Über das Buch:
Die junge Kitty sehnt sich nach Liebe und Anerkennung. Doch ihre Herrin lässt sie nie vergessen, dass sie nur eine Sklavin, ein Niemand ist. Dabei gibt sich Kitty seit ihrer Kindheit große Mühe, der herrschsüchtigen Südstaatlerin jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.
Als der Bürgerkrieg ausbricht und die Yankees immer näher rücken, steht Kitty vor einer schwierigen Entscheidung: Soll sie mit den anderen Sklaven davonlaufen oder in dem einzigen Zuhause bleiben, das sie jemals gekannt hat?
Für Grady, ihre große Liebe, steht außer Zweifel, dass die Flucht ihre einzige Chance ist. Und er würde notfalls auch ohne sie fliehen. Seit Grady seiner Mutter als Kind entrissen und an einen grausamen Sklavenhändler verkauft worden ist, träumt er davon, frei zu sein. Doch kann die Flucht Kitty und Grady wirklich frei machen? Werden Kittys Hoffnungen und Träume sich jemals erfüllen?
Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.
Kapitel 5
Great-Oak-Plantage, South Carolina
1854
Kitty kniete auf dem Boden in Missy Claires Zimmer und umklammerte einen Bleistift. Sie schloss kurz die Augen und stellte sich die Umrisse und Länge einer Pferdeschnauze vor und die Größe und Form der Ohren. Dann zeichnete sie ihre Erinnerung auf das Blatt Papier, das vor ihr lag. Die kleine Kate saß auf dem Bett ihrer Schwester Claire und sah zu, während ihre weißen Beine über die Bettkante baumelten und gegen die Federmatratze traten.
„Ich weiß! Es ist ein Pony!“, sagte Kate.
„Stimmt.“
„Und jetzt mal eine Katze.“
„Aber ich bin mit dem Pferd noch nicht fertig“, sagte Kitty. „Soll ich ihm nicht einen Körper und Beine und einen Schwanz malen?“
„Nein, du sollst eine Katze malen“, beharrte Kate.
Kitty gehorchte, obwohl sie das Pferd gerne zu Ende gezeichnet und dann das ganze Blatt mit Blumen und Bäumen und allen möglichen anderen Dingen gefüllt hätte, die ihr einfielen. Sie zeichnete für ihr Leben gern. Missy Claire hatte gesehen, wie sie mit einem Stock ein Bild in den Sand gemalt hatte und hatte ihr einen richtigen Bleistift und Papier gegeben. Seither unterhielt Kitty Claire und ihre Schwester mit ihren Zeichnungen.
Anstatt das Pferd zu vollenden, wählte Kitty widerwillig eine freie Ecke auf dem Papier und zeichnete den runden Kopf und die spitzen Ohren einer Katze. Sie gab ihr Augen und eine Nase und Schnurrbarthaare und wollte gerade den Körper zeichnen, als Kate sagte: „Mal einen Vogel.“
„Was für einen Vogel denn, Missy Kate?“ Während sie auf die Antwort wartete, stattete Kitty die Katze mit vier Beinen und einem dünnen, spitz zulaufenden Schwanz aus.
„Hm … diese dünnen weißen Vögel mit langen Beinen, die unten am Fluss leben.“
Kitty lächelte. Sie zeichnete gerne Reiher mit ihren schlanken Leibern und den eleganten Hälsen. Aber bevor sie anfangen konnte, unterbrach Missy Claire sie.
„Keine Bilder mehr. Kitty ist meine Sklavin und sie spielt jetzt mit mir Puppen.“ Sie schnappte sich das Blatt Papier und drückte es ihrer Schwester in die Hand. Wie alle anderen Zeichnungen, die Kitty angefertigt hatte, durfte sie auch diese nicht behalten. Miss Claire musste ständig unterhalten werden, wie es schien, und langweilte sich bei jedem Spiel, das sie spielten, viel schneller als Kitty. Sie lebte jetzt seit vier Jahreszeiten mit Missy im Großen Haus, aber manchmal war Kitty ganz erschöpft, weil es so anstrengend war, mit Missy Schritt zu halten.
„Hier ist dein Bild, Kate“, sagte Claire. „Jetzt geh und spiel in deinem eigenen Zimmer.“ Sie zeigte auf die Tür.
Missy Kate fing laut an zu heulen. Kitty stellte sich vor, wie ein ganzer Schwarm Reiher bei dem Klang die Flucht ergriff. Mammy Bertha nahm Kate vom Bett und eilte mit ihr aus dem Zimmer.
„Wir spielen feine Dame“, beschloss Missy Claire. „Meine Puppen kommen zum Tee. Du bedienst uns, Kitty.“ Claire hatte zwei wunderschöne Puppen mit zarten Porzellangesichtern und echtem Haar. Kitty sah ihr dabei zu, wie sie den Puppen Spitzennachthemden oder Rüschenkleider anzog und die winzigen Knöpfe schloss, und sie hätte sie so gerne selbst einmal im Arm gehalten und sie angekleidet – nur ein einziges Mal.
„Fass meine Puppe nicht an!“, hatte Claire gezischt, als Kitty zum ersten – und einzigen – Mal gewagt hatte, die Hand nach einer der Puppen auszustrecken. „Du machst sie kaputt!“
„Bitte, Missy Claire“, hatte sie gebettelt. „Ich verspreche, dass ich ganz vorsichtig bin. Ich würde Ihre Sachen doch nie kaputt machen.“
„Nein. Ich will nicht, dass deine dreckigen Hände sie anfassen.“
Kitty hatte ihre Hände angesehen. Ihre Haut war dunkel, aber nicht vom Schmutz. Ihre Hände waren genauso sauber wie die von Missy. Aber Kitty hatte an jenem Tag gelernt, dass sie damit zufrieden sein musste, Missy Gesellschaft zu leisten, wenn sie mit ihren Puppen spielte. Kitty durfte dabei zusehen, wie Missy die winzigen Möbel in ihrem wundervollen Puppenhaus hin und her bewegte, aber sie durfte sie nicht berühren. Sie konnte mit Claire lachen, wenn diese auf ihrem Schaukelpferd ritt, aber sie durfte niemals selbst darauf sitzen. Kitty hatte akzeptiert, dass Claires weiße Haut ihr diese Vorrechte verlieh; und ihre eigene schwarze Haut versagte Kitty diese Vorrechte.
„Deck den Tisch mit dem Teegeschirr“, befahl Claire jetzt, während das Weinen ihrer Schwester in der Ferne verklang. Kitty beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten. Das Teegeschirr aus Porzellan war das einzige Spielzeug, das sie anfassen durfte, und sie liebte das Gefühl des glatten, kalten Materials unter ihren Fingern. Es war ihre Aufgabe, den Tisch zu decken und Claire und ihre zwei Puppen zu bedienen; Kitty würde es niemals wagen, selbst so zu tun, als würde sie aus einer der kleinen Tassen trinken.
