Stephan Fölske
Fluch der Träume 2
Weltenbrand
Roman
Gewidmet allen, die ihr Leben oder ihre körperliche und geistige Unversehrtheit in den Kriegen der Menschheitsgeschichte opfern mussten, damit ein paar wenige machtbesessene und verwirrte Dummköpfe ihren Willen durchsetzen oder einem Irrglauben folgen konnten.
Den Hinterbliebenen, Geschändeten und Traumatisierten dieser Kriege sollte ebenfalls ein Denkmal gesetzt werden.Bitte lernt aus der Geschichte und begreift endlich, dass Krieg keine Lösung sein kann, denn jede Seite verliert nur!
Kapitel 1
Es regnete, seine Füße begannen im Matsch zu versinken. Er hörte nichts, alles um ihn herum nahm er nur schemenhaft wahr. Lediglich den Soldaten in der blauen, schlammbefleckten Uniform sah er, der mit aufgerissenem Mund und erhobenem Gewehr auf ihn zu rannte. Den Schrei hörte er nicht, wie er auch sonst nichts hörte, und dann sah er dem jungen Soldaten in die aufgerissenen Augen. Plötzlich ging alles ganz schnell! Er riss sein Gewehr hoch und drückte ab. Kein Rückstoß, kein Rauch aus der Mündung – das Magazin war leer. Im letzten Moment konnte er gegen das auf ihn gerichtete und immer näherkommende Gewehr schlagen, doch es war zu spät. Ein gellender Schmerz durchfuhr ihn, als das Bajonett in seine linke Schulter eindrang und hinten wieder austrat. Durch die Wucht des Aufpralls wurde er ein Stück aus dem schlammigen Boden gehoben, kippte nach hinten über und traf hart mit dem Rücken auf. Schmerz, überall nur Schmerz! Dann nahm er den Soldaten erneut wahr, wie er versuchte, das in seiner Schulter steckende Gewehr herauszuziehen. „Wenn es ihm gelingt, ist es aus mit mir!“, dachte er und griff mit der rechten Hand zur Seite, in der Hoffnung, etwas zu finden, das ihm helfen würde, sich zu verteidigen. Aber da war nichts außer Schlamm, Blut und Tote. Mit letzter Kraft griff er nach dem Lauf des Gewehrs, umklammerte es und wollte es nie wieder loslassen. Die Schmerzen waren vergessen, sein Herz raste, aber es war noch immer still. Dann spürte er, wie die Kugel aus dem Lauf der abgefeuerten Waffe seine Schulter durchschlug. Es war, als würde seine linke Seite explodieren und er ließ los, denn sein Bewusstsein wollte schwinden und ihn zurücklassen. Raus aus dem Graben, raus aus dem Krieg, einfach nur weg, und wenn es der Himmel sein müsste, der grau verhangen und mit seinen geöffneten Schleusen der einzige Ort zu sein schien, der ein wenig Frieden versprach. Mit letzter Kraft dreht er den Kopf und schaute dem Franzosen erneut in die Augen. Er sah nur diese aufgerissenen Augen, den geöffneten Mund und spürte den Zug des Bajonetts, das sich in seiner zerfetzten Schulter langsam zu bewegen schien.
Und dann, als er dachte, dass all das Elend vorbei sei, erstarb die Bewegung des Franzosen, der nun stand, nicht mehr auf ihn herabschaute, sondern auf das aus seinem Bauch austretende Bajonett blickte, das eine Wunde gerissen hatte, deren Blut sich mit dem Regen vermischte und einen Bach aus Lebenssaft auf den Boden tropfen ließ. Sein Bauch wurde komplett zerfetzt, als die Kugel ebenfalls austrat. Der französische Soldat sackte auf die Knie, schloss den Mund, starrte den am Boden Liegenden an und kippte vornüber, sodass sein Kopf mit dem Helm auf der Brust des Verletzten zu liegen kam.
Flocke schoss aus dem Bett und war schweißgebadet. „Oh mein Gott!“, rief er und griff sich an die linke Schulter, aber da war alles in Ordnung. Er tastete mehrfach und prüfte, fand jedoch keine Verletzung. Sein Atem ging schnell, und sein Herz raste, sein ganzer Körper schien ein einziger Krampf zu sein, und dann fiel er nach hinten über und verlor das Bewusstsein. Als er erneut erwachte, war es draußen hell und er hörte die Vögel zwitschern. Die Welt schien wie immer zu sein, und seine Schulter war es auch. Muskelkater machte sich in seinem Körper breit und er begann zu weinen, denn das, was er erlebt hatte, war schrecklich! Michael hatte ihm vor einigen Tagen mitgeteilt, dass er einen Traum gehabt hatte, der ihn einfach überfallen hatte und erneut so realistisch gewesen war wie die Geschehnisse um Höß, Auschwitz und die Gräueltaten. Flocke hatte dem fast keinen Glauben schenken können, denn seit einer gefühlten Ewigkeit war alles in Ordnung gewesen und sein Leben oder, besser gesagt, sein Schlaf war normal und entspannend verlaufen. Gut, es hatte da mal den einen oder anderen Albtraum gegeben, aber der war eher dem übermäßigen Käsekonsum geschuldet gewesen. Das hatte er zumindest geglaubt. „Ausgerechnet dieses Wochenende hat Anja Nachtschicht!“, sagte er schmollend zu sich selbst, als er neben sich schaute.
Er sprang auf, rannte nackt durch seine Wohnung und griff zum Telefon. Er wollte Michael unbedingt anrufen und ihm von seinem Erlebnis erzählen. Er war so nervös, dass er es fast nicht schaffte, die Nummer zu wählen.
„Hey Flocke, was ist denn mit dir los? Aus dem Bett gefallen? Ist doch gerade erst 9, und das entspricht doch wirklich nicht...“
„Mensch Alter, halt die Luft an, ich muss dir was erzählen!“, brüllte Flocke förmlich ins Telefon. „Äh, ja, was denn? Ist was passiert? Mit Anja?“
„Nein, nein, alles gut, aber ich hatte heute Nacht einen Traum, und der hat mich total ausgeknockt!“
„Was? Wie jetzt? Du auch?“, Michaels Stimme klang verängstigt und besorgt zugleich.
„Ja, es war so schrecklich! Ich war Soldat im Krieg und wurde verletzt und….“, aus Flocke sprudelte es nur so und er berichtete alles in jeder Einzelheit. Er konnte sich an alles erinnern.
