Martin Suter

Richtig leben
mit Geri Weibel

Sämtliche Folgen

Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

Sämtliche Geschichten wurden zuerst

veröffentlicht im NZZ-Folio, Zürich,

im Zeitraum Mai 1997 bis Februar 2002

Diese Ausgabe enthält die beiden 2001 und 2002

im Diogenes Verlag erschienenen Bände

›Richtig leben mit Geri Weibel‹ und

›Richtig leben mit Geri Weibel. Neue Folgen.‹

Umschlagfoto: Chema Madoz,

›Le rêve des objets‹,

Copyright © 2013 ProLitteris, Zürich

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23460 2 (11. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60332 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Die Begrüßungsfrage  [7]

Die Alkoholfrage  [10]

Die Ferienfrage  [13]

Die Körperfrage  [17]

Die Frauenfrage  [21]

Die Personalityfrage  [24]

Die Novemberfrage  [27]

Die Weihnachtsfrage  [31]

Die Vorsatzfrage  [35]

Die Weltenfrage  [38]

Die Altersfrage  [42]

Die Freundschaftsfrage  [46]

Die Meinungsfrage  [50]

Die Trendwendefrage  [54]

Die Sommerlochfrage  [58]

Die Nachwuchsfrage  [61]

Die Gegentrendfrage  [65]

Die Gesundheitsfrage  [69]

Die Handyfrage  [73]

Die Gewaltfrage  [77]

Die Kultfrage  [80]

Die Diskretionsfrage  [83]

Die Integrationsfrage  [87]

Die Elternfrage  [90]

Die Haustierfrage  [94]

Die Korruptionsfrage  [98]

Die Kubafrage  [102]

Die Panachéfrage  [105]

Die Parvenüfrage  [109]

Die Trinkgeldfrage  [113]

Geri wird Agglo  [117]

Die (Beep!) Wende  [120]

Der neue Geri  [124]

Unterwegs mit Geri  [128]

GWs WGs  [132]

Geris Selbsterkenntnis  [136]

Geris Frühling  [139]

Geris Antwort  [143]

Geri geht ran  [147]

Die Nacht der Nächte  [151]

Geri, der Gentleman  [154]

Geris beredtes Schweigen  [157]

Geri und guess-who  [161]

Richtig, Geri!  [164]

Reconstructing Geri  [168]

Geri, spontan  [172]

Geri und das Moderne  [175]

Geri und die grüne Fee  [179]

Geri after work  [183]

Geri unter Leuten  [187]

[6] Geri und die Medien  [191]

Geris Body-Art  [195]

Wollmütze und Edelweiß  [198]

Geri und Churchill  [201]

Aira vergessen  [205]

Geris Erwachen  [208]

Alles bleibt anders  [211]

Aira’s Marina  [215]

[7] Die Begrüßungsfrage

Es gibt Leute, die können tun, was sie wollen, es sieht immer richtig aus. Geri Weibel ist nicht einer von ihnen. Er muß sich alles erarbeiten. Wenn etwas bei ihm richtig aussieht, dann ist es das Resultat von präziser Umsetzung genauer Beobachtungen. Nicht, daß er besonders ungelenk wäre. Er verfügt durchaus über eine gewisse natürliche Anmut, wenn er unbeobachtet ist. Aber Geri Weibel ist nie unbeobachtet, denn er beobachtet sich selbst. Er sitzt sich im Nacken und wartet auf seinen nächsten Fehler. Meistens muß er nicht lange warten.

Das wäre weniger schlimm, wenn er sich nicht in Kreisen bewegen würde, die aus Prinzip keine Fehler machen. Sie tragen das Richtige, sie meiden das Richtige, sie vertreten die richtigen Meinungen, bestellen die richtigen Digestifs und begrüßen sich mit der richtigen Anzahl Küsse. Etwas, das ihm im Moment besonders schwerfällt.