„Geh und sag der Köchin, dass ich Kekse will“, sagte Claire. „Ich ziehe meine Puppen in der Zwischenzeit fein an.“
„Ja, Missy Claire.“ Kitty hatte auch gelernt, immer so zu antworten – und so schnell sie konnte loszulaufen, wenn sie einen Auftrag erhielt. Missy konnte es nicht leiden, wenn sie trödelte. Kitty lief die Treppe hinunter und dann hinaus in die große Küche, um der Köchin zu sagen, was Missy wollte. In der Küche duftete es nach geräuchertem Schweinefleisch mit Zwiebeln und nach Äpfeln und Zimt. Begierig sog Kitty den Duft ein. Ihr Magen knurrte vor Hunger.
„Diese Missy ist ein verwöhntes Ding“, sagte die Köchin kopfschüttelnd, als sie Kittys Bitte hörte. „Denkt sie, ich hätte nichts Besseres zu tun, als sie den ganzen Tag zu bedienen? Weiß sie nicht, dass Massa heute Besuch bekommt und ich das Abendessen machen muss?“ Aber die Köchin wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und ging, um die Keksdose zu holen. „Gibt Missy dir eigentlich von den Keksen etwas ab?“, fragte sie.
Kitty zuckte mit den Schultern. „Manchmal … wenn sie selbst keine mehr will.“
Die Köchin legte drei dicke Zuckerplätzchen auf einen Teller und reichte Kitty dann einen vierten. „Iss ihn schnell und sag ihr nicht, dass ich ihn dir gegeben habe“, flüsterte sie.
Kitty grinste. „Ja, Ma’am! Danke, Ma’am!“ Sie hüpfte aus der Küche und balancierte dabei den Teller in der Hand. Als sie den Weg zum Haus zurückging, war sie hin- und hergerissen, ob sie ihren Schatz langsam essen und jeden Bissen genießen oder ihn in ein, zwei Bissen hinunterschlingen sollte, um schnell wieder zurück zu sein, wie es ihr aufgetragen war. Sie beschloss, sich einen Bissen auf der Zunge zergehen zu lassen, sodass er bis ins Haus und die Treppe hinauf hielt, und dann den Rest des Gebäcks für später in ihrer Tasche zu verstecken.
Als Kitty das Schlafzimmer wieder betrat und den zugeteilten Bissen hinunterschluckte, war Claire nirgendwo zu sehen. Es dauerte einen Augenblick, bis Kitty begriff, dass Missy hinter dem Paravent verschwunden war, um ihren Nachttopf zu benutzen. Als Nächstes würde Claire von ihr verlangen, dass sie hinunterlief und das Ding ausleerte. Weiße Damen hatten Glück, dachte Kitty. Sie mussten nie den weiten Weg bis zum Toilettenhaus laufen, so wie Männer und Sklaven es taten.
Kitty trug den Teller zu dem Tischchen und wartete. Missy hatte ihre Puppen fertig angekleidet und sie auf zwei der kleinen Stühle gesetzt. Aber eine Puppe war zur Seite gerutscht und sah aus, als würde sie gleich herunterfallen. Kitty streckte die Hand aus, um sie wieder gerade hinzusetzen. Die Puppe fühlte sich viel leichter an, als Kitty gedacht hatte – und ihre Haare sahen so weich aus, dass sie der Versuchung, nur einmal darüber zu streichen, nicht widerstehen konnte.
„Was machst du da!“, zischte Claire. „Fass sie nicht an!“
Kitty fuhr überrascht herum. „Aber sie wäre sonst runtergefallen, Missy Claire. Ich habe sie nur gerade hingesetzt und –“
Missy rannte auf sie zu und schlug Kitty auf die Hand, weil sie es gewagt hatte, die Puppe anzufassen. Dann gab sie ihr eine Ohrfeige – mit voller Kraft. Kitty kamen die Tränen. Sie hatte oft gesehen, wie Missys Mutter ihre Zofe so geschlagen hatte, aber Kitty war noch nie selbst geschlagen worden.
„Raus! Raus! Raus!“, schrie Claire und zeigte auf die Tür.
„Es tut mir leid, Missy Claire, aber ich dachte –“
„Du bist böse, und du darfst nicht mehr mit mir spielen!“
Die Tränen liefen Kitty übers Gesicht, als sie aus dem Zimmer lief. Ihre Wange brannte. Sie wagte nicht, laut zu weinen oder sich zu verkriechen, um ihre Wunden zu lecken. Wann immer Missy sie fortschickte, war sie angehalten, Mammy Bertha zu suchen und ihr mit Missy Kate oder Missus Goodmans neuem Baby Mary zu helfen.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Bertha, als sie sah, dass Kitty ihre Tränen trocknete.
„Missy hat mich geschlagen“, sagte sie schmollend. „Ihre Puppe wäre beinahe vom Stuhl gefallen, und ich habe nur versucht, sie wieder gerade hinzusetzen. Sie hat gesagt, ich soll verschwinden.“
An der Art, wie Mammy die Lippen schürzte und den Kopf schüttelte, erkannte Kitty, dass sie nicht viel Mitgefühl von ihr erwarten konnte. „Sagt Missy dir nicht ständig, dass du ihre Sachen nicht anfassen sollst?“
„Aber sie wäre doch sonst runtergefallen. Ich dachte –“
„Du sollst nicht denken. Tu einfach, was die Weißen sagen, und wenn sie sagen, dass du ihre Sachen nicht anfassen sollst, dann lass die Finger davon. Du hast nur zu gehorchen. Verstanden?“
„Ja, Ma’am.“
„Und jetzt stell die Tränen ab und hilf mir, Missy Kate Luft zuzufächeln, damit sie ihren Mittagsschlaf halten kann.“ Kitty hob den Saum ihrer Schürze an, um sich die Augen trocken zu wischen, und der Keks, den sie aufgehoben hatte, rutschte aus der Tasche. Sie war nicht schnell genug, um ihn aufzufangen, sodass er auf den Boden fiel und zerbrach. Wieder fingen die Tränen an zu fließen. Bertha funkelte Kitty an, als sie sich hinkniete und die Krümel aufsammelte. „Hast du den Keks von Missy Claire gestohlen?“
„Nein, Ma’am. Die Köchin hat ihn mir gegeben, ich schwöre! Du kannst sie selbst fragen.“ Kitty stopfte sich die Krümel in den Mund. Sie schmeckten nach Schmutz.
