Über das Buch:
Nachdem CIA-Agent Luke Gallagher viele Jahre in geheimer Mission unterwegs war, kehrt er in seine Heimatstadt Baltimore zurück. Die Jagd auf einen gefährlichen Bioterroristen führt ihn ausgerechnet mit Kate Maxwell zusammen, der Liebe seines Lebens, die er einst zurücklassen musste. Doch Kate ist tief verletzt und nicht begeistert von der Aussicht, mit Luke am selben Fall arbeiten zu müssen. Wird es dem explosiven Team gelingen, seine Differenzen beizulegen und im Wettlauf gegen die Bedrohung alle erdenklichen Kräfte zu mobilisieren?
Unterdessen kämpfen Detective Griffin McCray und seine Frau Finley, eine forensische Anthropologin, ihren ganz eigenen Kampf: Sie sind dem geheimnisvollen Serienmörder auf den Fersen, der vor vielen Jahren Griffins Schwester umbrachte. Doch der scheint ihnen immer einen Schritt voraus zu sein …
Das packende Finale der »Baltimore-Team«-Reihe, das atemlose Spannung garantiert.
Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Im deutschsprachigen Raum ist bisher ihre sehr erfolgreiche Alaska-Serie rund um die fünf McKena-Geschwister erschienen. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.
7
Griffin und Finley gingen an Bord der Maschine nach Houston, noch müde von den wenigen Stunden Schlaf. Doch Griffin war froh, seine Frau nach dem Anschlag auf die Detektei aus der Stadt bringen zu können. Beide hatten Urlaub von ihrer Arbeit genommen, um die Reise nach Houston zu unternehmen, und wollten einen Großteil der Zeit darauf verwenden, den Mörder seiner Schwester zu finden.
Griffin hielt den Stapel Akten des FBI-Agenten Steven Burke auf dem Schoß und machte sich daran, sie alle gründlich durchzuarbeiten. Burke hatte in seiner Freizeit an einem Fall gearbeitet, bei dem es um Chelsea Miller, die Tochter eines Freundes, ging. Sie war entführt und ermordet worden. Ihre Leiche hatte man am Ufer angespült gefunden. Alle Spuren waren schon bald im Sande verlaufen, aber Burke hatte nicht aufgegeben und weiter an Chelseas Fall gearbeitet, bis er selbst vor zwei Monaten umgebracht worden war.
Burkes Arbeit war jedoch nicht umsonst gewesen. Seine Nachforschungen hatten einen ähnlichen Tathergang bei den Morden an sieben weiteren jungen Frauen zutage gefördert, darunter auch Griffins Schwester Jenna, die das erste Opfer gewesen zu sein schien. Nach ihr hatte Burke noch zwei Mordopfer in der Nähe von Wilmington, North Carolina, und zuletzt fünf in der Gegend von Houston gefunden – zu Letzteren gehörte auch Chelsea.
Zum ersten Mal seit fast zehn Jahren hatte Griffin wirklich die Hoffnung, dass Jennas Mörder doch noch zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
Vor seinem Tod hatte Agent Burke heimlich sieben Codewörter in einem Buch markiert –Wörter, von denen Griffin glaubte, dass sie mit den Fällen der ermordeten Frauen zusammenhingen. Er konnte nicht sicher sein, dass alle sieben Wörter mit den Morden in Verbindung zu bringen waren, aber einige von Burkes Liste schienen zu allen Fällen zu passen.
Anführer. Glock. Handschellen. Nachricht. Handgelenke. Stall. Agent.
Sieben Wörter. Sieben Opfer. Zufall? Leider ja, vermutete Griffin. Seiner Meinung nach war der Mörder noch nicht am Ende. Und vielleicht gab es noch andere, die Burke nicht mit seinem Fall in Verbindung gebracht hatte.
Jedes Wort machte Griffin zu schaffen, aber vor allem das letzte. Agent.
Hatte Burke den Kreis der Verdächtigen auf einen Beruf eingegrenzt oder besser noch auf eine Person? Wenn ja, was für ein »Agent« war dieser Täter? Es gab schließlich verschiedene Arten – Versicherungsagenten, Literaturagenten oder Musikagenten und natürlich Geheimagenten. Lockte er seine weiblichen Opfer mit seinem Beruf an, indem er ihnen Geld oder Ruhm versprach?
Jenna wäre auf so etwas niemals hereingefallen. Sie machte sich nichts aus Berühmtheit. Ihre Welt drehte sich um Familie, Glauben, Freunde, Wasser und ihre Heimatstadt. Sie hatte davon geträumt, irgendwann Ehefrau und Mutter zu werden – und ihre Kinder in Chesapeake Harbor großzuziehen, wo auch Griffin und sie aufgewachsen waren. Aber das alles, ein ganzes Leben, eine ganze Welt, war von einem Moment zum anderen ausgelöscht worden.
Nachdem sie fast eine halbe Stunde auf der Rollbahn gewartet hatten, bekam ihr Flug endlich die Starterlaubnis, und wenige Minuten später stiegen sie in den trüben grauen Oktoberhimmel hinauf.
»Ich hoffe, in Houston ist das Wetter besser«, sagte er und sah zu seiner schönen Frau hinüber. Seiner Ehefrau.
Er konnte noch immer nicht glauben, dass Finley zu ihm gehörte und er zu ihr.
»Ich habe in meiner Wetter-App nachgesehen – es sind etwa dreißig Grad dort«, sagte sie.
»Schön.« Das war wenigstens ein Lichtblick, denn die kommenden Tage würden hart werden. Die Ermittlungsakten der Mordopfer zu durchkämmen, das würde zweifellos den Mord an seiner Schwester und die damit verbundenen grausigen Einzelheiten wieder an die Oberfläche bringen – offene und hässliche Wunden, die nie ganz geheilt waren. Er hatte damit leben gelernt, aber nie inneren Frieden darüber gefunden. Wie konnte er das auch, nach dem, was man Jenna angetan hatte?