Geri Weibel ist alt genug, um sich noch an die Zeit erinnern zu können, als man sich kußlos begrüßte. Damals waren Dosierung des Händedrucks und Dauer des Augenkontakts eigentlich alles, was man bei der Begrüßung falsch machen konnte. Aber er war dann auch unter den Pionieren, die den Begrüßungs- und Abschiedskuß nicht mehr nur als Ausdruck der Frankophilie verstanden haben [8] wollten, sondern als Zeichen dafür, was für ein zärtliches Volk wir Schweizer nämlich sind. Er wandte den einfachen, später den doppelten, dann den dreifachen Begrüßungskuß an und hätte diese Steigerung ohne weiteres fortgesetzt (war sogar schon versucht gewesen, spontan dem vierfachen eine Bresche zu schlagen), hätte ihn nicht die plötzliche Begrüßungskuß-Liberalisierung aus dem Konzept gebracht.

Geri Weibel ist einer, dem der spielerische Umgang mit Regeln nicht gegeben ist. Er will wissen, was falsch und was richtig ist. Und dann hält er sich daran, bis neue Weisungen kommen. Aber in der Begrüßungsfrage gibt es plötzlich nichts mehr, woran er sich halten kann. Für Geri Weibel, der, wenn man sich zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden kann, dazu neigt, die falsche zu wählen, eine Zusatzbelastung.

Früher konnte sich Geri einigermaßen auf seine Beobachtungsgabe verlassen. Er saß in der SchampBar und hielt die Augen offen. Nach kurzer Zeit wußte er, daß man die Corona nicht mehr aus der Flasche am Zitronenschnitz vorbeischlürft, sondern den Schnitz angewidert aus dem Flaschenhals zupft und ein Glas verlangt. Oder er schaute im Mucho Gusto auf die Teller und entwickelte ein Gefühl für den Zeitpunkt, an dem er zum ersten Mal wieder etwas vom Rind bestellen durfte.

Aber in der Begrüßungsfrage herrscht Anarchie. In einer knappen halben Stunde SchampBar beobachtet Geri: vier klassische Dreifache, zwei Dreifache mit Luftküssen, zwei Doppelte gemischt (Luftküsse/Kontaktküsse), drei Scharaden-Dreifache (10cm Sicherheitsabstand), zwei einfache, abgewandte Lippenspitzer, einen [9] männlich-gleichgeschlechtlichen Doppelbreschnew, fünf (ein Trend?) einfache Streifer mit Händedruck, einen vierhändigen Schultershaker, zwei Haarstruppler (ungeküßt) und einen neunzigsekündigen Full-Contact-Happy-Ender, bei dem er nicht sicher ist, ob er ihn mitzählen soll. Aber auch ohne den Happy-Ender: neun Variationen innerhalb eines Musters von nur zweiundzwanzig! Und das unter den Gästen der SchampBar, die bekannt sind für ihre Lifestyle-Disziplin.

Geri Weibel zieht den einzigen für ihn plausiblen Schluß: In der Begrüßungsfrage heißt die Regel: Deregulierung. Er wird, so schwer es ihm fällt, Flexibilität an den Tag legen müssen, wenn er nichts falsch machen will. Antizipieren. Die Signale richtig interpretieren und richtig reagieren. Florettfechten.

Aber im Zeichen der abflauenden Machophobie empfiehlt es sich für den Mann wieder eher, zu agieren statt zu reagieren. Als Geri Weibel im Mucho Gusto Bärlauch-Spaghetti ißt und Susi Schläfli das Lokal betritt, sich kurz umschaut, niemand Besseren kennt und auf seinen Tisch zusteuert, entschließt er sich für den kußfreien Händedruck mit Mundabwischen. Er steht auf, streckt ihr die Hand entgegen und will die Serviette zum Mund führen, als er merkt, daß Susi ihm die Wange bereithält. Sofort schießt er vor. Im gleichen Sekundenbruchteil realisiert Susi, daß Geri keinen Begrüßungskuß vorgesehen hat, und dreht die Wange weg.