„Auweia, das klingt wirklich fies! Aber kannst du dich an weitere Umstände erinnern? Oder, ich denke, du schreibst es am besten wirklich einmal auf. Derzeit ist es sehr nebulös.“
„Oh, der Herr spricht aber mit schönen Worten. Kaum bist du mit einer Frau zusammen, wirst du Etepetete, oder?“ Flocke musste lachen und Michael stimmte ein.
„Ach Flocke, ich fand, es klang gut, und außerdem, wenn ich gesagt hätte, dass alles verschlammt sei, hättest du es nicht verstanden und ich wohl auch nicht.“ Michael lachte erneut.
„Du beginnst mir unheimlich zu werden. Aber du hast Recht, ich werde mal sehen, dass ich das zu Papier bringe und dann sollten wir unbedingt schauen, was in der nächsten Zeit passiert. Aber Eines sag‘ ich dir: Das war so heftig, dass ich ohnmächtig geworden bin.“
„Tja, scheint eine andere Qualität angenommen zu haben, warum auch immer. Aber Stichwort Zeit. Eine Uhr hattest du nicht, oder?“
„Nein, keine Uhr, nur Tod, Schlamm und Schmerzen. Und Soldaten, mehr kann ich auch nicht sagen.“
„Wir schauen mal, oder? Bleib unbedingt locker, nicht, dass du mir noch ins Koma fällst.“
„Ey, ich doch nicht! Freunde dürfen mich auch gerne F-locker nennen und außerdem habe ich doch eine Krankenschwester an meiner Seite.“
Michael lachte auf! „Wie gut, dass ich nicht dein Freund bin und dich noch Flocke nennen darf und, ja, Anja kann auf dich achten.“
„Wenn sie nicht Nachtschicht, Wochenenddienst oder Überstunden machen muss.“
„Armer Mann, ich bedaure dich, wenn ich mal Zeit habe. Was soll ich denn sagen? Mel ist beruflich auch viel unterwegs. Komme mir schon ganz verlassen vor.“
„Och, komm schon, du bist doch gerne mal alleine, oder etwa doch nicht mehr?“
„Nö, ach doch, ich bin ganz zufrieden, und die Zeit, die wir verbringen, ist umso intensiver! Außerdem kann ich an meinem Buch arbeiten.“
„Mensch Alter, erspar mit aber die intensiven Einzelheiten. Das mit dem Buch finde ich übrigens total klasse, so kannst du den Kram vernünftig aufarbeiten.“
„Das stimmt, und entschuldige, aber ich muss jetzt los, denn ich muss Mel vom Bahnhof abholen.“
„Alles klar, wir telefonieren oder texten, und demnächst gehen wir mal wieder auf Tour. Grüß die Polizei von mir, wenn sie dich in Handschellen vernascht.“
„Ferkel!“, lachte Michael, „ich dachte, keine Einzelheiten. Bis dahin.“
„Kennst mich doch, mach‘s gut Alter.“ Daraufhin beendeten die beiden ihr Gespräch, und Flocke verspürte den Drang, auf die Uhr zu schauen, dachte aber nicht weiter darüber nach und wollte duschen, da er noch nackt war.
Eine gute halbe Stunde später saß er nur mit einem Handtuch bekleidet in der Küche, einen Becher Kaffee und einen Haufen Blätter vor sich, und schrieb seine Erlebnisse auf. Da hörte er, wie sich die Wohnungstür öffnete. Er stand auf und ging mit den Worten „Horch, wer kommt von draußen rein, kann doch nur mein Engel sein“ seiner Freundin entgegen, die ihn entgeistert ansah.
„Was ist? Als wenn du mich noch nicht mit nacktem Oberkörper gesehen hättest“, grinste Flocke breit und wollte gerade auf sie zugehen und sie in den Arm nehmen, als sie sich aus ihrer Erstarrung löste. „Was hast du denn mit deiner Schulter gemacht? Die ist ja grün und blau. Bist du gestürzt? Lass mal sehen, dass muss doch höllisch schmerzen.“
„Was? Wie? Habe keine Schmerzen und bin auch nicht gestürzt. Komm in die Küche! Kaffee!“ Aber dann sah er, was Anja meinte. Seine linke Schulter und der halbe Oberkörper sahen aus, als hätte ihn ein Auto überrollt. „Was ist das?“ erschrak er und tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand dagegen, aber es tat nicht weh. Er konnte den linken Arm ebenfalls ganz normal bewegen, und ansonsten fühlte er sich wunderbar und erfrischt, zumal seine geliebte Anja nun bei ihm war.
„Wie jetzt? Keine Schmerzen?“, fragte sie verwundert und tippte ebenfalls gegen die Verfärbung, die einem großen Hämatom glich. „Nope, tut nicht weh, kitzelt nur, und außerdem hast du kalte Finger“, lachte Flocke. „Aber das sieht fies aus“, fuhr er fort.
„Wir sollten mal zum Arzt gehen.“, sagte sie, „und, ja, mir ist auch kalt.“
„Aber heute ist Samstag und ich habe weder Schmerzen, noch bin ich eingeschränkt. Alles normal.“
„Ja, aber irgendwas muss da doch sein, und ich würde nicht unbedingt unterschreiben, dass du nicht eingeschränkt bist“, lachte sie, schaute aber dennoch besorgt drein. „Wollen wir nicht sonst eben in die Klinik?“
„Da, wo du die letzten zwei Tage und Nächte verbracht hast? Schon wieder Sehnsucht nach deiner Station?“
„Spinner! Nein, ich mache mir Sorgen, das ist sehr, äh, unschön und sieht nicht gesund aus. Darum sollte sich ein Arzt kümmern. Komm‘, zieh dir was an und wir fahren eben, bitte!“
„Wie soll ich deinem Blick widerstehen? Okay, hast gewonnen. Ich werfe mir eben was über und dann los, aber danach frühstücken wir und dann wird auf dem Sofa entspannt, gekuschelt und ferngesehen.“
„So machen wir es“, grinste sie, „du bist fast wie Raupe Nimmersatt.“
„Tja, wer jemanden wie dich zur Freundin hat, kann einfach nie genug bekommen.“
„Du Charmeur, und jetzt anziehen und los“, befahl sie mit einem Grinsen.
„Wenn eine Krankenschwester so anfängt, dann kann ich nur gehorchen. Geht gleich los, aber einen Kuss kannst du mir noch geben, nur nicht anfassen wegen der kalten Hände.“
„Du bist immer so freundlich zu mir“, lachte sie und gab ihm einen Kuss und dann legte sie ihre kalten Hände an seinen Bauch.