„Das kannst du glauben, dass ich sie fragen werde … und du erzählst besser keine Lügen.“
„Nein, Ma’am.“
Der lange, heiße Tag schien endlos zu dauern. Am späten Nachmittag kamen die Gäste zum Essen, so wie die Köchin es gesagt hatte. Mammy Bertha sagte, der Besuch würde über Nacht bleiben und alle müssten sich vorbildlich benehmen – auch Kitty. Claire und Kate, die beiden älteren Mädchen, mussten gewaschen und gebürstet und in ihre Sonntagskleider gesteckt werden, und dann saßen sie im Salon und empfingen den Besuch wie richtige junge Damen. Bei all dem Getue und Prunk hatte Kitty keine Gelegenheit, etwas zu essen, abgesehen von dem einen zerkrümelten Keks. Als die Mädchen endlich im Bett waren, sagte Mammy Bertha zu ihr, sie könne in die Küche gehen und sehen, ob noch etwas vom Abendessen übrig sei.
Es war sehr spät, und so überraschte es Kitty, in der Küche noch Licht zu sehen. Eine große Versammlung Farbiger saß um den Tisch und redete und aß Schweinebraten und Hühnchen und andere Leckereien, die vom Essen der Weißen übrig geblieben waren. Vier Fremde – die Haussklaven, die mit den weißen Gästen angereist waren – saßen bei den üblichen Küchenhilfen. Kitty tat sich etwas zu essen auf einen Teller, setzte sich dann auf einen Hocker bei der Tür und lauschte den Neuigkeiten und Gerüchten, die die Neuankömmlinge mitgebracht hatten.
„Delia hier ist eine Geschichtenerzählerin“, erklärte der Kutscher der Gäste ihnen nach einer Weile. Er zeigte auf eine winzige, grauhaarige Frau, die nicht größer war als Kitty. „Delia kennt all die alten Geschichten über unser Volk, als wir noch keine Sklaven waren“, sagte er.
Alle schienen ganz gespannt darauf, Delias Geschichten zu hören, und sie bettelten unentwegt, sie möge eine erzählen. In der Küche war es plötzlich so still, dass Kitty beinahe Angst hatte zu atmen. Erwartungsvoll lehnte sie sich vor und beobachtete jede Bewegung der Geschichtenerzählerin. Die kleine Frau schloss einen Moment lang die Augen, als suche sie tief in ihrem Innern nach den Worten.
„In dem Land, aus dem unser Volk kommt“, begann Delia, „nennt man eine Geschichtenerzählerin wie mich Griot. Wir sind diejenigen, die sich an die alte Zeit und die alten Geschichten erinnern und sie unseren Kindern und deren Kindern weitergeben, damit unsere Vergangenheit nicht verloren geht. Meine Mammy war eine Griot und ihre Mammy vor ihr auch, also stammen die Geschichten, die ich kenne, aus einer Zeit, die so weit zurückliegt, dass niemand, der heute lebt, sich noch daran erinnert – und in jener Zeit war unser Volk noch frei.“ Sie seufzte, als sie das letzte Wort aussprach, und es schien Kitty, als würde es wie ein Vogel aus dem Mund der Geschichtenerzählerin flattern und fortfliegen.
„Nur in dem Erzählen unserer Geschichte erinnern wir uns daran, wer wir sind“, sagte Delia. „Und das ist etwas, das wir niemals vergessen dürfen.“ Sie blickte sich im Kreise ihrer Zuhörer um, und ihre dunklen Augen waren einen Moment lang auf Kitty gerichtet.
„Wir lebten einst in einem Land, das ‚Löwenberg‘ genannt wurde“, sagte Delia, „in einem Stamm namens Mende. Es ist ein großes, reiches Land, wo jeder Mensch schwarze Haut hat. Dort gab es am Anfang überhaupt keine weißhäutigen Menschen. Und das ganze Land gehörte uns – all die Wälder und Felder und Flüsse und Hügel gehörten uns. Wir konnten Wild jagen und unseren eigenen Reis pflanzen und unsere eigenen Häuser bauen und leben, wo und wie wir wollten, und nur unsere eigenen Anführer sagten uns, was wir tun sollten. Lange bevor die weißen Männer kamen, lernte unser Volk, das Wasser einzufangen und dorthin zu lenken, wo wir es haben wollten. Wir legten Felder an, die wir fluten konnten, und Gräben, um unseren Reis anzubauen. Unsere Frauen webten Körbe aus Seegras, um die Ernte zu sammeln und den Reis zu worfeln. Wir waren ein friedliches Volk und lebten in unseren Dörfern mit unseren eigenen Familien um uns herum.“
Kitty lauschte fasziniert. Sie konnte sich ein Land ganz ohne weiße Menschen gar nicht vorstellen. Delias Stimme war so beruhigend wie ein Becher warme Milch, und ihre kleinen, runzeligen Hände vollführten anmutige Bewegungen, während sie sprach.
„Dann, eines Tages, kamen die weißen Männer“, sagte sie. „Sie sahen alles, was wir hatten, und dass wir fleißig waren, und sie beschlossen, dass sie uns als Sklaven haben wollten. Deshalb kamen sie mit ihren Gewehren und Ketten und stahlen unsere Leute. Sie fingen uns in den Wäldern und entführten uns aus unseren Familien und nahmen uns unseren Kindern weg. Sie banden unsere Leute mit ihren dicken Ketten aneinander und zwangen uns, sehr, sehr weit zu laufen. Es war ihnen sogar egal, dass einige unterwegs an Hunger oder Erschöpfung oder Angst starben. Nein, die weißen Männer brachten alle, die sie aus unserem Volk gefangen genommen hatten, zu einer Festung auf einer Insel, wo wir nicht fliehen konnten. Sie ließen uns dort arbeiten, und wir mussten Muscheln zu Kalk zerstoßen. Unsere Leute meinten, das Leben könne nicht mehr schlimmer werden – aber das wurde es. Wie sich herausstellte, mussten wir nur Kalk produzieren, während wir auf das Schiff warteten, das kommen sollte. Und wisst ihr was? Eines Tages kam das Sklavenschiff dann tatsächlich.
Offensichtlich hatten die weißen Männer ganz vergessen, dass wir Menschen waren, so wie sie uns in den Bauch dieses Schiffes sperrten. Alle mussten sich auf harte Holzregale legen, eine Reihe über die andere gestapelt, sodass nicht genug Platz war, um sich hinzusetzen. Wir waren so eng zusammengepfercht, dass keiner sich bewegen konnte. So füllten die weißen Männer das ganze Schiff mit Sklaven. Und es war ihnen egal, ob die Menschen krank waren oder die Toilette benutzen mussten. Es lief einfach alles auf die anderen herunter. Mein Gott! Jeden Tag starben Menschen vor Hunger und Durst und Hitze und Kummer. Das Schiff tanzte und schaukelte auf den Wellen, und Tag und Nacht konnte man hören, wie die Wellen gegen die Schiffsplanken schlugen. Und wie die Menschen weinten. Es war, als würde das Meer von all unseren Tränen überfließen.