Geri Weibels feuchte Bärlauchlippen und Susi Schläflis Chanel-Cerise-Mund vereinen sich zum ersten einsekündigen Full-Contact-Happy-Ender in der Geschichte des Mucho Gusto.

[10] Die Alkoholfrage

Für jemanden, der Wert darauf legt, nichts falsch zu machen, ist Alkohol das reinste Gift. Ihn zu meiden kann so falsch sein, wie ihn zu trinken. Und selbst dann, wenn es kein Fehler ist, ihm zuzusprechen, kann er die Ursache nicht wiedergutzumachender Folgefehler sein.

Geri Weibel ist kein Trinker. Bis zwanzig wurde ihm schlecht von zwei Stangen, bekam er Magenbrennen vom Weißen und eine pelzige Zunge vom Roten. Es dauerte lange, bis er sich zu einem brauchbaren Gesellschaftstrinker gemausert hatte. Aber dann hielt er ganz passabel mit.

Lange war es im Mucho Gusto korrekt gewesen, die Zeit, bis das Mittagsmenü gebracht wurde, mit einem Bierchen totzuschlagen, zum Essen etwas Roten zu bestellen und den Kaffee mit einem Carlos 1 zum Carajillo zu frisieren. Geris Versuche, unauffällig wenigstens etwas davon zu überspringen, waren vom Tisch als stille Vorwürfe registriert worden. Was dann genau den Umschwung ausgelöst hatte, konnte er nie rekonstruieren. Er kam eines Tages aus den Ferien zurück, bestellte sein San Miguel im Vorbeigehen und mußte erleben, wie es ihm neben das Gedeck gezirkelt wurde wie etwas Ansteckendes. Da stand es dann inmitten der unschuldig perlenden Perriers wie ein Sittenstrolch auf dem Kinderspielplatz. Geri wußte sich nicht anders zu helfen, [11] als es unberührt durch ein San Pellegrino ersetzen zu lassen. (Ein Perrier wäre ihm als anpasserisch ausgelegt worden.)

Geri Weibel mußte also davon ausgehen, daß Alkohol zum Lunch als uncool galt. Die letzten Zweifel beseitigte die Bemerkung von Robi Meili über den Werber- und den Bankertisch, die sich Zeit ließen, sauber zu werden. »Die bescheißen ihre Arbeitgeber. Verkaufen die Arbeitskraft von Nüchternen und liefern die Arbeit von Besoffenen.«

Geri war etwas erstaunt über diese Töne aus dem Mund des Trendbarometers des Mucho Gusto. Vor kurzem hatte Meili jeweils seinen zweiten Carajillo nach dem Essen noch damit begründet, daß dem Menschen die Demütigung, arbeiten zu müssen, um zu überleben, nüchtern nicht zugemutet werden könne. Aber es ist nicht Geri Weibels Aufgabe, Trendwenden zu hinterfragen. Er ist froh, wenn er sie einigermaßen rechtzeitig mitbekommt und sie nicht allzu kompliziert zu befolgen sind.

Werber- und Bankertisch hielten noch eine Weile durch. Der Werbertisch fiel als erster. Ein schwedisches Mineralwasser in blauen Flaschen half ihm, das Gesicht zu wahren. Es ließ den Verzicht aussehen wie die bewußt getroffene Entscheidung meinungsbildender Konsumenten. Der Bankertisch bäumte sich noch einmal auf, ließ schwere Portugiesen und exotische Spumante auffahren – und blieb eines Tages leer. »Kantine«, vermutete Freddy Gut. »Gefeuert«, Robi Meili.

Während man eben noch mit Alkohol am Mittag Unkündbarkeit demonstrierte, gilt er jetzt als Symbol der Entbehrlichkeit. Nur Arbeitslose und Pensionierte können es sich leisten, schon am Nachmittag besoffen zu sein.