»Wie heißt der Agent, mit dem wir uns dort treffen?«
»Spezialagent Lance Thornton. Mit ihm sprechen wir über den Mord an Chelsea Miller – den Fall, den Burke verfolgt hat, weil er mit Chelseas Vater befreundet war. Dann melden wir uns bei den Beamten, die für die anderen Fälle zuständig waren, und können hoffentlich für heute und morgen Treffen mit ihnen arrangieren. Meine Erfahrung ist, dass man sie eher zu fassen kriegt, wenn man schon vor Ort ist. Ich hoffe, dass ich sie in umgekehrter Reihenfolge befragen kann – den jüngsten Fall zuerst und dann zurück bis zu Jenna.«
»Beamte im Plural?«
»Wie sich herausgestellt hat, haben alle Morde in den Bezirken innerhalb von Houston stattgefunden oder ganz außerhalb der Stadt. Genauso ist es mit den beiden in North Carolina.«
»Jeder Mord wurde in einem anderen Zuständigkeitsbereich verübt?«
Griffin nickte grimmig. Es bedeutete, dass der Mörder höchstwahrscheinlich etwas von polizeilichen Ermittlungen verstand oder zumindest wusste, wie er am wenigsten auffiel.
»Aber wie kommt es, dass das FBI in den Fall von Chelsea Miller verwickelt ist? Ich meine, ich verstehe, warum Burke als ein Freund der Familie helfen wollte, aber warum Thornton?«
»Weil Chelsea minderjährig war und vor dem Mord über eine Grenze gebracht wurde. Das bedeutet, dass die Bundesbehörde zuständig ist, was Burke mit Sicherheit unterstützt hat, weil er die Familie des Opfers kannte. Obwohl der Fall an Thornton ging, der auf Entführungen spezialisiert ist, weil Burke und sein Partner Chuck Franco zur Spionageabwehr gehörten – Chuck ist übrigens immer noch dort.«
»Wie krass, auf Entführungen spezialisiert zu sein ...« Sie zog eine Grimasse.
Das war eindeutig ein Bereich der Polizeiarbeit, auf den Griffin sich nicht konzentrieren wollte. Der Kummer. Die Angst. Nie zu wissen, ob der geliebte Mensch wiederkommen würde.
»Sprechen wir auch mit den Familien der Opfer?«, fragte Finley.
Er nickte. Er erinnerte sich gut daran, wie es gewesen war, plötzlich einer von ihnen zu sein. »Ja, sie sind alle bereit, mit uns zu reden.«
»Das heißt, wir werden in den nächsten Tagen gut beschäftigt sein.«
Er nahm ihre Hand, hob sie an seine Lippen und drückte einen zärtlichen Kuss auf ihre Finger. »Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.« Es würde ein sehr schwieriger und langwieriger Prozess werden – wie lange sie auch immer brauchten, um gründliche Ermittlungen durchzuführen –, aber dass seine Frau an seiner Seite war, tröstete ihn.
»Ich auch«, sagte sie. »Können wir eventuell die Leichen in Augenschein nehmen?« Als forensische Anthropologin war sie es gewohnt, die sterblichen Überreste von Menschen auf Hinweise zu untersuchen.
»Dieses sensible Thema wollte ich nicht am Telefon ansprechen.«
»Natürlich nicht.«
»Aber wenn wir die Angehörigen sehen, werde ich fragen. Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber wenn wir erklären, wie viele Fälle du auf diese Weise schon gelöst hast, stimmen sie vielleicht zu. Wenn nicht, will ich auf jeden Fall, dass du die Autopsieberichte der Opfer durchsiehst.« Er griff in seine Tasche und gab ihr einen Stapel Mappen. »Zum Glück hatte Burke Kopien, sonst wäre es ein logistischer Albtraum gewesen, die hier zu bekommen.«
Finley holte tief Luft und schloss die Augen zum Gebet – sie bat Gott immer um Orientierung, Hilfe und tiefes Mitgefühl für jedes Opfer, das sie untersuchte, und für die Angehörigen. Das war noch ein Grund, warum Griffin sie liebte. Sie diente Gott mit ganzem Herzen, und sie kämpfte entschlossen für diejenigen, die nicht mehr für sich selbst kämpfen konnten. Sie gab ihnen eine Stimme. Es war eine belastende Aufgabe. Und seine als Detektiv der Mordkommission auch. Aber Gott würde ihnen weiterhin alles geben, was sie brauchten, und sie tragen.
Er wusste nicht, wie Menschen in ähnlichen Berufen mit der Tragik und Dunkelheit fertig wurden, wenn sie Gott nicht kannten. Wenn man nicht wusste, dass irgendwann die Gerechtigkeit siegen würde und dass Hoffnung und Heilung möglich waren, selbst in den finstersten Umständen, musste einen der Beruf irgendwann aufzehren und überwältigen. Es war nicht verwunderlich, dass Menschen in diesen Berufen oft tranken. Mehrere seiner Kollegen versuchten, den Kummer und Frust in Alkohol zu ertränken, anstatt die Last an Jesus abzugeben. Er litt mit ihnen, und er betete, dass sie den Frieden finden würden, der auf sie wartete, wenn sie nur darum baten. Erst neulich hatte er versucht, mit zwei Beamten zu reden, die Probleme hatten, aber sie hatten sein »Kirchengerede« mit einem Lachen abgetan. Er betete weiter für eine Möglichkeit zum Gespräch und darum, dass Gott ihre vom Kampf verhärteten und ermüdeten Herzen erweichte.
* * *
Nachdem er mit Kate bei der Detektei vorbeigefahren war und Wache gestanden hatte, während sie duschte, sich umzog und ein paar Dinge für die nächsten Tage packte, betrat Luke zusammen mit ihr Declans FBI-Büro. Um halb zehn, hatte Declan gesagt, würden sie den Leiter der Behörde, Alan King, auf den aktuellen Stand bringen und dann mit einem Einsatzkommando sprechen, das die Aufgabe hatte, Ebeid auszuschalten. So merkwürdig es auch war, ein Bürogebäude zu betreten wie zum Beginn eines »normalen« Jobs, war Luke dankbar für die Zeit, die er mit Kate würde verbringen können.
