»Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.«
Zu den vielen Eigenheiten, die uns menschlich machen und von anderen Tieren unterscheiden, gehört wohl der Zwang, zurückzublicken. Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine andere Spezies mitten in der Nacht über verpassten Chancen oder Aufträgen brütet. Doch gehört diese Rückschau auf unser Wirken als Spezies für uns auch zu einem Lernprozess. Wir befassen uns aus einer höheren Perspektive mit Geschichtsaufzeichnungen und sehen uns an, welche Fortschritte wir gemacht haben – von der Zähmung des Feuers bis hin zur Entwicklung des Mikrochips. Und dann versuchen wir, den Sinn dahinter zu verstehen.
Kierkegaards Postulat vom vorwärts gelebten, doch rückwärts verstandenen Leben bedeutet vielleicht nur, dass wir uns der Vergangenheit erinnern und im besten Fall (ungenaue) Aufzeichnungen davon bewahren. Mögen er und George Santayana mir verzeihen, wenn ich behaupte, dass ein Verständnis der Geschichte uns nicht davor bewahrt, sie zu wiederholen. Ein kurzer Blick in die Nachrichten beweist, dass ich recht habe. Somit ist die Vergangenheit selbst dort unzuverlässig, wo wir aus gemachten Fehlern lernen möchten. Nur die Zukunft ist gewiss, denn wir können sie beeinflussen.
Das bringt mich zu den Zukunftsforschern, zu denen auch der Verfasser dieses wunderbaren Buches gehört. Wenn solche Menschen hören, dass die Gebrüder Wright den Traum vom Fliegen umgesetzt haben, haben sie Billigflieger, Luftfahrt-Drehkreuze und Menschen auf dem Mond vor Augen. Diese Historiker des Jetzt widmen sich der Gegenwart. Statt zu fragen, wie man die Risiken der Vergangenheit vermeiden kann, geht es für sie darum, bestmöglich von den Vorteilen zu profitieren, die die Zukunft bietet. Stift und Papier – oder das Tablet – in der Hand, finden wir sie an den Grenzen der bekannten Wissenschaft und Technik. Sie befragen die Pioniere und Wegbereiter und sogar die Wagemutigen, die über den Rand der Erdscheibe gefallen sind. Sie sprechen mit Erfindern, Wissenschaftlern, Forschern, Querdenkern und Träumern. Sie hören zu, sie sehen genau hin, sie filtern, und sie gewinnen gebietsübergreifende Erkenntnisse und Wissen, um uns allen den Sinn davon zu vermitteln. In Deep Medicine erfahren Sie, welch beeindruckend intellektuellen und außergewöhnlich kreativen Dienst diese Menschen uns damit erweisen. Diese Aufgabe nutzt beide Gehirnhälften – die logische wie die emphatische – und auch die Musen. Darum ist dieses Buch zu gleichen Teilen Inspiration und Exposition.
Mit Deep Medicine entführt Eric Topol uns zum dritten Mal auf eine Entdeckungsreise in die Zukunft. Betrachtet man seine bisherigen Bücher in der Rückschau, wird seine Weitsicht offenkundig. In Deep Medicine erklärt er, dass wir im vierten industriellen Zeitalter leben und uns inmitten eines so tief greifenden Wandels befinden, dass die Erfindung der Dampfkraft, der Eisenbahn, der Elektrizität, der Massenfertigung und sogar das Computerzeitalter dagegen verblassen. In diesem vierten industriellen Zeitalter dreht sich alles um Künstliche Intelligenz (KI), Robotik und Big Data. Es kündet von einer umwälzenden Revolution, die sich bereits heute in unsere Lebens- und Arbeitsweise zeigt – und vielleicht sogar in unserer Art zu denken. Es bietet uns großartige Chancen, birgt aber auch das Risiko, den großen Graben zwischen jenen, die viel haben, und jenen, die mit jedem Jahr weniger haben, zu vertiefen.
Diese Revolution wird jedes menschliche Bestreben überholen, die Medizin eingeschlossen. Gerade die Medizin befindet sich heute in einer Krise. Als Berufsstand haben wir unsere Patienten trotz all der außergewöhnlichen Fortschritte in der Kunst und Wissenschaft der Heilkunde in den letzten vier Jahrzehnten zu häufig enttäuscht. Wir beachten bewährte Richtlinien nicht, und wir haben verlernt, den einzelnen Menschen vor uns wirklich zu sehen. Wir kennen sein Genom, aber wir hören ihm nicht zu. Wir erkennen das gebrochene Herz vor uns nicht. Wir übersehen die Neurofibrome auf seiner Haut, obwohl sie für die anfallsartige Hypertonie von Bedeutung sind, weil wir nicht die Zeit haben, die der Patient zum Entkleiden benötigt, und weil es Zeit kostet, den Körper zu betrachten anstelle des Monitors. Wir übersehen die eingeklemmte Hernie bei einem älteren Patienten, die Ursache für sein Erbrechen ist, und warten stattdessen auf eine teure CT und die Radiologin, die uns sagt, was wir mit eigenen Augen hätten sehen können. Länder mit den höchsten Ausgaben für das Gesundheitswesen schneiden im Gegensatz zu solchen, in denen sehr viel weniger Geld bereitsteht, bei grundlegenden Kennzahlen wie der Säuglingssterblichkeit schlechter ab. Ich finde es bezeichnend, dass Deep Medicine mit einer tiefsinnigen, persönlichen und aufschlussreichen Anekdote aus der schmerzhaften und schlimmen medizinischen Geschichte des Autors beginnt, in der dieser nicht als Person wahrgenommen wurde, die an einer seltenen Erkrankung leidet.
Es ist wenig überraschend, dass die Technologie trotz der bahnbrechenden Möglichkeiten, den Körper zu erfassen, seine Molekularstruktur zu bestimmen und zu überwachen, ebenso blind wie der Mensch sein kann. Ein herausragendes Beispiel ist die elektronische Krankenakte, die heute in den meisten amerikanischen Krankenhäusern genutzt wird. Diese Akte wurde für Abrechnungszwecke konzipiert, nicht als Arbeitshilfe für Ärztinnen und Krankenpfleger. Sie hat das Wohlbefinden von Ärzten beeinträchtigt und ist der Grund für Burn-out und Erschöpfung. Das System hat zu Unaufmerksamkeit gegenüber dem Patienten geführt, indem es diesen durch einen neuen Fokus im Untersuchungszimmer ersetzt hat: den Monitor, der unseren Blick fesselt und vom Menschen abzieht. Anatole Broyard wünscht sich in seinem Buch Intoxicated by My Illness, einer quälenden Geschichte des letztendlich tödlichen Kampfes eines Mannes gegen den Prostatakrebs, von seinem Urologen, dass dieser »sich vielleicht fünf Minuten mit meiner Lage befassen solle, mir nur dieses eine Mal seine ganze Aufmerksamkeit widmen und einen kurzen Augenblick sein Mitgefühl zeigen, über den Körper auch die Seele untersuchen solle, um mein Leiden wirklich zu begreifen, denn jeder Mensch leidet auf seine eigene Weise«.1 Diese beschämende Aussage aus einer Zeit kurz vor Einführung elektronischer Krankenunterlagen drückt das fundamentale Bedürfnis eines jeden Kranken aus. Sie ist zeitlos und – so vermute ich – unveränderlich, auch wenn sich unsere Welt verändert. Es lässt sich wirklich nicht oft genug wiederholen: Jeder Mann und jede Frau leidet auf seine bzw. ihre eigene Weise.
