RUDOLF MARIA BERGMANN
Reisereportagen aus zehn Jahren
IMPRESSUM
© / Copyright 2016 Rudolf Maria Bergmann
1. Auflage
Umschlaggestaltung, Illustration: Rudolf Maria Bergmann
Fotos © Rudolf Maria Bergmann. Fotos Centovallibahn © FART
ISBN e-Book:
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Die versammelten Texte erschienen in den Jahren von 1998 bis 2008 in überregionalen deutschen Zeitungen. Für dieses eBook wurden alle Texte vollständig überarbeitet und, wo nötig, in Teilen neu geschrieben oder inhaltlich aktualisiert.
Der Autor:
Journalist und Publizist, schreibt über Architektur, Kunst und Reisen. Zahlreiche Veröffentlichung, u.a. in: AIT, Baumeister, Bauwelt, Bayerische Staatszeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Goethe-Institut Inter Nationes, Häuser, kompass. Soldat in Kirche und Welt, Neue Zürcher Zeitung, Rheinischer Merkur, Der Tagesspiegel, Telepolis, Der Standard, Süddeutsche Zeitung, Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt. Verfasser von Baudokumentationen und Baumonografien, Kunstführern, kunstwissenschaftlichen Publikationen. Beiträge in Anthologien und Jahrbüchern, Sachbuchautor.
FÜR S.
INHALT
DURCH ÖSTERREICH.
INNVIERTEL
Kinderstube eines Kleinbürgers. Mutmaßungen über Braunau
TRAUNVIERTEL
Reich und geistreich. Im Benediktinerkloster Kremsmünster
KÄRNTEN
Kärnten verhüllt sich. Unterwegs zu den berühmten Fastentüchern
NIEDERÖSTERREICH
Die Quellen von Wien. Eine Wanderung an der ersten Wiener Hochquellenwasserleitung
NIEDERÖSTERREICH
Geschichten aus dem Wienerwald. Erkundungen in einer alten Sommerfrische
NIEDERÖSTERREICH
Zwischen Habsburgs Aufstieg und Untergang. Passagen im Marchfeld.
WIEN
Gemma bodn. Eine Reise durch die Geschichte der Wiener Sommerbäder
WIEN
Von Menschen, Blunzn und einer kommoden Religion. Einkehr auf dem Fastenmarkt in Hernals
Wien
Der Kenner stirbt im Mai. Allerheiligen auf dem Zentralfriedhof
IN DER SCHWEIZ.
ZÜRICH
Perlen bitte erst nach 18 Uhr. Eine Promenade durch die Kunstmuseen von Winterthur
NEUENBURG
„Dieses Land ist für mich bloß Exil und Reue“. Le Corbusiers Geburtsort La-Chaux-de-Fonds
GRAUBÜNDEN
Am Ende ist die Schweiz ein Kloster. Durch das Münstertal nach Müstair
TESSIN
Hundert Täler, hundert Brücken. Mit der Centovallibahn von Locarno nach Domodossola
TESSIN
Einmal um die ganze Welt. Ein Besuch auf den Brissago-Inseln im Lago Maggiore
TESSIN
Tod im Licht. Spaziergänge über Friedhöfe am Luganer See
DURCH ÖSTERREICH.
Es heißt, die erste Brücke über den Inn sei dort im Jahr 1260 geschlagen worden. Sie fiel dem großen Stadtbrand von 1380 zum Opfer. Die letzte Holzbrücke holte sich der Fluss im Januar 1880. Der Inn: mit ihm ist nicht zu spaßen. Er nobilitiert nicht die Orte, die er berührt, wie die Donau, die noch über den banalsten Platz ihren Mythos wirft. Dabei macht erst der Inn die Donau zum Strom. „Aenus“ nannten ihn die Römer respektvoll, den Schäumenden. Der Inn ist nirgends gefällig, nie einladend, keine Staustufe kann ihn vollständig zähmen. Dem Inn gehen die Walzer ab, die Bohemiens, die Literaten. Man kümmert sich kaum um ihn. Wer fährt schon nach Innsbruck, weil die Stadt am „grünen Inn“ liegt. Dabei brachte gerade der Inn als Handelsstraße den Anrainern neben Wohlstand auch Kultur: Die Städte am Inn sprechen eine homogene Architektursprache, über Herrschaftsverhältnisse und Zeiten hinweg. Womöglich wurde im Inntal zwischen Landeck und Passau die erste europäische Gewerbearchitektur formuliert. Erst als im vorletzten Jahrhundert Eisenbahn und Automobil kamen und der Wasserweg bedeutungslos wurde, zerfiel die Einheit und die Städte kippten aus der Zeit. Historische Bausubstanz verlotterte durch die Jahrzehnte, weil zum Abriss das Geld fehlte. Heute gehören die Städte am Inn zu den schönsten historischen Ensembles vor der Alpenkulisse. Und Braunau ist eines der prächtigsten Exempel.