[12] Geri Weibel kommt mit diesem Teil der Trendwende problemlos zurecht. Ihm machen, wie immer bei Regeln, die Ausnahmen zu schaffen. Diese werden meistens am Abend gewährt. In der SchampBar, deren Name noch von vor Mururoa stammt (danach stellte sie auf Cavas aus noch nicht so bekannten Häusern um), wird zwar nach wie vor von den Habitués kaum Alkohol getrunken. Es sei denn in Form von raren, kulinarischen Destillaten.

Eine Nuance, die Geri Weibel entgeht: Er lehnt einen im Maulbeerholzfäßchen gereiften sortenreinen Lampnästler, den ihm Robi Meili offeriert, vorschnell mit den Worten ab: »Muß morgen früh raus.« Als er realisiert, daß er sich damit nicht nur als kulinarischer Banausen, sondern auch als Alkoholiker zu erkennen gegeben hat, versucht er die Scharte mit der Verkostung eines guten Teils der dreihundertfünfzig destillierten Kirschensorten der Zentralschweiz auszuwetzen.

An sich noch kein Fehler. Aber dann, nach dem Hemmikern, einem makellosen, herrlich ausgebauten Fruchtbrand aus einer wohl mittelhohen Lage (durchlässige, kalkhaltige Bodenstruktur), singt er in die plötzliche Stille der SchampBar mit seiner schönen, vollen Stimme sämtliche Strophen von »Schnaps, das war sein letztes Wort«.

Ein nicht wiedergutzumachender Folgefehler.

[13] Die Ferienfrage

Geri Weibel gehört nicht zu den Leuten, die in den Ferien völlig ausspannen können, denn dazu müßte er ja die Gabe besitzen, im Augenblick zu leben. Geri lebt aber eher in der Zukunft. Und die ist, gerade was die Ferien angeht, voller Risiken. Damit sind nicht die kalkulierbaren gemeint wie Flugzeugabstürze, Entführungen, Haifischattacken, unerforschte Tropenkrankheiten, Lebensmittelvergiftungen und öffentliche Auspeitschungen für den Besitz eines Rohypnols. Gemeint ist zum Beispiel das Risiko, den falschen Ort zu wählen. Es belastet Geri das ganze Jahr, außer während der Ferien selbst. Dann ist es mehr die Vergangenheit, die ihn beschäftigt: das Risiko, den falschen Ort gewählt zu haben.

Je größer das Ferienangebot, desto unübersichtlicher wird es politisch, ökologisch, weltanschaulich und sozial. Manchmal beneidet Geri Weibel die Generation vor ihm, die nur darauf achten mußte, nach Möglichkeit Franco-Spanien und Obristen-Griechenland zu meiden. Und selbst wenn ihr das einmal nicht ganz gelang, passierte ihr nicht, was Izmir passierte, als er vor ein paar Jahren nach Foca fuhr. Izmir hieß Alfred Huber, bis er sich in jenem verhängnisvollen Sommer für Clubferien entschied, etwas, das damals gerade im Gegentrend zu den plötzlich als etwas spießig geltenden [14] Individualferien lag. Alfred Huber hatte Foca nach eigenen Angaben allein aufgrund des spanisch oder italienisch klingenden Namens und der Prospektinformation »keine speziellen Einrichtungen für Kinder« gebucht. Erst im Flugzeug habe er realisiert, daß der Ort in der Türkei liegt. Nicht weit von Izmir. Seither ist er für die Habitués der SchampBar Izmir. Auch Geri nennt ihn so. Aber mit einem unguten Gefühl, angesichts der Tatsache, wie leicht so etwas passieren kann. Nicht auszudenken, wie sie ihn zum Beispiel heute nennen würden, wenn er damals nicht noch rechtzeitig hinter sein Maghreb-Zagreb-Mißverständnis gekommen wäre.