Ich bin gespannt auf die Zukunft und freue mich über die Möglichkeit, Big Data in den Griff zu bekommen. Allein, weil wir mit künstlicher Intelligenz und Deep Learning gewaltige Datenmengen durchsuchen und Erkenntnisse daraus gewinnen können, wird die Genauigkeit von Diagnosen und Prognosen dramatisch besser werden. Damit will ich keinesfalls sagen, dass diese Technologien den Menschen ersetzen werden. Vielmehr stellen sie Empfehlungen zur Verfügung, die vielleicht genauer denn je sind. Doch diese Empfehlungen müssen von einem intelligenten, fürsorglichen und aufmerksamen Arzt und Pflegeteam auf und gemeinsam mit dem einzelnen Menschen, um den es geht, abgestimmt werden. Vor mehr als 2.000 Jahren sagte Hippokrates: »Es ist wichtiger zu wissen, welche Person eine Krankheit hat, als zu wissen, welche Krankheit eine Person hat.« 1981 schrieben Robert Califf und Robert Rosati in einem Leitartikel über die Nutzung von Computern bei der Gefahrenabschätzung nach der Interpretation von Belastungs-EKGs: »Die korrekte Interpretation und Nutzung computergestützter Daten ist ebenso sehr von umsichtigen Ärzten abhängig wie jede andere bisherige Datenquelle.«2 Dieses zeitlose Prinzip behält seine Gültigkeit, sofern es um Menschen und nicht um Autoteile am Fließband geht.
Letztlich kommen wir zu dem ruhmreichen Schluss, dass wir Menschen sind, körperliche Wesen, ein Geist mit all seiner Komplexität in einem ebenso komplexen Körper. Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden bleibt ein Mysterium. Kein Geheimnis ist allerdings: Wenn wir krank sind, wünschen wir inniglich, dass man sich um uns kümmert. Erkrankungen machen aus uns kleine Kinder, und das gilt bei schweren Erkrankungen umso mehr. Und natürlich fordern wir die neueste Technik, wissenschaftliche Präzision, die beste Therapie und einen Arzt, der uns »kennt«. Dieses Kennen soll anders als zu Hippokrates’ Zeiten auch das Wissen um das Genom, das Proteom, das Metabolom, das Transkriptom, KI-gestützte Prognosen usw. umfassen. Dennoch: Vor allem wünschen wir uns, dass all dieses Wissen von einem fürsorglichen, mitfühlenden Team aus Ärzten und Pflegern angewandt wird. Unser Arzt – ein interessierter Mensch, keine Maschine – soll uns seine Zeit schenken und uns sorgfältig untersuchen. Das gilt auch dann, wenn nur der Krankheitsherd ohne Biopsie, Bildgebung oder medizinischen Bericht gesucht wird, damit wir als Person wahrgenommen werden und unser Schmerz durch Berührung der entsprechenden Stelle erfasst wird. Wie schon Peabody es vor vielen Jahren ausdrückte: »The secret of the care of the patient is caring for the patient.« (Das Geheimnis der Fürsorge ist es, sich um den Patienten zu sorgen.) Er wollte damit ausdrücken, dass Zuwendung und Fürsorge für den Patienten aktiv gelebt werden müssen. Es geht um die Interaktion zwischen Behandelndem und Behandeltem, also viel mehr als der einfache Begriff »Pflege« im Deutschen auszudrücken vermag.
Diejenigen, die sich um uns kümmern, sollen unser Innerstes kennen, unsere tiefsten Ängste, das, wofür wir leben, und das, wofür wir sterben würden.
Das ist unser tiefstes Verlangen und wird es immer sein.
Abraham Verghese, MD
Department of Medicine, Stanford University
Im vorliegenden Buch beschreibt der amerikanische Arzt Eric Topol, wie Deep Learning und Künstliche Intelligenz gegenwärtig das Gesundheitswesen umwälzen und welche Auswirkungen Deep Learning auf medizinische Anwendungen haben kann.
Der Autor gibt auch einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Künstlichen Intelligenz (KI). Dabei legt er seinen Schwerpunkt auf Entwicklungen in der Anglosphäre, auch wenn Deep Learning (DL) und die moderne KI an Orten erfunden wurden, wo Englisch keine offizielle Sprache ist. Auch im medizinischen Bereich wurden internationale Wettbewerbe durch DL erstmals durch Forscher gewonnen, die nicht aus der Anglosphäre stammen. Deshalb finden Sie am Ende des Buches ein ergänzendes Nachwort von Professor Jürgen Schmidhuber, in dem er die im Rest des Buches nicht berücksichtigten Pioniere des Gebiets hervorhebt.
»So dürfen wir hoffen, nicht einfach eine schöne neue Welt zu erreichen, keine perfektionistische Utopie, sondern das bescheidenere und viel begehrenswertere Ziel – eine wirklich menschliche Gesellschaft.«
»Lassen Sie sich von Ihrem Internisten ein Antidepressivum verschreiben«, hörte ich von meinem Orthopäden. Meine Frau und ich starrten einander mit großen Augen ungläubig an. Schließlich war ich nicht einen Monat nach meiner OP, einer Implantation einer Kniegelenksprothese, ins Krankenhaus gekommen, um psychiatrische Ratschläge zu erhalten.
Ich hatte aufgrund einer seltenen Erkrankung namens Osteochondrosis dissecans schon seit dem Teenager-Alter Probleme mit den Knien. Die Ursache dieser Krankheit ist noch immer unbekannt, aber ihre Auswirkungen sind vertraut. Als ich im Alter von 20 Jahren mit der Ausbildung an der medizinischen Hochschule begann, war bei mir bereits ein freier Gelenkkörper entfernt worden, und ich hatte umfangreiche chirurgische Eingriffe an beiden Knien hinter mir. Im Laufe der nächsten 40 Jahre musste ich körperliche Aktivitäten immer weiter einschränken und beispielsweise auf Laufen, Tennis, Wandern und den Ellipsentrainer verzichten. Sogar normales Gehen wurde trotz Steroid- und anderen intraartikulären Injektionen ins Knie zur schmerzhaften Angelegenheit. So bekam ich im Alter von 62 Jahren ein neues linkes Knie, wie auch mehr als 800.000 andere Amerikaner. Der Knieersatz zählt damit zu den häufigsten operativen Eingriffen in den USA. Mein Orthopäde hielt mich für den perfekten Kandidaten: Ich war relativ jung, schlank und körperlich fit. Seiner Aussage nach war der einzige nennenswerte Nachteil ein ein- bis zweiprozentiges Infektionsrisiko. Tatsächlich lernte ich ein weiteres Risiko schmerzhaft kennen.
