Martin Suter

Montecristo

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von Philipp Keel, ›Vietnamesische Muttergottheit Mau‹

Copyright © Philipp Keel, 2014

 

 

Für Toni

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24366 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60461 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erster Teil

1

Ein Ruck ging durch den Zug. Gläser und Flaschen flogen von den Tischen, das ohrenbetäubende Pfeifen der Lok und das Kreischen von Eisen auf Eisen begleiteten das Klirren, Rufen und Scheppern im Speisewagen. Bis alles mit einem weiteren Ruck verstummte.

Draußen war es stockfinster. Sie standen in einem Tunnel.

In die Stille drang die Stimme des obligaten Witzbolds: »Schon da?«

Ein paar lachten, und dann sprachen alle durcheinander und begannen, Bier und Wein von Tischen, Kleidern, Handtaschen und Mappen zu wischen.

Einer der Reisenden stellte fest: »Notbremsung.«

Jonas Brand saß im Speisewagen des Halb-Sechs-Uhr-Intercity nach Basel inmitten der Stammgäste aus Pendlern, die jeden Abend vor dem gleichen Getränk über das Gleiche sprachen, manche von ihnen seit vielen Jahren. Es roch muffig nach Alkoholfahnen, rauchgeschwängerten Anzügen, Schweiß und fast verflüchigten Herrenduftnoten.

Sein übergewichtiger Sitznachbar, dem es gelungen war, seinen Laptop, in den er während der ganzen Fahrt gestarrt hatte, ins Trockene zu retten, seufzte: »Personenschaden.«

Jonas stand auf und holte seinen Kamerarucksack, den er neben sich auf den Boden gestellt hatte und der durch den brüsken Stopp ein ganzes Stück durch den Gang geschlittert [6] war. Seinem Camcorder war nichts zugestoßen, obwohl er ihn wie immer etwas schlampig verpackt hatte.

Was »Personenschaden« bedeutete, wusste er. Jemand war unter den Zug geraten. Jonas hatte es vor ein paar Jahren schon einmal erlebt. Er spürte wieder das gleiche Frösteln von den Füßen bis in den Nacken steigen.

Weiter hinten im Speisewagen kümmerten sich ein paar Fahrgäste um den Kellner. Er hatte eine Verletzung an der Stirn, und jemand versuchte, mit einer Serviette die Blutung zu stillen.

Niemand beachtete den bleichen jungen Mann, der dort den Speisewagen betrat und sich suchend umsah. Er ging zwischen den Tischen hindurch bis zum anderen Ausgang, wo Jonas saß. Dort stieß er fast mit der Zugführerin zusammen, die hereinstürmte und rief: »Wer hat die Notbremse betätigt?«

Jetzt erst fiel er den Mitreisenden auf. Denn er antwortete mit einem trotzigen »Ich!«.

Die Zugführerin fasste ihn streng ins Auge. Der junge Mann überragte sie um mehr als einen Kopf. Er trug einen enggeschnittenen Anzug mit Hosen, deren Aufschläge einen Fingerbreit über den spitzen Schuhen endeten.

»Und weshalb?«

Er stand jetzt neben Jonas, und dieser sah, wie bleich und aufgewühlt er war. Der junge Mann stammelte: »Jemand ist hinausgefallen.«

»Wo?«, fragte die Zugführerin.

»Da hinten«, antwortete der junge Mann. Er zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Sie ging voraus, er folgte ihr.

[7] Jonas nahm Kamera und Schulterstativ aus dem Rucksack und folgte den beiden.

Der junge Mann führte sie zur nächsten Eingangsplattform. Hier habe er gestanden und gewartet, dass die Toilette frei werde. Er habe zum Fenster hinausgeschaut, und plötzlich sei etwas vorbeigeflogen, wie eine große Gliederpuppe, und von der Tunnelwand abgeprallt. Er habe es nur einen Augenblick gesehen, in dem schwachen Licht, das aus dem Zugfenster drang. Aber er sei sich sicher, dass es ein Mensch war. Es hatte ein Gesicht.

Jonas hatte jetzt die Kamera auf der Schulter und drehte.

»Bitte lassen Sie das«, befahl die Zugführerin.

Er zeigte ihr seinen Presseausweis, ohne mit Drehen aufzuhören. »Fernsehen«, erklärte er.

Die Frau ließ ihn gewähren. Sie ging voraus durch einen vollbesetzten Wagen zweiter Klasse. Die Fahrgäste saßen schicksalsergeben auf ihren Plätzen. Angesichts des Kameramannes fragte niemand die Zugführerin, was passiert sei.

Die nächste Zugtür war nicht ganz geschlossen. Jemand hatte den Notriegel gezogen, der die Tür verriegelte. Die Zugführerin öffnete sie ganz. Es roch nach feuchtem Fels und Eisenstaub.

Jonas filmte in den vom Licht des Abteils schwach erleuchteten Tunnel hinaus. Er stieg eine Stufe hinunter und richtete das Objektiv auf das Zugende. Weit hinten in dem schmalen Gang zwischen Zug und Tunnelwand lag etwas in dem fahlen Licht. Er konnte nicht sagen, was es war, dazu hatte er das falsche Objektiv.

[8] *

Ein abgebrühter Videojournalist wäre jetzt ausgestiegen und hätte das Bündel, das dort lag, aus etwas kürzerer Distanz gefilmt. Aber Jonas Brand war nicht abgebrüht. Er war nicht einmal ein richtiger Videojournalist. Dass er in diesem Beruf gelandet war, hatte er einer Reihe von Zufällen zu verdanken. Zwischengelandet auf dem Weg zum Filmregisseur.

Auf diesem Weg war er allerdings schon seit einer ganzen Weile. Seit seiner Matura, genaugenommen. Er hatte sich mit seinen Eltern verkracht und sich von da an auf Filmsets herumgetrieben. Als Set-Runner, Kabelhilfe und Produktionsfahrer. Brand ließ sich als Beleuchter anlernen und hatte es bis zum Best Boy gebracht, dem Laufburschen des Chefbeleuchters. Mit dem Geld, das er dabei verdiente, hatte er sich einen Kurs als Cinematographer an der London Film School finanziert und danach als Kameraassistent gearbeitet. In seiner Filmographie fanden sich danach ein paar Kinofilme, ein paar Dokumentarfilme und immer mehr Werbespots.