Es dauerte sehr, sehr lange, bis das Schiff zum Land der weißen Männer gesegelt war. Zweimal, vielleicht sogar dreimal wurde es Vollmond, bevor wir endlich hier im Südosten an Land gingen. Das neue Land sah ganz ähnlich aus wie unsere Heimat, aber jetzt waren wir nicht mehr frei. Der Reis, den wir anbauten, ernährte nicht mehr unsere Familien. Unsere Männer und Kinder wurden von uns getrennt verkauft und woanders hingebracht. Wir mussten wie Tiere für die weißen Männer arbeiten, Kanäle und Teiche graben und Reis für sie alle anbauen, weil wir jetzt ihre Sklaven waren. Unser Volk war nicht mehr frei. Die weißen Männer hatten Gewehre, und so nahmen sie uns gefangen und zwangen uns, all ihre Arbeit zu tun.“
Sie lehnte sich vor, den Körper angespannt, und in ihren Augen glänzten Tränen. „Aber vergesst nie, dass wir vor langer Zeit einmal frei waren. So hat Gott uns geschaffen. So sollen wir sein – frei.“
Als Delia geendet hatte, rührte sich niemand. Es war in der Küche so still geworden, dass Kitty in den Ohren ihr Herz schlagen hörte. Diese schreckliche Geschichte konnte doch nicht wahr sein, oder? Missy Claire war alt genug, um ihr und Missy Kate Bücher vorzulesen, in denen Geschichten von Feen und Elfen und sprechenden Tieren standen, aber Kitty wusste, dass solche Geschichten ausgedacht waren. Konnte diese Geschichte wahr sein?
„Ist die Geschichte wahr?“, flüsterte sie und durchbrach damit das Schweigen.
„Ja, sie ist wahr!“, sagte Delia und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Jedes Wort, das ich gesagt habe, ist die Wahrheit, so wahr ich hier sitze. Die Schwarzen wurden frei geboren und sollten in Freiheit leben. Das haben sie uns genommen. Und jetzt versuchen sie uns vergessen zu lassen, dass wir jemals frei waren. Aber vergiss das nie, Schätzchen. Denk immer daran, wer du bist und wer deine Familie ist und woher du kommst.“
In dieser Nacht träumte Kitty, dass die weißen Männer sie durch den Wald jagten und einfingen und an einem dunklen, schrecklichen Ort einsperrten. Der Albtraum erinnerte sie an den alten Traum, den sie als kleines Kind gehabt hatte, und sie fragte sich, ob sie früher einmal in dem Land gelebt hatte, in dem es keine weißen Männer gab. Aber nein, Delia hatte gesagt, ihre Geschichte habe sich vor langer, langer Zeit ereignet. „Denk immer daran, wer du bist und wer deine Familie ist und woher du kommst“, hatte Delia gesagt. Aber Kitty wusste nicht, wer ihre Familie war oder woher sie kam. Sie konnte sich nicht erinnern.
Kitty dachte immer noch über all diese Dinge nach, als sie am nächsten Morgen Missys Schlafzimmergardinen aufzog und die große Eiche draußen sah. Sie war sich sicher, dass der Baum irgendwie mit ihrer Vergangenheit verbunden war – ein Teil des Traums, den sie als ganz kleines Kind gehabt hatte. Aber Kitty konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum der Baum ihr wichtig war oder was er bedeutete. Als sie und Mammy Bertha allein im Kinderzimmer waren, nahm Kitty ihren ganzen Mut zusammen und fragte zum ersten Mal nach ihrer Vergangenheit.
„Mammy, hast du meine Mama und meinen Papa gekannt?“
Bertha schloss für einen Moment die Augen. „Ja, Kindchen. Ich kannte deine Mama“, sagte sie leise. Mammy war normalerweise sehr gesprächig und erzählte viele Geschichten, wenn sie allein waren, aber plötzlich schien sie traurig und ängstlich.
„Wo ist sie denn, Mammy Bertha? Was ist mit ihr passiert?“
Mammy wandte sich ab. „Wir können jetzt nicht darüber reden“, sagte sie. „Komm heute Abend zu mir, wenn Missy Claire eingeschlafen ist.“
Kitty hatte das Gefühl, der Tag würde niemals enden. Claire hielt sie bis spät abends auf Trab, und sie musste Wasser für das Bad herbeischleppen, ihre Haare bürsten und ihr dann Gesellschaft leisten, bis sie einschlief. Jedes Mal, wenn Kitty sich auf ihrem Lager neben dem Bett aufsetzte und nachsah, ob Claire schon schlief, funkelte Missy sie an und sagte: „Warum starrst du mich so an? Leg dich hin und schlaf!“ Aber eine Mischung aus Angst und Vorfreude hielt Kitty hellwach.
Endlich war Claire eingeschlafen, und Kitty schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, um Mammy Bertha aufzusuchen. Sie suchten sich ein stilles Plätzchen auf den Stufen der wärmenden Küche, und Mammy erzählte Kitty die Wahrheit.
„Deine Mama hieß Lucindy, und sie war eine von Missus Goodmans Zofen hier im Großen Haus“, begann Mammy. „Sie war ein hübsches Mädchen, so wie du, immer fröhlich und lieb zu allen. Eines Tages verliebte sie sich in einen Mann namens George – deinen Papa. Er arbeitete als Sklave für den Pastor und seine Frau unten in der Stadt. Lucindy traf sich jeden Sonntag mit ihm, während ihre Massas in der Kirche waren, und schon bald liebten sie sich. Alle versuchten ihnen zu sagen, dass es schwer für sie sein würde, zusammen zu sein, aber sie beschlossen es trotzdem. Jeden Samstagabend, wenn seine Arbeit erledigt war, kam dein Papa George den ganzen Weg von der Stadt heraufgelaufen, um bei seiner Frau zu sein. Und dann ging er wieder zurück. Sein Massa war ein guter Mann, und er gab George einen Passierschein, damit er kommen und gehen konnte, ohne dass die Kopfgeldjäger ihn belästigten.
Dann starb der Massa deines Papas, und in seinem Testament sagte er, dass George und alle seine anderen Sklaven frei sein sollten. Frei sein, das klang gut – aber das war es nicht. Die Weißen hassen freigelassene Schwarze noch mehr als Sklaven. Sie sagen, dass freie Schwarze hochnäsig würden, und die Weißen haben immer Angst, die Freien würden den Sklaven einreden, dass wir alle frei sein sollten. Deshalb machten die Weißen ein paar Gesetze, in denen stand, dass freie Schwarze nicht in der Stadt leben dürfen, dass sie kein Eigentum haben dürfen und dass sie nicht lange an einem Ort bleiben dürfen. Wenn sie das Gesetz brechen, dann werfen die Weißen sie ins Gefängnis und verlangen eine hohe Geldstrafe. Und weil sie die Strafe nicht bezahlen können, werden sie wieder als Sklaven verkauft. Sie versuchen, alle freien Schwarzen von hier zu vertreiben – oder sie als Sklaven zurückzubekommen. Jedenfalls wollen sie nicht, dass Freie wie dein Papa sich hier aufhalten.