Standortvorteile des 13. Jahrhunderts: Ein in den Fluss vorgeschobenen Felssporn, einfach zu befestigen und relativ leicht zu verteidigen, die Territorien der zänkischen Bischöfe von Salzburg und Passau ein gutes Stück entfernt. Ein idealer Platz, um die baierischen Gebiete rechts des Inn über eine Brücke anzubinden. Die Grenze in der Flussmitte wurde erst gezogen, als nach dem Tod des kinderlos gebliebenen bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph das Gebiet zwischen Inn, Salzach und Donau 1777 an Österreich fiel. Die Rückkehr ins Königreich Bayern von Napoleons Gnaden blieb Intermezzo; seit 1816 gehört das Innviertel zu Österreich. Man fühlte sich trotzdem weiter bayerisch; heute ist man allerdings gekränkt, wenn die Wiener das noch immer so sehen. Mit der Abtrennung des Innviertels gewann Simbach, der bayerische Brückenkopf, an Bedeutung, kam aber trotzdem aus Braunaus Schatten nie heraus. Weil die ordnende Hand der baierischen Herzöge fehlte, ringt Simbach bis heute um ein architektonisches Zentrum.
Braunau dagegen erhielt Privilegien, und die brachten viel Geld. Pflasterzoll und Brückenmaut, Salzhandel, Tuchmacherei, die Innschifffahrt, und ein Stapelrecht, das alle durchreisenden Kaufleute zum Feilbieten ihrer Waren zwang, machten die Stadt zum Handelszentrum des Innviertels. Die wittelsbacher Gründung steht ihr im Gesicht: Ein längs rechteckiger Stadtgrundriss, der gestreckte Straßenmarkt im Zentrum, die Kirche abseits. Alles drängt zum Markt hin, er ist der Mittelpunkt des urbanen Lebens, auf ihm wurden die Braunauer reich. Über die planerische Großzügigkeit der Baumeister kann man nur staunen: Fast fünfhundert Meter lang, über fünfzig Meter breit, lebt der Markt ganz von der gestaltenden Kraft der Leere. Seit das Brückentor niedergelegt wurde, wirkt alles noch imposanter. Häuser aus Jahrhunderten rücken durch die immer gleiche mehrgeschossige Bauweise zur Staffage zusammen. Zweckarchitektur durchaus, aber repräsentativ, und mit einem Anflug von Italien. Vielleicht macht das den Charme aller Innstädte aus.
Im 15. Jahrhundert waren die Braunauer so reich geworden, dass Geld für ihr Seelenheil übrig blieb. Ein Spital entstand und eine moderne Stadtpfarrkirche musste her. Für eine Kommune mit 1800 Einwohnern bemaß man den Bau großzügig. Man wollte vorsorgen, war doch das Verhältnis von Reichtum und ewiger Seligkeit ein delikates Problem. Bei der Höhe des Kirchturms war außerdem schnöde Eitelkeit im Spiel. Den Wiener Stephansdom zieht man gern zum Vergleich heran, aber die baierischen Braunauer wollten es wohl eher den Landshutern zeigen und ihrer prächtigen Kirche mit dem himmelhohen Turm.