Wenn der gestrige Abend irgendetwas gezeigt hatte, dann, dass es zwischen ihnen immer noch ein unerklärbares Band gab.
Malcolm hatte immer wieder darauf beharrt, dass Luke das Leben, das er in den vergangenen Jahren geführt hatte, nicht einfach hinter sich lassen konnte – genauso wenig wie alle anderen, die im Auftrag der Regierung in geheime und oft illegale militärische Aktionen im In- und Ausland verwickelt waren. Selbst wenn Luke einen Weg fand, wie sollte er in der normalen Gesellschaft funktionieren? Jahrelang hatte er in einer ganz anderen Welt gelebt mit biegsamen Regeln oder auch ohne jegliche verbindliche Gesetze …
Konnte er die Krisen um ihn herum einfach ausblenden und ein »normaler« Bürger werden? Gut, Declan, Griff, Parker und Kate waren auch nicht direkt »normale« Bürger. Sie kämpften ebenfalls gegen Dunkelheit und Verbrechen, aber auf ganz andere Art und Weise. Konnte er sich daran gewöhnen, die Ungerechtigkeit so zu bekämpfen, wie sie es taten?
»Wann kommt Lexi zurück?«, fragte Kate Declan, und Lukes Aufmerksamkeit wandte sich wieder der Unterhaltung zu.
»Morgen«, erwiderte Declan und warf Tanner einen sehnsüchtigen Blick zu.
»Und Lexi ist wer?«, fragte Luke.
»Meine Partnerin«, sagte Declan.
Lukes Blick wanderte von Declan hinüber zu Tanner. »Aber ich dachte ...«
Declan erklärte, wie es dazu gekommen war, dass sein Boss Tanner und ihn zum Team erklärt hatte, während sich seine Kollegin Lexi wegen eines Todesfalls in der Familie im Sonderurlaub befand.
»Also ... was ist mit Tanners Rolle bei den Ermittlungen, wenn Lexi wieder da ist?« Luke war neugierig.
Declan lächelte Tanner an, eindeutig völlig verliebt in diese Frau. »Erst einmal wird Alan sie an dem Fall dranlassen und Lexi wird mit einem anderen Kollegen zusammenarbeiten.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Zeit, dass wir uns an die Arbeit machen.«
Sie informierten Alan über die jüngsten Entwicklungen, dann folgte Luke Declan, Tanner und Kate den Gang hinunter zum Besprechungsraum. Es war Jahre her, dass er in einem dieser Konferenzräume gewesen war – die meisten Besprechungen seit seiner Rekrutierung hatten heimlich stattgefunden. Der vier mal vier Meter große Raum war voller Agenten, und er spürte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren – auf den Fremden.
Alan ging nach vorne und räusperte sich. »Guten Morgen. Kommen wir gleich zur Sache.«
Alan war groß und breitschultrig. Seine dunklen Haare trug er ordentlich zur Seite gekämmt. Er hatte braune Augen, darunter eine krumme Nase und ein starkes Kinn. Er strahlte die Stärke seiner leitenden Position aus. Seine Stimme war tief, aber ruhig und markant. »Agent Grey leitet die Ermittlungen und das Sonderkommando, also will ich, dass ihr auf ihn hört. Er glaubt, dass wir vor einer der größten Bedrohungen stehen, die dieses Land je erlebt hat, und nach dem versuchten Anschlag auf die Bay Bridge gestern muss ich sagen, dass ich ihm recht gebe.«
8
Die Luft war warm und stickig, als Finley Griffin durch das nach Autoabgasen stinkende Parkhaus zu ihrem Mietwagen folgte, und ihre Absätze klapperten hinter ihm auf dem Beton. Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass sie da war. Ein schwarzer Chevrolet Equinox wartete auf Platz C3 mit Schlüssel im Zündschloss auf sie.
Griffin warf einen Blick auf seine Uhr. Sie hatten noch eine Stunde bis zu ihrem verabredeten Treffen mit Spezialagent Lance Thornton, dem zuständigen Bundesbeamten im Fall Chelsea Miller. Er war es auch gewesen, der keine drei Monate gebraucht hatte, um alle Spuren für tot zu erklären und die Ermittlungen einzustellen.
Griff war während eines kurzen Telefonats mit ihm klar geworden, dass Thornton noch immer zögerte, ein Muster bei den Fällen zu sehen. Wie auch nur ein einziger Ermittler, der den Namen verdient hatte, die offensichtliche Verbindung zwischen den Fällen leugnen konnte, nachdem ihm alle Beweise vorlagen, das war Griffin unbegreiflich. Für ihn klang es so, als hätte Thornton mit Chelseas Fall ein für alle Mal abgeschlossen und nicht das geringste Interesse, die Sache noch einmal aufzurollen. Griffin hoffte, dass er sich irrte.
Nach einigen kurzen Anrufen bei verschiedenen Kollegen und mehreren Rückrufen waren ihre Termine für die nächsten beiden Tage geregelt.
Heute würden sie nach dem Treffen mit Thornton die anderthalbstündige Fahrt nach Edna im Südwesten von Houston unternehmen, um mit den Ermittlern Clint Eason und Joel Hood zu sprechen. Dann wollten sie nach Pasadena, das nur zwanzig Minuten von Houston entfernt lag, um den Beamten der Mordkommission dort zu treffen, einen gewissen Gil Crest. Es war zwar nicht die effizienteste Route, was das Fahren betraf, aber Detective Crest hatte erst abends Zeit und außerdem konnten sie so die Morde in umgekehrter Reihenfolge abarbeiten. Und abends waren sie dann zum Essen und für die Nacht in ihrem Hotel in Houston.