Einmal war er für einen erkrankten Kollegen als Kameramann eingesprungen und hatte ein paar Magazinbeiträge über das Weltwirtschaftsforum gedreht. Als der dafür zuständige Redakteur zu einem Lokalsender wechselte, engagierte der ihn ab und zu. Bald gehörte Brand zum festen Team, und als der Sender im Zuge von Sparmaßnahmen die Funktion des Videojournalisten einführte, wurde der Mann des Wortes entlassen und der Mann des Bildes behalten. So war Jonas Brand ohne sein Zutun Videojournalist geworden.

Da er den Beruf als Übergangslösung betrachtete, hatte [9] er es darin nicht weit gebracht. Er betrieb ihn ohne besonderen Ehrgeiz und gab sich damit zufrieden, saubere Arbeit abzuliefern. Zwar konnte er sich bald selbständig machen und war eine sichere Adresse, wenn man jemanden brauchte, der pünktlich, zuverlässig und kostengünstig lieferte. Doch wenn Kreativität gefragt war, blieb Jonas Brand mit seinen bald vierzig Jahren zweite Wahl.

Aber er war Videojournalist genug, um die Kamera zu schultern und die beklemmende Situation festzuhalten.

Die aufgedrehte Feierabendstimmung im Speisewagen war abgeflaut. Eine Mischung aus Ungeduld und Überdruss machte sich breit. Es wurde wenig gesprochen, alle warteten auf die Durchsage.

Als sie kam, eingeleitet von einer durchdringenden Rückkoppelung, erschraken die meisten dennoch.

»Infolge Personenschadens bleibt der Zug bis auf weiteres auf der Strecke«, sagte die Stimme der Zugführerin. »Wir bitten Sie um Verständnis.«

Sofort nach der Durchsage ertönte das resignierte Aufseufzen der Sachkundigen, vermischt mit dem aufgeregten Nachfragen der Neulinge. »Personenschaden?« – »Das heißt, jemand ist unter den Zug geraten. Das kann Stunden dauern.«

Jonas Brand ging von Tisch zu Tisch und befragte die Fahrgäste. Ein paar wenige ließen sich seinen Presseausweis zeigen, und zwei wollten weder gefilmt noch befragt werden. Aber die meisten waren froh um die Ablenkung und gaben bereitwillig Auskunft.

»Schrecklich, die Vorstellung, dass da unten irgendwo jemand liegt, zermalmt.«

[10] »Das ist bestimmt das zehnte Mal, dass mir das passiert, in sechs Jahren Pendeln. Ich habe das Gefühl, es nimmt zu.«

»Ich finde es eine Zumutung, sich so umzubringen. Es gibt andere Methoden. Solche, die nicht den Feierabend von ein paar hundert Nichtdepressiven versauen.«

»Aus dem Zug gesprungen? Wenigstens bis nach dem Tunnel hätte er warten können.«

»Oder sie.«

Der Kellner trug jetzt ein Pflaster auf der Stirn und nahm Bestellungen auf. Er war ein kleiner rundlicher Tamile, den die Stammgäste Padman nannten. Er sprach ein unbekümmertes Schweizerdeutsch und lächelte mit herrlichen Zähnen in Jonas’ Kamera. Ja, erklärte er, das komme oft vor. Ein so gutes Leben, wie es die Schweizer hätten, sei eben kaum auszuhalten.

Jonas’ übergewichtiger Tischnachbar hatte sich wieder in den Laptop vertieft. Er hatte nichts dagegen, gefilmt zu werden, aber äußern wollte er sich nicht. Jonas hielt auf ihn und schwenkte durch den Speisewagen. Die Stimmung war jetzt gedrückt. Die paar wenigen, die sprachen, taten es leise.

Ein Mann im Businessanzug erhob sich von einem Tisch, kam auf Jonas zu, wurde bildfüllend und ging vorbei. Jonas hörte ihn fragen: »Hast du Paolo gesehen?«

Jonas schwenkte zurück auf den Dicken. Der antwortete, ohne vom Laptop aufzusehen: »Sitzt er nicht bei euch?«

»Er hat einen Anruf bekommen und ist zum Sprechen rausgegangen. Und nicht mehr zurückgekommen.«

Jetzt erst blickte der Dicke zu dem Mann im Businessanzug auf, zuckte mit den Schultern und sagte: »Vielleicht ist er der Personenschaden.«

[11] Der Mann schüttelte den Kopf und ging zurück zu seinem Tisch. Jonas war sich sicher, dass er »Arschloch« gemurmelt hatte.

*

Der Grund, weshalb er nach Basel reiste, war eine Fundraising-Party, bei der die Prominenz der Stadt mit viel Trara nicht so viel Geld für einen jährlich wechselnden wohltätigen Zweck sammelte. Er hatte vergessen, für welchen diesmal.

Die Reportage über den Anlass war ein Brotjob, den er im Auftrag von Highlife machte, einem öffentlich-rechtlichen Lifestylemagazin und einem seiner besten, wenn auch nicht liebsten Kunden.

Es war nach neun, als Jonas Brand endlich im Festsaal des Hotels eintraf, wo der Wohltätigkeitsball stattfand. Er hatte mehrmals mit der PR-Frau des Veranstalters telefoniert. Sie klang, als betrachte sie den Zwischenfall als gezielte Attacke auf ihre Veranstaltung, und verschob die Versteigerung mehrmals.

Als er endlich eintraf, war der größte Teil davon dennoch bereits vorbei. Beim Höhepunkt, einem VIM-Plakat von Niklaus Stoecklin aus dem Jahr 1929, das den überhöhten Hammerpreis von elftausend Franken erreichte, war er wegen der nicht eingeplanten Reportage über den Personenschaden zu einem Akkuwechsel gezwungen. Er verpasste den Zuschlag, für den sich der Käufer eigens in Pose gestellt hatte. Jonas tat, als würde er filmen, und nickte beiläufig, als die Pressefrau fragte: »Haben Sie das?«

[12] *

Es war der Anfang eines warmen Dezembers voller unpassend wirkender Weihnachtsdekorationen und gutbesetzter Straßencafés.