„Ihhhhhh …. das war gemein.“
„Los jetzt, sonst werde ich dich immer nur mit meinen eiskalten Händchen anfassen, auch an Stellen, die dann bestimmt ganz schnell ganz klein werden.“
„Du bist gemein.“
Daraufhin zog sich Flocke endlich etwas an, und dann fuhren sie zusammen in die Klinik. Anja machte sich große Sorgen, obwohl Flocke sich nichts anmerken ließ.
In der Klinik wurde allerdings keine Verletzung festgestellt, und der Arzt wirkte etwas ratlos, als er mit den beiden sprach, während Flocke sich anzog. „Also, ich kann keine Verletzung finden, die Werte sind normal, kein Schmerzempfinden, und auch sonst wirkt es in Ordnung.“ Dann schaute er auf seinen Rechner, murmelte „Röntgenbilder“ und fuhr dann fort. „Die Aufnahmen zeigen, dass Sie einmal eine schwere Verletzung in der linken Schulter hatten. Es gibt Spuren von einer Messer- und Schussverletzung, aber das kann man nur an den Knochen selbst sehen. Außerdem sind dort zwei Brüche zu erkennen, die allerdings wunderbar verheilt sind, und das muss ebenfalls viele Jahre her sein. Narben oder Verletzungen der Haut sind nicht festzustellen. Da ist nichts.“
„Wie jetzt?“, fragte Flocke verwirrt, „ich hatte noch nie eine Verletzung, einen Bruch oder sonst etwas in der Schulter! Und angeschossen wurde ich erst recht nicht.“
„So sieht das aber hier aus. Ich würde vorschlagen, ich bespreche mich mit meiner Kollegin, die kann vielleicht auch etwas dazu sagen.“
Anja und Flocke schauten sich an, und er hob die Schultern, als wolle er sagen „keine Ahnung.“
„Das wäre prima. Vielleicht hat die Ärztin eine Idee“, sagte Anja und versuchte Flocke zu beruhigen, der nunmehr nervös auf seinem Stuhl herumrutschte.
„Ja. Hauptsache, wir kommen schnell wieder nach Hause. Mir geht es gut. Sofa, Fernseher und Gemütlichkeit. Das ist das, was ich will!“, nörgelte Flocke.
„Okay, dann hole ich sie eben. Vielleicht machen Sie Ihren Oberkörper noch einmal frei.“
„Anziehen, ausziehen.... Aber, wenn die Ärztin gut aussieht, dann… aua.“ Anja boxte Flocke in die Seite. „War doch nur Spaß!“, lachte er und zog sich das T-Shirt über den Kopf.
Weitere ungezählte Stunden später durften die beiden nach Hause. Die Ärztin war ebenfalls sehr überrascht gewesen und hatte Flocke untersucht, wie bereits der Kollege zuvor, jedoch ebenfalls nichts gefunden. „Wenn es sich verändert, dann kommen Sie sofort wieder“, hatte sie in einem ernsten Ton den beiden mit auf den Weg gegeben, als sie sich verabschiedet hatten. Auf dem Weg nach Hause grummelte Flocke „So kann man den Samstag auch verbringen.“
„Habe mir halt Sorgen gemacht. Und Zeit haben wir doch auch noch, denn ich muss erst am Montag wieder zum Dienst. Vor allem kann ich schauen, ob ich dir nun nicht etwas Gutes tun kann“, sie lächelte und zwinkerte ihn dabei an.
„Das klingt natürlich verlockend“, lachte Flocke und fuhr ein wenig schneller, weil er es nun nicht mehr erwarten konnte, nach Hause zu kommen.
Michaels Tag verlief wesentlich entspannter. Melanie war leider dienstlich unterwegs, und er wollte sie in zwei Stunden vom Bahnhof holen. Ihr machte der Job halt Spaß, und es war auch irgendwie genau der richtige Beruf für sie. Es ging um diese Observationen und Undercover-Einsätze, die Michael manchmal doch etwas unheimlich waren, weil sie gefährlich waren und zugleich die beiden zeitlich voneinander trennten. Es gab manchmal viele Tage, an denen er seine Melanie nicht sehen konnte, ja nicht einmal Telefonieren war möglich, aber dafür genossen sie jede Sekunde, wenn sie zusammen waren.
Mit einem Becher Tee und ein paar Keksen hatte er vor seinem Rechner Platz genommen und überlegte, was er als Nächstes schreiben wollte. Es ging um Auschwitz, die Judenverfolgung und die verschiedenen Charaktere, die er und sein Freund Flocke in ihren Träumen erleben mussten. Noch heute lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er an diesen SS-Obersturmbannführer denken musste. Wie schrecklich widerlich dieser Mann auch gewesen war!
Heute wollte ihm aber nicht so recht etwas einfallen, denn der Bericht von Flocke sowie die Tatsache, dass sie nunmehr beide erneut von den Träumen überfallen wurden, beschäftigte ihn doch sehr stark.
Es regnete und der Boden war voller Schlamm, als er in den Graben sprang. Ja, er hatte es bis hierhin geschafft und das Niemandsland zwischen Gräben, Maschinengewehrsalven und Artilleriebeschuss überstanden. Viele seiner Kameraden waren auf der Strecke geblieben und von den Deutschen getötet worden. Doch darüber konnte er nicht nachdenken, denn es war Krieg und er musste kämpfen!
Der Lärm war fast unerträglich, überall schlugen Geschosse ein, und er rannte durch den Graben, immer darauf gefasst, den Feind zu entdecken, der an jeder Ecke und Windung lauern könnte. Und dann sah er einen und begann zu schreien und auf ihn zuzustürmen.
Der deutsche Soldat, der etwas benommen wirkte, starrte ihn an und riss sein Gewehr hoch. Jeden Moment könnte eine Kugel abgefeuert werden, doch nun war es, wie es war, und nichts passierte. Kein Schuss, kein Rauch, kein Schmerz und kein Tod. Der Deutsche hatte eine Ladehemmung oder keine Munition, und er hatte vergessen, sein Seitengewehr an seiner Waffe anzubringen.
Kurz, bevor er ihm sein Bajonett in den Leib stoßen konnte, schlug der Deutsche nach dem Lauf seiner Waffe, traf aber nicht richtig, und so bohrte er es in die Schulter des Feindes, der getroffen von der Wucht nach hinten überfiel. Nun stand er vor dem Gefallenen, der mit der rechten Hand nach etwas im Schlamm zu suchen schien und schließlich nach dem Lauf seines Gewehrs griff, als er es herausziehen wollte, um einen tödlichen Stoß auszuführen. Doch das verhinderte der Feind, dem er in die Augen starrte, und dann drückte er den Abzug durch. Ein Schuss löste sich aus der festgehaltenen Waffe, und der Deutsche ließ endlich los. Sein Blick wanderte in Richtung Himmel. Für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen, und dann zog er an seinem Gewehr und konnte es endlich langsam von dem Gegner am Boden ziehen, der ihm tief in die Augen schaute.