Politisch ist man in der SchampBar inzwischen nicht mehr ganz so streng. Im Mucho Gusto schon. Auch ökopolitisch. Carl Schnell, das Gewissen des Mucho Gusto, hat zwar in Fragen der ecological correctness an Autorität eingebüßt, seit er am Flughafenzoll drei Stunden festgehalten wurde, als er mit achthundert Gramm zerknüllter Alufolie und neunzehn leeren Taschenlampenbatterien einreiste, die er aus Entsorgungsnöten von seinen Trekkingferien aus Nepal zurückgeflogen hatte.

Trotzdem bleibt für Geri Weibel die Umweltbilanz ein Kriterium bei der Wahl seiner Feriendestination. Wenn auch vielleicht nicht mehr ein so entscheidendes wie noch vor ein paar Jahren, als er vier Tage seiner zwei Wochen Griechenland der zugigen Bahnfahrt geopfert hatte, die Woche schwere Angina nicht eingerechnet. Jetzt fliegt er zwar, wenn es sein muß, aber er informiert sich dabei über den Flugzeugtyp und gibt dem mit dem günstigsten Pro-Kopf-Treibstoffverbrauch den Vorzug.

[15] Seit März untersucht Geri Weibel jede Äußerung von Robi Meili, dem Trendbarometer des Mucho Gusto, auf für die Ferienfrage verwertbare Hinweise. Bedeutet »New Yorks Kriminalitätsrate ist total im Keller«, daß man nach New York soll oder daß New York gerade noch als Ziel für AHV-Ausflüge toleriert wird?

Und darf er aus »wenn schon Religion, dann Buddhismus« schließen, daß Ferienziele mit buddhistischer Staatsreligion im Trend liegen?

Hongkong wäre ziemlich buddhistisch. Aber da hätte man am 30. Juni sein müssen, sagt Robi Meili. »Mehr zu spät kommen als im Juli 1997 nach Hongkong kann ein Mensch im Leben überhaupt nicht.« Und Carl Schnell fügt hinzu: »Ganz zu schweigen von Tiananmen.«

Geri Weibel hat den Aspekt der Einbindung Hongkongs in die Kollektivschuld Tiananmen nach dem Zurückfallen an China nicht bedacht. Nicht aus Gleichgültigkeit, mehr aus Mangel an Übersicht. Seine intensive Beschäftigung mit den Detailfragen des Lebens trüben manchmal seinen Blick für die großen Zusammenhänge. So bucht er um ein Haar Bali (»nicht mehr so freakig«, wie Freddy Gut, die Modeautorität der SchampBar sich ausdrückte), bis man ihn im Mucho Gusto auf den Zusammenhang Timor – Suharto – Bali aufmerksam macht.

Bis kurz vor Ferienbeginn ringt Geri mit der Entscheidung. Dann geht er auf Nummer Sicher: Er bleibt in Zürich. »Badeanstalt, Gartenwirtschaften, lesen, null Streß«, so seine Antwort, als sich Carl Schnell nach seinen Ferienplänen erkundigt.

»Ferien in der Schweiz?« Carl Schnell schüttelt den Kopf. [16] »Wenn du das vor dir verantworten kannst – jetzt nach Eizenstat? Ich weiß nicht.«

Inzwischen prüft Geri Weibel Städteflüge in die neuen Bundesländer.

[17] Die Körperfrage

Geri Weibel besitzt kein sehr ausgeprägtes Körperbewußtsein, was seinen eigenen Körper angeht. Die Körper anderer Leute hingegen nimmt er sehr bewußt zur Kenntnis. Sowohl die weiblichen als auch die männlichen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die männlichen zum Vergleich und um auf dem laufenden zu bleiben, wohin der Trend geht.