Am zweiten Tag nach der Operation begann ich mit dem dafür üblichen und, so wurde mir gesagt, einzigen Physiotherapieprogramm. Dabei wird das Knie intensiv gebeugt und gestreckt, um eine Narbenbildung im Gelenk zu verhindern. Ich war nicht zu einer nennenswerten Beugung imstande. Daher stellte ich den Sattel meines Trimmrads weit nach oben und schrie während der ersten Umdrehungen vor Schmerzen. Selbst Oxycodon half nicht. Einen Monat später war mein Knie lila, extrem geschwollen, schrecklich steif und weigerte sich nach wie vor, beim Beugen mitzumachen. Es tat so weh, dass ich höchstens eine Stunde am Stück schlief – und immer wieder vor Schmerzen weinen musste. Wegen dieser Weinkrämpfe empfahl mein Orthopäde den Einsatz von Antidepressiva. Verrückt, nicht wahr? Doch dann empfahl der Chirurg eine intensivierte Physiotherapie, obwohl es mir nach jeder Sitzung schlechter ging. Ich konnte das Therapiezentrum kaum verlassen oder mich ins Auto setzen, um nach Hause zu fahren. Die schrecklichen Schmerzen, die Schwellung und die Steifigkeit blieben beharrlich. Ich suchte verzweifelt nach Erlösung: Akupunktur, Elektroakupunktur, Kaltlaser-Therapie, elektrische Stimulation (TENS), topische Salben und Nahrungsergänzungsmittel wie Kurkumin, Sauerkirsche und viele mehr. Dabei war ich mir völlig im Klaren darüber, dass keines dieser Mittel einen in Studien nachgewiesenen Effekt hat.
Meine Frau unterstützte mich die ganze Zeit und stieß zwei Monate nach der OP auf ein Buch mit dem Titel Arthrofibrosis (Gelenkversteifung). Der Begriff war mir nicht geläufig, aber genau daran litt ich. Eine Gelenkversteifung oder Arthrofibrose ist eine Komplikation, die in zwei bis drei Prozent der Fälle nach einem Knieersatz auftritt. Damit ist sie zwar ein seltener Umstand, aber immer noch häufiger als das Infektionsrisiko, vor dem mein Orthopäde gewarnt hatte. Schon auf der ersten Seite beschreibt das Buch meinen Fall kurz und knapp: »Arthrofibrose ist eine Katastrophe«, so heißt es dort. Genauer erklärt handelt es sich bei der Arthrofibrose um eine bösartige Entzündungsreaktion nach einem Knieersatz – zum Beispiel die Abstoßung eines künstlichen Kniegelenks, was zu einer heftigen Narbenbildung führt. Also fragte ich meinen Orthopäden bei der Kontrolluntersuchung nach zwei Monaten, ob ich wohl an Arthrofibrose leide. Er bestätigte mir das ohne Umschweife und fügte hinzu, dass er im ersten Jahr nach der OP nur wenig für mich tun könne. Man müsse der Entzündung ihren Lauf lassen, bevor er später das Narbengewebe entfernen könne. Schon bei dem Gedanken, dass ich ein ganzes Jahr so weitermachen oder mich einer weiteren Operation unterziehen müsse, wurde mir schlecht.
Ein Freund riet mir dann dazu, eine andere Physiotherapeutin aufzusuchen. In ihrer vierzigjährigen Praxis hatte sie bereits viele Patienten mit Osteochondrosis dissecans erlebt und wusste, dass die übliche Physiotherapie für Patienten wie mich der schlechteste Ansatz überhaupt ist. Anstelle einer starken, erzwungenen Bewegung für maximales Beugen und Strecken des Knies (das in diesem Fall zu vermehrter Narbenbildung führte), ging sie die Sache langsam und vorsichtig an. Zuerst wurde mir aufgetragen, nicht mehr mit Gewichten zu arbeiten und auch die Übungen einzustellen. Vielmehr sollte ich Entzündungshemmer einsetzen. Sie notierte handschriftlich ihre Anweisungen für mich und schrieb mir jeden zweiten Tag eine SMS, um sich nach dem Befinden »unseres Knies« zu erkundigen. Das war meine Rettung, und schon bald befand ich mich auf dem Weg der Genesung. Noch heute, Jahre später, muss ich täglich Kniebandagen anbringen, weil mein Knie so schlecht heilt. Einen Großteil dieser Qualen hätte ich mir ersparen können.
Wie Sie in diesem Buch erfahren werden, hätte Künstliche Intelligenz (KI) vorhersagen können, dass nach meiner OP mit Schwierigkeiten zu rechnen gewesen wäre. Eine umfassende Nachforschung in der medizinischen Literatur – sofern denn Physiotherapeutinnen wie die meine ihre Erkenntnisse geteilt hätten – hätte vermutlich gezeigt, dass bei mir eine abweichende, maßgeschneiderte Physiotherapie nötig war. Doch nicht nur Mediziner würden von einem umfassenderen Wissen hinsichtlich der Risiken für ihre Patienten profitieren. Auch für die Patienten selbst wäre ein virtueller medizinischer Assistent auf dem Smartphone oder in den eigenen vier Wänden nützlich, der sie vor dem hohen Risiko einer Arthrofibrose im Rahmen der üblichen Physiotherapie warnt. Ein solcher Assistent könnte mir sogar Ansprechpartner für eine sanfte Rehabilitation nennen und so machen Sorgen vorbeugen. Doch leider war mir die Gefahr nicht bekannt, und mein Orthopäde hatte die Osteochondrosis dissecans in meiner Krankengeschichte bei der Risikoabschätzung überhaupt nicht in Betracht gezogen – obwohl er später bestätigte, dass sie wesentlich zu meinen schwerwiegenden Problemen beigetragen hatte.
Vieles, was im Gesundheitswesen schief läuft, lässt sich nicht durch moderne Technologien, Algorithmen oder Maschinen beheben. Die roboterhafte Antwort meines Arztes auf meine Verzweiflung ist stellvertretend für diesen Mangel bei der Behandlung. Gewiss war die Operation fachmännisch ausgeführt worden – aber das ist nur Technik. Der Gedanke, Medikamente gegen Depressionen zu verschreiben, zeigt deutlich den Mangel an menschlicher Verbundenheit und Empathie, der im medizinischen Sektor heute vorherrscht. Natürlich war ich deprimiert, aber diese Depression war nicht die Wurzel des Übels: Mein Problem waren die starken Schmerzen und die an den Blechmann aus dem Zauberer von Oz erinnernde Beweglichkeit. Das fehlende Mitgefühl des Orthopäden war greifbar. In all den Monaten nach dem Eingriff hat er mich nicht einmal kontaktiert, um zu erfahren, wie es mir geht. Die Physiotherapeutin dagegen verfügte nicht nur über das medizinische Fachwissen und die Erfahrung, um meinen Zustand zu erkennen, sondern war auch wirklich um mich besorgt. Kein Wunder, dass wir in Amerika unter einer Opioidkrise leiden, wenn es doch für Ärzte so viel einfacher ist, Medikamente zu verschreiben als den Patienten zuzuhören und Verständnis für sie aufzubringen.