Und dann durchbohrte ihn etwas und ein reißender und unendlicher Schmerz durchfuhr ihn von einer auf die andere Sekunde. Es blitze vor seinem Bauch auf. Das Bajonett eines Feindes hatte ihn durchstoßen. Er starrte auf die Klinge, die zu funkeln schien. Er spürte keinen Schmerz und betrachtete fast neugierig den Fluss des Blutes, das mit Regen vermischt nach unten lief und auf den Schlamm tropfte. Dann hörte er den Knall und sah, wie ein Vulkan aus Blut, Knochen und Organen aus seinem Bauch ausbrach. Er schloss den Mund, sank auf die Knie und wusste, dass er seine Familie nun nicht mehr wiedersehen werden würde. Mit diesem Gedanken hauchte er sein Leben aus und kippte tot mit dem Kopf auf die Brust des am Boden liegenden Soldaten.
Michael konnte kaum atmen und es fühlte sich an, als würde sein Magen zerreißen. Ein unglaublicher Schmerz ließ ihn in der Realität ankommen. Er schrie, sank zusammen und weinte fürchterlich. „Oh mein Gott, das war so echt.“ Er fühlte sich schrecklich, und alles tat ihm weh. Da erinnerte er sich daran, dass Flocke von einem ähnlichen Erlebnis berichtet hatte. Langsam fing er sich wieder und schaute auf die Uhr, denn er wollte Melanie auf keinen Fall vergessen. Er stellte fest, dass er noch einen Moment Zeit hatte. So griff er zum Telefon und versuchte, Flocke zu erreichen, was ihm leider nicht gelang, denn scheinbar hatte er sein Gerät ausgeschaltet. „Na, dann will ich den mal nicht stören. Ich versuche es einfach später“, dachte er und begann trotz der Magenschmerzen, das Erlebte zu notieren. Als er damit fertig war, ging es ihm zwar seelisch, aber nicht körperlich besser, denn die Schmerzen wollten nicht abklingen. Deshalb beschloss er, eine Tablette einzuwerfen und vor allem einen Tee zu trinken. „Das hat mir gerade noch gefehlt. Melanie kommt nach Hause, und ich habe Magen und weiß noch nicht einmal, warum“, sagte er zu sich selbst und ging in die Küche. Nach dem Tee und der Tablette ging es allmählich, und er machte sich bereit, weil er zum Bahnhof musste. Langsam kam seine gute Laune wieder, und er war voller Vorfreude.
Eine gute Stunde später hatte er Melanie am Bahnhof eingesammelt. Das Wiedersehen war so wunderschön gewesen. Lange hatte sie sich umarmt und geküsst, auch, wenn sein Magen noch immer rebellierte. Von dem letzten Traum hatte er allerdings seiner Freundin noch nichts erzählt, denn sie sollte erst einmal ankommen. Sie würden sich bestimmt heute Abend darüber unterhalten können, aber vorher sollte sie natürlich von ihrer Arbeit erzählen. Zumindest von dem, was sie berichten durfte. Er fand es immer sehr spannend, mit was sie sich während des Dienstes beschäftigen musste oder durfte. Natürlich war er auch ein wenig eifersüchtig, weil sie vielfach so eng mit ihren Kollegen zusammen arbeitete und dann auch noch viel Zeit mit ihnen verbrachte, aber was sollte er tun? Er versuchte, dieses negative Gefühl nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Da die Schmerzen in seinem Bauch an Heftigkeit zunahmen, fuhr er rechts ran und sagte: „Hey Mel, ich habe fürchterliche Bauchschmerzen. Kannst du bitte fahren? Mir geht es nicht gut.“ Das war das Letzte, was er sagte, weil er dann ohnmächtig wurde.
Als er die Augen langsam öffnete, blickte er in das sorgenvolle Gesicht von Melanie, die ihn mit einem Lächeln der Erleichterung begrüßte. „Michael, schön, dass du wieder da bist“, flüsterte sie. Da realisierte er erst, dass er im Krankenhaus war, auf einem Bett lag und an einem Tropf mit Infusionsflüssigkeit hing. „Wie lange war ich denn weg?“, fragte er und versuchte sich aufzurichten. „Hey, ganz ruhig. Du wurdest vor vier Stunden eingeliefert und hast jetzt das Bewusstsein wiedererlangt.“
„Nein, wie, echt jetzt?“, fragte er verwirrt. Dann fiel ihm erst auf, dass er keine Schmerzen mehr hatte und es ihm eigentlich recht gut ging. „Mir geht es wieder gut, ich habe keine Schmerzen mehr, und eigentlich würde ich gerne nach Hause fahren.“
„Wie? Keine Schmerzen mehr? Aber dein Bauch und dein Rücken sehen aus, als wäre ein Lkw darüber gerollt. Total blau und grün! Was hast du denn bloß gemacht?“, sie lächelte aber bei dem Satz und Michael wusste, dass sie nur besorgt zu sein schien.
„Nichts, ich hatte heute Vormittag nur einen fiesen Traum und wurde, glaube ich, umgebracht. Also, aufgespießt und erschossen“, berichtete er mit ein wenig schlechtem Gewissen, weil er es ihr nicht gleich erzählt hatte.
„Oh mein Gott!“, sagte sie und nahm seine Hand, „die Ärzte wussten nicht, was mit dir los ist, denn deine Werte sind alle in Ordnung, und auch sieht es nur so aus, als wäre deine Haut verfärbt, es sind keine Verletzungen vorhanden.“
„Dann habe ich mich wohl schlecht am Bauch und Rücken gewaschen und es ist nur Dreck?“, lachte Michael, weil er diese gedrückte Stimmung überhaupt nicht mochte.