An Repräsentationsbauten durfte man im 19. Jahrhundert nicht mehr denken. Die ehemals kurbaierische Stadt war nun ein Nest an der Grenze. Ein großer Teil des Einzugsgebiets fehlte, Brücken- und Flussmauteinnahmen fielen weg. Das erste Dampfschiff schaufelte sich 1854 den Inn hinauf, aber die königlich bayerischen Schiffe verkehrten nur zwischen Passau und Simbach. Man möchte sich vorstellen, dass einmal Lew Tolstoi unter den Passagieren war, um die Gegend in Augenschein zu nehmen, wo er dann das Spiel um „Krieg und Frieden“ anstieß: Oktober 1805, zwei Monate vor der Schlacht bei Austerlitz, das österreichisch-russische Heer lagert in der Gegend. „Immer neue Regimenter kamen aus Russland an und vermehrten die Last der Einwohner. In der kleinen Festung Braunau befand sich das Hauptquartier des Oberkommandeurs Kutusow.“ Das ist Braunaus Platz in der Weltliteratur.
Spätestens dann kommt die Weltgeschichte ins Spiel, und es wird heikel: „Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!“ Der Vater des Autors hatte es weit gebracht und als „k.k. Zollamtsoberoffizial“ das Ende der Karriereleiter erreicht. „Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren musste der Vater das lieb gewordene Grenzstädtchen verlassen, um den Inn abwärts zu gehen und in Passau eine neue Stelle zu beziehen“. Statt in Braunau hätte der Vater im April 1889 genauso gut in irgendeinem Kaff in Galizien Dienst tun können. Und weil Alois Schicklgruber sogar das Stigma der unehelichen Geburt durch Umschreibung der Taufmatrikel tilgen konnte, gebar ihm seine Frau Klara den Sohn Adolf „Hittler“. Andernfalls hätte man später den Arm mit einem schneidigen „Heil Schicklgruber!“ zum "deutschen Gruß" erhoben. Schade eigentlich, denn das klingt noch lachhafter als das "Heil Hinkel!" aus Chaplins Großem Diktator.
Im August 1892 übersiedelte die Familie nach Passau. Hitler kam nur noch einmal nach Braunau. Beim Anschluss Österreichs rollte er am 12. März 1938 gegen 14 Uhr über die Innbrücke unter dem Jubel der Braunauer in die Stadt ein, vorbei am Geburtshaus ohne Halt, angeblich ohne es eines Blicks zu würdigen. Obwohl den Österreichern das Kunststück gelang, aus Beethoven einen Österreicher zu machen und aus Hitler einen Deutschen, wurde ihn Braunau trotzdem nicht mehr los. Wohin auch immer Braunauer reisen, sie werden sofort darauf angesprochen. Als sei der Geburtsort prägend, wo es in Wahrheit, wie Ian Kershaw betont, um die „sozialen und politischen Motivationen“ einer Gesellschaft geht, die diesen Diktator möglich machten. Aber ein provinzielles Grenzstädtchen eignet sich gut für billige Entsorgungsstrategien. In Wahrheit muss man Braunau hoch anrechnen, dass es erst gar nicht versuchte, die Vergangenheit mit einem neuen Image zu verkleistern. Andere kannten da weniger Skrupel: Linz will von seiner Vergangenheit am liebsten gar nichts wissen. München mutierte aus der „Hauptstadt der Bewegung“ nahtlos zur „Weltstadt mit Herz“. Die Nazihochburg Nürnberg gefällt sich als Bratwurstmetropole. Auch Berchtesgaden, wo das Geschäft mit dem Obersalzberg noch immer glänzend läuft, kennt keine Imageprobleme. Gespräche über Braunau machen nachdenklich: Kaum jemand, der nicht um Hitlers Geburtsort wüsste. Aber auch kaum jemand, der diese Frage, sagen wir mal, bei den Geschwistern Scholl zu beantworten wüsste. An Braunau liegt das nicht.