Nahezu jeder Mensch mit einer chronischen Erkrankung musste das schon am eigenen Leib erfahren. Zum Glück für mich bin ich Teil des medizinischen Systems. Aber wie Sie gelesen haben, ist das Problem so allgegenwärtig, dass selbst Insider nicht genug wissen, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Künstliche Intelligenz allein wird das Problem auch nicht lösen. Dazu bedarf es schon menschlicher Eingriffe. Wenn Maschinen intelligenter werden und uns so manche Aufgabe abnehmen, finden die Menschen vielleicht die Zeit dafür, wieder menschlich zu sein.
Die KI in der Medizin ist keine Zukunftsmusik. Bereits jetzt rettet sie Leben. Ein enger Freund, Dr. Stephen Kingsmore, ist medizinischer Genetiker und leitet ein wegweisendes Programm am Rady Children‘s Hospital in San Diego. Kürzlich erzielten sein Team und er einen Guinness World Record für die vollständige Sequenzierung und Analyse eines Genoms aus einer Blutprobe binnen 19,5 Stunden.1
Vor einer Weile wurde dort ein gesunder Junge mit seiner stillenden Mutter drei Tage nach der Geburt entlassen. Doch an seinem achten Lebenstag kam die Mutter mit ihm in die Notaufnahme des Rady‘s. Er hatte ständig Krampfanfälle, auch Status epilepticus genannt. Doch von einer Infektion keine Spur. Eine Computertomografie zeigte keine Besonderheiten des Gehirns, im Elektroenzephalogramm waren lediglich die unablässigen Anfälle sichtbar. Unzählige starke Medikamente brachten keine Linderung, sondern verstärkten die Anfälle noch. Hirnschäden und sogar der Tod waren zu befürchten.
Dann wurde eine Blutprobe zur schnellen Genomsequenzierung an das Rady‘s Genomic Institute übergeben. Die Sequenz umfasste 125 Gigabyte an Daten. Das Genom des Säuglings unterschied sich an nahezu 5 Millionen Stellen vom Standard. In nur 21 Sekunden verarbeitete eine als NLP (Natural Language Processing oder Verarbeitung natürlicher Sprache) bezeichnete KI die elektronische Krankenakte des Kindes und ermittelte 88 phänotypische Merkmale (das sind körperliche Veränderungen durch die Krankheit) – und damit mehr als zwanzig Mal so viele, wie die Ärzte notiert hatten. Machine-Learning-Algorithmen durchsuchten die etwa 5 Millionen genetischen Varianten in rasantem Tempo; das Ergebnis waren rund 700.000 seltene Varianten, von denen 962 als Krankheitsursachen bekannt sind. Unter Einbeziehung der phänotypischen Daten des Jungen schlug das System eine Variante im Gen ALDH7A1 als wahrscheinlichste Ursache vor. Diese Variante ist sehr selten und tritt bei weniger als 0,01 Prozent der Bevölkerung auf. Sie führt zu einer Stoffwechselstörung, die ihrerseits Krampfanfälle verursacht. Zum Glück lassen sich die Auswirkungen durch Gabe von Vitamin B6 und Arginin – eine Aminosäure – bei gleichzeitiger Beschränkung von Lysin – ebenfalls eine Aminosäure – eliminieren. Sobald diese Änderungen in seiner Ernährung umgesetzt waren, hörten die Anfälle schlagartig auf, und der Junge konnte nur 36 Stunden später nach Hause! Bei den Kontrolluntersuchungen war er völlig gesund, ohne jedes Anzeichen einer Hirnschädigung oder verzögerten geistigen Entwicklung.
Das Leben des Kindes konnte nur durch die Bestimmung der Hauptursache seiner Krankheit gerettet werden. Nur wenige Krankenhäuser weltweit sequenzieren das Genom kranker Neugeborener und setzen Künstliche Intelligenz ein, um die Informationen über den Patienten und das Genom miteinander zu verknüpfen. Gut möglich, dass sehr erfahrene Ärzte irgendwann die richtige Behandlung gefunden hätten. Doch Computer und Maschinen können diese Aufgabe sehr viel schneller und besser als Menschen erledigen.
Die Kombination aus den Anstrengungen und Fähigkeiten von Mensch und KI führen zu Synergien, von denen die Patienten und die Medizin profitieren. Bevor wir uns jedoch zu sehr in die Möglichkeiten der KI hineinsteigern, möchte ich von einem Erlebnis mit einem meiner Patienten berichten.
»Ich will diese Behandlung«, forderte mein Patient neulich bei einem Gespräch.
Der weißhaarige, blauäugige Siebzigjährige hatte im Laufe seines Lebens mehrere Firmen geführt und litt an einer seltenen und schweren Lungenerkrankung namens idiopathische Lungenfibrose (idiopathisch heißt bei Medizinern übrigens, dass die Ursache unbekannt ist). Es stand so schlimm, dass er und sein Pulmonologe für den Fall einer weiteren Verschlimmerung eine Lungentransplantation in Betracht zogen. Vor diesem Hintergrund kam ein neues Symptom hinzu: eine frühe Form der Fatigue (starke Erschöpfung), durch die er nicht mehr in der Lage war, um den Block zu laufen oder eine Bahn zu schwimmen. Sein Lungenarzt hatte Lungenfunktionstests durchgeführt, doch diese wiesen keine Veränderungen auf. Damit war ziemlich sicher, dass die Lunge nicht der Grund für den Erschöpfungszustand war.
Er besuchte mich in Begleitung seiner Frau; beide waren sehr besorgt und deprimiert. Er schleppte sich mühsam ins Behandlungszimmer. Seine Blässe und der resignierte Blick schockierten mich. Die Ehefrau bestätigte seine Beschreibung der Symptome: Seine Mobilität war stark eingeschränkt, ebenso die Bewältigung der täglichen Aktivitäten, von sportlicher Betätigung gar nicht zu sprechen.
Nachdem ich seine Vorgeschichte geprüft und ihn untersucht hatte, brachte ich die Möglichkeit einer Herzerkrankung ins Spiel. Einige Jahre zuvor hatte er beim Gehen Schmerzen in der Wade gehabt und erhielt einen Stent in der Hüftarterie des linken Beins. Ich vermutete eine mögliche Cholesterinansammlung in einer Herzkranzarterie, obwohl bis auf sein Alter und Geschlecht keine weiteren Risikofaktoren für eine Herzkrankheit präsent waren. Also verschrieb ich eine Computertomografie zur Kartierung seiner Arterien. Die rechte Herzkranzarterie wies eine 80-prozentige Verengung auf, doch die anderen beiden waren kaum betroffen. Das passte nicht zusammen. Tatsächlich trägt die rechte Herzkranzarterie nur unwesentlich zur Versorgung des Herzmuskels bei. In meinen 30 Jahren als Kardiologe (davon 20, in denen ich verengte Herzkranzgefäße öffnete), war mir noch kein Patient untergekommen, der an einer derartigen Erschöpfung litt, bei dem nur die rechte Arterie betroffen war.