Körpertrends gehören zu den Trends, die Geri am meisten Sorgen machen. Der Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers an einen Trend sind ja gewisse Grenzen gesetzt. Geri, der ein hervorragender Verbrenner ist, hat zum Beispiel sehr gelitten, als zum Zeichen dafür, daß man es sich leisten konnte, sich dem Diktat der Hochleistungsgesellschaft nicht restlos zu unterwerfen, ein leichter Hang zur Rundlichkeit angesagt war. Geri befolgte damals mehrere strikte »Diäten«: Er achtete streng darauf, Kohlenhydrate und Eiweiß ungetrennt einzunehmen, aß zum Frühstück, Mittag und Abend wie ein König, naschte jede Menge Süßigkeiten zwischendurch und mied alle Tätigkeiten, die im Ruf stehen, Kalorien zu verbrennen. Seine Gewichtszunahme nach drei Monaten betrug 200 Gramm, bestenfalls 350, so genau konnte er es nicht sagen, die Skala seiner elektronischen Waage zeigte nur 200er Schritte an.

[18] Während Robi Meili, das Trendbarometer des Mucho Gusto, mühelos an Gewicht zulegte, und Freddy Gut, die Modeautorität der SchampBar, mit Pausbäckchen aufwartete, blieb Geri mager wie ein Orientierungsläufer.

Der Körpertrend ging dann zum Glück weg vom Gemütlichen, hin zum Agilen. Eine Wende, mit der Robi Meili und Freddy Gut etwas Mühe bekundeten, wie Geri nicht ohne Schadenfreude beobachtete. Er selbst brachte das Überschlanke problemlos. Nur mit dem Schlaksigen hatte er Mühe. Wahrscheinlich verkrampfte er sich zu sehr beim Versuch, absolut entspannt zu wirken. Der komplizierte Oberschenkelbruch (drei Schrauben), den er sich dann bei seinem ersten Rollbrettversuch (zur Auflockerung) holte, war wie eine Erlösung. Zwei Krücken enthoben ihn für ein paar Wochen der Pflicht, unangestrengt zu wirken.

Geri ist nicht eigentlich unsportlich. Er war ein zäher Verteidiger in seiner Schüler-Fußballmannschaft (Nummer zwei), ein ausdauernder Langläufer während der Mittelschule, und als Radfahren Mode wurde, beeindruckte er als hartnäckiger Paßfahrer. Wenn es ihm sportlich an etwas fehlt, ist es höchstens eine gewisse Eleganz, ein wenig Ballgefühl und die Freude an den Bewegungsabläufen. Geri ist ein Kämpfer, kein Spieler.

Deswegen kommt ihm der Workout-Trend sehr entgegen. Die Verbissenheit, unter der seine Bemühungen, nichts falsch zu machen, manchmal leiden, ist bei der Arbeit an den Gewichten ein Vorteil.

Schon beim Probetraining im von Robi Meili beiläufig erwähnten (also nachdrücklich empfohlenen) Fitness-Club merkt Geri Weibel, daß er seine Sportart gefunden hat. Der [19] einzige, den er besiegen muß, ist er selbst. Ein schwacher Gegner, wie er aus Erfahrung weiß. Jedesmal, wenn dieser das Handtuch werfen will, zwingt er ihm noch eine Sequenz auf, legt er ihm ein Kilo drauf, verkürzt er ihm die Intervalle. Noch am selben Abend füllt er mit vor Anstrengung zitternder Hand das Anmeldeformular für den Jahresbeitritt aus.

Geri Weibel investiert von nun an einen Großteil seiner Energie in die Ausformung seines Körpers. Das fördert sein Körperbewußtsein, aber leider auch das für andere Körper. Zum Beispiel für den von Freddy Gut. Dessen überflüssig gewordene Pfunde müssen sich in Muskulatur verwandelt haben. Jedenfalls kann er es sich bereits leisten, die Muskeln mit XXL-T-Shirts und Schlabberhosen herunterzuspielen, während er, Geri, eher die körperbetonten Stücke aus seiner Garderobe zum Zuge kommen läßt. Nur so lassen sich die Früchte seiner Anstrengungen einigermaßen erahnen.