Zweieinhalb Monate waren seit dem Zwischenfall im Intercity vergangen. Für Jonas Brand hatte er einen Verweis seines Auftraggebers, Highlife, zur Folge gehabt. Die PR-Agentur, die den Wohltätigkeitsball betreute, hatte sich darüber beschwert, dass im Beitrag der wichtigste Moment, nämlich die Ersteigerung des Hauptlots, gefehlt hatte.

Das Reportagematerial aus dem Speisewagen lag unbearbeitet bei den anderen Fragmenten, die Jonas eines Tages zu einer großen Dokumentation von Impressionen eines VJs montieren wollte, unter dem Titel »Am Rande«, in Schwarzweiß.

Über den Personenschaden war nur zu erfahren gewesen, dass es sich um den Suizid eines Fahrgastes gehandelt hatte. Über die Details wurde der Mantel des Persönlichkeitsschutzes gebreitet.

*

Jonas Brand war glänzender Laune, und das hatte mit Marina Ruiz zu tun.

Er hatte sie vor gut zwei Stunden kennengelernt und war bereits mit ihr verabredet. Das ging sonst nicht so schnell bei ihm, aber in diesem Fall handelte es sich auch nicht um ein Rendezvous. Es handelte sich um die Fortsetzung einer Verschwörung.

Marina war eine großgewachsene Zürcherin mit [13] schulterlangem geraden Haar und asiatischen Gesichtszügen. Sie arbeitete bei der Eventagentur, die die Filmpremiere betreute, über die Jonas berichten musste. Der Film startete gleichzeitig in verschiedenen europäischen Städten, und für die hiesige Premiere waren als Stargäste nur ein paar Nebendarstellerinnen übriggeblieben. Eine von ihnen, Melinda Trueheart, war Marina Ruiz zugeteilt. Sie musste sie zu den Interviews begleiten und die imaginären Fans abwimmeln.

Beim Interview stellte sich Miss Trueheart als schrecklich affektierte Person heraus. Während Jonas sich bemühte, einigermaßen ernsthafte Fragen zu stellen, begann Marina Ruiz, die hinter ihr stand, ihre Antworten pantomimisch zu parodieren. Das war so überraschend und komisch, dass Jonas immer wieder die Beherrschung verlor und loslachte, worauf sich das Starlet hilfesuchend zu seiner Pressefrau umwandte.

Marina Ruiz gelang es jedes Mal, im letzten Moment ein ernstes, interessiertes Gesicht zu machen, was wiederum so komisch wirkte, dass Jonas lachen musste.

Melinda Trueheart war sich nicht sicher, ob der Interviewer sich über sie lustig machte oder ob er einfach einen humoristischen Interviewstil pflegte. Mit der Zeit begann sie, ebenfalls zu lachen und witzige Antworten zu geben. Zum Schluss war von ihrer Affektiertheit kaum mehr etwas übrig, und das Resultat war ein überraschend unterhaltsames Interview.

Marina Ruiz brachte ihren Schützling hinaus. Während Jonas sein Material zusammenpackte, kam sie zurück.

»Darf ich Sie zum Essen einladen?«, fragte er.

Sie antwortete: »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.«

[14] *

Am nächsten Abend trafen sie sich in einem neuen indischen Restaurant. Seine Eröffnung schien sich noch nicht herumgesprochen zu haben, denn es war halbleer.

Jonas hatte das Lokal vorgeschlagen, denn er liebte die indische Küche und hoffte, durch seine Sachkenntnis ein wenig Eindruck schinden zu können. Aber Marina entpuppte sich ebenfalls als Kennerin. Zumindest, um zu merken, dass das Angebot viel zu groß und die Speisen tiefgekühlt und mikrowellenerhitzt waren.

Am Anfang sprachen sie halblaut, weil das auch die anderen Gäste taten. Doch Marina besaß die Begabung, sich so restlos auf ihren Gesprächspartner zu konzentrieren, dass er seine Umgebung bald vergessen hatte. Er erzählte ihr Dinge, über die er sonst nicht sprach. Bald wusste sie, dass er achtunddreißig war, seit sechs Jahren geschieden, seit acht Jahren Freelance-Videojournalist und im Grunde genommen Filmschaffender.

»Filmschaffender?« Marina schob den Teller beiseite – ein faseriges lauwarmes Mutton Buhari –, stützte sich auf die verschränkten Unterarme und versenkte ihren Blick noch tiefer in seinen.

So geschah es, dass er ihr von Montecristo erzählte.

»Die Geschichte funktioniert nach dem Prinzip des Grafen von Monte Christo, spielt aber heute. Ein junger Mann hat eine Dotcom-Firma gegründet, mit der er Millionen macht. Während seiner Ferien in Thailand wird ihm eine große Menge Heroin ins Gepäck geschmuggelt. Er wird erwischt und kommt als Dealer ins Gefängnis. Ihm droht die [15] Todesstrafe oder lebenslänglich. Der Fall erregt Aufsehen in seiner Heimat, aber als seine drei Geschäftspartner, die sein Anwalt als Zeugen bestellt hat, ihn überraschend belasten, verliert die Öffentlichkeit das Interesse. Der Mann bekommt lebenslänglich und verschwindet in einem der berüchtigten Gefängnisse Thailands. Seine Geschäftspartner erhalten die Kontrolle über die Firma und verkaufen sie für ein Vermögen.«

Jonas nahm einen Schluck Bier.

»Weiter«, drängte Marina.

»Dem Mann…«

»Wie heißt er?«

»Bis jetzt habe ich ihn ›Montecristo‹ genannt. Findest du das zu dick aufgetragen?«

»Weiß ich noch nicht. Erzähl weiter.«

»Montecristo gelingt nach ein paar Jahren die Flucht. Er hat von früher noch viel Geld auf der Seite. Damit finanziert er jetzt seine Rache, unterzieht sich mehreren kosmetischen Operationen, beschafft sich eine neue Identität und reist zurück. Der Rest des Films handelt davon, wie er, als Investor getarnt, seine drei ehemaligen Geschäftspartner ruiniert.«

»Die ihm das Heroin in sein Gepäck geschmuggelt haben, nicht wahr?«

»Haben schmuggeln lassen, genau.«

Zum ersten Mal, seit er zu erzählen begonnen hatte, wandte Marina ihre grünen Augen von ihm ab, sah sich nach ihrem Glas um und trank einen Schluck. Auch sie hatte sich angesichts der Weinkarte für ein indisches Kingfisher Beer entschieden.