Ich erklärte den beiden, dass die Sache für mich keinen Sinn ergab. Möglicherweise lagen zwei unzusammenhängende Diagnosen vor, und der Zustand der Arterie hatte nichts mit seiner Erschöpfung zu tun. Allerdings deutete die schwere Lungenerkrankung durchaus darauf hin, dass die Verengung eine Rolle spielte. Leider wuchs durch das Lungenproblem auch das Behandlungsrisiko.
Ich überließ die Entscheidung also ihm. Er dachte ein paar Tage nach und entschied sich dann für einen Stent in der rechten Herzkranzarterie. Ich war überrascht, denn lange Jahre hatte er sich gegen jegliche Behandlung und sogar Arzneimittel gesträubt. Interessanterweise fühlte er sich nach dem Eingriff viel kräftiger. Da der Stent über sein Handgelenk eingeführt worden war, konnte er schon wenige Stunden später nach Hause. Am selben Abend hatte er einen längeren Spaziergang hinter sich, und vor Ablauf einer Woche schwamm er bereits mehrere Bahnen. Er fühlte sich, so sagte er, stärker und besser als seit Jahren. Und noch Monate danach nahm seine Ausdauer zu.
Warum ich das erzähle? Nun, ein Computeralgorithmus hätte diese Diagnose nicht gestellt. Bei all dem Hype darüber, wie KI das Gesundheitswesen umkrempelt: Hätte man die KI mit der Krankenakte dieses Patienten und der gesamten medizinischen Literatur gefüttert, wäre sie nie zu dem Schluss gekommen, diesen Eingriff durchzuführen. Es gibt nämlich keine Hinweise darauf, dass ein Öffnen der rechten Herzkranzarterie Erschöpfungszustände mindert – und eine KI kann nur das lernen, was sie in den bereitgestellten Daten findet. Versicherungen, die Algorithmen bei der Prüfung einer Kostenübernahme einsetzen, hätten ziemlich sicher jede Erstattung abgelehnt.
Und doch ging es dem Patienten danach wesentlich und dauerhaft besser. War das eine Placebo-Reaktion? Das ist recht unwahrscheinlich. Ich kannte den Mann schon viele Jahre, und er spielt jede Änderung eines Gesundheitszustands – ob positiv oder negativ – herunter. Bei ihm kommt Begeisterung nur mit angezogener Handbremse vor, man könnte ihn fast als Griesgram bezeichnen. Er wäre der letzte Mensch, von dem ich eine so positive Reaktion auf ein Placebo erwarte.
In der Rückschau gibt es wahrscheinlich einen Zusammenhang mit der Lunge. Eine Lungenfibrose führt zu hohem Druck in den Lungenarterien, welche die Lunge mit Blut versorgen. In der Lunge wird das Blut dann mit Sauerstoff angereichert. Die rechte Herzkammer pumpt das Blut zur Lunge. Der hohe Blutdruck in den Arterien bedeutet, dass Blut unter hohem Kraftaufwand hinein transportiert werden muss. Dadurch wird die rechte Herzkammer stark belastet. Der Stent in der rechten Herzkranzarterie, die zur rechten Herzkammer führt, hat dann diese Last gemildert. Eine derart komplexe Interaktion des Blutkreislaufs einer Person mit einer seltenen Lungenerkrankung war in der medizinischen Literatur nicht belegt.
Der Fall mahnt uns, dass jeder von uns vielschichtig ist und niemals ganz und gar von einer Maschine verstanden werden kann. Gleichzeitig hebt er die Bedeutung der Menschlichkeit in der Heilkunde hervor: Uns als Ärzten ist schon lange klar, dass Patienten ihren Körper am besten kennen und wir deshalb gut zuhören sollten. Algorithmen sind kalte, unmenschliche Prognosewerkzeuge, die das menschliche Wesen nicht kennen können. Letztendlich hatte der Patient in diesem Fall das Gefühl, dass die Arterienverengung die Ursache war – und er hatte Recht. Ich war skeptisch und hätte mir das Ergebnis nicht ausmalen können. Natürlich habe ich mich sehr über die Besserung gefreut.
Die Künstliche Intelligenz hat sich langsam in den Alltag eingeschlichen. Sie ist bereits allgegenwärtig, von der Autokorrektur im Smartphone, den Empfehlungen auf Basis unseres Google-Suchverlaufs oder den gehörten Songs bis hin zu Alexa, die unsere Fragen beantwortet oder das Licht ausmacht. Die ersten KI-Konzepte entstanden vor mehr als 80 Jahren, der Begriff selbst wurde in den 1950ern geprägt, aber das wahre Potenzial im Gesundheitswesen gelangt erst neuerdings in unser Bewusstsein. Die Künstliche Intelligenz in der Heilkunde verspricht uns eine ganzheitliche Übersicht der medizinischen Daten einer Einzelperson, eine bessere Entscheidungsfindung, das Vermeiden von Fehldiagnosen und unnötigen Behandlungen, Hilfe beim Sortieren und Interpretieren geeigneter Untersuchungen und Behandlungsempfehlungen. All das ist auf der Grundlage von Daten möglich. Wir befinden uns mitten im Zeitalter von Big Data: Jedes Jahr fallen weltweit Zettabytes an Daten an – ein Zettabyte ist eine 1 mit 21 Nullen und entspricht einer Milliarde Terabytes. Damit ließen sich etwa eine Billion Smartphones füllen. In der Medizin nehmen große Datensätze die Form von Sequenzen des vollständigen Genoms, hochauflösenden Bildern und stetigen Werten tragbarer Sensoren, auch Wearables genannt, an. Und während die Daten unablässig strömen, werten wir doch nur einen winzigen Bruchteil davon aus. Schätzungen sprechen von maximal fünf Prozent oder noch weniger. Das ist so, als würde man sich in Schale werfen, ohne das Haus zu verlassen. Doch Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz erlauben uns, Herr der gewaltigen Datenmengen zu werden.