Die Braunauer sind freundliche Leute. Am Fluss spazierend lerne ich schnell, sie von Touristen zu unterscheiden: Vorbei radelnd rufen sie mir ein freundliches „grüß Gott“ oder „Mahlzeit“ zu, während Fahrradtouristen grußlos vorüber hecheln. Als ich dann plötzlich vor dem Haus stehe, erschrecke ich doch. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, nur nicht dies: Ein stattliches, ein schönes Haus, mit prächtiger Biedermeierfassade, sechs Fensterachsen lang, drei Geschosse hoch, ein wenig Florentiner Frührenaissance, fast nobel. Fenster, hinter denen man sich einen schüchternen Anton Bruckner denken kann oder den beleibten Adalbert Stifter. Selbstverständlich auch ein schreiendes Kind, das Adolf heißt. Aber den schlimmsten Verbrecher der Weltgeschichte? Sogar das Fotografieren empfinde ich als peinliche Prozedur. Natürlich wurde das Haus 1938 als Führers Geburtsstätte unter Denkmalschutz gestellt. Mit der Marke "Geburtsort des Führers" erhoffte man sich eine goldene Zukunft als Pilgerziel für den NS-Massentourismus. Im Rahmen einer radikalen Umgestaltung der Altstadt war vom Zentrum zum Haus eine Aufmarschstraße vorgesehen, eineinhalb Kilometer lang, sechzig Meter breit. Mehr als die teilweise Niederlegung der Umgebung kam nicht zu Stande. Offenbar hatte Hitler kein Interesse an einer kleinbürgerlichen Weihestätte, mit der auch die Erinnerung an seine verworrenen Familienverhältnisse verbunden war. Das "Reichs-Handbuch der deutschen Fremdenverkehrs-Orte" von 1938 hebt Linz als "Patenstadt des Führers" und "Gründungsstadt Großdeutschlands" ganz groß hervor, der Eintrag über Braunau ist so knapp gehalten, dass man ihn beinahe überliest.
Die Anwohner werden beinahe täglich von Touristen nach dem Haus und dem „Geburtszimmer“ gefragt. Auffällig viele geben sich dabei als Geschichtslehrer aus, die angeblich im Unterricht gerade die Nazizeit behandeln. Andere drücken sich ein paarmal am Haus vorbei, statt stehen zu bleiben. Die Faszination des Grauens ist so anziehend, dass die schönen Renaissancearkaden im Hof niemand eines Blickes würdigt. Was tun mit einem Baudenkmal in bester Innenstadtlage, in dem zufällig Hitler geboren wurde? Eine geplante Sprengung im Mai 1945 hatten die Amerikaner verhindert. Über Jahrzehnte stritt man erbittert über eine Nutzung für das unbequeme Erbe. Man war nicht ratloser, aber auch nicht hilfloser als Kommunen mit originären Hinterlassenschaften der Nazis. Und man stritt schon laut, als andernorts noch geschwiegen wurde. Weil die Eigentümerin eine Informationstafel am Haus nicht duldete, errichtete die Stadt schließlich im Jahr 1989 vor dem Haus einen Granitblock aus dem Konzentrationslager Mauthausen, allerdings mit einem Allerweltstext, ohne lokalen Bezug, ohne konkreten Hinweis. Ganz so, wie man das aus vielen Orten kennt. Nach unterschiedlichen Nutzungen steht das Haus seit Jahren leer und verfällt zusehends. Nun hat die österreichische Regierung die Enteignung der Eigentümerin beschlossen. Überzeugende Konzepte für eine zukünftige Nutzung fehlen allerdings.
Der Bezirk Braunau, dem die mächtigen und prägenden Adelsgeschlechter fehlten, besaß immer zwei Zentren: das bürgerliche in der Stadt und ein geistliches im nahen Augustinerchorherrenstift Ranshofen. Dort, auf einer Terrasse über dem Inn, stand schon in karolingischer Zeit eine Pfalz, aus der sich das Kloster 1125 gründete. Über die Jahrhunderte prägte das Stift die Region, religiös, künstlerisch, wirtschaftlich, karitativ. Das mittelalterliche Skriptorium war berühmt. Mit der napoleonischen Rückgabe des Innviertels an Bayern kam die Zwangsauflösung durch den Minister Graf Montgelas im Jahr 1811. Alle Gebäude wurden verkauft, die Bibliothek nach München gebracht oder makuliert. Nur die spätgotische Kirche und ihr imposanter barocker Innenraum blieben wunderbarerweise unberührt.
