 Quadratmeter mit Blick auf einen Hinterhof zur einen und einer Kreuzung zur anderen Seite. Draußen: gelb. Ich habe ein paar Poster (Giger, Escher, Bauhaus) von den Wänden genommen, die Raufasertapete gegen 80er-Jahre-Wischtechnik und die Holzkiste gegen ein Ikearegal getauscht. Die alten Balletttrikots, zerrissenen T-Shirts und spitzen Stiefel sind an unbekannte Orte (innere Landschaften? Gefühlswelten?) verschwunden, wurden ersetzt durch Kleidungsstücke, die jede Grafikerin oder alternde Designerin im Schrank hat: schwarzer Schwachsinn in Textil. Vor der Tür die normale europäische Unscheinbarkeit einer Stadt, die nichts Besonderes kann: in den 50ern nervös hingeworfener Beton, auf dass er sich zu einer anständigen Form finden möge, die anschließend um sich greifen kann, bis in die neuen Stadtrandgebiete.
Und überall immer mehr Menschen, Moscheen und Erbärmlichkeit. Auch Kultur. Ein Zentrum im Untergeschoss eines Blocks aus den 50ern, mit Jugendtreff, Dia-Abenden, Vorträgen bosnischer Bauarbeiter, die in ihrer Heimat Uni-Professoren gewesen sind, Basaren zugunsten von Amnesty International und einer Bibliothek, in der es Lesungen unbekannter Autoren gibt, die ein Stipendium erhalten haben und nun hauptsächlich ausufernde Lebensläufe verfassen neben ihrem Hauptwerk, der Schilderung schwieriger Familiensituationen hinter unbeheizten Kachelöfen in Ostpreußen.
Erfolgreiche Bücher sind wie Fernsehsendungen. Leicht müssen sie sein, mit amerikanischem oder spanischem Schwung, Epen wie Hollywoodfilme, oder ghostgewritete Werke sexsüchtiger Popsänger. Bücher, die dem Leser einen Gedanken schenken, interessieren nur eine bibliophile Minderheit, und die ist tot. Keiner will wissen, dass ein französischer Autor lange vor dem tatsächlichen Ereignis ein Buch geschrieben hat, in dem er ein Attentat auf Bali, bei dem zweihundert betrunkene Touristen ermordet wurden, fast exakt vorausgesehen hat. Der französische Autor stand später vor Gericht wegen Religionsbeleidigung. Fundamentalistische FÜHRER dagegen können weiter von der Bestrafung der Ungläubigen reden, ohne dass ihnen jemand die Lampe ausbläst. Die Unsicherheit, in der wir alle leben, hat sich durch die Wiederbelebung der guten alten Kamikaze-Idee erheblich erhöht und ist durch die Medien weiter verstärkt worden. Prost.
Meine Wohnung ist voller Informationshaufen. Wann immer ich irgendetwas finde, von dem ich vermute, dass es ein Teil dessen sein könnte, das mich die Welt verstehen lässt, schneide ich es aus und lege es auf einen Haufen. Ich habe Bomben-, Ost-West-Konflikt-, Biowaffen- und Geschichtshaufen. Auf einem der letzteren liegt zuoberst eine Liste, die ich gerade ausgeschnitten habe.
19. Juli 1994 in Panama: Eine Bombe zerreißt eine Embraer-Maschine nach dem Start in der Hafenstadt Colon. Unter den 21 Opfern des Absturzes sind mindestens 12 jüdische Geschäftsleute. Hinter dem Anschlag werden moslemische Fundamentalisten im Libanon vermutet.
18. Juli 1994 in Argentinien: Die Explosion einer Bombe bringt das Haus des Jüdischen Zentrums in Buenos Aires zum Einsturz. Bei dem bislang blutigsten antijüdischen Terrorakt gibt es mindestens 86 Tote und mehr als 300 Verletzte, Juden wie Nichtjuden. Als Urheber der Tat wird die proiranische Hisbollah vermutet.
17. März 1992 in Argentinien: Vor der israelischen Botschaft in Buenos Aires explodiert eine Autobombe und verwüstet das Gebäude. Unter den 29 Toten sind vier Israelis. 242 Menschen werden verletzt. Zu dem Anschlag bekennt sich ein Dschihad-Kommando der schiitischen Hisbollah, die damit den Tod eines Anführers rächen wollte.
4. Februar 1990 in Ägypten: In Ismailia greifen ägyptische Terroristen einen Reisebus mit Schusswaffen und Handgranaten an. 9 der 11Toten sind Israelis.
6. September 1986 in der Türkei: Mehrere bewaffnete Männer richten in einer Synagoge in Istanbul ein Massaker an, 24 der zum Sabbatgebet versammelten türkischen Juden sterben. Der Anschlag sei die Rache für israelische Aktionen im Südlibanon, erklärt eine »Islamische Widerstandsfront«.
27. Dezember 1985 in Österreich und Italien: Nahezu zeitgleich stürmen Palästinenserkommandos der Abu-Nidal-Gruppe die Abfertigungsschalter der Fluggesellschaft El AI in Wien und Rom. Bilanz nach den Angriffen mit Gewehren und Granaten sowie Feuergefechten mit Sicherheitsbeamten: 16 Tote in Rom, 4 in Wien.
5. September 1972 in Deutschland: Mitglieder des palästinensischen »Schwarzen September« nehmen die israelische Olympiamannschaft in München als Geiseln. Nach einem misslungenen Befreiungsversuch der Polizei in Fürstenfeldbruck sind insgesamt 17 Menschen tot, unter ihnen 11 israelische Sportler.
Das sagt mir noch gar nichts. Das macht doch alles keinen Sinn, sie können doch nicht Sprengsätze in Kindergärten schmeißen, mit Flugzeugen in Hochhäuser fliegen, sie können doch nicht Atombomben abwerfen, Frauen steinigen, lebende Menschen ausweiden, vergasen, essen, ihnen die Augen ausstechen, sie durchsägen, Gift ins Meer schütten, Kriege arrangieren, um an Rohstoffe zu kommen.
Denken manche Menschen.
Doch, denke ich, das können sie. Und stecke mir ein Dings in den Mund.