Danach vertiefte sie sich wieder ganz in Jonas. »Du weißt, [16] dass das mit der richtigen Besetzung ein Blockbuster werden kann.«

Jonas lächelte grimmig. »Mit der richtigen Besetzung, dem richtigen Drehbuch, der richtigen Regie und dem richtigen Produzenten.«

Marina nickte nachdenklich. »Wie lange bist du schon an diesem Projekt?«

Jonas schenkte beiden den Rest ihrer Fläschchen ein. »Netto oder brutto?«, fragte er.

»Beides.«

»Das erste Exposé habe ich in einer Nacht runtergeschrieben. Also zwölf Stunden netto. Und zwar 2009. Also sechs Jahre brutto.«

»Und niemand, der sich interessiert?«

»So ist das im Filmgeschäft: Alle wollen Erfahrung, und niemand lässt sie einen sammeln.«

Marina lächelte abgeklärt. »Und wenn man sie hat, ist man zu alt.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jonas verwundert.

»Das sagt mein Stiefvater immer.«

»Auch Filmer?«

»Berufsberater.«

*

Marinas Wohnung lag ganz in der Nähe des Restaurants, und so gingen sie zu Fuß. Es war eine Föhnnacht. Ein heftiger Wind rüttelte an den Weihnachtsdekorationen der türkischen, tamilischen und italienischen Geschäfte, an denen sie vorbeigingen. Marina hatte sich bei ihm eingehängt, und sie [17] schlenderten durch das nächtliche Wohnviertel wie ein vertrautes Paar auf dem Nachhauseweg.

Sie war eine große Frau, und die Highheels, die sie trug, machten sie ein kleines Stück größer als Jonas. Er hatte sich von Anfang an wohl gefühlt in ihrer Gegenwart, und dieses Gefühl verstärkte sich nun, als sie an seinem Arm ging, leicht und anschmiegsam trotz ihrer Größe.

Vor dem Eingang eines neuen Wohnblocks ließ sie seinen Arm los und fischte einen Schlüssel aus der Handtasche. Sie hatte das gleiche Lächeln, das ihn während des Interviews mit dem Starlet amüsiert hatte, und wartete darauf, was er sagen würde.

Er sagte etwas verlegen: »Ich nehme an, du bittest deine Dates nicht schon am ersten Abend zu einem Schlummertrunk herauf.«

»Doch«, antwortete sie. »Aber nicht die, die ich wiedersehen will.« Sie nahm seinen Kopf, zog ihn zu sich heran und küsste ihn flüchtig auf den Mund. Er fasste sie um die Taille, aber sie löste seine Hände, schloss die Tür auf und verschwand im Hauseingang.

*

Er war zu beflügelt, um jetzt einfach ein Taxi zu nehmen und schlafen zu gehen. So machte er sich zu Fuß auf in Richtung seiner Wohnung, die in einer ganz anderen Gegend lag. Er würde sich von seiner Eingebung leiten lassen und entweder ein Taxi anhalten oder irgendwo einkehren oder den ganzen Weg flanierend zurücklegen.

Der Föhn jagte noch immer seine unberechenbaren Böen [18] durch die unansehnlichen Straßen, da und dort grölten ein paar versprengte Fans einer siegreichen Fußballmannschaft, und vor den Clubs vertraten sich die Raucher die Füße.

Jonas hatte seit seiner Scheidung mehrere Beziehungen gehabt. Aber noch nie war er nach einem Rendezvous so verzaubert gewesen wie in dieser unwirtlichen Nacht.

Er erreichte den Hauptbahnhof und nahm die Abkürzung durch die Bahnhofshalle. Es herrschte die gewohnte Mischung aus Bewegung und Stillstand. Agglos, die den Abend in der Stadt verbracht hatten, eilten zu ihren Regionalzügen. Pendler, bei denen es später geworden war, kamen ihnen auf dem Weg nach Hause entgegen. Und mitten in diesem Kommen und Gehen hing das übliche Bahnhofsvolk herum, das nirgendwo herkam und nirgendwo hinwollte.

Die Bahnhofstraße war fast menschenleer. Der Wind brachte Bewegung in die hundertfünfzigtausend Leuchtdioden über ihr, die sich dennoch nicht gegen die grellen Weihnachtsbeleuchtungen und Leuchtreklamen der Geschäfte durchsetzen konnten.

Er ging tief in Gedanken an den Uhren- und Schmuckgeschäften und ihren Blumentrögen und Findlingen vorbei, mit denen sie sich vor Rammbockeinbrüchen schützten.

Bei der nächsten Station hielt eines der letzten Trams, das in seine Gegend fuhr. Er stieg ein und lehnte sich im Heck des Anhängers gegen das Fenster, obwohl der Wagen fast leer war. Er war immer noch aufgekratzt und verspürte keine Lust, sich zu setzen.

Die wenigen Fahrgäste waren mit sich selbst beschäftigt. Die Stille wurde nur unterbrochen durch die Ankündigungen der nächsten Stationen und Umsteigemöglichkeiten.

[19] Wie ein Raumschiff, dachte Jonas, das durch die nächtliche Unwirklichkeit der noblen Geschäfte und ehrwürdigen Großbanken glitt. Zwei sich fremde Welten.

Schwach spiegelte der See den Glanz der Straßenbeleuchtung und des trägen Nachtverkehrs. Der Föhn kräuselte seine Oberfläche und schaukelte die Plattformen der stillgelegten Bootsvermietungen und die eingemotteten Boote.

Ein paar Fahrgäste stiegen aus, ein paar stiegen ein, und die Fahrt ging weiter, vorbei an der Oper und dem kleinen Bahnhof, hinein in sein Quartier.

Jonas Brand stieg aus. Die zwei Stationen bis zu seiner Straße wollte er zu Fuß gehen. Und sich damit die Möglichkeit offenhalten, noch spontan im Cesare reinzuschauen.