„Michael, du heißt nicht zufällig Flocke? Von ihm bin ich diese Sprüche gewohnt“, Melanie schaute ihn ernst an, aber dann kehrte das Lächeln zurück. „Und mit so einem Dreckspatz wäre ich ins Bett gegangen. Igitt!“ Sie lachte kurz auf, wurde dann wieder etwas ernster und sagte: „Beim Röntgen ist jedoch aufgefallen, dass du innere Verletzungen und Rippenbrüche gehabt haben musst. Alles sehr gut verheilt, aber man kann es noch erkennen. Der Arzt meinte, es wäre eine Stich- und Schussverletzung. Hast du mir da etwa was verheimlicht?“
„Äh, nein, ich wurde weder angeschossen, noch hat jemand auf mich eingestochen! Nur in meinem Traum heute Morgen war es so.“ Und da ging ihm ein Licht auf, „der französische Soldat wurde von einem Bajonett von hinten durch die Brust aufgespießt, und dann bekam er auch noch eine Kugel ab. Das war aber nur im Traum und ist nicht mir passiert!“
„Die Träume haben bisher doch nie solche Spuren hinterlassen?! Michael, jetzt halt dich fest! Der Arzt hat mir erzählt, dass er einen ähnlichen Fall heute Morgen hatte. Da sei ein Mann mit seiner Freundin erschienen, der an der Schulter ähnliche Verfärbungen hatte und ebenfalls einmal eine Schuss- und Stichverletzung erlitten haben müsse, weil das Röntgenbild darauf hinwies.“
„Das muss Flocke gewesen sein, denn der hat mich heute Morgen angerufen und mir von einem Traum erzählt, in dem ein Soldat an der Schulter verletzt worden ist. Verdammt, was ist denn bloß los? Ist Flocke auch noch im Krankenhaus?“
„Nein, dazu gab es keinen Anlass. Aber ich hole jetzt mal einen Arzt, und wenn es dir wirklich gut geht, dann schauen wir mal, okay?“, sie grinste und verließ das Zimmer, um kurze Zeit später mit einem Arzt zurückzukehren.
Da es Michael anscheinend sehr gut ging und er überhaupt keine Schmerzen mehr hatte, konnten die beiden gehen, und das taten sie auch. „Ich glaube, wir sollten heute Nacht das Licht auslassen, sonst habe ich das Gefühl, mit einem Zombie zu schlafen“, lachte Melanie, und Michael musste ebenfalls laut lachen.
„Aber wir sollten unbedingt mit Flocke sprechen, weil das Ganze schon sehr merkwürdig ist und wir unbedingt wissen müssen, warum dieser Mist erneut begonnen hat, und das vor allem mit einer neuen Qualität, die ich eher unschön finde“, bemerkte Michael.
„Das sollten wir auf jeden Fall, nur nicht mehr heute, ich denke, dass ihr beide genug Stress für einen Tag hattet, und ich möchte auch noch was von dir haben, wenn es gestattet ist“, grinste Melanie und gab ihm einen Kuss, als sie die Wohnung betraten.
„Och ja, das finde ich eine gute Idee! Aber ich glaube, ich koche uns erst was Schönes, und dann erzählst du mir in aller Ruhe von deinem Dienst der letzten Zeit, was meinste?“
„Och, ich darf also erst später mit dem Zombie kuscheln?“, grinste sie und fuhr fort: „Aber Essen ist eine gute Idee, wir sollten uns vorher noch ausgiebig stärken.“
„Ja, das auf jeden Fall, ich schaue mal, was ich für dich zaubern kann, und mir mache ich mal eine Portion Hirn“, lachte Michael.
„Mach doch einfach was mit Blumenkohl, dann haben wir beide was davon. Möchtest du auch ein Glas Wein? Dann öffne ich uns schon mal eine Flasche.“
„Gute Idee! Du Wein, ich Hirn, äh, Blumenkohl oder so.“
Er erwachte und konnte kaum wahrnehmen, was um ihn herum passierte. Ein Kamerad schaute ihm in die Augen und rollte den toten Franzosen von seiner Brust. „Hallo Kamerad, du lebst ja noch! Habe hier einen Verletzten!“, rief er und setzte den am Boden Liegenden auf, der vor Schmerz schrie. Als er mit dem Rücken an der Grabenwand lehnte, wurde sein Blick etwas klarer, und er nahm seine Umwelt erst jetzt wahr. Überall lagen Tote und abgerissene Körperteile. Der schlammige Grabenboden war rot statt, wie üblich, braun. Der Soldat, der ihn aufgerichtet hatte, legte seine Hand auf die unverletzte Schulter. „Ich habe keine Verbandpäckchen mehr. Hast du noch welche?“ Er begann ihn zu durchsuchen. Mehr als nicken konnte er nicht, aber sein Kamerad fand schnell, wonach er suchte und begann ihn zu verbinden. „Hat dich böse erwischt, aber das wird schon. Kannst wenigstens raus aus dem Graben. So, ich muss weiter, aber wenigstens haben wir den Angriff abgewehrt und die Stellung halten können. Alles Gute, Kamerad“, und damit stand er auf und ging weiter, dem Graben folgend. Langsam drohte er erneut das Bewusstsein zu verlieren, aber dann kamen tatsächlich zwei Sanitäter, zerrten ihn auf eine Trage und brachten ihn zum Verbandsplatz. Mit dem leiser werdenden Artilleriedonner begann er die Augen zu schließen und dämmerte weg.
Flocke erwachte, fühlte sich jedoch viel zu müde, um lange über den Traum nachzudenken und blickte zu Anja, die ruhig neben ihm schlief. Dann drehte er sich um und schlief alsbald auch wieder ein.
Er wurde wach, als er scheinbar abgelegt worden war, denn er vernahm Schreie, Stöhnen und Röcheln. „Der Verbandsplatz“, dachte er und drehte den Kopf nach links. Neben ihm lang ein armer Kerl, dessen Verbände bereits rot von frischem Blut waren, und bei jedem Atemzug, den er mit einem leisen Quietschen begleitet tat, lief erneut ein frisches Rinnsal aus seinem Mundwinkel. „Der macht‘s nicht mehr lange. Das arme Schwein wurde von mehreren Schrapnellen getroffen“, hörte er eine Stimme neben sich sagen und drehte den Kopf nach rechts. Dort lag, ziemlich nah, ein Kamerad. „Hey, kannst nicht sprechen, was?“, sagte dieser zu ihm und er versuchte es erst gar nicht. Alles war wie im Nebel, seine Ohren dröhnten und sein Kopf war leer. Dann sah er, wie ein Arzt durch die Reihen ging und jeden Verletzten kurz musterte. „Ach, nun werde ich sehen, ob ich noch Chancen habe“, dachte er.
