Über das Buch:
Ryan McKinley wäre gerne wieder so glücklich wie gestern. Nach wie vor trauert er seiner großen Liebe Abby hinterher und wünscht sich, dass es nie zur Scheidung gekommen wäre. Als er aus heiterem Himmel einen Anruf seiner Exschwiegereltern bekommt, die ihn überreden wollen, ihren 35. Hochzeitstag mitzufeiern, sieht Ryan seine große Chance gekommen.
Anscheinend hat Abby ihren Eltern nie erzählt, dass sie geschieden sind. Also hat sie jetzt auch keine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten, mitzukommen. Eine Woche lang kann er wieder in die Rolle ihres Ehemanns schlüpfen. Eine Woche lang kann er ihr vor Augen führen, was sie verloren hat. Doch können ein erzwungener Roadtrip und eine vorgetäuschte Beziehung wirklich wieder alles ins Lot bringen?
Über die Autorin:
Denise Hunter hat bereits über 20 Romane geschrieben, die in den USA mit etlichen Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben genießt sie es, mit ihrer Familie zu reisen und Schlagzeug zu spielen. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt sie in Indiana.
Kapitel 8
Eine saubere Shorts und einen vollen Tank später saß Abby wieder auf dem Fahrersitz. Durch den Rest des Bundesstaates New York segelten sie mit kaum Verkehr und holten ihre Verspätung wieder auf.
Sie war nicht sicher, warum sie es so eilig hatte. Was auf sie wartete, waren ein Vater, dem sie es niemals recht machen konnte, schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit und ein Theaterspiel, das ihr mit jedem Kilometer unmöglicher erschien.
Seit dem leeren Tank war es ziemlich still gewesen. Ryan hatte zwei Mal versucht, sich zu entschuldigen – eine neue Fertigkeit, die er sich offenbar in den letzten drei Jahren angeeignet hatte. Aber Abby hatte Mühe, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Seine Sorglosigkeit war typisch für all die Probleme, die sie in ihrer Ehe gehabt hatten. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie zogen ihre gescheiterte Ehe hinter sich her wie einen lärmenden Haufen Blechdosen an einem „Just Married“-Auto.
Zu allem Überfluss hatte der Schlaf nicht gegen ihre Migräne geholfen. Im Gegenteil, sie war schlimmer als vorher trotz der Tabletten. Ihre linke Schläfe pochte, als sie erneut in Stop-and-go-Verkehr gerieten, und ihr Magen fühlte sich entsprechend elend. Als sie kurz darauf durch die hügelige Landschaft fuhr, war ihr total übel und der Burger, den sie am Nachmittag gegessen hatte, drohte wieder zum Vorschein zu kommen.
Sie warf einen Blick auf das Navi. Weitere zweihundert Kilometer würde sie niemals schaffen. Bei der ersten Ausfahrt mit einem Hotel-Symbol fuhr sie raus.
„Brauchst du eine Pause?“
„Wir übernachten hier.“
Sie spürte seinen Blick, als sie zu dem einzigen Hotel am Ort fuhr. „Motel“ war eine korrektere Beschreibung des zweigeschossigen etwas in die Jahre gekommenen Gebäudes.
„Stimmt was nicht?“
„Migräne.“ Sie wollte nur noch ein verdunkeltes Zimmer und ein weiches Bett.
Sie ließ Ryan ihre Taschen tragen und sie beide einchecken, während sie Boo festhielt und sich darauf konzentrierte, ihr Essen bei sich zu behalten. Sie atmete durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, während sie den Weg zu ihrem Zimmer ging. Ryan schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete ihr die Tür. Warme, abgestandene Luft, die nach Zigarettenrauch stank, schlug ihr entgegen.
Als wäre das die Gelegenheit, auf die ihr Magen nur gewartet hatte, zog er sich einmal kräftig zusammen. Abby setzte Boo ab und rannte ins Bad, wo sie sich in die Toilettenschüssel übergab. Der Schweiß stand ihr im Nacken, während sie würgte. Eine so schlimme Migräne hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Allerdings war sie auch noch nie mit dem Auto quer durchs Land gefahren – mit ihrem Ex-Mann.
Hinter ihr öffnete sich quietschend die Tür. Das fehlte ihr noch – dass Ryan ihr beim Kotzen zusah.
„Raus“, keuchte sie.
Während Abbys Magen sich erneut zusammenzog, lief im Waschbecken das Wasser. Ihr Atem ging schwer und ihre Augen brannten.
Plötzlich spürte sie einen kühlen Lappen im Nacken. Ryan schloss den Klodeckel und betätigte die Spülung, während sie nach Luft rang und die Situation abschätzte.
Vor der Tür winselte Boo.
„Besser?“
„Ich glaube schon.“ Ihre Hände zitterten, als sie sich auf der Toilette abstützte und mühsam aufstand. Es war ätzend. Schlimm genug, dass sie sich so elend fühlte, aber dass Ryan sie so schwach und verletzlich sah, machte alles noch hundertmal schlimmer.
Sie spülte sich den Mund aus und hoffte, dass das Glas sauber war, dann nahm Ryan ihren Ellbogen und führte sie aus dem Bad ins Zimmer und zu ihrem Bett.
Sie wollte zu Boo gehen.
„Wo willst du hin?“
„Sie muss raus.“ Ihre Stimme klang, als hätte jemand sie über eine Reibe gezogen.
„Ich gehe mit ihr. Du gehörst ins Bett.“
„Geh in dein Zimmer. Ich komme schon klar.“
„Ich lasse dich nicht alleine.“
Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass er diese Worte sagte. Aber diesmal hatte sie nicht die Kraft zu widersprechen. Sie ließ sich aufs Bett fallen, ungeachtet des Bettüberwurfs, der unter UV-Licht wahrscheinlich leuchten würde wie ein Weihnachtsbaum. Ihr Kopf hämmerte, ihre Glieder bebten und sie sehnte sich nur noch nach dem Schlaf des Vergessens.