Am nächsten Tag waren Gespräche mit den letzten beiden Kollegen geplant und die Begegnung mit den Familien der Opfer. Diesen Teil der Ermittlungen fürchtete Griffin am meisten, weil er wusste, welchen Schmerz er damit erneut hervorrief. Er wünschte, er könnte es vermeiden, aber ohne diese Befragungen waren gründliche Nachforschungen unmöglich.
* * *
Als Declan in dem Besprechungsraum nach vorne ging, quietschten seine makellos glänzenden Lederschuhe auf dem weiß gekachelten Boden. Declan hatte sich von einem Jungen mittlerer Statur in einen kräftig gebauten Mann verwandelt – und seine breiten Schultern und die großen Hände schüchterten bestimmt viele Leute ein.
Luke war dazu ausgebildet worden, in jeder Situation klarzukommen, aber Declans kantige Gestalt hatte ihn einen Moment zögern lassen, als sie sich plötzlich gegenübergestanden hatten – nicht aus Angst, sondern vor Überraschung und auch aus ehrlicher Bewunderung heraus.
Und Kate ... Sie war zu der schönen, komplexen, faszinierenden Frau herangewachsen, die er in ihr schon früher hatte erahnen können. Aber er hatte das Vergnügen verpasst, die Verwandlung von einer zweiundzwanzigjährigen Studentin in eine umwerfende Frau mitzuerleben, die sein Herz auf eine Weise hämmern ließ, wie er es nicht mehr für möglich gehalten hatte. Jeder Nerv in seinem Körper erwachte zum Leben, wenn sie den Raum betrat.
»Wie Alan bereits gesagt hat« – Declans klangvolle Stimme holte Luke in die Gegenwart zurück –, »fürchte ich, dass wir vor einer der größten terroristischen Bedrohungen stehen, vergleichbar mit dem 11. September und mit dem Potenzial für noch verheerendere Folgen.«
Ein Murmeln lief durch den Raum, dann wurde es ganz still. Alle konzentrierten sich voll auf Declan, der vor dem großen LED-Bildschirm auf und ab schritt, während ein Foto – merkwürdigerweise eines, das Luke bei einem Einsatz gemacht hatte – darauf erschien.
»Diese Bedrohung«, fuhr Declan fort, »hat das Potenzial, sich wie ein Lauffeuer auszubreiten.« Er drehte sich um und zeigte auf das Bild an der Wand hinter ihm. »Dr. Isaiah Bedan – ein führender Wissenschaftler im Bereich biologischer Kriegsführung – hält sich in unserem Land auf, und einhundertsiebzig Gramm Anthrax wurden auf dem Weg von Fort Detrick zur Zentrale der Seuchenschutzbehörde gestohlen. Ich glaube nicht, dass die Ankunft von Dr. Bedan in den Staaten am selben Tag, an dem das Anthrax entwendet wurde, ein Zufall ist. Die beiden Ereignisse sind zweifellos miteinander verbunden, und koordiniert werden sie von Dr. Khaled Ebeid vom Islamischen Kulturverein der Nordoststaaten – einer Fassade, hinter der sich ein riesiges Netzwerk von Schläferzellen hier in den USA verbirgt.
Zum Glück haben wir eine Unterstützung von unschätzbarem Wert in unseren Reihen«, sagte Declan und sein Blick blieb an Luke haften. Er gab ihm ein Zeichen vorzutreten. »CIA-Agent Luke Gallagher arbeitet mit uns zusammen.« Er bedeutete Luke, er solle nun übernehmen, und setzte sich in die erste Reihe.
Luke trat vor die versammelten Beamten. »Ich stimme Agent Grey voll und ganz zu«, sagte er. »Wir stehen vor der größten terroristischen Bedrohung durch biologische Waffen, die es je auf amerikanischem Boden gegeben hat.« Er sah zu Ebeids Foto hinauf – dem Mann, um den sich seine Welt seit Jahren drehte. »Ich will Ihnen ein paar Hintergrundinfos geben«, fuhr er fort. »Zum ersten Mal haben wir von Dr. Khaled Ebeids extremistischen Verbindungen und Aktivitäten vor sieben Jahren erfahren – im Mai werden es acht Jahre, um genau zu sein.«
Er blickte zu Kate hinüber. Ihre Miene sagte ihm, dass sie verstand, warum er damals gegangen war. Dass dies der Einsatz war, für den er rekrutiert worden war. Nicht dass es deshalb für sie leichter gewesen wäre, aber vielleicht konnte sie jetzt besser verstehen, wofür er gekämpft hatte – und es immer noch tat, nur inzwischen auf heimischem Boden.
»Zuerst war ich Teil einer Mannschaft, die sich im Irak auf Khaled Ebeid konzentrierte. Damals war er der Mitbegründer des Instituts für irakische Kultur. Der Geheimdienst ist auf ihn aufmerksam geworden, als man seine Loyalität und Verbindungen zu Osama bin Laden entdeckte. Nach bin Ladens Tod floh Ebeid aus dem Land und ging nach Paris, wo er eine Stellung als Kulturattaché im Museum für die Antike des Nahen Ostens antrat.
Fünf Autobomben und ein Bombenanschlag auf die Pariser U-Bahn fielen in seine zweijährige Amtszeit dort. Nach gründlichen Nachforschungen in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und Interpol ließen sich alle Selbstmordattentäter lose mit Ebeid in Verbindung bringen, und Interpol arbeitete weiter mit uns zusammen. Doch trotz aller gründlichen Ermittlungen konnte man ihm nie etwas Konkretes im Zusammenhang mit den Bombenanschlägen beweisen, und wieder verschwand er mit perfektem Timing. Diesmal nach Baltimore, wo er sich niederließ. Aber hier in den USA ist er geduldiger und sehr viel subtiler in seinen terroristischen Aktivitäten – er wartet, baut auf, bereitet vor.