Am nächsten Morgen, als er mit Anja beim Frühstück saß und ihr von seinem Traum der letzten Nacht erzählte, fügte er hinzu: „Scheint aber schon eine Form der Gewöhnung bei mir einzutreten. Ich wurde zwar wach, aber so richtig hat mich das nicht berührt. Diesmal war es wirklich mehr wie ein normaler Traum. Ich habe nichts gespürt, sondern war wirklich nur der stille Beobachter.“
„Es bleibt leider abzuwarten, wie sich dieses Mal die Geschichte und vor allem die Träume entwickeln, denn immerhin haben wir eine Steigerung zu den letzten Erlebnissen. Du musst unbedingt auf dich Acht geben, mache mir langsam Sorgen. Vor allem wissen wir nicht, wie wir diese Träume endlich beenden können!“, sagte Anja besorgt. Dann nahm sie Flocke in den Arm und küsste ihn. Ihm wurde erneut klar, welch ein Glück er hatte, weil er endlich eine Freundin hatte, und dann auch noch eine, die er wirklich liebte. „Ach du!“, er schaute sie an, drückte sie und wollte sie am liebsten nie wieder loslassen.
Kapitel 2
Es klingelte an der Tür. „Ich geh schon“, sagte Anja und griff zur Gegensprechanlage. „Ja?“
„Hey Anja, habt ihr mal Zeit?“, vernahm sie die Stimme von Melanie. „Na klar, kommt rauf“, sie betätigte den Türöffner und öffnete die Wohnungstür.
„Hallo! Kommt doch rein“, sagte sie und nahm die beiden nacheinander zur Begrüßung in den Arm. „Wir müssen leider stören, aber gestern war es doch sehr turbulent.“ Michael drückte Anja kurz.
„Wie jetzt? Bei euch auch? Was ist passiert?“, fragte Flocke, der nun ebenfalls im Flur stand und die Freunde begrüßte.
„Ja, wir waren gestern noch im Krankenhaus.“ Melanie blickte besorgt zu Michael. „Ja, war nicht so schlimm.“
„Mensch Alter, was machst du für Sachen? Anja hat mich gestern auch in die Klinik geschleppt. Aber nun kommt doch erst einmal rein, und wir setzen uns. Kaffee?“ Flocke lächelte.
Nachdem sie sich über das Erlebte ausgetauscht hatten, sahen sich die beiden Frau noch besorgter an. „Was passiert denn da? Vor allem wissen wir scheinbar nicht, wer, wo und wann es passiert ist.“
„Naja, das würde ich nicht so sagen“, meinte Flocke, „scheint auf jeden Fall an der Westfront im Ersten Weltkrieg gewesen zu sein.“
„Stimmt, dafür sprechen die Gegebenheiten und die Bajonette. Autsch, mir wird komisch, wenn ich an die Schmerzen denke, die der Traum ausgelöst hat.“
„Ja, vor allem, weil wir scheinbar verheilte Wunden haben“, mischte sich Michael ein. „Das mit der Zeit 14 bis 18 passt. Doch eine Uhr gab es nicht.“
„Oh, erst diese Qualen mit Auschwitz und nun Grabenkriege, denen ebenfalls ein Grauen innewohnt, das ich kaum beschreiben kann. Der Soldat, der ich war, hatte unbeschreibliche Angst und war wie in Trance bei dem Angriff. Völlig im Kampfmodus.“
„Ja, das habe ich ebenfalls so empfunden. Das war furchtbar! Ich glaube, wenn wir das nicht schnell lösen, habe ich ein Trauma“, grinste Michael. „Wenn ich nicht schon eines wegen dir habe, Flocke“, lachte er, um die Stimmung zu heben.
„Also, ich bin ernsthaft besorgt, Michael! Denn überleg doch einmal, welche Schmerzen du hattest, und vor allem, du warst bewusstlos“, sagte Anja, und Melanie nickte.
„Ja, das stimmt allerdings. Wenn es so weiter geht, sollte ich das Haus nicht verlassen. Zumindest nicht, wenn ich geträumt habe.“
„Verdammt Alter, das, was dir passiert ist, war viel heftiger als bei mir.“
„Ja, ich bin ja auch gestorben, oder, besser gesagt, der arme Kerl damals. Sehr unschön und so blutig.“ Michael schüttelte sich, als ob er das Grauen damit vergessen könnte.
„Wir sollten mit Verstand und Recherche an die Sache herangehen“, bemerkte Melanie und schaute dann Anja an. „Vielleicht sollten wir uns ein paar Tage freinehmen, denn ich finde das alles sehr bedrohlich, und unsere beiden Helden hier können wir nicht alleine lassen.“
„Hm, wir sind total unterbesetzt in der Klinik. Ich habe da ein schlechtes Gewissen, in beide Richtungen.“
„Ja, aber ich glaube, wir haben hier ein riesiges Problem. Versuch doch mal, was zu bewegen. Ich werde mich morgen auch bei meinem Vorgesetzten melden. Oder wir müssen sehen, ob wir uns irgendwie abwechseln. Vor allem sollten wir versuchen, etwas herauszufinden“, überlegte Melanie.
„Dafür ist aber noch zu wenig passiert. Wo sollen wir schauen?“ meinte Flocke.
„Vor allem hoffe ich, dass ich das nächste Mal nicht von einer Granate zerfetzt werde. Das könnte dann doch etwas heftig sein“, grinste Michael. „Zumindest lebt der Deutsche noch, und vielleicht ergeben sich daraus Informationen.“
„Das stimmt, mal sehen, vielleicht lerne ich ja eine süße Krankenschwester in der Vergangenheit kennen“, grinste Flocke.
„Ey, ich reiche dir nicht? Sowas aber auch, und dann habe ich noch ein schlechtes Gewissen. Ich glaube, ich werde dich nicht zusammenfegen, wenn du von einer Granate getroffen wirst“, maulte Anja.
„Och du, so war das nicht gemeint, aber wir können nun nicht nur Trübsal blasen und wie nasse Pudel hier herumsitzen.“
„Das wäre auch eine stinkige Angelegenheit. Nasser Hund. Igitt!“ Michael wedelte mit der Hand und grinste breit.
Nun mussten alle einfach mal loslachen, was scheinbar wirklich guttat, denn es lockerte die Stimmung auf.
„Und, was machen wir nun?“, fragte Flocke, „Ich würde mich an einem Sonntag noch ein wenig von meiner Krankenschwester pflegen lassen.“
„Hehe, das klingt gut“, meinte Michael und schaute Melanie an.