Im Jahr 1850 kaufte der liberale Politiker Ferdinand Wertheimer alle Klosterbesitzungen und machte daraus einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Die jüdische Familie wurde 1938 enteignet und zur Emigration gezwungen, ihr Besitz den reichsdeutschen Vereinigten Aluminiumwerken zwangsweise übereignet. Hitler ordnete den Bau einer Aluminiumhütte auf dem Gelände des Schlossguts an, 1940 begannen die Bauarbeiten. Der Großbetrieb war kein sentimentales Geschenk eines Braunauers an den Geburtsort. Die Planung gehörte zur Kriegsvorbereitung, denn man rechnete mit einem großen Bedarf an Aluminium. Das Aluminiumwerk brachte der Region einen totalen Umbruch, die Verlagerung jahrhundertealter Schwerpunkte, weg von der Land- u. Forstwirtschaft und hin zum verarbeitenden Sektor. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich zwischen 1939 und 1951 auf 11.600. Durch das Werk wurde das Innviertel eng an Nazideutschland gekoppelt, denn man war abhängig von Rohstoffimporten und dem Export der Fertigprodukte. Der Standort war günstig: Das ausgedehnte Waldgebiet hielt giftige Abgase von Wohngebieten leidlich fern, Expansionsmöglichkeiten blieben erhalten. Zum Schutz vor Fliegerangriffen konnte das Werk eingenebelt werden, zusätzlich entstand in der Nähe eine Werksattrappe. Die Belegschaft bestand zu mehr als 65 Prozent aus Zwangsarbeitern. Von belgischen und französischen Kriegsgefangenen weiß man, von Häftlingen aus dem KZ Mauthausen weiß man heute nichts beim Nachfolgekonzern Austria Metall AG (AMAG), der 1996 privatisiert wurde. Recherchen sind schwierig, weil das Firmenarchiv aus der Gründungszeit in den 1980er Jahren angeblich vernichtet wurde. Klärungsbedarf angesichts der braunen Vergangenheit sieht man bei dem Weltkonzern nicht. Ahnungslos gibt man sich auch hinsichtlich des historischen Baubestands auf dem riesigen Firmengelände. Womöglich ist das eines der umfangreichsten intakten Ensembles von Industriearchitektur aus der NS-Zeit. Und es ist ein trefflicher Beweis dafür, dass es eine Naziarchitektur im Sinn eines eigenen Baustils nicht gab. Denn für solche Industriebauten bediente man sich ungeniert bei der diffamierten Bauhausarchitektur. Was die Schutzwürdigkeit des hochgradig gefährdeten Ensembles angeht, schweigt wiederum die Denkmalbehörde in Linz eisern. Sieben Jahrzehnte nach dem Ende des braunen Terrors ist die Auseinandersetzung damit in Österreich noch immer schwierig. Die Stadt Braunau stellt sich hingegen dieser Vergangenheit und zieht daraus Gewinn. Sie ist heute wieder das, was sie über Jahrhunderte schon einmal war: Drehpunkt einer Achse, die der Inn markiert, einer heiklen Achse allerdings zwischen Eigenem und Anderem, Vertrautem und Unbekanntem, unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Mentalitäten, Sprachgrenzen, Vorurteilen, Aversionen.