Das Feld der KI umfasst viele Teilgebiete. So gehören logistische Regression, Bayes-Netze, Random Forests, Support Vector Machines, Expertensysteme und viele andere Hilfsmittel für die Datenanalyse zum klassischen Machine Learning. Mit einem Bayes-Netz lassen sich Wahrscheinlichkeiten modellieren. Dieses Modell könnte für die Symptome einer Person eine Liste möglicher Diagnosen und der zugehörigen Wahrscheinlichkeiten ausgeben. Als wir in den 1990er Jahren Klassifikations- und Regressionsbäume erstellten, um den Daten eine Stimme zu verleihen und in der automatischen Analyse unseren Interpretationsbias außen vor zu lassen, nannten wir das witzigerweise noch nicht Machine Learning. Doch mittlerweile gibt es grundlegende Veränderungen bei dieser Art der Statistik, und sie wird sehr geschätzt. In den letzten Jahren finden sich AI-Tools auch in tiefen Netzmodellen, darunter im Deep Learning und im Reinforcement Learning (deutsch auch bestärkendes oder verstärkendes Lernen). In Kapitel 4 gehe ich näher darauf ein.
Deep Learning hat besonders seit 2012 Fahrt aufgenommen. Damals wurde ein heute zu den Klassikern gehörendes Paper zum Thema Bilderkennung veröffentlicht.2
Die Anzahl der neuen KI-Algorithmen und der Veröffentlichungen zum Thema Deep Learning ist quasi explodiert (Abbildung 1.1). Besonders das exponentielle Wachstum der maschinellen Mustererkennung in gewaltigen Datenmengen fällt auf. Die Entwicklung des KI-Trainings seit 2012 wird auch in der 300.000-fachen Zunahme der pro Tag verarbeiteten Petaflops deutlich. Ein Petaflop entspricht einer Verarbeitungsgeschwindigkeit von einer Billiarde (1015) Gleitkommaoperationen pro Sekunde (Abbildung 1.2).
In den letzten Jahren wurden mehrere Untersuchungen, die auf Deep Learning basieren, in führenden medizinischen Fachzeitschriften mit Peer Review veröffentlicht. Die medizinische Gemeinschaft war zu einem nicht geringen Teil von den Leistungen des Deep Learnings überrascht: So gibt es Untersuchungen, die behaupten, KI können bestimmte Arten von Hautkrebs ebenso gut oder vielleicht sogar besser als zertifizierte Hautärzte oder bestimmte Herzrhythmusstörungen besser als Kardiologen erkennen, medizinische Scans oder pathologische Präparate ebenso gut wie erfahrene und hochqualifizierte Radiologen oder Pathologen auswerten, verschiedene Augenkrankheiten ebenso gut wie Augenspezialisten diagnostizieren und Selbstmord besser als Experten für psychische Erkrankungen vorhersagen.
Abb. 1.1: Anzahl der KI-Algorithmen im Deep Learning seit dem Paper zur Bilderkennung im Jahr 2012. (Quellen: Bild A nach A. Mislove, »To Understand Digital Advertising, Study Its Algorithms«, Economist (2018): www.economist.com/science-and-technology/2018/03/22/to-understand-digital-advertising-study-its-algorithms. Bild B nach C. Mims, »Should Artificial Intelligence Copy the Human Brain?«, Wall Street Journal (2018): www.wsj.com/articles/should-artificial-intelligence-copy-the-human-brain-1533355265?mod=searchresults&page=1&pos=1.)
Abb. 1.2: Das exponentielle Wachstum (300.000-fach) in der Verarbeitung der größten KI-Trainingsläufe. (Quelle: nach D. Hernandez und D. Amodei, »AI and Compute«, OpenAI (2018): https://blog.openai.com/ai-and-compute/.)
All diese Fähigkeiten beruhen in erster Linie auf dem Erkennen von Mustern. Computer lernen diese Muster anhand von vielen Hunderttausend und bald vielleicht gar Millionen von Beispielen. Derartige Systeme sind immer besser geworden. Die Fehlerrate ist beim Lernen anhand text-, sprach- und bildbasierter Daten auf weit unter fünf Prozent gefallen und übertrifft damit den Menschen (Abbildung 1.3). Obschon es sicherlich eine Grenze gibt, an der kein weiterer Lernfortschritt mehr möglich ist, haben wir sie noch nicht erreicht. Anders als Menschen, die müde werden, einen schlechten Tag haben, emotional sein, an Schlafmangel leiden oder abgelenkt werden können, stehen Maschinen rund um die Uhr ohne Urlaub und Klagen zur Stelle. Einzig gewisse »Krankheiten« können auch Maschinen befallen ... Verständlicherweise kommt die Frage auf, welche Rolle Ärzte in der Zukunft noch spielen oder welche unvorhergesehenen Auswirkungen die KI auf den Arztberuf haben wird.
Ärzte in allen Bereichen übertreffen |
Das nicht Diagnostizierbare diagnostizieren |
Das Unbehandelbare behandeln |
Das Unsichtbare auf Scans und in Schichtpräparaten sehen |
Das Unvorhersehbare vorhersehen |
Das Unklassifizierbare klassifizieren |
Ineffizienzen in Abläufen eliminieren |
Stationäre Aufenthalte und Wiederaufnahmen verhindern |
Den Überdruss unnötiger Aufgaben eliminieren |
100-prozentige Einhaltung der medikamentösen Behandlung |
Keinerlei Schaden für Patienten |
Krebs heilen |
Ich glaube nicht, dass Deep Learning alle Probleme der modernen Medizin heilen kann. Die Liste in Tabelle 1.1 enthält aber eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten und Bereichen, in denen ein Nutzen der KI in Aussicht gestellt wurde und noch wird. Im Laufe der Zeit werden wir dank KI-Unterstützung in all diesen Bereichen Fortschritte machen. Aber es ist kein Sprint, sondern ein Marathon ohne feste Ziellinie.
Abb. 1.3: Die zunehmende Genauigkeit der KI bei der Bild- (A) und Sprachinterpretation (B) übertrifft in genau eingegrenzten Bereichen und für von Experten gelabelte Datenmengen die menschliche Leistung. (Quellen: Bild A nach V. Sze et al., »Efficient Processing of Deep Neural Networks: A Tutorial and Survey«, Proceedings of the IEEE (2017): 105(12), 2295–2329. Bild B nach »Performance Trends in AI«, WordPress-Blog (2018): https://srconstantin.wordpress.com/2017/01/28/performance-trends-in-ai/.)
Die Beispiele für Deep Learning sind eng begrenzt: Eine Vorhersage zur Depressionserkrankung kann keine hautärztlichen Diagnosen ersetzen. Diese Algorithmen neuronaler Netze sind auf erkennbare Muster angewiesen – hervorragend für bestimmte ärztliche Fachgruppen, die überwiegend mit bildgebenden Verfahren arbeiten, darunter Radiologen und ihre Scans oder Pathologen und ihre Präparate. Diese Gruppen nenne ich »Ärzte mit Mustern«. Praktisch alle Kliniker haben im Alltag bis zu einem gewissen, nicht unerheblichen Maß mit Mustern zu tun, sodass auch sie von KI-Algorithmen profitieren können.