„Was schaust du mich so an? Ich bin beim BKA und keine Schwester.“
„Wie jetzt? Nee, so war das nicht gemeint, ich wollte nicht, dass Michael sich von Anja pflegen und verwöhnen lässt. Geht gar nicht!“, grinste Flocke, und Michael sagte: „Nicht? Ach so, na dann muss ich wohl mit der Polizistin Vorlieb nehmen. Aber das ist okay.“
„Äh, ich glaube, ich binde dich heute vor der Haustür draußen an, und dann kippe ich einen Eimer Wasser über dich. Dann haben wir den nassen Pudel draußen.“ Melanie lachte. „Und stimmt, wir sollten den Sonntag noch ein wenig in Ruhe genießen, wer weiß, was die nächsten Tage bringen. Also, Anja, du und ich versuchen ein paar Tage Urlaub zu nehmen, okay?“
„Okay, so machen wir es.“ Anja lächelte, und Flocke schaute sie dankbar an. „Das würdest du wirklich für mich tun? Oh, wie schön! Jetzt weiß ich mal wieder, warum ich dich liebe!“
„Weil du eine faule Flocke-Socke bist und jemanden brauchst, der dich betüdelt?“, lachte Michael und stand auf. „So, ich glaube, es ist an der Zeit.“
Melanie und er verließen die Wohnung und fuhren nach Hause, während sich Flocke und Anja einen gemütlichen Tag vor dem Fernseher machten.
„Du, Melanie“, sagte Michael während der Fahrt, „ich finde es wirklich toll von dir, dass du dir wegen mir freinehmen willst. Ich liebe dich dafür.“
Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Ist doch klar, mein Zombie.“ Dann lachten sie beide, und Michael war wirklich glücklich, dass Melanie und er ein Paar geworden waren. Es war alles so wunderbar.
Der Mann, der am Infostand der Bibliothek verweilte, schaute die ältere Dame hinter dem Tresen freundlich an und sagte dann: „Guten Tag, ist Simone da? Ich würde gerne mit ihr sprechen.“
„Oh, das tut mir leid, sie hat sich für ein paar Tage freigenommen“, erwiderte sie freundlich, „aber nächste Woche ist sie wieder da. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
„Nein, das können Sie leider nicht. Es handelt sich um eine private Angelegenheit, und ich dachte, ich könnte hier kurz mit ihr sprechen. Vielen Dank für die Auskunft.“ Er drehte sich um und wollte Richtung Ausgang gehen, als die Damen noch sagte: „Privatgespräche sind hier aber nur während der Pause gestattet.“
Der Mann blieb stehen und drehte sich langsam um, seine Augen blitzten auf, und er sagte mit einem schmalen Lächeln „Wunderbar, dass Sie mich darüber aufgeklärt haben, aber ich bin es nicht gewohnt, belehrt zu werden. An Ihrer Stelle würde ich mit Ihrem Pudel öfter mal vor die Tür gehen, die Nachbarschaft scheint es nicht leiden zu können, dass er tagsüber immer bellt und ich auch nicht.“
Die Frau erstarrte und blickte ihn ängstlich an. „Wo … Woher wissen Sie das? Das geht Sie nichts an.“ Er schaute sie noch immer mit diesem Lächeln an, zog dann die linke Augenbraue hoch und sagte: „Aber, aber, während der Dienstzeit sind Privatgespräche doch nicht gestattet, nicht wahr? Ich wollte lediglich einen gut gemeinten Rat geben. Auf Wiedersehen.“ Er drehte sich mit einem leisen Lachen um und verließ die Bibliothek. Die Frau hinter dem Tresen starrte ihm nach und musste sich erst einmal setzen.
Der Mann ging zum Parkplatz, auf dem sein Auto stand und stieg ein, nahm dann sein Handy und wählte eine Nummer. „Guten Tag, mein Name ist Gröber vom Verfassungsschutz, ich müsste Sie da in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Wir ermitteln in einer delikaten Sache, und ich brauche einige Auskünfte. Ja? ... Sicher doch ... Ich dachte, wir könnten das auf dem kleinen Dienstweg ... nein? ... ach ... hm ... Sie möchten also den offiziellen Dienstweg … ach … stimmt, da könnte ja jeder anrufen, nicht wahr? Sagen Sie, geht Ihre Tochter noch auf die Schule in der Bartoldistraße? Ach ... das ist nicht so wichtig, wollte Ihnen nur mitteilen, dass sie gefährlichen Umgang hat … und es wäre doch schade, wenn dem 16-jährigen Mädel was passieren würde, nicht wahr? … Wie ich darauf komme? ... Beobachtungen, mein Lieber, einfache Beobachtungen unserer Behörde … ja, nur ein gut gemeinter Rat ... aber Sie wollten doch den Dienstweg, das hatte ich ... Nein? Doch nicht, oh, Sie möchten kooperieren? … würde ich gerne zu Ihnen kommen und wir könnten das eben besprechen. Ja? Innerhalb der nächsten halben Stunde wäre ich dann bei Ihnen. Prima. Danke, zu freundlich.“
Mit einem Lächeln im Gesicht beendete er das Telefonat, startete zufrieden den Motor und fuhr los. „Brauche nur die Behörde zu wechseln, und schon kann ich noch immer als Gröber unterwegs sein“, lachte er, wurde dann aber sofort wieder ernst und beschleunigte den Wagen.
Simone hatte sich ein paar Tage freigenommen, weil sie die Trennung von ihrem Freund erst einmal verarbeiten musste. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, doch war ihr Freund in den letzten Monaten sehr komisch geworden. Natürlich, er war schon immer ein wenig merkwürdig gewesen, aber das hatte sie bisher immer wieder für sich entschuldigen können. Abgesehen davon war wohl einer der wichtigsten Schritte in ihrem Leben, sich von dem Mann, der sie in eine gewisse Abhängigkeit gebracht hatte, zu trennen, um ihre Unabhängigkeit zurückzuerlangen. Damals war es Liebe gewesen, denn er war charmant und überaus zuvorkommend, doch als Normalität Einzug gehalten hatte und sie begann, Zweifel zu hegen, hatte sich die Beziehung merkwürdig entwickelt.
Als er ihr dann auch noch erzählt hatte, dass er wegen der Uhr seines Großvaters eine längere Reise unternehmen wollte, beschloss sie, dass es nun der beste Zeitpunkt sei, ihr Leben endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sollte er doch all die Drohungen wahr machen, die er immer wieder geäußert hatte. Natürlich hatte er intime Informationen über sie, aber es war ihr mittlerweile fast schon egal, wenn er diese an die Öffentlichkeit weitergeben würde. Sie wollte endlich nicht mehr in Angst leben und ein normales Leben führen. Als sie dann auch noch Michael wieder getroffen hatte, den sie seit nunmehr 30 Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte ihr Entschluss festgestanden.