Die Einöde wurde nach Kremsmünster eingemeindet, heißt aber noch immer „Baum mitten in der Welt“. Sie scheint hier endlos und einsam, die Welt, nichts als eine Hochfläche, die im flockig dicht fallenden Schnee noch einsamer, noch endloser erscheint. Bei schönem Wetter, heißt es, stehen die Berge des Salzkammerguts wie eine Bordüre über dem Biergarten und im Norden soll dann der Böhmerwald als blasses blaues Band schimmern. Den Ursprung des melancholischen Namens kennt niemand. Das einsame Haus, ein Gasthof, heißt auch „Baum mitten in der Welt“. Die mächtige Linde daneben wurde im Jahr 1929 gepflanzt. Neuere Verunstaltungen sind die hässliche Sendestation auf der anderen Straßenseite und eine so genannte Aussichtswarte. Das rostige Ungetüm soll daran erinnern, dass von diesem Ort aus Kaiser Franz I. sein Riesenreich zwischen Böhmen, Adria und Russlands Grenze neu vermessen ließ, insgesamt 698.700 Quadratkilometer mit 21 Millionen Untertanen. Als im Jahr 1823 die k.k. Vermessungsingenieure zum Theodoliten griffen, stand ihnen vielleicht der Studiosus Adalbert Stifter neugierig im Visier. Er besuchte damals, von 1818 bis 1826, das berühmte Gymnasium im Kloster der Benediktiner. Die Patres eröffneten dem Bauernbuben aus dem Böhmerwald die Wunderwelten der Wissenschaften, Kunst und Literatur. Besonders der Lateinlehrer Pater Placidus Hall förderte ihn und wurde zum väterlichen Freund. Der Zeichenlehrer Georg Riezlmayer erkannte Stifters enormes malerisches Talent. Die Landschaftsmalerei hatte es ihm angetan. Mit hungrigen Augen, Zeichenblock und Stift durchstreifte er die Umgebung des Klosters. Auf seinen Aquarellen herrscht das Benediktinerstift mit dem alles überragenden "mathematischen Turm" auf der Bergterrasse wie ein rurales Escorial über dem bäuerlichen Dorf. Die spröde Siedlung fließt vom Kloster den Hang hinunter; man sieht ihr an, dass sie aus einer Ansiedlung weltlicher Dienstleute hervorging.
Der Gegend setzte er später auch ein literarisches Denkmal, in seinem 1857 erschienen großen Bildungsroman "Der Nachsommer" mit peinlich genauen Schilderungen der Natur. Obwohl im Roman, der in den letzten Regierungsjahren von Kaiser Franz I. spielt, direkte topografische Bezüge fehlen, wird diese Vorgebirgslandschaft so treffend charakterisiert, dass der „Nachsommer“ das schönste literarische Itinerar in das „Land ob der Enns“ ist.
An der Stelle des heutigen Landgasthofs stand in Stifters Tagen ein Gutshof, ein mächtiger Vierkanter wohl, wie er für die Gegend typisch ist, schmucklos, wuchtig, uralt. In so einem Gutshof ersucht der Ich-Erzähler Heinrich um Obdach; der Hausherr führt ihn in den Garten: „Endlich hatten wir die höchste Stelle erreicht, und mit ihr auch das Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwärts. - Auf diesem Platze stand ein sehr großer Kirschbaum, der größte Baum des Gartens vielleicht der größte Obstbaum der Gegend. Um den Stamm des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier Weltgegenden vor sich hatte, dass man hier ausruhen, die Gegend besehen, oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach allen Richtungen des Himmels ... Man mußte an heißen Tagen von hier aus die ganze Gebirgskette im Süden sehen ... Gegen Mitternacht erschien ein freundlicher Höhenzug“.
Alles ist noch so, wie Stifter es festhielt und nichts ist mehr so. Der Ort rinnt planlos durch den Flussgrund, kriecht alle Hänge empor, quillt über eiszeitliche Schotterterrassen bergan. Die Gemeindepolitiker verschandeln mit ihrer katastrophale Baupolitik seit Jahrzehnten den landwirtschaftlich geprägten Ort. Kremsmünster ist zum Industrierevier ausgefranst, ein heilloses Konglomerat, in dem mittelständische Betriebe zwischen Wohngebiete getrieben und Gewerbeparzellen mit Wohnhausriegeln aufgeforstet wurden. Wuchernde Neubausiedlungen und betonierte Feldwege nehmen der schönen, eigentümlich stillen Hügellandschaft vor dem Gebirge viel von ihrem Reiz. Sichtachsen, die einmal vom Stift zum Schloss Kremsegg und bis ins weit entfernte Zisterzienserkloster Schlierbach ausstrahlten, wurden gedankenlos gekappt.