Was er auch tat. Er nickte einem der Raucher vor dem Eingang zu, den er vom Sehen kannte, und betrat das Lokal. Die laute Musik täuschte mehr Betrieb vor, als tatsächlich herrschte. An der Bar unterhielten sich ein paar Gäste, und ein paar der Tische waren noch besetzt. Hier ein paar ernste Diskutierer, da ein Paar, das sich noch nicht entschieden hatte, ob bei ihm oder bei ihr.

Jonas stellte sich an einen der runden Stehtische. Ein junger italienischer Kellner fragte ihn, was er trinken wolle. Brand blieb beim Bier.

Eine junge Frau kam an den Tisch. Sie hatte ein Glas mit viel Grünzeug und wenig Flüssigkeit in der Hand und etwas Mühe, auf ihren Stilettos das Gleichgewicht zu halten. »Ich kenne dich«, sagte sie und stellte das Glas neben sein frisches Bier.

Es kam ab und zu vor, dass ihn jemand erkannte, denn manchmal schnitt er sich als Fragesteller in ein Interview [20] hinein. Damit es natürlicher wirkte und auch, um sich ein wenig Bildschirmpräsenz zu verschaffen. Sie erleichterte den Zugang zu den Halbprominenten und war an gewissen Abenden auch in Situationen wie diesen hilfreich.

Aber dies war nicht einer dieser Abende.

Die Frau war hübsch auf eine etwas oft gesehene Art. Sie trug mehr Make-up als nötig und hatte sich offenbar für die Begegnung mit ihm die Lippen nachgezogen. »Du bist einer von Highlife«, stellte sie fest. »Stimmt’s?«

Er schüttelte den Kopf und trank einen großen Schluck Bier, wie um ihr zu zeigen, dass er nicht lange bleiben wollte.

»Ich habe dich aber in Highlife gesehen. Du bist Reporter.«

»Das ist möglich, ich arbeite manchmal für die«, gab er zur Antwort, trank einen weiteren großen Schluck und sah sich nach dem Kellner um.

Sie sah ihm in die Augen und fragte: »Hast du es eilig?«

»Ein wenig.«

Sie nickte ironisch. »Einfach dringend noch ein Bier gebraucht. Kenne ich.«

Der Kellner kam und legte seinen schweren Geldbeutel auf den Tisch. »Alles zusammen?«

»Dafür kennen wir uns zu kurz«, sagte Jonas.

»Ich hätte schon Zeit gehabt«, schmollte sie.

Brand suchte in seinem Portemonnaie nach sechs Franken, fand nur etwas Kleingeld und einen Zweihunderter. »Sorry, muss leider so bezahlen.«

»Macht nichts, so zählt es sich schneller am Feierabend«, antwortete der Kellner und gab ihm heraus.

Die Frau mit dem leeren Drink sah zu, wie die Scheine [21] die Hand wechselten. »Die einen haben die Zeit, die anderen das Geld.«

Jonas musste lachen. Er zeigte auf ihr Glas und sagte: »Und noch so einen, was war das?«

»Mojito«, sagte sie. »Aber du musst mittrinken.«

Er wartete, bis sie ihren Drink hatte, prostete ihr zu mit seinem letzten Schluck Bier und wünschte ihr eine gute Nacht.

»Schade«, sagte sie und begann, sich nach Gesellschaft umzusehen.

*

Bis zu seiner Wohnung waren es noch knapp zehn Minuten. Der Föhnsturm hatte so zugenommen, dass Jonas die Trottoirs dicht vor den Häuserfassaden vorsichtig mied. Der Wind klapperte und ächzte in den Balkonen, brauste in den kahlen Alleebäumen und schlug mit nicht festgemachten Fensterläden.

Rofflerstraße 73 war ein vierstöckiges Backsteingebäude aus den dreißiger Jahren. Durch einen schmalen vernachlässigten Vorgarten gelangte man zum Hauseingang. Er war von je vier hässlichen nachträglich angebrachten Normbriefkästen aus Aluminium flankiert. Jonas nahm seine Post und ging die drei Treppen hinauf.

Die Wohnung war so ein Fall gewesen, bei dem ihm die Bildschirmpräsenz geholfen hatte. Bei der Besichtigung standen die Interessenten Schlange auf der Treppe, denn Altbauwohnungen mit hohen Räumen zu einem erschwinglichen Preis in dieser Gegend waren eine Rarität. Die ältere Frau [22] von der Hausverwaltung hatte ihn erkannt. Sie hatte zwar keine Bemerkung gemacht, aber Jonas Brand hatte inzwischen einen Blick dafür, ob ihn jemand aus dem Fernsehen erkannte.

Auf jeden Fall wurde er den vielen Paaren und Familien vorgezogen, obwohl er auf dem Fragebogen kein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass er geschieden und Single war.

Um die drei Zimmer und den großzügigen Flur zu beleben, hatte er sie mit allem, was ihm in die Hände fiel, möbliert und dekoriert. Er wurde Stammkunde bei den Brockenstuben, Flohmärkten und Trödlern der Stadt.

Brand war ein Sammler ohne Konzept, kaufte Asiatica, Militaria, Porzellan, Volkskunst, Textilien, Poster, Nippes, Fotos, Nierentische, Stahlrohrmöbel, Kristallluster, einfach alles, was ihm aus irgendeinem Grund gefiel oder er bemerkenswert fand.

Diese unsystematische Sammelwut verlieh seiner Wohnung eine etwas museale Gemütlichkeit, die gar nicht so richtig zu ihm passen wollte, denn sein Stil war im Grunde eher schnörkellos. Aber manchmal hatte er das Gefühl, dass er sich seiner Umgebung anzupassen begann.

Er hängte seinen Mantel an die runde Holzgarderobe, die aussah, als hätte sie in den fünfziger Jahren in einem Lehrerzimmer gestanden, ging ins Wohnzimmer und begann seine Beleuchtungszeremonie. Der Raum hatte keine zentrale Lichtquelle, sondern war voller Tisch- und Wandlampen, Stehlampen, Spots und Bodenleuchten. Auch eine Leuchtreklame für ein Dancing namens »Chérie« und ein leuchtendes Michelin-Männchen dienten als Lichtspender.