Ryan zog die Vorhänge zu und brachte so die ersehnte Dunkelheit. Die Klimaanlage sprang an und eine kühle Brise wehte ihr über den Nacken. Sie fühlte, dass ihr die Sandalen abgestreift wurden, hörte das Laken knistern, bevor er die Bettdecke unter ihr wegzog und über sie breitete. Eine Minute später spürte sie wieder einen kühlen Waschlappen in ihrem Nacken.
„Abby? Soll ich hierbleiben?“
Sie schüttelte den Kopf.
Er seufzte. „Ich bin gleich nebenan. Ich habe einen Schlüssel zu deinem Zimmer und sehe später nach dir. Jetzt gehe ich mit Boo Gassi und nehme sie dann mit zu mir, okay?“
Abby vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Wenn sie Glück hatte, würde sie bis dahin bewusstlos sein. Bitte, Gott.
„Abby, kannst du mich hören?“
Sie stöhnte.
„Schick mir eine Nachricht, wenn du etwas brauchst. Dein Telefon liegt auf dem Nachttisch. Oder hämmere einfach gegen die Wand. Ich bin nebenan.“
Sie glaubte, kurz eine Bewegung ihrer Haare zu spüren, bevor er die Lampe ausschaltete und ging. Und wenig später kam tatsächlich das Vergessen.
Sie erwachte, als ein schwaches Licht zwischen den Vorhängen hindurchschien. Blinzelnd blickte sie an die Zimmerdecke und überlegte, wie es ihr ging. Migräne weg. Magen beruhigt. Gut ausgeruht. Dann sah sie auf die Uhr.
Volle vierzehn Stunden hatte sie geschlafen! Sie nahm den feuchten Lappen von ihrem Arm, wo er inzwischen gelandet war, und kletterte aus dem Bett. Heute würde sie nach Summer Harbor zurückkehren, ihrem Vater gegenübertreten und mit der Farce beginnen, die sie wahrscheinlich umbringen würde. Aber vorher hatte sie das Recht auf eine schöne warme Dusche.
Ryan hatte seit Monaten nicht mehr so schlecht geschlafen – seit seine Mannschaft bis in die Regionalmeisterschaften gekommen war. Nachdem er bei Abby gewesen war, hatte er sich etwas zu essen aus dem Automaten gekauft und PJ angerufen, um ihr zu ihrer Verlobung zu gratulieren.
Zwei Mal hatte er nach Abby gesehen und mitten in der Nacht hatte er sich beherrschen müssen, um nicht noch ein drittes Mal zu ihr zu gehen. Er wollte sie nicht wecken oder – schlimmer noch – sie erschrecken.
Als sie zusammen gewesen waren, hatte sie gelegentlich Migräne gehabt, aber sie hatte sich nie übergeben müssen. Er hätte sich selbst in den Hintern treten können, weil er sie gestern so gestresst hatte. Schlimm genug, dass sie mit ihm in einem Auto gefangen war und so viele Kilometer fahren musste. Dann musste er auch noch den Tank leer fahren.
Die Sache lief nicht optimal. Eigentlich lieferte er ihr nur noch mehr Gründe, warum sie ihn nicht mochte – und davon schien sie sowieso schon eine Menge zu haben.
Ryan hakte die Leine an Boos Halsband ein und drehte mit ihr eine schnelle Runde über den Parkplatz und dann zu einem einsamen Baum, der mitten auf einem ungenutzten Grünstreifen stand. Offenbar hatte seine Ex-Frau ein Faible für kleine, kläffende Hunde, die bei der kleinsten Aufregung Pipi machten. Ryan musste allerdings zugeben, dass Boo mit ihren winzigen runden Augen und den spitzen Ohren irgendwie niedlich war.
Die Luft war schon jetzt warm und das feuchte Haar im Nacken fühlte sich gut an. Er hätte Lust, ausgiebig zu joggen, aber sie hatten sowieso schon Verspätung.
Er wartete, bis die Hündin ihr Geschäft erledigt hatte. Gott, bitte hilf Abby, dass sie sich heute besser fühlt. Und hilf mir, nicht noch mehr Dummheiten zu machen, und ... und bring das alles hier zu einem guten Ende.
Boo schüttelte sich und trottete zu Ryan. „Okay, kleines Mädchen. Dann holen wir mal Kaffee für deine Mama.“
Zehn Minuten später stand er vor Abbys Tür und klopfte vorsichtig für den Fall, dass sie noch schlief. Als niemand aufmachte, schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn, wobei der Plastikanhänger gegen die Tür schlug.
Die Tür quietschte, als er sie aufstieß, die beiden Kaffeebecher in der Hand. Im Vergleich zu draußen war es hier dunkel, und während er die Tür zuschob, versuchte er zu erkennen, ob sie noch im Bett lag.
Dann ertönte ein Laut von der anderen Seite des Zimmers. Boo rannte los und zog die Leine hinter sich her. In einer Dampfwolke kam Abby aus dem Bad und die Haare klebten ihr am Kopf. Ein winziges weißes Handtuch bedeckte das Allernötigste.
Sie sog scharf die Luft ein und presste das Handtuch an ihre Brust. „Ryan!“
Er drehte sich schnell um und kratzte sich verlegen am Kinn. „Tut mir leid. Sorry, ich dachte ... ich wollte dich nicht wecken.“
„Raus!“
Den Kaffee stellte er auf die Kommode. „Klar. Ich ... äh ... ich check schon mal aus.“
Ryan verließ das Zimmer und ging zum Büro. Er landete wirklich einen Volltreffer nach dem anderen. Wahrscheinlich glaubte sie jetzt, er hätte sich in einen Spanner verwandelt.