Früchtchen, eher. Es ist, als ob die Muskelfasern, die er durch unbarmherziges Krafttraining aufbaut, laufend durch die Anstrengungen abgebaut würden, die dieses ihn kostet. Die Energie, die er aufwendet, um Muskeln zu bilden, verbrennt diese bereits im Ansatz.

Während es abends in der SchampBar langsam eng wird vor lauter dazugewonnener Muskelsubstanz, wird Geri immer drahtiger.

Nun hat er sich einen Personal Trainer auf ein Jahr fest verpflichtet. Der garantiert einen harmonischen Muskelzuwachs dank gezieltem Training und wissenschaftlich dosierter Kraftnahrung.

Da hört er Evi Klein, die schönste Frau der SchampBar, [20] zu Susi Schläfli sagen: »Wenigstens nicht auf dem Muskeltrip.«

Meint sie ihn?

[21] Die Frauenfrage

Falls jemand daran zweifeln sollte: Geri Weibel steht auf Frauen. Daß sie keine große Rolle spielen in seinem Leben, ist ein Eindruck, der täuscht. Sie spielen die Hauptrolle. Weshalb sonst würde er so streng darauf achten, nichts falsch zu machen, wenn nicht, um den Frauen zu gefallen? Die Akzeptanz, die er bei den Männern seiner Umgebung sucht, dient ihm nur als Vehikel in die Herzen der Frauen. Was die Sache etwas kompliziert macht: Um theoretisch die Herzen der Frauen gewinnen zu können, ist er in der Praxis auch schon einmal bereit, eines zu brechen. Zum Beispiel das von Heidi Schmid.

Sie gehörte zur Stammgastprominenz des Mucho Gusto, bis sie unerwartet ins Alternative abdriftete. Ideologisch waren damals alle im Mucho Gusto alternativ. Aber urban gestylt. Heidi jedoch fing an, weite Gewänder aus naturbelassenen Materialien zu tragen und nichts an ihre Haut zu lassen außer Wasser und Hamamelis. Geri begann sich mit Heidi Schmid in der Öffentlichkeit zu genieren. Ihr Name fing an zu ihrer Erscheinung zu passen, wie Freddy Gut sich ausdrückte. Geri mußte sich entscheiden, ob er es sich gesellschaftlich noch leisten konnte, Heidi zu lieben. Gut möglich, daß er sich von ihr getrennt hätte, wenn sie ihn nicht verlassen hätte, bevor er sich restlos im klaren war. So [22] wurde Heidi die erste Frau, die er um ein Haar seiner Attraktivität für andere Frauen zu opfern bereit gewesen wäre.

Dabei ist Geri alles andere als gefühlskalt. Er kann sich aus dem Stand verlieben. Heftig, und auch mehrmals am gleichen Abend. Aber weil Geri Abweisung als Kritik an seiner Person versteht – etwas, das er ausgesprochen schlecht verkraftet –, behält er seine Gefühle für sich. Dementsprechend selten kommt es vor, daß diese erwidert werden. So entwickelt er sich unter der Tarnung des hartgesottenen Singles zum stillen Verehrer sozusagen jeder Frau.

Nicht nur die Frauen im Mucho Gusto und in der SchampBar bezaubern ihn. Auch die der Außenwelt. Es vergeht kaum eine Tramfahrt, während der er nicht der Frau seiner Träume begegnet. Aber mit einer Frau aus dem Mucho Gusto und der SchampBar würde er sich viel Akzeptanzärger ersparen. Wenn ihm nicht das gleiche passiert wie mit Heidi, der Szenenprinzessin, die er vielleicht mit seinem Kuß in einen Frosch verwandelt hatte.