[23] Jonas schaltete alles ein, machte sich einen Grüntee und steckte ein Sandelholzräucherstäbchen an.

Er war bei einem seiner Streifzüge auf eine kleine Sammlung skurriler Räucherstäbchenhalter gestoßen. Nymphen am Ende langgezogener Teiche, die als Aschenfänger dienten, Knochenmänner in Hamolstellung, in deren Augenhöhlen man die Stäbchen steckte, oder Drachen, denen man sie wie Speere in den Rachen stieß. Er hatte die ganze Sammlung zu einem sehr günstigen Preis gekauft, und die Standbesitzerin schenkte ihm als Zugabe eine Handvoll Schachteln mit Stäbchen verschiedener Duftnoten. Was ihn daran zweifeln ließ, dass der Preis tatsächlich so günstig gewesen war. So kam er auf den Geschmack der Räucherstäbchen.

Er setzte sich in einen ledernen Polstersessel, dessen schadhafte Stellen er mit einer Kanga verdeckt hatte. Das bedruckte Tragetuch aus Tansania zeigte eine grüne Palme und vier Kokosnüsse auf gelbem Grund und die Aufschrift: Naogopa simba na meno yake siogopi mtu kwa maneno yake. Das war Kisuaheli und hieß: »Ich fürchte mich vor einem Löwen mit seinen starken Zähnen, aber nicht vor einem Mann mit seinen Worten.«

Jonas griff zur Fernbedienung, stellte die Anlage an und erschrak. In voller Lautstärke fuhr das Gitarren-Intro von Bob Dylans Man in the Long Black Coat in die Stille.

Die Lautstärke stammte noch von einem jener sentimentalen Abende, die ihm manchmal widerfuhren und die in zu viel Alkohol und zu lauter Musik ausarteten. Sie waren selten und kündigten sich nicht an, hatten mit der Einsamkeit des Single zu tun, und wenn er ehrlich war, genoss er sie sogar ein wenig.

[24] Er drosselte die Lautstärke, stand auf und legte etwas ein, das besser zu seiner Stimmung passte. Er war nicht traurig. Höchstens ein bisschen darüber, dass sie ihn nicht heraufgebeten hatte.

Marina hatte Dinge aus ihm herausgelockt, die er noch kaum einem Menschen erzählt hatte. Es passierte ihm ganz selten, dass er über sich sprach. Und wenn, dann hatte er danach immer ein schlechtes Gefühl, wie nach einem Abend mit zu viel Alkohol und zu ungenauen Erinnerungen.

Aber diesmal war kein übler Nachgeschmack zurückgeblieben. Er hatte sich von Anfang an wohlgefühlt, und es war ihm ganz normal vorgekommen, von sich zu erzählen.

Es war, als würde er Marina schon jahrelang kennen. Ein ähnliches Gefühl hatte er noch nie verspürt, und er war auch jetzt noch, allein in seiner Wohnung, ganz davon erfüllt.

Er ging in die Küche und machte sich noch einen Tee. Während er dem anschwellenden Tosen des Wasserkochers lauschte, fiel sein Blick auf das Schulheft von Frau Knezevic, seiner kroatischen Putzfrau. Es lag auf der Espressomaschine, dort, wo Jonas es auf keinen Fall übersehen würde. Das bedeutete, dass das Geld, das er jeweils zwischen die Seiten schob, aufgebraucht war. Oder sogar, dass sie bereits Dinge aus der eigenen Tasche hatte bezahlen müssen. Bestimmt nicht viel, denn er hatte sie im Verdacht, dass sie jeweils rechtzeitig einen kleinen Einkauf eigens zu diesem Zweck machte. Damit er ein schlechtes Gewissen bekam.

Er nahm das Heft und den Tee mit ins Wohnzimmer. Es war aus der Form gegangen von all den Quittungen und Aufstellungen, die es enthielt. Brand kontrollierte die Abrechnung jedes Mal, obwohl er noch nie einen Fehler entdeckt [25] hatte. Er wollte nicht, dass Frau Knezevic das Gefühl hatte, es komme ihm auf ein paar Franken mehr oder weniger nicht an. Obwohl sie damit nicht ganz unrecht hätte.

Für Jonas Brand spielte Geld keine große Rolle. Nicht, weil er besonders viel davon besaß, sondern, weil es für ihn nichts als ein Mittel war, um ein einigermaßen komfortables Leben zu führen und ab und zu eine Reise zu machen. Geld war für ihn ebensowenig ein Statussymbol wie sein Auto. Auch hier interessierte ihn nur der Zweck, ihn und seine Ausrüstung von A nach B zu bringen. Sein bald zehn Jahre alter VW Passat Diesel war denn auch entsprechend vernachlässigt.

Brands Desinteresse an Geld konnte dazu führen, dass er den Überblick über seine Finanzen verlor und einen Anruf von Herrn Weber, dem langjährigen gutmütigen Kundenberater seiner Bank, riskierte, weil er im Minus war.

Auch die Nerven des Buchhalters seiner Einzelfirma Brand Productions strapazierte er jeden September, wenn die Steuererklärung fällig wurde, weil er bei der Trennung zwischen Geschäft und privat schlampte und die Belege durcheinanderbrachte oder falsch zuordnete.

Aber bei Frau Knezevic war er genau und nahm sich die Mühe, jede Position zu addieren.

Acht Franken fünfzehn war er im Minus. Er machte ein pedantisches Häkchen neben den Saldo, zerknüllte die Belege und warf sie in den Müll. Mit zweihundert Franken füllte er Frau Knezevics leere Kasse jeweils wieder auf. In seinem Portemonnaie fand er nur den Hunderter und das Wechselgeld, das ihm der Kellner im Cesare herausgegeben hatte, und musste zum Safe.

[26] Brands Safe befand sich im Schlafzimmer vor einer Wand voller präparierter Schmetterlinge hinter Glas. Es war eine Statue aus Vietnam. Eine sitzende Frau in einem Kleid aus grünem Lack mit bronzefarbener Bordüre und einem passenden Turban. Er hatte sie bei einer Antiquitätenhändlerin in Saigon gekauft, die ihm erklärte, es handle sich um eine Muttergottheit einer uralten vietnamesischen Volksreligion.