Wir haben Langley natürlich auf Ebeids Anwesenheit und seinen Hintergrund aufmerksam gemacht, und der NSA behält ihn immer im Auge. Auch wenn Ebeid jetzt weniger aggressiv vorgeht, oder es zumindest so scheint, ist er noch genauso gefährlich. Ich fürchte, von ihm geht heute sogar eine noch tödlichere Gefahr aus. Er macht immer noch auf Kulturattaché, was zu seinem Hintergrund und seiner Ausbildung passt, aber er benutzt den Islamischen Kulturverein als Tarnung für seine anhaltenden terroristischen Aktivitäten und extremistischen Verbindungen. Wir wissen, dass Ebeid seit einiger Zeit junge Rekruten aus Südostasien herbringt und ein Netzwerk aus Schläferzellen aufbaut.«
Er räusperte sich. »Ich bin sicher, Sie alle wissen, dass Agent Grey mit einem dieser Rekruten eine persönliche Begegnung hatte – einem Mann namens Anajay Darmadi. Vor dieser Begegnung war ich Anajay in Asien gefolgt, zuerst in Thailand, dann in Malaysia. Ich habe herausgefunden, mit welchen Mitteln er junge Männer rekrutiert und wie er sie in die USA einschleust.
Aber das alles war nur Vorbereitung für das, was jetzt geschehen wird. Wie Declan sagte, ist es Dr. Ebeid gestern gelungen, Dr. Isaiah Bedan ins Land zu schmuggeln.«
Declan zeigte auf dem Bildschirm ein Foto von Bedan.
Luke nickte zum Dank und fuhr fort: »Dr. Bedan ist ein amerikanischer Mikrobiologe von höchstem Rang, oder jedenfalls war er ein führender Wissenschaftler auf seinem Gebiet, bis er vor zwei Jahren in Ungnade fiel. Er hatte einen jungen Studenten dazu angestiftet, in München Anthrax in der Luft zu verteilen, indem er es von einem vierstöckigen Gebäude fallen ließ. Zum Glück hat der Wachmann bemerkt, wie der Mann aufs Dach hinaufstieg, und auch wenn er den Anschlag nicht ganz verhindern konnte, hat er so rechtzeitig eingegriffen, dass es nur wenige Tote gab. Obwohl sechs Todesopfer, darunter der Wachmann, nicht gerade belanglos sind.«
»Woher wissen Sie, dass Bedan ihn rekrutiert hat?«, fragte eine Kollegin, die in der zweiten Reihe saß.
»Weil der junge Mann es stolz gebeichtet hat, bevor er durch das Anthrax starb, dem er sich selbst ausgesetzt hatte.« Lukes Unterkiefer zuckte, denn der Trotz und der völlige Mangel an Reue bei diesem jungen Mann erfüllten ihn noch immer mit Wut. Mit gerechtem Zorn, sein Land zu schützen, das er liebte. »Nach gründlichen Ermittlungen«, sagte er und wandte sich nach rechts, »entdeckten wir, dass Bedan sich nicht zum ersten Mal einer biologischen Waffe bedient hatte. Es ist erschreckend, aber offensichtlich hatte Bedan sein Handwerk, wie er es nennt, verfeinert, indem er schon mehrere Jahre vor dem Anthrax-Attentat in München Experimente mit biologischen Waffen durchführte.«
Die Agenten schienen schockiert. Verhaltenes Murmeln erfüllte den Raum.
Luke blickte zu Kate hinüber. Sie sah ihn mit großen Augen und gestrafften Schultern an – immer bereit, der Ungerechtigkeit die Stirn zu bieten.
Ein ganzes Meer von Händen fuhr hoch wie eine Welle, die durch den Raum wogte. Es würde eine lange und schwierige Diskussion werden, obwohl er das erwartet und im Grunde genommen auch erhofft hatte. Die anwesenden Agenten nahmen die Bedrohung so ernst, wie man sie nehmen musste, obwohl ernst nicht einmal annähernd beschrieb, wie entsetzlich Bedan, Ebeid und ihre Pläne waren.
Luke zeigte auf eine Hand, die am weitesten von ihm entfernt war, um sich langsam vorzuarbeiten. Jeder Agent hatte irgendetwas, womit er sich Notizen machen konnte, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihm.
»Sie haben gesagt, Bedan wurde als Mikrobiologe in den USA ausgebildet?«, fragte ein Beamter mit gewellten blonden Haaren, die über den Ohren kurz geschoren waren.
»Ja. Bedans Hintergrund ist ...« Luke seufzte. »Ich überlasse Ihnen eine Beurteilung. Seine Familie ist gleich nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewandert, weil sein Großvater, Abel Bedan, ein österreichischer Wissenschaftler und Nazi, Teil der Operation Paperclip war.«
»Im Ernst?«, sagte Declan.
»Ich fürchte, ja.« Luke schluckte. »Für diejenigen von Ihnen, die es nicht wissen: Operation Paperclip war ein gemeinsames Programm der Geheimdienste, das über mehrere Jahrzehnte lief. Mit diesem Programm wurden mehr als 1.600 deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker – hauptsächlich Mitglieder der NSDAP – mit ihren Familien in die USA gebracht in Erwartung des Kalten Krieges mit der Sowjetunion. Einer von ihnen war Dr. Kurt Blome, der Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten entwickelte, um sich gegen sowjetische biologische Kriegsführung zu wehren. Er hatte vorher abscheuliche biologische Kriegsexperimente an Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz durchgeführt, unter anderem, indem er die Opfer mit Pestbakterien infizierte und sie Sarin-Gas aussetzte. Seine rechte Hand war Abel Bedan.«
»Isaiah Bedans Großvater?«
»Korrekt.«
Der blonde Agent sah ihn fragend an und fuhr fort: »Wie passt denn die islamische Verbindung, wenn Isaiah Bedan aus der Naziecke kommt?«
»Seine Großmutter mütterlicherseits war die Tochter von Mohammad Amin Al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Al-Husseini lebte von 1941 bis 1945 in Deutschland, bevor er nach Ägypten zog. Während dieser Zeit verliebte Abel sich in Al-Husseinis älteste Tochter Ayla. Sie heirateten und bekamen Erich Bedan, und der heiratete später Eva Shahid, eine entfernte Verwandte von Ayla. Aus dieser Ehe ging Isaiah hervor, der zum Glück unverheiratet blieb. Ich hoffe, dass der Stammbaum aus Tod und Vernichtung mit ihm enden wird.«
»Tut mir leid«, hakte der junge Agent nach, und seine Miene war immer noch verwirrt. »Ich verstehe die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Islam in dieser Zeit trotzdem nicht.«
»Al-Husseini bewunderte Hitlers Überzeugungen und Taten und versorgte Hitler mit Soldaten. Sie waren Teil der Waffen-SS-Division ›Handschar‹, die nach einem traditionellen arabischen Krummsäbel benannt war. Unsere größte Sorge ist, dass Abel Bedan für das Verschwinden biologischer Waffenforschungsunterlagen verantwortlich war, als die Operation Paperclip endete.«
»Wie bitte?«, warf ein anderer Agent ein, sichtlich erschüttert von dem möglichen Ausmaß der Folgen einer solchen Theorie.