Wütend trat er gegen einen metallenen Stützpfeiler und versuchte dabei, das Bild von ihr in dem mikroskopischen Handtuch zu verdrängen. Aber es gelang ihm nicht.
Und wenn er ehrlich war, wollte er diesen Anblick auch gar nicht vergessen. Abby war von Kopf bis Fuß eine schöne Frau. Eine Frau, auf die er einmal einen Anspruch gehabt hatte. Eine Frau, die bei seinem Kuss geseufzt hatte und unter seiner Berührung erschauert war.
Und innerhalb von drei Jahren hatte er sie dazu gebracht, dass sie ihn hasste.
Als er sich mit ihr beim Auto traf, war er miserabel gelaunt. Er zwängte sich in den Fiat und ließ seinen Sicherheitsgurt zuschnappen. Boo kroch auf seinen Schoß und rollte sich zusammen. Ryan nahm ein Hundeleckerli aus der Schachtel und Boo schnappte gierig danach.
Vielleicht war diese ganze Sache ein riesiger Fehler gewesen. Vielleicht war es gar nicht Gott, der ihm diese Gelegenheit beschert hatte. Vielleicht war sie ohne ihn besser dran. Sie schien einigermaßen glücklich zu sein. Eine schöne Wohnung, ein toller Job. Es ging ihr gut.
Er war derjenige, der es offenbar nicht schaffte, nach vorne zu blicken.
Sie fuhren auf den Highway auf, in Richtung Maine. Zu einem Wochenende, das lang und schwierig zu werden versprach. Mit ihr zusammen zu sein, erinnerte ihn nur an all das, was sie miteinander verbunden hatte. All das, was er verloren hatte.
Und am Montag würde es so sein, als würde er sie noch einmal verlieren.
Abby nahm ihren Becher aus der Halterung. „Danke für den Kaffee.“
„Gern geschehen.“
„Und für gestern Abend auch.“
Es war das Mindeste, was er tun konnte, wenn man bedachte, dass er an ihrer Migräne wahrscheinlich nicht ganz unschuldig war. „Geht es dir besser?“ Als sie mit ihrem Handtuch vor ihm gestanden hatte, war ihm diese Frage nicht eingefallen.
„Ja, die Kopfschmerzen sind weg.“
Das war wenigstens etwas. Vielleicht gelang es ihm ja heute, sich mal nicht wie ein Idiot aufzuführen und ihr eine weitere Migräne zu ersparen. Schlimm genug, dass am Ende dieser langen, schmerzhaften Reise ihr Vater wartete.
„Bist du mir böse?“, fragte sie.
Er warf ihr einen Blick zu. Dann fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. „Nein, ich bin nur – das heute Morgen tut mir leid. Und das gestern.“ Und dass er sie in dem letzten Jahr ihrer Ehe so vernachlässigt hatte, dass er ihr bei jedem Dollar, den sie ausgegeben hatte, ein schlechtes Gewissen gemacht hatte und auf ihren Gefühlen herumgetrampelt war.
„Ist schon gut. Das heute Morgen war einfach schlechtes Timing – ich habe überreagiert.“ Sie zuckte mit einer Schulter. „Ist ja nicht so, als hättest du das alles nicht schon mal gesehen.“
Und da war das Bild wieder, das er nicht loswurde. Es führte zu einigen anderen, die in seiner Erinnerung verewigt waren, bevor er all diese Bilder beiseiteschieben konnte. Er war sich ziemlich sicher, Abby würde seine kleine Erinnerungsreise in die Vergangenheit nicht mögen.
„Wenn der Verkehr mitspielt, müssten wir rechtzeitig zum Abendessen in Summer Harbor sein.“ Sie machte eine vage Handbewegung, bevor sie wieder mit beiden Händen das Lenkrad umfasste. „Ich sollte wahrscheinlich meine Mutter anrufen.“
„Bist du nervös?“
„Du etwa nicht?“
„Ich meine, weil du zu deinen Eltern fährst.“
Sie presste die Lippen aufeinander. „Das bin ich gewöhnt.“
Er fragte sich, was genau sie damit meinte. Die Art, wie ihr Vater mit ihr sprach? Dass ihre Mutter sie nicht verteidigte? Vielleicht war Bud in den vergangenen Jahren milder geworden. Wenn nicht, würde Ryan seine ganze Selbstbeherrschung brauchen, um den Mund zu halten.
Abby musste die Erinnerung an gestern Abend loswerden. Immer wieder spielte sie im Geiste durch, wie Ryan sich um sie gekümmert hatte. Wie er sie zugedeckt, ihr die Haare aus der Stirn gestrichen hatte. Er hatte ihre langen Locken immer geliebt. Hatte nie die Finger davon lassen können.
Sie war aufgewacht, als er später nach ihr gesehen hatte, und sie hatte gespürt, wie seine Fingerspitzen ganz sacht über ihre Wange fuhren. Aber sie hatte so getan, als schliefe sie, und nach wenigen Minuten hatte er sich wieder aus dem Zimmer geschlichen. Sie wollte doch nur diese Reise hinter sich bringen, ohne dass ihr Herz dabei verletzt wurde. War das zu viel verlangt?
„Wir sollten uns wahrscheinlich einen Plan überlegen“, sagte Abby, als sie ein paar Kilometer gefahren waren.