Der arme George war jetzt also frei, aber er mühte sich ab, um deiner Mama zu helfen, vor allem, nachdem du geboren warst. Er suchte sich eine Arbeit auf einem Dampfer in Charleston, wo er Holz und Kohle und solche Dinge auflud. Er arbeitete fleißig, um genug Geld zu verdienen, damit er Lucindy kaufen konnte. Aber obwohl er all sein Geld sparte, wollte Massa Goodman sie nicht verkaufen. Irgendwann beschloss der arme George, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als seine Frau und sein Kind zu nehmen und fortzulaufen. Weil dein Papa wollte, dass deine Mama und du auch frei seid, so wie er.
Alle sagten ihm, es sei ein großer Fehler und es würde schlimm enden, wenn sie erwischt würden. Natürlich hörten sie nicht darauf. Dein Papa hat Jesus vertraut, dass er ihm hilft, und eines Nachts schlichen er und Lucindy sich davon. Als Massa Goodman merkte, dass Lucindy weg war, rief er die Kopfgeldjäger zusammen und sie hetzten die Hunde auf euch. Deine Eltern haben es nicht einmal aus South Carolina heraus geschafft, die armen Dinger, bevor sie gefangen wurden.“
Kittys Traum kam ihr lebhaft und heftig in den Sinn. Jetzt wusste sie, dass es wirklich geschehen war. Die Hunde waren gekommen und hatten an Mamas und Papas Beinen gezerrt, bis sie nicht mehr laufen konnten. Dann waren die Weißen mit ihren Pferden und Gewehren gekommen. Aber wie ging der Traum aus? Sie konnte sich nie an das Ende erinnern. Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte.
„Was ist passiert, nachdem man sie gefangen hat, Mammy?“
„Ach, Kind … das willst du nicht wissen“, sagte sie kopfschüttelnd. „Manche Geschichten erzählt man besser nicht.“
Kitty fröstelte, obwohl die Nacht warm war. „Ich will es wissen, Mammy Bertha. Bitte erzähl es mir.“
Mammy seufzte. Sie zögerte so lange, dass Kitty schon fürchtete, sie würde es ihr nicht erzählen. Als Mammy endlich sprach, war ihre Stimme ganz leise. „Sie haben deinen armen Papa ausgepeitscht und als Dieb aufgehängt, gleich da draußen an der großen Eiche.“
Einen endlosen Augenblick lang konnte Kitty nicht atmen, nicht schlucken. Dieser Baum war ihr immer wie ein Freund erschienen, ihr Zufluchtsort. Jetzt fühlte sie sich betrogen. Die große Eiche hatte dabei geholfen, ihren Papa zu töten. Sie schloss die Augen, als sie daran dachte, wie er von den Ästen des Baumes gehangen hatte.
Bertha wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. „Massa Goodman sagte, dein Papa hätte seinen Besitz gestohlen, als er mit deiner Mama und dir weggelaufen ist – womit er wohl recht hatte. Sie ließen uns Sklaven alle dort stehen und zusehen, damit wir wussten, was mit uns passiert, wenn wir versuchen wegzulaufen. Deine Mama hat er auch ausgepeitscht und dann an einen Sklavenhändler verkauft. Sie flehte den Massa an, dich mit ihr zu verkaufen, anstatt dich ganz allein hier zurückzulassen. Du warst noch ganz klein, aber Massa Goodman hat nicht auf sie gehört.“ Bertha legte den Arm um Kittys Schultern und zog sie an sich. „Deshalb hast du jetzt niemanden auf der ganzen Welt.“
Kitty lehnte sich an Mammy Bertha und weinte. Jahre voller Einsamkeit, Verlust und tiefer Trauer, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, legten sich wie eine zentnerschwere Last auf sie. Jetzt bereute sie es, dass sie nach der Wahrheit gefragt hatte. Die große Eiche würde von jetzt an ein Zeichen des Schreckens und des Todes für sie sein und nicht mehr ein Ort des Trostes und der Zuflucht. Und sie würde Massa Goodman nie wieder so ansehen können wie bisher. Warum hatte er Lucindy nicht an George verkauft? Er hatte doch genug andere Sklaven. Es war Massa Goodmans Schuld, dass ihr Vater tot war, ihre Mutter verkauft und sie ganz allein zurückgeblieben war.
Und Kitty wusste, dass sie von jetzt an auch Claire mit anderen Augen sehen würde. Claire lebte noch bei ihren Eltern. Sie gaben ihr alles, was sie brauchte oder wollte. Kittys Eltern hatten sie auch geliebt, aber sie waren dafür bestraft worden, dass sie versucht hatten, frei zu sein – so zu leben, wie die Schwarzen in Delias Geschichte früher gelebt hatten.
Mammy hielt Kitty fest im Arm und wiegte sie hin und her. „Es lohnt sich nicht, sich zu verlieben, Kind. Das führt nur zu Herzeleid, wenn Massa dich oder den Mann, den du liebst, verkauft oder dir deine Kinder wegnimmt. Ich habe es so oft gesehen – viel zu oft. Sklaven sind auf dieser Erde, um zu arbeiten, und nicht, um jemanden zu lieben.“
Allmählich versiegten Kittys Tränen, aber sie schmiegte sich weiter in Mammys warme Arme, weil sie den Trost brauchte.
„Ich sage dir was“, fuhr Mammy nach einer Weile fort. „So schwer das Leben hier auch ist, man muss schon ziemlich dumm sein, um wegzulaufen. Die Leute sagen, man könne dem Nordstern in die Freiheit folgen, aber das Land ist viel zu weit von hier entfernt. Und der Preis, den man bezahlt, wenn man erwischt wird, ist zu hoch. Und sie werden immer erwischt. Die Kopfgeldjäger sind die Reiter des Teufels.“
Als Kitty schließlich Berthas tröstende Arme verließ und zu ihrem Lager zurückkehrte, war ihr Schlaf von Albträumen überschattet. Am Morgen trug sie ihre Traurigkeit und ihren Kummer wie eine schwere Last mit sich herum, die sie nicht abwerfen konnte. Die Trauer, die Kitty empfand, wurde mit der Zeit nicht weniger, sondern wuchs von Tag zu Tag, vor allem, wenn ihr Blick auf die große Eiche fiel. Und sie konnte den Anblick nicht vermeiden. Der Baum beherrschte den Blick aus Missys Schlafzimmerfenster.