»Ja, obwohl das nur wenige Personen wissen, verschwanden nach der Beendigung von Operation Paperclip Forschungsunterlagen zu biologischen Waffen.«
»Und Sie glauben, Isaiah Bedan ist im Besitz der Forschungsunterlagen, die Abel mitgenommen hat?«
»So ist es.« Luke zog einen hohen Hocker näher und setzte sich, die Füße auf die Stange unter dem Sitz gestützt. »Isaiah Bedan ist hochintelligent, außergewöhnlich begabt in allen Naturwissenschaften und höchst anpassungsfähig, und seine Kenntnisse der biologischen Kriegsführung sind beängstigend. Seine Forschung scheint dem, woran die Nazis bei ihren barbarischen Experimenten an jüdischen Häftlingen in den Konzentrationslagern arbeiteten, sehr ähnlich zu sein.«
Ein noch jüngerer Agent – Luke wettete, dass er noch nicht lange aus der Akademie heraus war – hob die Hand.
»Ja?«, nickte Luke ihm zu.
»Die Nazis haben also Experimente mit Anthrax durchgeführt und dazu Opfer von Konzentrationslagern missbraucht?«
»So ist es.«
Der Agent schüttelte den Kopf. »Ich hatte von Mengeles Experimenten gehört, und das meiste, was Sie gerade erzählt haben, wusste ich ...« Er schluckte, und sein ausgeprägter Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Aber ich hatte keine Ahnung, dass die Nazis mit Anthrax gearbeitet haben.«
»Ja, aber so schlimm die Anthrax-Experimente der Nazis waren – das Land, das für seine Arbeit mit Anthrax am berüchtigtsten war, ist Japan. Die japanische Einheit 731 war eine geheime Einheit für biologische und chemische Waffenforschung und -entwicklung der Kaiserlich Japanischen Armee. Sie führten im Krieg tödliche Experimente an Menschen durch, hauptsächlich mit Anthrax. Die Einheit war für einige der entsetzlichsten Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich, aber die Nazis hatten Zugang zu derselben abscheulichen Forschung.«
»Und Dr. Isaiah Bedan, in dessen Besitz sich nun eine tödliche Menge Anthrax befindet, verfügt über die gestohlenen Papiere seines Großvaters von der Operation Paperclip über spezifische Berichte und Forschungsunterlagen dieser Nazieexperimente?«, fragte der junge Mann, der jetzt ziemlich blass um die Nase geworden war.
»Ich fürchte, so ist es.«
»Ausgehend von diesen furchtbaren Erkenntnissen – was glauben Sie, wo Bedan einen Anschlag verüben wird? Von einem hohen Gebäude in Baltimore oder Washington D. C. aus vielleicht?«
»Ich fürchte, Bedan hat einen viel weiter reichenden Plan im Sinn.«
9
»Spezialagent Thornton? Ich bin Detective Griffin McCray, und dies ist meine Frau, Dr. Finley Scott-McCray. Wir haben miteinander telefoniert.«
»Ich weiß.« Thornton ließ seine Akten auf den Schreibtisch fallen und stieß sich in seinem Drehstuhl vom Tisch ab. Dann faltete er die Hände auf seinem Bauch. »Sie sind also extra hierhergeflogen, um über den ungelösten Fall Chelsea Miller zu reden?«
»Über ihren Fall und die ähnlichen Fälle anderer Frauen.«
Thornton schüttelte den Kopf, stützte sich mit einem Seufzer auf seine Armlehnen und stand auf. »Hören Sie, ich weiß, dass Burke ganz aus dem Häuschen war wegen seiner Theorie von einem Serienmörder ...«
»Sieben Frauen in drei verschiedenen Bundesstaaten wurden in den letzten zehn Jahren auf ähnliche Weise ermordet. Ich würde sagen, das ist ein ziemlich überzeugender Ausgangspunkt für Ermittlungen in Bezug auf einen gemeinsamen Mörder«, sagte Griffin.
»Und Sie können in Ihrer Freizeit und auf Ihre Kosten so viel ermitteln, wie Sie wollen, aber ich habe einen Haufen aktiver Fälle, für die ich meine Zeit, Energie und die Mittel der Behörde verwenden muss. Es tut mir leid, dass die Fälle dieser Frauen nie aufgeklärt wurden, aber sie wurden als ungelöst abgelegt – auch nach dem, was Burke herausgefunden hat.«
»Sie haben sich seine Ergebnisse angesehen?«
»Natürlich.«
»Und?«
»In fast allen Fällen hatte die Polizei einen Hauptverdächtigen – einen Freund oder Liebhaber, den die junge Frau zu einem spätabendlichen Rendezvous treffen wollte, aber angeblich hat sie es nie zum Treffpunkt geschafft oder ist anschließend nicht mehr nach Hause gekommen.«
So wie Jenna auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Parker verschwunden war. »Und es hat keine neuen Spuren ergeben, die Fälle angesichts der Ähnlichkeiten noch einmal neu zu untersuchen?«, fragte Griffin.