Am Abend, nach einem wunderschönen Nachmittag der Ruhe und Entspannung, lagen Melanie und Michael im Bett. Sie hatte sich an ihn gekuschelt, und er hatte seine Arme um sie gelegt. „Der Tag war schön“, sagte sie, „und wenn ich die nächste Zeit frei habe, machen wir es uns so richtig gemütlich.“
„Oh, das klingt gut. Dann haben die Träume wenigstens etwas Gutes“, lachte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie schaute ihn an und reichte ihm einen Becher mit Wasser. „Guten Morgen!“, sagte sie freundlich. Er schaute sie dankbar an, als er den Becher entgegennahm und gierig zu trinken begann. „Ganz ruhig, die Operation ist gut verlaufen, und Sie können nun hier im Krankenhaus wieder zu Kräften kommen. Keine Sorge, der Arm ist noch dran, und das mit Ihrer Schulter soll wohl auch wieder gut werden, sodass Sie in ein paar Wochen wieder an die Front können.“
„An die Front! Verdammte Front!“, dachte er, sagte aber nichts, sondern nickte nur leicht. „Danke! Wie heißen Sie?“, fragte er, als Sie ihm den Becher abgenommen hatte. „Ich bin Hilfsschwester, und mein Name ist Johanna.“
Er lächelte sie an und wollte sich aufsetzen, was einen unendlich heftigen Schmerz in seiner Schulter auslöste. „Am besten bleiben Sie noch ein wenig so liegen, und in ein paar Tagen schauen wir mal“, sie lächelte ihn an, „und wie heißen Sie?“
„Mein Name ist Richard. Vielen Dank.“ Er lächelte zurück. „So, Richard, nun muss ich weiter. Sie sollten sich nun ausruhen und versuchen, ein wenig zu schlafen“, sagte sie milde und verließ den Raum. Richard schloss die Augen und schlief fast sofort wieder ein.
Flocke riss die Augen auf und rief: „Richard! Er heißt Richard!“ Anja, die hochgeschreckt war, schaute ihn an und fragte: „Was? Wer? Alles gut bei dir?“ Flocke lächelte und sagte dann: „Der Deutsche heißt Richard, war im Lazarett und hat die Operation an der Schulter überstanden. Das ist doch ein Anhaltspunkt.“
„Ja, das stimmt, Flocke, aber wollen wir das nicht morgen besprechen? Es ist 2 Uhr nachts und ich bin hundemüde.“ Schon ein paar Sekunden später hörte Flocke ein leises Schnarchen. Er freute sich, dass er soeben etwas erfahren hatte, drehte sich um und schlief ebenfalls recht schnell wieder ein.
Mit einem Tablett, auf dem ein paar Becher mit Wasser standen, begann sie heute ihre Runde. Die Schwester hatte ihr aufgetragen, die frisch Operierten mit Wasser zu versorgen. Es war so toll, dass sie hier helfen konnte, denn sie hatte sich freiwillig als Hilfsschwester gemeldet, um ihren Beitrag zu diesem großen Krieg zu leisten. Sie betrat das Zimmer und schaute sich um, es lag derzeit nur ein Patient in dem Mehrbettzimmer. „Naja, dann werden die anderen im Laufe des Tages noch kommen“, dachte sie, nahm einen Becher und ging zu dem Soldaten, dessen Schulter komplett bandagiert war. Der Verband war frisch, und sie wusste, dass er erst gestern Morgen von der Front eingetroffen und dann sofort operiert worden war.
„Guten Morgen!“, sagte sie freundlich. Er schaute sie dankbar an, als er den Becher entgegennahm und gierig zu trinken begann. „Ganz ruhig, die Operation ist gut verlaufen, und Sie können nun hier im Krankenhaus wieder zu Kräften kommen. Keine Sorge, der Arm ist noch dran, und das mit Ihrer Schulter soll wohl auch wieder gut werden, sodass Sie in ein paar Wochen wieder an die Front können.“ Sie dachte, dass diese Worte ihn motivieren würden, schnell wieder gesund zu werden. In Deutschland hatte sie viel in den Zeitungen gelesen, wie gut die Deutschen vorankamen, und der Sieg schien nicht mehr weit zu sein. Für sie war das ein großes Abenteuer, und sie dachte, dass es dem Soldaten ebenso ginge.
„Danke! Wie heißen Sie?“, fragte er, als Sie ihm den Becher abgenommen hatte. „Ich bin Hilfsschwester, und mein Name ist Johanna.“
Melanie schlug die Augen auf, ihr Herz raste und sie kam erst langsam in der Realität an. Dann sprang sie förmlich aus dem Bett und sagte laut und nervös: „Michael, aufwachen. Ich hatte einen Traum!“
Er grunzte und schlug dann die Augen auf, „Hey, Süße, was ist denn? Habe nur was von Traum gehört.“ Sie knipste das Licht an, und Michael kniff die Augen zusammen. Dann begann sie: „Ich hatte einen Traum, so einen wie du und Flocke! Glaube ich, denn es war so realistisch. Ich habe alles gespürt, als wenn ich es wirklich selbst gewesen bin.“ Michael, der sich langsam an das Licht gewöhnt hatte und die Augen geöffnet hatte, schaute sie fragend an. „Wie jetzt, du auch? Drehen wir nun alle ab?“ Sie sprach weiter: „Ja, nein, ach, egal, es war so echt.“ Er richtete sich auf, verließ das Bett, ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Alles gut! Das ist wirklich verstörend, wenn es das erste Mal passiert. War es denn sehr schlimm?“
Sie erzählte ihm, was sie erlebt hatte, und er war glücklich, dass es relativ harmlos gewesen war. „Komm, versuch zu schlafen, es ist 2 Uhr nachts. „Oder soll ich dir einen Tee machen? Ja, ich mache dir mal einen Baldrian-Tee und du legst dich schon wieder hin. Ich bin gleich wieder da.“ Sie schaute ihn dankbar an, nahm ihn noch einmal in den Arm, drückte ihn ganz fest und legte sich ins Bett. Michael lächelte sie an und ging dann in die Küche, um Wasser zu kochen. Als er gerade den Tee aufgießen wollte, hörte er ein Schnarchen aus dem Schlafzimmer, und er atmete tief ein und aus, weil er sich freute, dass sie eingeschlafen war. Dennoch machte er den Tee fertig, stellte ihn neben ihr Bett und krabbelte dann seinerseits unter die Decke, machte das Licht aus, nahm sie in den Arm und schlief zufrieden ein.