Massa Goodmans Gäste reisten irgendwann ab, und Missy Claire war von all dem Trubel schlecht gelaunt und Kitty von der vielen zusätzlichen Arbeit und den schlaflosen Nächten erschöpft. Unerwartet schossen ihr manchmal die Tränen in die Augen, und sie hatte keine Kraft mehr, Missy Claire und Missy Kate mit ihren Späßen zu unterhalten.
„Was ist denn mit dir los?“, wollte Claire wissen, als sie Kitty dabei ertappte, wie sie sich eines Nachmittags die Augen rieb. Kitty hätte wissen müssen, dass nicht Fürsorge diese Frage ausgelöst hatte, sondern Verärgerung. Claire wollte, dass sie aufhörte, traurig zu sein, und wieder fröhlich war. Kitty hätte es besser wissen müssen, aber sie beging den Fehler, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Oh, Missy Claire, ich bin immer traurig, wenn ich an meine Mama und meinen Papa denke. Sie sind beide fort, und jetzt habe ich keine Familie mehr.“
„Warum denkst du an sie? Du sollst mit mir spielen und nicht wegen Leuten schmollen, die nicht einmal hier sind.“
„Aber … aber ich wünsche mir doch so sehr, wie Sie eine Familie zu haben.“
Claires Gesicht erstarrte vor Wut. „Du willst nicht bei mir sein? Du willst bei deinen eigenen Leuten sein? Gut! Dann will ich auch nicht, dass du hier Trübsal bläst. Geh zurück zu den Sklavenhütten, wo du herkommst.“
Kittys Knie wurden ganz weich vor Angst. „Aber meine Familie ist nicht in der Slave Row, Missy. Sie –“
„Pech. Ich will dich nicht mehr in meinem Haus haben. Verschwinde.“
„Das meinen Sie doch nicht wirklich. Wer soll denn mit Ihnen spielen und –“
„Ich spiele lieber allein, als mir dein dämliches langes Gesicht anzusehen. Verschwinde auf der Stelle. Geh zu den anderen Niggern, wenn es das ist, was du willst.“
„Aber Missy Claire, das will ich ja gar nicht.“ Kitty sank auf die Knie, um sie anzuflehen. „Bitte! Ich habe dort keine Familie und keinen Platz zum Schlafen oder –“
„Das ist dein Problem und nicht meins. Du hast mich verstanden – verschwinde!“ Claires Stimme war zu einem wütenden Schreien angeschwollen, und Mammy Bertha kam mit dem Baby auf dem Arm ins Zimmer geeilt.
„Aber, aber. Was ist denn das für ein Geschrei, Missy Claire?“
„Ich schicke Kitty zurück zu all den anderen Niggern. Ich will sie hier nicht mehr haben.“
„Nein, bitte!“, flehte Kitty. „Ich verspreche, dass ich wieder fröhlich bin. Ich verspreche es!“
„Jetzt ist es zu spät“, sagte Claire. Sie lächelte, als gefalle es ihr, dass sie solche Macht hatte. „Von jetzt an wird Daisy meine Zofe sein. Und ich will auch nicht, dass Kitty dir hilft, Mammy. Sie ist eine Heulsuse und ich will sie nicht in meinem Haus haben.“
Mammy packte Kittys Arm mit ihrer freien Hand und zog sie hoch, um sie aus dem Zimmer zu bringen. Claire knallte die Tür hinter ihnen zu. „Du hast gehört, was Missy gesagt hat. Du tust besser, was man dir sagt, Mädchen.“
„Aber Mammy –“
Bertha schüttelte den Kopf. „Jetzt geh.“ Sie kehrte Kitty den Rücken zu und schlurfte zum Kinderzimmer des Babys. Mammy konnte ihr nicht helfen. Und die anderen Haussklaven auch nicht. Kitty blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.
Sie weinte den ganzen Weg hinunter zur Slave Row und sah vor lauter Tränen kaum, wohin sie ging. Und sie wusste auch nicht, was sie tun sollte, wenn sie dort ankam. Es war früher Nachmittag, und die anderen Sklaven waren noch nicht von den Feldern zurück. Der Hof war verlassen, abgesehen von den kleinen Kindern, die im Dreck spielten. Kitty fand Old Nellie in ihrer Hütte, wo sie vier kleinen Babys Luft zufächelte, die in einem Bett schliefen.
„Was willst du hier? Was ist mit dir los?“, fragte Nellie, als sie Kittys tränenverschmiertes Gesicht sah.
„Missy Claire hat mich weggeschickt. Sie will nicht mehr, dass ich im Großen Haus für sie arbeite.“
„Was hast du falsch gemacht?“
„Nichts! Sie hat gesagt, ich blase Trübsal und sie will nicht mehr mit mir spielen.“
„Wenn du weinst und dich so benimmst, versteh ich, warum. Ich will dich hier auch nicht. Ich habe schon genug weinende Babys, um die ich mich kümmern muss.“
Kitty versuchte ihre Tränen herunterzuschlucken und holte tief Luft. Sie wusste, dass Sklaven niemals untätig sein durften und dass sie irgendeine Arbeit finden musste, wenn sie nicht auf die Reisfelder geschickt werden wollte. „Ich habe Mammy Bertha oben im Großen Haus geholfen, für die weißen Kinder zu sorgen“, sagte sie hoffnungsvoll. „Ich kann dir auch helfen, wenn du willst.“
„Ist nicht meine Entscheidung, wo du arbeitest, und das weißt du auch. Heute lasse ich dich helfen, aber morgen bist du groß genug, um auf den Reisfeldern zu arbeiten. Sie schicken dich bestimmt dorthin.“
Kittys Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß nicht, wo ich wohnen soll, Nellie. Ich habe hier keine Familie.“
Die alte Frau betrachtete sie einen Augenblick lang. „Du heißt Anna, richtig?“
Es dauerte einen Moment, bis Kitty sich daran erinnerte, dass sie recht hatte. Seit einem Jahr war sie nicht mehr mit ihrem Namen angesprochen worden. „Das ist der Name, den meine Mama Lucindy mir gegeben hat“, sagte sie. „Aber Missy Claire hat mich Kitty genannt.“
Nellie zuckte mit den Schultern. „Ist mir auch egal, wie du heißt. Hier, fächele den Kleinen ein bisschen Luft zu“, sagte sie und reichte Kitty den Palmwedel. „Ich kann eine Pause gebrauchen.“
Kitty arbeitete den Rest des Tages so fleißig, wie sie konnte, in der Hoffnung, dass Old Nellie ein gutes Wort für sie einlegen würde und sie morgen wieder helfen durfte. Als die anderen Sklaven in der Dämmerung von den Reisfeldern zurückkehrten und sich versammelten, um ihre Essensrationen abzuholen, bemerkte der schwarze Vorarbeiter Kitty sofort.