»Wenn überhaupt, hat es mich eher davon überzeugt, dass es sich nicht um einen einzigen Mörder handelt.« Thornton atmete hörbar aus. »Nicht wenn jeder Fall einen anderen Hauptverdächtigen hat.«
»Also waren es alles unterschiedliche Freunde? Es besteht nicht die Möglichkeit, dass einer der Typen sich mit mehr als einer der Frauen getroffen hat?«
»Nein. Es waren alles unterschiedliche Männer, und nachdem ich die Fälle neu bewertet hatte, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es keine Beweise gibt, die eine offizielle Wiederaufnahme rechtfertigen würden.«
»Was ist mit Burkes Schlüsselwörtern?«
»Morde mit ähnlichen Umständen geschehen ständig. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass es nur einen Mörder gibt. Viele Frauen werden mit einer großkalibrigen Waffe getötet. Viele werden leider vergewaltigt. Ich bin sicher, Sie könnten jedes der Worte für sich nehmen und hundert Fälle finden, zu denen sie passen.«
Vielleicht bei einer oder zwei Ähnlichkeiten, aber die Kombination aus mehreren, die sich immer wiederholte – das Treffen mit einem Mann, die gefesselten Handgelenke, Vergewaltigung, die großkalibrige Munition, die Entsorgung der Leiche im Wasser –, das konnte doch kaum ein Zufall sein. Wenn nicht einer der Freunde der Mörder war, dann mussten sie die Umstände vielleicht anders betrachten. Vielleicht hatte die Tatsache, dass die Mädchen sich spätabends mit Männern trafen, ein Motiv oder Interesse bei dem Mörder ausgelöst.
»Hören Sie«, sagte Thornton und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, »selbst wenn ein einziger Mörder sie alle auf dem Gewissen hat – was ich sehr bezweifle –, dann bleibt die Tatsache, dass wir absolut keine Ahnung haben, wer es sein könnte, und konkrete Spuren haben wir auch nicht.«
Seine abweisende Miene wurde etwas freundlicher, als er sich vorbeugte und die Hände auf die Tischplatte legte. »Ich finde es furchtbar, dass diese Frauen tot sind, und ich finde es auch furchtbar, dass die Fälle nie aufgeklärt wurden, aber ich kann nichts weiter tun. Ich habe zu viele aktive Fälle auf meinem Schreibtisch – Anweisung vom Chef. Alle weiteren Ermittlungen müssten Sie selbst durchführen, aber ich sollte Sie warnen: Ich glaube wirklich, dass das Ganze eine Sackgasse ist.«
Als sie das Gebäude verließen, atmete Finley betont langsam aus. »Na, das war ja hilfreich.«
Griffin schüttelte den Kopf und öffnete die Wagentür für seine Frau. »Ich glaube nicht, dass die Spuren in den Fällen alle im Sand verlaufen sind. Wenn Burke so erpicht darauf war, ihnen nachzugehen, dann muss es da etwas geben.«
Als er auf dem Fahrersitz des Mietwagens Platz nahm, legte Finley eine Hand auf seinen Arm. »Thornton hat Chelsea und die anderen Frauen, also auch Jenna, vielleicht aufgegeben, aber wir tun das nicht.«
Er berührte ihre Wange und küsste sie, dann lehnte er sich zurück und betrachtete froh ihr lächelndes Gesicht. »Danke.«
Sie zog die Nase kraus. »Wofür?«
»Dafür, dass du mir zur Seite stehst und genauso engagiert kämpfst, um Jennas Killer zu finden.«
»Wir sind doch ein Team.« Sie drückte seine Hand. »Und wer weiß, vielleicht bekommen wir von den anderen, die wir fragen, ja mehr Hilfe.«
»Hoffen wir es«, sagte Griffin und ließ den Wagen an. Dann fuhr er vom Parkplatz, um anschließend den Weg zum Büro von Eason und Hood einzuschlagen, das etwa anderthalb Stunden südwestlich lag. »Hood und Eason haben an dem Fall Ashley Carson gearbeitet – dem letzten Mord vor Chelsea Miller.«
* * *
Luke bildete das Schlusslicht, als die kleine Gruppe nach der Einsatzbesprechung zu Declans Büro zurückging.
Keiner sagte etwas. Zweifellos waren sie alle zutiefst erschüttert von dem, was sie von Luke erfahren hatten.
So war es auch bei den Kollegen gewesen, nachdem er seinen Vortrag beendet hatte. In ihren Mienen hatte die Fassungslosigkeit gestanden, als sie den Raum verlassen hatten.
Er wünschte, er könnte sagen, dass es nicht seine Absicht gewesen war, ihnen Angst zu machen, aber genau das hatte er beabsichtigt. Jetzt, wo Isaiah Bedan im Land war und fast zweihundert Gramm Anthrax zu seiner Verfügung hatte, verbunden mit Ebeids beinahe unbegrenzten finanziellen Mitteln, sollten sie alle Angst vor dem haben, was Bedan zusammenbrauen konnte.
Etwas furchtbar Folgenreiches kam auf sie zu. Bis jetzt hatten sie weder Bedan noch das Anthrax gefunden, und es war mehr als frustrierend, dass das FBI nicht genügend konkrete Beweise hatte, um Ebeid zu verhaften oder ihn zumindest wegen seiner Rolle bei all dem zu befragen. Ebeid war ein Meister darin, nachweisbare Verbindungen zu seinen Männern zu vermeiden, aber die Behörde musste von der CIA lernen und bereit sein, sich nicht von Bürokratie und Dienstwegen aufhalten zu lassen. Besser, man bat um Verzeihung als um Erlaubnis. Wenigstens hatte sein Vorgesetzter im Ausland das immer gesagt. Luke hatte länger nach diesem Motto gelebt, als ihm lieb war, aber jetzt lebte er nicht mehr in einer solchen Welt. Das durfte er nicht vergessen. Er befand sich auf amerikanischem Boden. Er war zu Hause, obwohl er nicht wusste, ob zu Hause noch eine zutreffende Beschreibung war.