Der Großteil der veröffentlichten Beispiele für Deep Learning bietet anders als prospektive klinische Studien an Menschen nur eine in silico (d.h. im Computer ablaufende) Validierung. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn die Untersuchung einer vorhandenen Datenmenge unterscheidet sich stark vom Datensammeln in einer echten klinischen Umgebung. Retrospektive in silico Ergebnisse stehen oft für das durch die rosarote Brille betrachtete Best-Case-Szenario und lassen sich bei einer vorausschauenden Bewertung nicht vollständig replizieren. Die Daten aus retrospektiven Studien eignen sich am besten zum Aufstellen einer Hypothese. Anschließend kann diese dann prospektiv getestet und gestützt werden, insbesondere bei unabhängiger Wiederholung.
Das Zeitalter der KI ist in der Medizin gerade erst angebrochen. Einige nennen es Silicon Valley-dation, da sich die Medizin so lange gegen den Einsatz künstlicher Intelligenz sträubte. Derart abweisende Haltungen sind in der Medizin nicht ungewöhnlich und sind für die Gemächlichkeit, mit der Änderungen ablaufen, verantwortlich. Das sieht man deutlich: Während in vielen Gebieten die auf der KI fußende vierte industrielle Revolution bereits im vollen Gange ist, hinkt die Medizin hinterher und steckt in der Anfangsphase der dritten Revolution fest – also beim verbreiteten Einsatz von Computern und Elektronik (Abbildung 1.4). Ein Beispiel: MP3-Dateien lassen sich heute praktisch auf jedem beliebigen Abspielgerät wiedergeben. Doch in der Medizin gibt es noch immer kein weit verbreitetes und anwenderfreundliches Format für elektronische Akten.
Abb. 1.4: Die vier industriellen Revolutionen. (Quelle: nach A. Murray, »CEOs: The Revolution Is Coming«, Fortune (2016): http://fortune.com/2016/03/08/davos-new-industrial-revolution.)
Ich weise hier nicht zum ersten Mal darauf hin, wie schwer sich die Medizin damit tut, neue Technologien zu nutzen. Dies ist bereits mein drittes Buch zur Zukunft der Medizin. In Creative Destruction of Medicine habe ich gezeigt, wie wir mithilfe von Sensoren, Sequenzierung, Bildgebung, Telemedizin und vielen anderen technologischen Chancen den Menschen digital erfassen und einen digitalen Wandel in der Medizin auslösen konnten. In The Patient Will See You Now habe ich Argumente dafür geliefert, wie die Medizin demokratischer werden kann. Ich habe die Behauptung aufgestellt, dass die Bevormundung mit der Zeit enden würde, da die Verbraucher und Patienten nicht einfach nur Informationslieferanten sind, sondern ihnen diese Daten auch gehören und sie einen weitaus umfassenderen Zugriff auf ihre medizinischen Daten erhalten würden und letztendlich (so sie sich dafür entscheiden) wesentlich mehr Verantwortung für ihr Wohlbefinden und ihre Betreuung übernehmen könnten.
Das vorliegende Buch steht für die nächste Phase, das dritte »D« nach Digitalisierung und Demokratisierung. Zugleich ist es auch das tiefgreifendste dieser drei. Welchen Eindruck Sie auch von meinem Interesse an neuen Technologien gewonnen haben mögen: Ich habe schon immer davon geträumt, mich für das so wichtige menschliche Element im Arztberuf einzusetzen und es zu fördern. Dieses dritte »D« des Deep Learnings stellt ein Gerüst zur Verfügung, an dem die medizinischen Wurzeln wachsen können: die Mensch-Mensch-Beziehung. Noch sind weder Digitalisierung noch Demokratisierung in der Medizin umgesetzt, aber es gibt langsame Fortschritte zu beobachten. Ich bin überzeugt davon, dass wir diesen Wandel vervollständigen und dabei die KI zu einem zentralen Bestandteil der Heilkunst machen werden. Den Höhenpunkt dieses Prozesses nenne ich Deep Medicine.
Deep Medicine selbst besteht aus drei Bausteinen mit dem D (Abbildung 1.5):
Abb. 1.5: Die drei Hauptkomponenten des Modells der Deep Medicine. (Quelle (linker Teil): nach E. Topol, »Individualized Medicine from Prewomb to Tomb«, Cell (2014): 157(1), 241–253.)
Zunächst ist da die Fähigkeit, jeden Einzelmenschen anhand aller relevanter Daten tiefgehend zu beschreiben, also die medizinische Essenz eines menschlichen Wesens zu digitalisieren. Zu diesen Daten können die medizinische, die soziale, die verhaltensbezogene und die familiäre Vorgeschichte gehören, aber auch die eigene Biologie: Anatomie, Physiologie und Umwelt. Unsere Biologie ist vielschichtig: DNS-Genom, RNS, Proteine, Metaboliten, Immunsystem, Mikrobiom, Epigenom und vieles mehr. In der biomedizinischen Forschergemeinde wird hier häufig der Begriff Deep Phenotyping oder tiefe Phänotypisierung verwendet. Ein Beispiel dafür haben Sie schon kennengelernt, den Säugling mit status epilepticus. Deep Phenotyping erstreckt sich über so viele Arten von Daten, wie Sie sich vorstellen können, und unser gesamtes Leben, denn viele der hierbei interessanten Kriterien sind dynamisch und ändern sich kontinuierlich. Vor ein paar Jahren habe ich geschrieben, dass wir medizinische Daten »von der Empfängnis bis zum Grab« (engl. from prewomb to tomb) benötigen.3 Ich denke, das verdeutlicht das Konzept komplexer raum-zeitlicher Daten eindrücklich.
Als Zweites ist da das Deep Learning, das eine große Rolle in der Zukunft der Medizin spielen wird. Es geht nicht nur um Mustererkennung und Machine Learning als Grundlage der Diagnose, sondern um viele weitere Anwendungen, darunter virtuelle medizinische Trainer, die uns Menschen dabei unterstützen, auf Gesundheit und Wohlbefinden zu achten. Im Krankenhaus werden mit maschinellem Sehen die Sicherheit der Patienten und die Qualität insgesamt optimiert. Letztendlich wird man auf Krankenzimmer verzichten können, weil die Überwachung in den eigenen vier Wänden stattfinden kann. Obwohl die Ergebnisse des Deep Learnings im Arztberuf erhebliches Potenzial haben und immer offenkundiger werden, stehen wir doch erst am Anfang. Vor nahezu fünfzig Jahren veröffentlichte William Schwartz im New England Journal of Medicine den Artikel Medicine and the Computer.4 Er spekulierte, dass Computer und Ärzte in Zukunft »häufig miteinander sprechen und der Computer durchweg Notizen zum Verlauf, zu den Ergebnissen der Untersuchungen, zu Labordaten usw. anlegt, den Arzt auf die wahrscheinlichsten Diagnosen hinweist und eine angemessene, sichere Behandlung empfiehlt«. Was haben wir fünfzig Jahre später vorzuweisen? Überraschenderweise kaum etwas. Gewiss gibt es Anekdoten darüber, wie eine Google-Suche bei einer komplizierten Diagnose geholfen hat, aber das einfache Nachschlagen von Symptomen wurde nicht als fundiertes Diagnosehilfsmittel bestätigt. Vielmehr führt dies häufig zu Ungewissheit, Angst und Cyberchondrie.