„Was für einen Plan meinst du denn?“
„Was wir in den letzten paar Jahren so gemacht haben. Unsere Jobs, deine Verwandten, so was.“
„Haben wir das nicht schon besprochen?“
„Ja, aber wir sollten – besser vorbereitet sein.“
„Okay, was willst du wissen?“
Sie versuchte, wie ihre Mutter zu denken. Sich an die Fragen zu erinnern, die sie bei ihrer letzten Unterhaltung gestellt hatte. Es gab eine Sache, die sie immer wieder ansprach.
„Sie wird Einzelheiten wissen wollen“, sagte Abby.
„Worüber?“
„Ich weiß nicht – alles Mögliche.“
„Okay ... mal sehen.“
Er erzählte ihr von seiner Klasse, seiner Football-Mannschaft und von dem, was in Chapel Springs los war – von der neuen Fähre, dass Madison und ihr Mann die Regatta gewonnen hatten, dass das alte Theater abgebrannt war. Sie prägte sich die Namen ihrer neuen „Schwager“ und ihrer beiden „Nichten“ ein.
„Wissen deine Eltern, dass du als Privatdetektivin arbeitest?“, fragte er, als ihm nichts mehr einfiel.
„Natürlich.“
„Und sie glauben, dass es in Chapel Springs ein solches Unternehmen gibt?“
Ihr Gesicht wurde warm, als sie mit den Schultern zuckte. „Das war nie ein Thema.“ „Aber das wird es vielleicht dieses Wochenende.“
Das war noch nicht alles, was ein Thema sein würde. „Mom könnte auch noch andere Fragen stellen, die nichts mit unserer Arbeit und deinen Geschwistern zu tun haben.“
„Zum Beispiel?“
Sie wandt sich auf ihrem Sitz. War es hier drin so warm? Sie drehte die Lüftung auf. „Über uns. Unsere Beziehung und solche Dinge.“
„Okay ... was für Dinge?“
„Ich weiß nicht, einfach alles.“
„Worauf willst du hinaus, Abby? Sag es einfach.“
„Sie könnte uns fragen, wann wir endlich eine Familie gründen wollen.“
Sie spürte, wie er sie ansah. Ihr wurde ganz heiß bei dem Thema. Darüber wollte sie genauso wenig reden wie er, aber jemand würde es ansprechen und sie sollten darauf vorbereitet sein.
„Das würde sie nicht tun.“
Abby lachte freudlos. „Bis jetzt hat sie noch jedes Mal gefragt, wenn wir telefoniert haben. Sie will unbedingt ein Enkelkind haben. Und ich bin ihre einzige Hoffnung, weißt du.“
Abby wusste nicht, warum ihre Mutter so erpicht darauf war. Schließlich lebten sie nicht in derselben Stadt und Abby würde lieber von einer Klippe springen, als ihrem Kind die Gesellschaft ihres Vater zuzumuten.
„Tut mir leid“, sagte er leise. „Ich kann nicht fassen, dass sie das tut.“
„Sie will damit kein schwieriges Thema anschneiden. Sie – sie begreift es einfach nicht, das ist alles.“ Ihre Mutter liebte sie, das wusste Abby. Aber Lillian Gifford war es noch nie schwergefallen, Abby gegenüber schwierige Themen anzuschneiden. Selbst ganz schmerzliche nicht.
Kapitel 9
Zu sagen, dass Abby zurückhaltend war, als Ryan in ihr Leben getreten war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber irgendwie war aus der einen Verabredung ein Basketballspiel geworden und daraus eine weitere Verabredung und dann noch eine.
Außer den unschuldigsten Berührungen hatte er bei ihr nichts versucht, aber selbst die ... Abbys Herz schlug schneller und ihre Gedanken spielten verrückt. Nur vier Verabredungen und sie war bereits Hals über Kopf in ihn verliebt.
Bei Kyle hatte sie dieses Gefühl nie gehabt. Er hatte ihr nicht die Wagentür aufgehalten oder ihr einen Stuhl bereitgehalten, damit sie sich setzen konnte. Ryan hatte einen entspannten Charme und schien sie auf eine Weise zu achten, die sie gar nicht verdiente. Aber es war schön.
Schön auf eine „Genieß-es-solange-es-dauert“-Weise.
Sie machte sich nichts vor. Ein Typ wie Ryan konnte jede Frau haben. Warum er sie wollte, war ihr ein Rätsel, aber irgendwann zwischen dem dritten und vierten Date beschloss sie, es einfach zu genießen.
An diesem Abend war er mit ihr essen gegangen. Es war ein milder Frühlingsabend, also waren sie in einem Park unweit des Campus spazieren gegangen und hatten sich auf eine Bank gesetzt, wo sie mehr als eine Stunde geredet hatten. Seine Hand, die in ihrer lag, fühlte sich stark und sicher an und sie konnte sich kaum auf das konzentrieren, was er ihr von seinem letzten Schwimmwettkampf der Saison erzählte.
Er war anders gewesen. Ernster. Ein bisschen still. In der Nähe flackerte eine Lampe auf, als es dämmrig wurde, und warf ihr Licht auf sein attraktives Gesicht. Ein Schatten bildete sich in seiner Kinnspalte und in den Vertiefungen seiner Wangen. Plötzlich fiel ihr auf, dass er verstummt war.
Sein Blick suchte ihren und sie wäre beinahe auf der Stelle geschmolzen, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Ihr Herz hämmerte, als er sich vorbeugte und ganz sacht ihre Lippen mit seinen berührte. Nur einmal. Es bereitete ihr fast physische Schmerzen, als er sich von ihr löste, aber sich nicht wieder zurücklehnte, sondern so nahe blieb, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte und das Lodern in seinen braunen Augen sah.
Es war nicht genug. Bei Ryan würde ein Kuss niemals genug sein. Das fühlte sie bis ins Mark.