Als sie alle in Declans Büro waren, schloss Kate die Tür hinter ihnen. Dies würde sein Team sein, bis Bedan und Ebeid ausgeschaltet waren.
»Okay«, sagte Kate und setzte sich auf Declans schwarzes Sofa, ein Bein angezogen und an ihre Brust gedrückt. »Sag uns, was du wirklich denkst.«
»Wie meinst du das?« Er sah sie fragend an, während er sich an die holzvertäfelte Wand lehnte und die Arme verschränkte.
»Ich meine, so schlimm das alles ist, was du da drüben erzählt hast, du hast nicht alles gesagt.«
Er zog eine Augenbraue hoch. Er war neugierig, aber nicht erstaunt. Kate redete nie um den heißen Brei herum. Sie sagte, was sie dachte, und erwartete das von anderen auch. »Wie kommst du darauf?«
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, sodass ihre weichen blonden Haare ihre linke Schulter streiften. »Ich kenne dich, und ich merke, wenn du etwas für dich behältst.«
Sie hatte recht damit, dass er etwas für sich behalten hatte, aber konnte sie wirklich recht haben, wenn sie sagte, dass sie ihn kannte? War es vielleicht sogar möglich – nach all den Jahren, nach den Kompromissen, die er eingegangen war, und dem Wrack von einem Mann, das er geworden war –, dass sie ihn immer noch kannte? Dass dieser Teil von ihm noch immer existierte?
»Ich habe Theorien«, sagte er und stieß sich von der Wand ab.
»Und?«
»Theorien sind keine Fakten«, sagte er als Erklärung dafür, warum er davon nichts gesagt hatte. »Dies ist das FBI. Die Leute hier arbeiten mit Fakten und Beweisen, nicht mit Bauchgefühlen oder persönlichen Theorien.«
Er sah Declan an. »Habe ich recht?«
»Ja«, sagte Declan und grinste Tanner zu. »Aber es gibt Ausnahmen.«
Tanner erwiderte das Grinsen.
Declan war also nicht mehr der stets korrekte Idealist, der er während des Studiums gewesen war – oder eigentlich während seiner ganzen Jugendzeit –, sondern er schien jetzt wenigstens bis zu einem gewissen Grad flexibel.
»Willst du damit sagen, wenn ich Alan meine Theorie darlege, wird er mir zuhören?«, fragte Luke. Das konnte er nicht glauben.
»Er wird zuhören ...«, erwiderte Declan zögernd.
»Aber er wird nichts unternehmen?«
»Nicht solange er keine konkreten Spuren hat, denen er nachgehen muss«, erklärte Declan.
»Wie zum Beispiel …?«, wollte Luke wissen.
»Wie zum Beispiel der Frage, welcher Insider Ebeid hilft. Ist er oder sie bei der Seuchenschutzbehörde oder in Fort Detrick? Bis wir den Maulwurf haben, besteht ständig die Gefahr, dass wieder etwas gestohlen wird – ganz zu schweigen davon, dass die vertrauliche Natur unserer Arbeit an beiden Standorten gefährdet ist.«
Kate erhob sich und schritt auf und ab. »Du hast gesagt, Abel Bedan kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA?«
Luke nickte.
»Das heißt, Isaiah Bedan ist hier aufgewachsen?«
Wieder nickte Luke.
»Und ich vermute, er war hier in den Staaten auf dem College ... und anschließend an der Uni?«
»Ja«, erwiderte Luke. »Er hat in Stanford einen Bachelor in Biologie gemacht. Den Master und Doktor dann an der Universität von Los Angeles beziehungsweise an deren Technischem Institut in Pasadena. Seine Schwerpunkte waren Mikrobiologie und medizinische Forschung im Bereich Virologie.«
»Und dann hat er irgendwann danach das Land verlassen und ist nach ...«
»… Deutschland gegangen, gleich nach seinem Abschluss«, erklärte Luke. »Obwohl er hier aufgewachsen ist, hat Bedan Amerika nie als Heimat betrachtet, sondern nur als einen Ort, der ihm nützlich sein kann. Und als er hatte, was er wollte, hat er als Professor für medizinische Mikrobiologie und Leiter des Instituts für medizinische Mikrobiologie und Epidemiologie an der Medizinischen Hochschule Hannover gearbeitet.«
»Und seine Verbindungen zu Ebeid?«
»Wie es aussieht, hat Ebeid Bedan beobachtet und seine Arbeit bewundert, und kurz nach dem Anschlag in München haben die beiden sich getroffen. Bedan musste außerhalb der Regeln arbeiten, und dafür hat Ebeid ihn angeheuert – und ihn dann in die USA geschmuggelt.«
Tanner seufzte. »Unglaublich.«
Kate blieb stehen. »Aber während Bedans Zeit hier in den Staaten, vor allem als er in Stanford oder am Technischen Institut mit anderen Wissenschaftlern zusammengearbeitet hat, könnte er doch Freundschaft mit jemandem geschlossen haben. Und vielleicht arbeitet dieser Freund jetzt für die Seuchenschutzbehörde in Atlanta.«
»Oder hier in Detrick«, sagte Luke. »Gute Idee, Katie.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Habe ich manchmal.«
Declan erhob sich und ging zur Tür. »Ich lasse die Technikabteilung gleich alle Studenten durchleuchten, die zur selben Zeit wie Bedan in Stanford oder am Technischen Institut waren, und sie dann mit allen abgleichen, die derzeit in der Seuchenschutzbehörde oder in Fort Detrick arbeiten.« An der Tür blieb er stehen und sah Luke an. »Und dann will ich deine Theorien hören, konkret oder nicht.«