Geri Weibel konzentriert sich also auf die Frauen in seinen Kreisen. Und das praktisch ununterbrochen. Er sitzt in der SchampBar wie der Jurypräsident des Birdwatcher-Clubs und verteilt Punkte für Styling, Figur und Ausstrahlung. Oder Noten wie ein Sprungrichter für Stil und Oberweite. Sein Repertoire an Methoden, die Augen abzuschirmen, um die Frauen unbemerkt taxieren zu können, ist so vielseitig, daß er am Stammtisch des Mucho Gusto als Grübler aufzufallen beginnt.

Doch Geri Weibel, der Mann, zu dem keine nein sagen kann, weil er keine fragt, geht alleine ins Bett. Wie ein entscheidungsschwacher Haremsbesitzer.

[23] Nur ganz selten kommt es vor, daß er die SchampBar in Begleitung verläßt. Einmal hat ihn Susi Schläfli nach einer Eifersuchtsszene mit Robi Meili mitgenommen und die halbe Nacht geweint und einen nesselartigen Ausschlag bekommen im Gesicht und – angeblich – am ganzen Körper. Einmal hat sich Evi Schlegel an ihn geklammert, weil Alfred »Izmir« Huber zudringlich geworden war und sie bei Geri sicher war, »daß er nichts von einer Frau will«. Einmal hat ihn eine Unbekannte mit Ostschweizer Akzent gefragt, ob er Single sei, und, als er lächelnd nickte, gefragt, ob sie bei ihm übernachten könne. Einen Schlafsack habe sie dabei.

Aber dann trifft er Ada im No Way, einem Fashion Café, in dem er regelmäßig die Direktimporte durchcheckt. Ada ist Koreanerin. Er fragt sie auf englisch, ob sie diese Tommy-Hilfiger-Badehose auch in M habe, und sie antwortet auf zürichdeutsch, daß sie nicht hier arbeite. Geri lädt sie zu einem Espresso ein. Und dann, in einem Anfall von Liebe und Übermut, zum Nachtessen ins Mucho Gusto.

Ada sieht umwerfend aus. Geri beobachtet diesmal aus den abgeschirmten Augen nicht Frauen, sondern Robi Meili, Carl Schnell und die andern.

Aus Ada und Geri wäre ein Traumpaar geworden, hätte nicht Freddy Gut später in der SchampBar gesagt: »Auch wenn sie adopiert sind und Schweizerdeutsch sprechen, mit einer Asiatin wirkst du immer, wie wenn du dir in Thailand eine Frau besorgen mußtest, weil dich hier keine will.«

Von da an sieht man Ada nie mehr mit Geri Weibel in der SchampBar.

Dafür oft mit Freddy Gut.

[24] Die Personalityfrage

Kürzlich ißt Geri Weibel am Stammtisch den Tagestip »Mexikanisch-Japanische Freundschaft«, einen gemischten Teller mit Tacos und Sushi, bei Kaffee und Mate taxiert man noch ein wenig die andern Gäste. Da sagt Robi Meili, das Trendbarometer des Mucho Gusto, plötzlich: »Sehen alle irgendwie gleich aus. Null Personality.«

Eine beiläufige Bemerkung. Aber bei Geri Weibel löst sie eine Sinnkrise aus, die fast schon philosophische Dimensionen annimmt.

Es stimmt natürlich, die Gäste gleichen sich. Die gleiche Art Frisuren, die gleiche Art Schuhe, die gleiche Art Kleider, die gleiche Teilnahmslosigkeit. Sie sehen alle aus wie Geri Weibel, wenn es ihm gelingt, richtig auszusehen. Das ist nichts Neues. Auch früher, als die Gäste im Mucho Gusto anders aussahen, glichen sie einander und bemühte sich Geri, ihnen zu gleichen. Es hat etwas mit Mode zu tun, und diese etwas damit, seine Persönlichkeit auszudrücken, wie Robi Meili es nennt. Robi Meili, der übrigens auch nicht viel anders aussieht als alle andern im Lokal.