Als er den Kopf erneut senkte, hätte sie vor Freude am liebsten aufgeschrien. Sein Kuss war sanft, aber diesmal auch entschlossen, und er löste etwas so tief in ihrem Innern aus, dass es schmerzte. Seine Hand legte sich auf ihre Wange und sein Kuss wurde fordernder. Der männliche Geruch, den er ausströmte, umfing sie wie eine warme Umarmung und seine Berührung weckte Gefühle in ihr, die sie längst für tot gehalten hatte.
Sie hatte schon vorher schöne Küsse erlebt. Mit Kyle hatte sie unzählige Male beim Leuchtturm geknutscht. Aber es war nicht so gewesen wie das hier. So zart und ergreifend süß und vollkommen. Sie war sicher, dass ihr das Herz aus der Brust springen würde. Als er sich schließlich von ihr löste, war sie ganz außer Atem.
Ein kalter Regen hatte eingesetzt, und als sie in seine schokoladenbraunen Augen starrte, wurde ihr bewusst, dass es ein regelrechter Wolkenbruch wurde. Er zog sie hoch, legte seine Jacke um ihre Schultern, und dann rannten sie zum Wagen und lachten immer mehr, während ihre Kleider von dem plötzlichen Guss durchnässt wurden.
Es war der erste von vielen Küssen.
Und nachdem sie noch ein paarmal miteinander ausgegangen waren, wurden sie offiziell ein Paar. Kurz bevor das Semester zu Ende war, sagte er ihr, dass er sie liebte, und Abby wurde bei dieser Liebeserklärung das Herz ganz schwer.
Sie überstanden einen Sommer, in dem sie voneinander getrennt waren, weil Ryan nach Indiana zurückkehrte und Abby in Boston blieb, um an Sommerkursen teilzunehmen. Ohne ihn kam sie sich verloren vor, und auch wenn sie in Kontakt blieben, machte ihre verzweifelte Sehnsucht nach Ryan ihr Angst. Die drei Monate erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Was, wenn er sie vergaß? Was, wenn er wieder mit seiner Highschool-Freundin Cassidy zusammenkam?
Aber als er im Herbst zum Campus zurückkehrte, war alles wieder gut. Sie verbrachten jede freie Minute miteinander. Er war vollkommen. Ein richtiger Gentleman und unglaublich geduldig. In regelmäßigen Abständen sagte er ihr, dass er sie liebte, und er hatte sie nie gedrängt, diese Liebeserklärung zu erwidern.
Sie wusste auch nicht, was sie zurückhielt. Sie wusste, dass sie ihn liebte. Aber es zu sagen, machte es so wirklich, so beängstigend echt. Jedes Mal, wenn die Worte sich in ihrem Kopf formten, war ihre Kehle wie zugeschnürt.
Im Laufe des Jahres wurden ihre Gefühle tiefer, ihre Küsse leidenschaftlicher. Ihre Hände gingen auf Wanderschaft, ihre Körper verlangten nach mehr, bis sie an einem Morgen im März in seinem Bett erwachten, ihre Kleidung auf dem Boden verteilt.
Ryan hatte gewusst, dass sie bis zur Ehe hatte warten wollen, und sie überlegte, dass er wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl er sie zu nichts gedrängt hatte, was sie nicht wollte.
Abby war so mit Lernen, ihrem Job und damit, was nach ihrem bevorstehenden Abschluss kommen würde, beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, als ihre Periode ausblieb. Erst als Chelsea einen Monat später unter PMS litt, kam ihr der Gedanke überhaupt.
Das Ergebnis des Schwangerschaftstests war ein vernichtender Schlag gewesen. Sie hatte eine Stunde lang auf dem Fußboden ihres Zimmers gesessen, bis Chelsea hereinkam, zu laut und abgelenkt, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.
Abby wollte es Ryan nicht sagen. Dann würde er Schluss machen. Da war sie sich sicher. Welcher junge Mann wollte zum Zeitpunkt seines College-Abschlusses ein Kind am Hals haben? Sie hatten noch nicht einmal irgendwelche Jobs in Aussicht. Ihr Vater würde sie nicht wieder aufnehmen, wenn er davon erfuhr, auch wenn ihre Mutter es wollte. Und Summer Harbor war zu teuer, um als alleinerziehende Mutter über die Runden zu kommen.
Ryan merkte, dass etwas nicht stimmte, und am Wochenende darauf, als er zum Lernen bei ihr war, zog er es ihr aus der Nase. Ein Blick in seine besorgten Augen und Abby musste es ihm sagen.
„I-ich bin schwanger, Ryan.“ Sie konnte ihn dabei nicht einmal ansehen. Bestimmt würde er toben vor Wut.
Das war’s. Nicht dass sie ein Baby bekam, trieb ihr die Tränen in die Augen, sondern dass sie ihn verlieren würde. Warum war sie nur so dumm gewesen? Warum hatte sie es so weit kommen lassen? Ihr Vater hatte recht. Sie war eine Versagerin.
„Sieh mich an, Abby“, sagte er eine Ewigkeit später.
Sie schüttelte den Kopf und schluckte mühsam. Sie wollte nicht sehen, was sie mit Sicherheit in seinen Augen sehen würde. Enttäuschung. Wut. Frustration. Ablehnung. Was sollte sie nur ohne ihn machen? Sie wusste es nicht. Sie war emotional von ihm abhängig geworden. Warum hatte sie das nur zugelassen?
Wie sie ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren sollte, das wusste sie nicht. Von dem Baby ganz zu schweigen. Dafür war sie nicht gerüstet. Was, wenn sie eine schlechte Mutter war? Wenn sie ihr Kind so behandelte, wie ihr Vater sie behandelte? Plötzlich fühlte es sich so an, als würde sie keine Luft mehr bekommen.