Am Rücken der Statue ließ sich ein Stück der Stola abheben. Darunter war ein Deckel im gleichen Lackfinish wie das übrige Kleid passgenau eingelassen. Wenn man an der richtigen Stelle auf seinen Rand drückte, rutschte er auf der gegenüberliegenden Seite genug weit aus seinem Rahmen, dass man ihn fassen und entfernen konnte. Darunter befand sich ein Hohlraum von neun mal neun Zentimetern. Dort, hatte ihm die Händlerin erklärt, hatte sich früher die Seele der Frau befunden. Als sie ihr Dasein als Muttergottheit gegen das eines Dekorationsartikels tauschte, wurde die Seele entfernt. Jetzt bot dieser Hohlraum gerade genug Platz für ein paar Banknoten.

Im Moment war es allerdings nur ein Hunderter. Jonas nahm ihn heraus, ging zurück ins Wohnzimmer und legte ihn neben den anderen auf das Schulheft, auf das Frau Knezevic in ihrer etwas kindlichen Handschrift »Kassa« geschrieben hatte.

Da lagen sie, die beiden Scheine. Rechts das Porträt von Alberto Giacometti, der Jonas immer vorkam, als hätte er eine verstopfte Nase und müsste durch den leicht geöffneten Mund atmen. Links seine berühmteste Plastik, L’homme qui marche, »Der Gehende«, der für ihn aussah, als sei er soeben mit dem rechten Bein über die Hürde aus Zahlen [27] gestiegen, die die Seriennummer der Banknote bildeten. – Die letzten sieben Stellen von dieser hier hätten übrigens eine angenehme Telefonnummer abgegeben: 200 44 88.

Ein Knall schreckte ihn auf. Jonas rannte in die Küche. Der Föhn hatte den oberen Flügel des Küchenfensters aufgestoßen, dessen Fensterhaken nicht verschlossen gewesen war. Er schloss ihn und ging beruhigt ins Wohnzimmer zurück.

Der Windstoß hatte die Geldscheine vom Tisch geweht. Der mit den Endziffern 200 44 88 lag gleich neben dem Fauteuil, auf dem er gesessen hatte.

Den anderen fand er unter dem Blumenständer neben dem Fenster, auf dem ein Farn um sein Überleben kämpfte. Er hob ihn auf und sah ihn an. Er trug die Endziffern 200 44 88.

Was für ein seltsamer Zufall, dachte er und verglich die Zahlen. Er hatte sich nicht getäuscht: Die siebenstelligen Endzahlen waren identisch. Und nicht nur das: Auch die drei Anfangsziffern waren gleich! Beide Hunderter trugen die Seriennummer 07E2 004 488.

Was konnte das bedeuten? Nach Jonas Brands laienhaften Kenntnissen von Banknoten nur eines: Eine von beiden war falsch.

Er trug sie in sein Studio, wie er sein Arbeitszimmer nannte. Es war im Unterschied zur übrigen Wohnung ganz nüchtern eingerichtet. Weißes Büromobiliar, dazu passende Regale mit sorgfältig beschrifteten Archivschachteln. Das Herz des Studios war der Schneideplatz. Ein großer aufgeräumter Tisch mit zwei Flachbildschirmen, einer Tastatur und einer Maus. Davor stand ein chromblitzender ledergepolsterter Managerstuhl, den er sich nach einem [28] Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren geleistet hatte und für den er sich vor Besuchern manchmal etwas genierte.

Aus der obersten Schublade eines Rollkorpus nahm er eine Lupe. Er schaltete die Schreibtischlampe an, richtete sie auf die Banknoten und untersuchte sie mit der Lupe. Welches war die falsche?

Jonas Brand fand keinen Unterschied, aber er wusste auch nicht, wonach er suchen musste. Einer der Scheine fühlte sich etwas neuer und knisternder an. Es war der, den er der Statue entnommen hatte. Das Überbleibsel seines letzten Besuchs bei einem Geldautomaten.

Der andere war schon durch viele Hände gegangen und etwas schlapp. Es war der, den ihm der Kellner im Cesare ausgehändigt hatte. War das der gefälschte? Und falls ja, hatte der Kellner es gewusst?

Brand steckte die Scheine in sein Portemonnaie. Gleich am nächsten Morgen würde er zur Bank gehen und herausfinden, welcher der falsche und welcher der echte war.

Er ging ins Bett und schlief ein, während vor den Fenstern der Wind seinen Unfug trieb.

[29] 2

Herr Weber war Jonas Brands Kundenberater, seit er sein Konto vor über fünfzehn Jahren von der Swiss International Bank zur General Confederate Bank of Switzerland transferiert hatte. Der Grund für den Bankenwechsel damals war sein Privatkundenberater bei der SIB gewesen, der ihm eines Tages ohne Vorwarnung seine Bankomat- und seine Kreditkarte gesperrt hatte, nur weil er mit achtzig Franken im Minus war. Das wäre halb so schlimm gewesen, wenn er nicht gerade in Marokko gewesen und seine Schiffs- und Bahnkarten für die Rückreise geklaut worden wären. Seine Eltern erhielten die Genugtuung, dass er sie bitten musste, ihm aus der Patsche zu helfen. Und er musste drei Nächte in der schlimmsten Absteige Casablancas verbringen, bis sie es endlich geschafft hatten, ihm das Geld über Western Union zu überweisen.

Noch am Tag seiner Ankunft in Zürich war er wutschnaubend zu seinem Privatkundenberater bei der SIB gegangen, hatte ihm die achtzig Franken, um die er sein Konto überzogen hatte, ausgehändigt und das Konto aufgelöst. Dann war er über die Straße zur GCBS marschiert und hatte mit dem zweitletzten Hunderter aus der Überweisung seiner Eltern ein Konto eröffnet. Das war der Beginn seiner Geschäftsbeziehung zu Herrn Weber gewesen.

Herr Weber war damals Ende dreißig gewesen und hatte [30] die Hoffnung auf eine Karriere noch nicht ganz begraben. Er war ein kleiner dünner Mann mit einem seltsam tief in die Stirn gezogenen Haaransatz, was seiner Erscheinung etwas Äffchenhaftes verlieh. In den ersten Jahren hatte Herr Weber sich noch benommen wie ein Banker. Hatte die gleichen Floskeln gebraucht und versucht, Jonas Anlagen und Dienstleistungen anzudrehen, die er »Produkte« nannte, als handle es sich um etwas Handfestes.