KENNZAHL |
1975 |
HEUTE |
---|---|---|
Arbeitsplätze im Gesundheitswesen |
4 Millionen |
> 16 Millionen (größter US-Wirtschaftszweig) |
Gesundheitsausgaben pro Person |
550 $/Jahr |
> 11.000 $/Jahr |
Zeit für Praxisbesuche |
60 min Erstbesuch, 30 min Kontrollbesuch |
12 min Erstbesuch, 7 min Kontrollbesuch |
Anteil Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt |
< 8 % |
18 % |
Tageskosten Krankenhausbett (Durchschnitt) |
ca. 100 $ |
4.600 $ |
Verschiedenes |
Nichts |
Abrechnungssystem für medizinische Leistungen (RVU), elektronische Krankenakte, Berechnungstools im Gesundheitswesen (IQWUG), Gesundheitswesen |
Man kann sich vorstellen, dass die KI die Medizin von all ihren Leiden erlösen wird, darunter ungenaue Diagnosen und ineffiziente Abläufe (zum Beispiel bei Abrechnung und Codierungen), aber bis jetzt ist noch nichts davon Realität. Für Unternehmer bietet sich eine außergewöhnliche Gelegenheit, um mit Klinikern, Computerwissenschaftlern und Forschern in anderen Disziplinen (wie Verhaltenswissenschaft und Bio-Ethik) zusammenzuarbeiten und so KI und Gesundheitswesen auf die richtige Art und Weise miteinander zu verweben.
Den dritten und wichtigsten Baustein nenne ich Deep Empathy, eine tiefe Empathie und ein Verständnis, eine Bindung zwischen Patient und Arzt. In den mehr als vier Jahrzehnten seit Beginn meines Medizinstudiums war ich Zeuge eines Rückgangs der menschlichen Facette in der Medizin (siehe auch Tabelle 1.2). In dieser Zeitspanne ist aus dem Gesundheitswesen nicht nur irgendein Big Business geworden, sondern Ende 2017 sogar das größte Business überhaupt. Es ist heute der größte Arbeitgeber Amerikas und hat sogar den Einzelhandel überflügelt. Die Gesundheitsausgaben sind in jeder Hinsicht explodiert. Und trotz der vielen Beschäftigten und der Pro-Kopf-Ausgaben haben Ärzte immer weniger Zeit für ihre Patienten – ob in der Praxis oder im Krankenhaus. Ärzte haben zu viel zu tun. Für völlig überzogene 5.000 Dollar pro Tag im Krankenhaus sieht man den Arzt nur ein paar Minuten lang – und auch die werden gesondert in Rechnung gestellt. Ärzte hatten so viel mit der Patientenbetreuung zu tun, dass sie die Veränderungen im Gesundheitswesen einfach ignoriert haben, darunter die Einführung elektronischer Krankenakten, Managed Care sowie die Organisation von Krankenkassen und Abrechnungssystemen. Mittlerweile leidet der bisher größte Anteil an Ärzten und Pflegekräften unter Burn-out und Depressionen, weil er sich nicht mehr richtig um die Patienten kümmern kann – obwohl das für viele der ausschlaggebende Punkt bei der Berufswahl war.
In der modernen Gesundheitsfürsorge mangelt es in erster Linie an Fürsorge. Uns Ärzten bleibt im Normalfall nicht genug Zeit, uns hinreichend um die Patienten zu kümmern. Und Patienten merken, dass es an Fürsorge ihnen gegenüber mangelt. Schon 1927 schrieb Francis Peabody: »The secret of the care of the patient is caring for the patient.«5 (Das Geheimnis der Fürsorge ist es, sich um den Patienten zu sorgen.) Die größte Gelegenheit, die die KI bietet, ist nicht eine Reduzierung von Fehlern oder der Arbeitslast oder ein Heilmittel gegen Krebs. Es ist die Gelegenheit, die kostbare und so sehr geschätzte Bindung und das Vertrauen zwischen Patienten und Ärzten – den menschlichen Kontakt – wiederzubeleben. Durch die miteinander verbrachte Zeit wäre eine sehr viel eingehendere Kommunikation und der Aufbau einer tieferen Beziehung möglich. Gleichzeitig könnten wir auf ganz neue Weise an die Auswahl und Ausbildung von Ärzten herangehen. Wir feiern »brillante« Doktoren seit Jahrzehnten. Doch mit dem Einzug der Maschinen schaffen wir für alle Kliniker die Grundlage für bessere Diagnosemöglichkeiten und einen umfassenden Fundus medizinischen Wissens. Im Laufe der Zeit werden alle Ärzte KI und Algorithmen im Arbeitsalltag nutzen. Indem wir das medizinische Wissen überall verbreiten, können wir uns einem neuen Mehrwert widmen: Der Suche nach und der Ausbildung von Ärzten, die sich durch besondere emotionale Intelligenz hervortun. Mein Freund und Kollege Abraham Verghese, den ich als einen der größten Humanisten in der Medizin schätze, hat diese so wichtigen Punkte im Vorwort dieses Buches bereits betont. Falls Sie es nicht sorgfältig gelesen haben, sollten Sie dies jetzt nachholen. Es fasst gut zusammen, welchen Nutzen Deep Medicine bietet.
Um den konzeptuellen Rahmen für Deep Medicine zu schaffen, möchte ich zuerst zeigen, wie die medizinische Praxis heute aussieht und warum wir dringend neue Lösungen für Probleme wie Fehldiagnosen, Fehler, schlechte Ergebnisse und aus dem Ruder laufenden Kosten benötigen. Dabei spielt auch die Art der Diagnosefindung eine Rolle. Um den Nutzen und die Risiken der KI besser zu verstehen, werde ich mit Ihnen Präzedenzfälle erkunden. Dazu befassen wir uns mit Spielen, aber auch mit selbstfahrenden Autos. Ebenso bedeutsam – wenn nicht sogar noch wichtiger – ist eine Untersuchung der Haftungsfragen rund um die KI: menschliche Vorurteile oder Neigungen, die mögliche Zementierung oder Verstärkung von Ungleichheiten, die Black-Box-Funktion und Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Sicherheit. Die Weitergabe von zig Millionen persönlichen Daten von Facebook an das Unternehmen Cambridge Analytica, das dann eine KI auf Einzelpersonen ansetzte, führt uns deutlich vor Augen, was hier schieflaufen kann.
Anschließend können wir uns der neuen Medizin widmen, die sich die KI zunutze macht. Wir untersuchen, wie die Mustererkennung die Arbeit von Radiologen, Pathologen und Dermatologen verändern wird, also der Ärzte mit Mustern. Doch die KI wird sich auf alle medizinischen Disziplinen auswirken, »Kliniker ohne Muster