Mit seiner Hand strich er ihr über die Wange und hob ihr Kinn, bis sie ihm in die Augen sah. Ihre Lippe bebte und sie biss mit aller Kraft darauf.
Sein Blick bohrte sich in ihren. „Ich liebe dich, Rotschopf. Wir kriegen das hin.“
Sie zitterte wie Espenlaub, als er sie in den Arm nahm. Er hielt sie, bis sie einschlief, während er ihr tröstliche Worte ins Ohr flüsterte.
Eine Woche später gingen sie im Park spazieren. Bislang hatten sie kaum darüber geredet, was sie tun würden, aber sie war sich sicher, dass Ryan genauso wie sie selbst kaum an etwas anderes denken konnte. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt. Vielleicht war ihm jetzt erst richtig bewusst geworden, was ein Baby bedeutete, und er hatte vor, sich klammheimlich aus ihrem Leben zu verabschieden.
Aber an diesem Abend im Park sank er vor ihr auf die Knie, schenkte ihr einen wunderschönen Ring (für den er, wie sie später herausfand, seinen signierten Peyton-Manning-Football verkauft hatte) und versprach ihr, ein Leben lang mit ihr zusammen zu sein. Sie konnte nicht fassen, dass er sie heiraten wollte. Da musste sie nicht lange überlegen.
Und eine Zeit lang schien alles perfekt. Vielleicht nicht ideal. Es würde schwer werden und es gab viele unbekannte Faktoren. Aber Ryan liebte sie und sie würden eine Familie sein. Und diesmal wagte Abby zu glauben, dass alles gut werden würde.
Kurz vor ihrem College-Abschluss erzählte sie ihren Eltern von dem Baby und der anstehenden Hochzeit und sie reagierten genau so, wie sie es erwartet hatte. Es war eine Überraschung, dass sie im Juni überhaupt zu der kleinen Trauzeremonie in Chapel Springs erschienen.
Ryans Eltern unterstützten sie und hießen Abby trotz der Umstände in der Familie willkommen. Sie fanden schnell Arbeit – Ryan einen Sommerjob im Candlelight Café und Abby eine Anfängerstelle bei der Chapel Springs Gazette. Es reichte, damit sie eine Dreizimmerwohnung am Stadtrand mieten konnten.
Abby richtete sich in ihrem kleinen Nest ein und war so glücklich wie noch nie. Die Schwangerschaft hatte nicht die üblichen Nebenwirkungen gehabt. Anstatt sich ausgelaugt und müde zu fühlen, war sie voller Energie. Vielleicht hatte es etwas mit Ryan zu tun. Mit der Art, wie er seine Hand auf ihren noch immer flachen Bauch legte, während sie im Bett lagen, oder wie er ihr ein Tiramisu mitbrachte, auf das sie die ganze Zeit einen solchen Heißhunger gehabt hatte.
Sie war auf dem Weg zur Arbeit, als sie den ersten stechenden Schmerz spürte. Dann kam eine Schmierblutung. Sie rief Ryan an, der sie drängte, zum Arzt zu gehen. Der Ultraschall bestätigte, was sie befürchtet hatte. Sie hatte das Baby verloren.
Als sie ein paar Tage später aus dem Krankenhaus nach Hause kam, versank sie in einer Depression. Alle sagten, das sei normal. Ryan hielt sie nachts im Arm, seine Augen blutunterlaufen von den Tränen, die er für sie beide vergossen hatte.
Irgendwann hatte er die Tür zum Kinderzimmer geschlossen und so war es auch geblieben. Sie hatte nicht den Mut, noch einmal hineinzugehen und den Raum anzuschauen, der so leer war wie ihre Gebärmutter, oder die hellgelben Wände oder den Teddybären, den er kurz nach ihrer Hochzeit gekauft hatte.
Sie stürzte sich in die Arbeit und wünschte, es wäre keine Teilzeitstelle, weil sie dabei zu viel Zeit zum Grübeln hatte und ihre Gedanken sie immer wieder herunterzogen. Sie brauchte etwas, das sie von dem einen düsteren Gedanken abhielt, der immer wieder an die Oberfläche stieg.
Warum sollte Ryan jetzt noch bei ihr bleiben wollen?
Kapitel 10
Abby umklammerte das Lenkrad fester, als sie in die letzte Straße Richtung Summer Harbor einbog. Hinter den immergrünen Bäumen ging bereits die Sonne unter und der Himmel war in Rosa- und Lilatöne getaucht.
„Gar nicht so einfach, diesen Ort zu finden“, sagte Ryan. „Ich habe überhaupt keine Schilder oder Hinweise gesehen.“
„Summer Harbor ist eine kleine Küstenstadt und die Einheimischen mögen es so. Die meisten jedenfalls. Es gibt immer Leute, die eine Pension eröffnen oder Waltouren anbieten oder eine hübsche kleine Boutique aufmachen wollen, aber es wird nicht gefördert.“
„Überleben sie? Diese Tourismusunternehmen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Manche. Es gibt immer wieder Urlauber, die den Ort finden. Aber er liegt abseits von der Hauptstrecke und wird deshalb meist übersehen. In der Zeitschrift Leben an der Küste war vor etwa zehn Jahren ein Artikel über Summer Harbor und der Autor hielt die Stadt für eines der bestgehüteten Geheimnisse New Englands. Seitdem gibt es etwas mehr Tourismus.“
Ryan fuhr das Fenster herunter und Boo kletterte auf seinen Schoß und legte die Vorderpfoten auf den Fensterrahmen, die kleine Nase aus dem Fenster gestreckt.
„Ich kann schon das Meer riechen“, sagte er.