„Wo kommst du denn her?“, wollte er wissen. Er war ein riesiger Mann mit mürrischer Miene. Seine stämmigen Arme und Schultern schienen fast sein Hemd aus handgesponnenem Leinen zu sprengen. Kitty hatte solche Angst vor ihm, dass sie nicht antworten konnte.
„Sie hat oben im Großen Haus gearbeitet“, sagte Old Nellie, „und ist runtergeschickt worden.“
„Was hast du falsch gemacht?“
„N-nichts!“, stammelte sie. „Missy Claire ist wütend geworden, weil sie sagte, ich würde Trübsal blasen. Das ist alles, ich schwöre es!“
„Dann musst du wohl arbeiten wie wir anderen auch“, sagte er grunzend.
Kitty aß das magere Abendessen, das man ihr zuteilte, und ging hungrig schlafen. Nellie gab ihr eine dünne Decke und sie schlief auf dem Boden der Hütte, während die ganze Nacht Mäuse um sie herumhuschten. Am Morgen ertönte das Signal zum Aufstehen, als der Himmel gerade erst hell wurde, und der Vorarbeiter nahm Kitty mit auf die Reisfelder und teilte ihr eine Reihe Pflanzen zu, die gehackt werden mussten. Die beiden Mädchen, neben denen sie arbeitete, hatten früher mit ihr in Nellies Hof gespielt, aber sie schienen viel älter als Kitty und von der schweren Arbeit schon ganz verbraucht. Kittys mangelnde Erfahrung mit der Hacke spielte keine Rolle; man erwartete von ihr, dass sie mit den anderen mithielt, während sie ihre Reihen abarbeiteten, wobei sie darauf achten musste, dass sie kein Unkraut übersah oder versehentlich eine Reispflanze ausriss. Am Mittag hatte sie Blasen an den Händen, die lange vor Einbruch der Dämmerung zu bluten und zu nässen begannen. Im Laufe des Tages bekam Kitty die Peitsche immer öfter auf ihren Schultern zu spüren, wenn sie Fehler machte oder nicht schnell genug war.
Aber während ein Tag nach dem anderen verging, waren es nicht der Hunger oder die Erschöpfung oder die ständige Angst, die Kittys Leben unerträglich machten – es war die trostlose Hoffnungslosigkeit ihrer neuen Umgebung. Alles schien farblos: die düstere Hütte, der Lehmboden, die verblichenen Kleider der Sklaven und die reglosen Gesichter, ihre staubigen Leiber, die von der Arbeit schmerzten. Sie durfte nicht zu dem blauen Himmel und den weißen Wolken hinaufschauen oder in die Ferne zu den grünen Wäldern, sondern nur auf das Erdreich hinunter, auf die endlosen Reihen, die gehackt werden mussten, eine Monotonie aus Reispflanzen und Unkraut. Abends rollte sie sich auf dem Fußboden der Hütte zusammen, zu erschöpft für Albträume, geschweige denn angenehme Träume.
Am Sonntagnachmittag, ihrem einzigen Ruhetag, war Kitty der Verzweiflung nahe. Sie beschloss, lieber in den Fluss zu springen und zu ertrinken, als ein Leben lang solch trostlose Arbeit zu verrichten. Sie verließ das öde Sklavengelände und ging zum Garten der Plantage, wo sie den breiten Streifen aus grünem Rasen überqueren und dann immer weiter gehen wollte – hinunter zum Bootsanleger. Aber als sie sich der großen Eiche näherte, sah Kitty Missy Claire und Missy Kate auf einer Decke sitzen und mit ihren Puppen spielen. Sie waren allein. Wenn Daisy Kittys Rolle als Claires Zofe übernommen hatte, war sie trotzdem nirgendwo zu sehen.
Kitty ließ sich auf alle viere fallen und kroch über den Rasen auf die beiden Mädchen zu, während sie laut miaute. Als sie den Baum erreicht hatte, rieb Kitty den Kopf an Claire, schnurrte und versuchte zu lächeln, während sie krampfhaft gegen die Tränen ankämpfte. Mehr als ein Jahr war seit dem Sommertag vergangen, an dem Missy Kitty adoptiert hatte, und sie hoffte, Claire würde sich daran erinnern.
Irgendwann blickte sie verstohlen zu Missys Gesicht auf. Claire versuchte, nicht zu lächeln, aber Kitty merkte, dass die Vorstellung sie amüsierte. Sie schöpfte Hoffnung.
„Natürlich haben manche Leute lieber einen Hund“, sagte Kitty und zwang sich, breit zu grinsen. Sie tat, als wäre sie ein Hündchen, indem sie bellte, Männchen machte und die Zunge heraushängen ließ. Missy Kate fing an zu kichern.
Kitty war es zuwider, was sie tat. Aber sie hatte nichts zu verlieren. Die Alternative war viel schlimmer. Als Feldsklavin würde sie nie überleben, vor allem, wenn der Herbst kam und der Reis gemäht und gedroschen und geworfelt werden musste. Der Vorarbeiter würde erwarten, dass sie genauso viel arbeitete wie die Erwachsenen, Tag für Tag, und wenn sie es nicht schaffte, würde sie ausgepeitscht werden. Im Augenblick war ihr Leben kaum mehr als das eines Tieres. Lieber lebte sie als Missy Claires Haustier, als dass sie als Lasttier an Überarbeitung und Auszehrung starb.
„Wuff! Wuff!“, wiederholte Kitty tapfer und versuchte dabei nicht an die Hunde zu denken, die ihre Eltern angegriffen hatten.
„Nein, ich glaube, ich habe lieber ein Kittekätzchen“, sagte Claire mit selbstgefälligem Lächeln. Kitty ließ sich wieder auf alle viere fallen und miaute. Claire lachte. „Dann komm, Kitty. Es ist Zeit, ins Haus zu gehen.“
Kitty wusste, dass sie sich schämen und erniedrigt fühlen sollte. Aber als sie sich, noch immer auf allen vieren kriechend, zum Großen Haus aufmachte, verspürte sie nur Erleichterung.
Kapitel 6
Jacksonville, Florida
1853
„He, Joe! Massa Coop ruft nach dir!“
Grady stellte den Eimer mit Schmutzwasser ab und drehte sich zu William um. Es war das erste Mal seit der Prügel vor zwei Wochen, dass der Massa nach Grady verlangte. Er erschauerte vor Furcht. „Er will mich sehen?“, fragte er.