Als Jahre später auf seinem Kärtchen noch immer »Privatkundenberater/Schalter« stand, musste ihm klargeworden sein, dass er am Ende seiner Laufbahn angelangt war, und er schlug sich auf die Seite seiner Kunden. Rümpfte die Nase über die hausinterne Bürokratie und sprach nur noch mit leiser Ironie über seine Vorgesetzten.

Er erinnerte Jonas an seinen Korporal in der Rekrutenschule, der sie schikanierte bis zu dem Tag, an dem er erfuhr, dass er den Offiziersvorschlag nicht bekommen würde, und daraufhin mit seinen Rekruten fraternisierte. Aber anders als Herrn Weber, dem er selbst in dessen ehrgeizigsten Phasen viel weniger ausgeliefert war, verzieh er dem Korporal nicht. Bis zum heutigen Tag.

Herr Weber, dessen Haaransatz sich noch immer unweit der Nasenwurzel befand, untersuchte die Scheine sorgfältig und erklärte Jonas die achtzehn Sicherheitsmerkmale: die schimmernde transparente Zauberzahl, die durchsichtigen Kreuze, das Wasserzeichenporträt, die Wasserzeichenziffer, die Linienstrukturen, die ihre Farben wechselten, die abfärbenden Kupferdruckziffern, die tanzende Zahl auf der silberglänzenden Folie, die perforierte Wertzahl, die mit bloßem Auge nicht zu entziffernden beiden Mikrotexte, die [31] Chamäleonzahl, die je nach Lichteinfall eine andere Farbe annimmt, die Ziffern, die nur bei UV-Beleuchtung sichtbar sind, der Buchstabe G, der glitzert, wenn man die Note bewegt, die Kippzahl, die nur aus extrem flachem Winkel zu erkennen ist, das tastbare Blindenzeichen, der metallisierte Sicherheitsfaden und die beiden Seriennummern.

Alle waren vorhanden, und alle stimmten.

»Für mich sind beide echt«, sagte Herr Weber schließlich.

»Und wie ist es möglich, dass beide die gleiche Seriennummer haben?«

»Es ist nicht möglich. Haben Sie einen Moment Zeit? Ich möchte einen Kollegen hinzuziehen.«

Jonas sah, wie Herr Weber im Bürobereich hinter den Schaltern an den Schreibtisch eines Mitarbeiters ging und sich die beiden über die Scheine beugten. Eine Frau, die an einem Nebenschalter eine Kundin bedient hatte, gesellte sich dazu, und bald stand ein Grüppchen Bankangestellter beisammen und wunderte sich über das Phänomen.

Jonas war schon etwas ungeduldig geworden, als Herr Weber endlich zurückkam. »Komisch. Für uns alle sind beide echt. Darf ich eine Fotokopie machen?«

»Ich dachte, das sei verboten?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass in diesen Räumen etwas Verbotenes getan wird«, gab Herr Weber mit seinem ironischen Lächeln zurück. Er verschwand mit den Noten.

Als er zurückkam und sie Jonas aushändigte, ermahnte er ihn: »Passen Sie gut darauf auf, das sind Sammlerstücke.«

Jonas hob noch etwas Geld für Frau Knezevic und seine laufenden Ausgaben ab und ging.

[32] Zu Hause verstaute er die beiden Sammlerstücke im Rücken der geheimnisvollen vietnamesischen Gottheit.

*

Am nächsten Abend trafen sie sich wieder. Jonas hatte bis zehn Uhr gewartet und sie dann angerufen. Seine Nummer war offenbar in ihrem Verzeichnis gespeichert, denn sie meldete sich mit: »Wie hast du geschlafen, Jonas?«

»Mutterseelenallein«, hatte er geantwortet. Dann verabredeten sie sich ohne Umschweife zum Abendessen.

Diesmal war er der Zuhörer und sah ihr gebannt in die Augen. Es waren asiatische Augen, mandelförmig mit doppelter Lidfalte, aber sie waren von europäischem Grün. Ihre Haare mit den knapp über den Brauen waagerecht geschnittenen Fransen hatten einen braunen Schimmer. Ihre Wangenknochen waren ausgeprägt und ihre Lippen voll und von einem tieferen Rot als am Vorabend.

»Die meisten Leute denken, ich sei die Tochter eines Schweizers, der hier keine Frau fand und sich in Thailand eine geangelt hat.«

»Aber?«

»Aber ich bin die Tochter eines Filipinos, der sich hier eine Schweizerin geangelt hat.« Sie lachte wie über einen Witz, den sie schon oft erzählt hatte. »Mein Vater hatte ein Stipendium für ein Agronomie-Studium in der Schweiz. Als er abgeschlossen hatte, ging er mit meiner Mutter in die Philippinen zurück. Ich bin dort geboren.«

»Sprichst du Filipino?«

[33] »Nur ein paar Worte. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich sechs war. Meine Mutter ist mit mir in die Schweiz zurück und hat wieder geheiratet.«

»Einen Spanier?«

»Wegen dem Ruiz? Nein, der Name stammt von meinem leiblichen Vater. Viele Filipinos haben spanische Namen. Mein Stiefvater ist Schweizer.«

Marina erzählte ihm ihr Leben, als bewerbe sie sich um eine Stelle in seinem. Sie beantwortete auch seine Zwischenfragen gewissenhaft, auch die, die er nicht stellte.

»Warum fragst du mich nicht, ob es da jemanden gibt?«

»Du hast mich das auch nicht gefragt.«

»Was hättest du geantwortet?«

»Ab und zu. Und du?«

»Ab und zu. Und: früher mal etwas Festes.«

Jonas lächelte. »Bei mir auch. Ich war sogar mal verheiratet.«

»Ich nur fast.«

Damit war das Thema abgehakt.

Später fragte Jonas: »Und wie um alles in der Welt bist du im Eventmanagement gelandet?«

»Wahrscheinlich auf ähnliche Art wie du im Lifestyle-Journalismus.«

»Also vorübergehend?«