Das konnte sie auch. Aber für sie waren damit nicht dieselben Urlaubsgefühle verbunden wie für alle anderen Menschen. Ihre beste Erinnerung ans Meer hing mit Ryan zusammen. Sie hatte diese Muscheln immer noch zu Hause in ihrer Schmuckschatulle. Aber diese eine Erinnerung war nicht genug, um all die anderen auszulöschen, die älter waren.
Plötzlich waren ihre Handflächen feucht. Sie wusste nicht, was sie nervöser machte – das Wiedersehen mit ihrem Vater oder die Aussicht darauf, dass sie nun eine Ehe vortäuschen musste.
„Hast du deine Mutter angerufen?“
„Während der letzten Pause.“ Abby war froh, dass sie erst nach dem Essen ankamen. Ihr Vater würde wahrscheinlich ins Wohnzimmer gehen, um seine Zeitung zu lesen, sodass sie sich mit ihrer Mutter unterhalten konnte.
Sie bogen um die letzte Kurve und dann erschien Summer Harbor zu ihren Füßen. Der plötzliche Ausblick war beeindruckend, atemberaubend sogar, mit dem weiten blauen Meer, der felsigen Küste, dem halbmondförmigen Hafen mit seinen bunten Booten. Ordentliche Häuser mit verwitterten grauen Holzschindeln säumten den Hang unter ihnen und der hohe weiße Kirchturm ragte in den dunkler werdenden Himmel.
Ryan starrte aus dem Fenster. „Es sieht aus wie ein Bild aus einer Zeitschrift. Du hast mir gar nicht erzählt, dass es so hübsch ist.“
Schönheit lag ja auch im Auge des Betrachters, wie man sagte.
„Da ist ein Leuchtturm“, sagte er und blickte in die entsprechende Richtung. „Glaubst du, wir haben Gelegenheit, ihn uns anzusehen?“
„Ich hoffe es.“ Sie hatte vor, so wenig Zeit wie möglich im Haus ihrer Eltern zu verbringen.
Als sie den Hang hinunterfuhren, schlug Abby das Herz bis zum Hals. Ihre Mutter würde sich freuen, sie zu sehen. Darauf musste sie sich konzentrieren. Nichts würde geschehen. Nicht an ihrem Hochzeitstag-Wochenende. Nicht, wenn Ryan dabei war. Sie war jetzt erwachsen. Ihr Vater konnte ihr nicht wehtun.
„Vergiss deinen Ring nicht.“
Sie hatte ihn nicht vergessen. Sie versuchte nur, das Tragen so lange wie möglich hinauszuschieben. Beim ersten Stoppschild
kramte sie in ihrem Portemonnaie, zog den Ehering heraus und streifte ihn sich über den Ringfinger. Sie spürte, dass Ryan sie ansah, und wagte nicht aufzusehen. Sie wollte nicht an das erste Mal denken, als sie diesen Ring an ihren Finger gesteckt hatte, und an die alberne Hoffnung in ihrem Herzen, als sie einander ihr Trauversprechen gegeben hatten.
Dann gab sie Gas und bog in den Cromwell Drive ein. Ihre Eltern wohnten in einem bescheidenen Viertel am Stadtrand. Ihr Vater war Hummerfischer und ihre Mutter arbeitete in der Stadtbücherei, seit Abby denken konnte.
Wenige Minuten später hielt sie auf dem Schotterweg vor dem zweigeschossigen Holzhaus und stellte den Motor aus.
Ryan musterte das winzige Häuschen, bevor er sich zu ihr umdrehte. „Alles in Ordnung?“
Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Hände das Lenkrad erwürgten. „Ja.“
Sie holten ihr Gepäck aus dem Wagen, als Abbys Mutter die Tür aufstieß und herausgelaufen kam.
„Abby!“ Sie war die Treppe bereits hinuntergelaufen, bevor die Fliegengittertür wieder zugeschlagen war.
Abby konnte einen kurzen Blick auf das hübsche Gesicht ihrer Mutter werfen, bevor sie umarmt wurde, umfangen von dem vertrauten Duft von Shalimar und Büchern.
„Es ist so schön, dass du nach Hause kommst“, sagte Mom. Sie war klein und reichte Abby nur bis zum Kinn und sie war etwas rundlicher als früher. Abby hatte ihre Statur von ihrem Vater geerbt. Aber die roten Haare und der helle Teint waren ganz ihre Mutter.
Abby löste sich aus ihren Armen und ihre Mutter umarmte auch Ryan. „Danke, dass du mitgekommen bist. Es ist schön, dich zu sehen, Ryan. Und wer ist dieser kleine Kerl?“ Mom hob Boo hoch und rieb der Hündin den Bauch.
„Ein kleines Mädchen“, sagte Abby. „Das ist Boo. Du hast ja gesagt, ich kann sie mitbringen ...“
„Natürlich. Sie ist so klein, dass sie nur ein paar Zentimeter Platz braucht. Und du weißt doch, dass dein Dad Hunde mag. Kommt, gehen wir rein. Habt ihr Hunger?“
„Wir haben unterwegs etwas gegessen“, sagte Ryan, der die beiden Taschen nahm, sodass Abby mit leeren Händen dastand.
„Wo ist Dad?“ Vielleicht war er noch bei der Arbeit oder trank ein Bier mit seinen Freunden.
Mom legte einen Arm um Abby und führte sie zum Haus. „Ach, er ist drinnen und isst noch. Du kennst ja deinen Dad.“
Als sie hineingingen, stieg ihr der Duft von gebackenem Schinken in die Nase. Abby war versucht, gleich die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzugehen, aber stattdessen folgte sie ihrer Mom durchs Wohnzimmer, wo ein nagelneuer Fernseher stand, in dem gerade die Nachrichten liefen. Der alte Holzfußboden knarrte unter ihren Schritten, als sie sich der Küche näherten.
Ihr Vater saß so am Tisch, dass er fernsehen konnte, und sein Teller war halb leer.