„Das hat er gesagt.“
Grady holte tief Luft. „Weißt du, warum?“
Ein Ausdruck, den man als Mitleid hätte deuten können, huschte über Williams Gesicht und verschwand dann in einem finsteren Blick. „Eine Reihe reicher Plantagenbesitzer kommen Massa in seinem Hotelzimmer besuchen. Du hilfst mir, sie zu bedienen. Deshalb hat Massa Coop dich gekauft.“
Gradys Magen drehte sich um, als stünde er bei aufgewühlter See an Deck eines Schiffes. Die Wunden, die sein Herr ihm zugefügt hatte, heilten allmählich, aber sie waren auf seiner hellbraunen Haut noch sichtbar, nachdem sie von dunkelrot zu grünschwarz verblasst waren. Auch die Schmerzen ließen allmählich nach, aber noch immer spürte er, wenn er sich bewegte, einen dumpfen, pochenden Schmerz. Er war in den vergangenen zwei Wochen in Sklavengefängnissen und Frachträumen eingesperrt gewesen, während Massa Coop die Küste von Georgia nach Florida hinuntergereist war und einige Sklaven verkauft und dafür andere erworben hatte. Es war Gradys Aufgabe gewesen, zu putzen und die Eimer zu leeren, Stroh zu schaufeln und Schmutz von den Decks zu wischen. Er arbeitete, so fleißig er konnte, aber es war beinahe unmöglich, die Zellen und Laderäume, in denen die Sklaven eingesperrt waren, sauber zu halten.
„Ich habe einen Eimer mit sauberem Wasser und Seife mitgebracht“, sagte William und zeigte auf die Stelle, wo er beides abgestellt hatte. „Massa sagt, du sollst dich als Erster waschen, vor den anderen. Du sollst darauf achten, dass du nicht stinkst. Und er hat dir auch frische Kleider geschickt.“
Grady blickte sich in dem überfüllten Hof um und schloss dann die Augen. So sehr er sich danach sehnte, sich zu waschen und seine blutige Kleidung abzulegen, so sehr erfüllte ihn die Vorstellung, sich in aller Öffentlichkeit vor Männern und Frauen auszuziehen, mit einem Gefühl wütender Erniedrigung.
„Beeil dich besser“, sagte William und schob ihn in Richtung Eimer. „Massas Kunden kommen bald.“ Wenn William irgendwelches Mitgefühl für Grady empfand, zeigte er es nicht. Vielmehr schien er erleichtert zu sein, dass ein anderer Sklave sein Schicksal teilen und seinen Teil an Misshandlungen durch ihren Herrn abbekommen würde.
„Was muss ich machen?“, fragte Grady, während er sein Hemd auszog. William warf einen Blick auf seinen geschundenen Körper und blickte dann zur Seite.
„Du hast von jetzt an zwei Aufgaben: Massa Coop und seine Kunden zu bedienen und dich hier in den Gefängnissen und auf den Schiffen um seine Sklaven zu kümmern.“
„So wie ich es bis jetzt getan habe?“, fragte Grady. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, machte seine Haare nass und schäumte die Seife auf.
William stieß hörbar die Luft aus. Grady wusste nicht, ob es ein Zeichen der Verärgerung oder der Ungeduld war. „Was du gemacht hast, ist nur ein Teil. Hör gut zu, was ich dir jetzt sage – verstanden?“
Grady nickte, und er war sich nicht sicher, ob das Zittern, das durch seinen Körper fuhr, von dem kalten Wasser kam oder von der Warnung, die er in Williams Stimme hörte.
„Jeden Augenblick an jedem Tag“, sagte William, „Tag und Nacht müssen wir aufpassen und dafür sorgen, dass niemand flieht. Wir müssen sie anketten und darauf achten, dass die Fesseln an ihren Händen und Füßen immer verschlossen sind, damit niemand abhauen kann. Manche haben schon versucht, durch die Bullaugen zu springen, während das Schiff fährt, oder in der Nähe des Ufers über Bord zu springen, wenn wir abfahren oder anlegen. Sie werden es nicht versuchen, wenn sie alle aneinandergekettet sind, aber manchmal schafft es einer, seine Fesseln zu lockern, wenn wir nicht hinsehen, und dann fliehen sie.“
Grady wusch sich schnell Oberkörper und Arme und zog dann das Hemd an, das William ihm reichte. Es war abgenutzt und etwas zu groß, aber es war sauber.
„Ein paar von den Leuten sind ziemlich verzweifelt“, fuhr William mit gedämpfter Stimme fort. „Sie versuchen alles. Da war zum Beispiel eine Frau, die Massa gekauft hat und die ihr Kind zurücklassen musste. Tagelang aß sie nichts und wurde so dünn, dass sie die Fesseln abstreifen konnte. Eines Tages, als das Schiff draußen auf dem Meer war, sprang sie über Bord und ertränkte sich.“ Er hielt inne und biss sich auf die Lippe. Dann sagte er leise: „Massa hat uns deswegen beinahe totgeprügelt. Er sagt, wir müssen aufpassen und im Sklavengefängnis lauschen und ihm erzählen, was wir sehen und hören, wenn jemand die Flucht plant.“
Grady schüttelte ungläubig den Kopf. „Das machst du? Du spionierst die anderen aus und erzählst es dem Massa?“
„Genau. Und du machst es besser auch, wenn du weißt, was gut für dich ist. Habe ich es dir nicht gerade erzählt? Wenn einer von ihnen versucht zu fliehen, bezahlen wir dafür, egal, ob wir von den Plänen wussten oder nicht.“
„Wie kannst du so ein Spion sein? Du bist nicht weiß – du bist ein Sklave, genau wie wir anderen.“
„Erinnerst du dich an die Prügel, die Massa dir verabreicht hat?“ William stieß seinen Finger in Gradys immer noch schmerzende Rippen. „Das war nichts. Glaub mir, nachdem er dich aufgehängt und dir vierzig Peitschenhiebe verpasst hast, wirst du ihm jedes Wort erzählen, das die Leute sagen. Ich habe schon meine Narben.“ Er drehte sich um und hob sein Hemd an, sodass Grady die breiten Knoten der hässlichen Narben sehen konnte, die quer über seinen Rücken liefen. „Der Mann kann mich nicht für viel Geld verkaufen, deshalb ist es ihm egal, ob er mich schlägt oder nicht. Wenn der Rücken eines Sklaven erst einmal voller Narben ist, denken die Weißen, er wäre geflohen oder ein Dieb, und dann kaufen sie ihn nicht. Mein Leben ist nichts wert … und wenn du nicht aufpasst, wird Massa mit dir das Gleiche machen.“
Grady hatte aufgehört sich zu waschen, erstarrt vor Entsetzen angesichts dessen, was er da hörte. William bedeutete ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung, dass er weitermachen solle. „Massa Coop schlägt uns Schwarze gerne zusammen“, sagte er. „Er lacht nur, wenn er beim Poker gewinnt oder wenn er jemanden verprügelt.“
Grady schluckte und erinnerte sich an Coops grinsendes Gesicht in der Nacht, als er ihn zusammengeschlagen hatte.