„Sieh mal, wer hier ist, Bud“, sagte Mom mit einer Stimme, die Begeisterung auslösen sollte.
Er war gealtert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die feinen Falten um seine Augen waren tiefer und sein Gesicht war rundlicher geworden. Der grau melierte Haaransatz hatte sich verschoben, was seine Stirn verlängerte.
„Na, sieh mal einer an.“ Dads Stimme war immer noch barsch und laut und er lächelte nicht.
Eine warme Hand legte sich auf ihren Rücken.
„Hi, Dad.“ Ihre Stimme klang fest, ein Widerspruch zu dem Erdbeben, das sich in ihrem Innern abspielte.
„Abby.“ Sein Blick musterte sie und wanderte dann zu Ryan. „Wie geht’s, Ryan?“
„Bud. Danke für die Einladung.“
„Und wen habt ihr da bei euch?“ Dad schob seinen Stuhl zurück und Mom überreichte ihm Boo.
„Sie heißt Boo. Ist sie nicht süß?“
Abby hätte ihm ihr Baby am liebsten entrissen, aber stattdessen ballte sie die Hände zu Fäusten. Boo zitterte vor Aufregung. Hoffentlich würde die Hündin nicht ihrem Vater auf den Schoß pieseln.
Dad hob Boo hoch, Nase an Nase, und betrachtete sie. „Wo hast du den Köter denn her? Scheint schrecklich nervös.“ Letzteres sagte er mit etwas Schadenfreude.
Abbys Herz hämmerte wie wild. Sie wünschte, er würde ihren Hund loslassen. „Sie ist eine Yorkshireterrier-Dame. Ich habe sie aus dem Tierheim.“
Er setzte sich Boo auf den Schoß, seine große, schwielige Hand um sie geschlungen, sodass sie nicht wegkonnte.
Abby schluckte. Sie war kaum dreißig Sekunden hier und schon brauchte sie eine Pause.
Sie wandte sich an ihre Mutter, die Dad eine frische Limonade einschenkte. „Sollen wir unsere Sachen in mein altes Zimmer bringen?“
„Natürlich. Es ist alles für euch vorbereitet. Braucht ihr Hilfe mit dem Gepäck?“
„Nein, danke, das geht schon“, antwortete Ryan.
Abby streckte die Arme nach Boo aus.
„Lass sie hier“, sagte Dad. „Ich gehe mit ihr raus, damit sie ihr Geschäft machen kann.“
Abbys Magen zog sich zusammen. Sie wollte etwas sagen, aber unterließ es dann. Boo schien es gut zu gehen. Dad mochte Hunde wirklich. Er würde Boo nicht wehtun, nur um sie zu quälen, oder?
„Okay.“
„Kommt runter, wenn ihr euch eingerichtet habt“, rief Mom, als sie die Treppe hochgingen. „Ihr könnt mir bei meinem Puzzle helfen, während wir uns unterhalten.“
Sie kamen an dem Schlafzimmer ihrer Eltern auf der linken Seite vorbei, dann am Bad und betraten dann rechts ihr altes Zimmer. Es wurde von ihrer alten weißen Lampe schwach erleuchtet. Das große Bett nahm fast das ganze Zimmer ein. Da eine Kommode unmittelbar gegenüberstand, konnte immer nur eine Person am Bett vorbeigehen. Ein Nachttisch war das einzige andere Möbelstück.
Sie nahm ihren Koffer von Ryan entgegen und legte ihn auf den Tisch. Dann schaute sie aus dem Fenster, um nach Boo zu sehen. Ihr Vater sah mit Händen in den Hosentaschen dabei zu, wie die Hündin durch den Garten lief.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, warf sie einen kurzen Blick in den alten fleckigen Spiegel, der bestätigte, dass sie genauso elend aussah, wie sie sich fühlte. Sie brauchte einen Augenblick. Während Ryan seine Reisetasche in der Ecke verstaute, sank sie auf den ausgeblichenen Bettüberwurf.
Das Zimmer schien geschrumpft zu sein, seit sie ausgezogen war. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie gewachsen war, oder daran, dass Ryan es mit seiner großen Gestalt ausfüllte.
Er ließ sich auf der anderen Bettkante nieder.
„Komm nicht auf dumme Gedanken“, mahnte sie.
„Was – denkst du, ich will hier schlafen?“ Er hüpfte ein paarmal auf und ab. „Oh-oh. Zu weich. Ich habe mir mein Nachtlager schon ausgesucht, genau hier.“ Er klopfte mit dem Fuß auf die einzige Stelle, die für ihn groß genug war, und zeigte mit dem Finger darauf. „Und glaub nicht, du könntest mich umstimmen.“
Sie schnaubte verächtlich, als sie aufstand und den Wandschrank öffnete. Sie zog zwei Decken heraus und ließ sie Ryan auf den Schoß fallen.
Dabei warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf das Bett. Sie wünschte, sie könnte einfach unter die Bettdecke kriechen und dort die nächsten zwei oder drei Tage bleiben.
„Alles in Ordnung?“
„Natürlich. Ich sollte besser wieder runtergehen. Triffst du dich heute Abend mit Beau?“
„Versuchst du mich loszuwerden?“
„Ja.“
Bei seinem unsicheren Lächeln drehte sich ihr der Magen um. „Tja, tut mir leid, Weib, aber heute Abend werde ich dir Gesellschaft leisten. Beau und ich sind morgen zum Frühstück verabredet – du kannst gerne mitkommen. Ich bin sicher, er würde dich gerne sehen.“
Das sprichwörtliche kleinere Übel. „Bestimmt braucht Mom meine Hilfe wegen der Feier. Sag Beau, dass ich ihn morgen Abend sehe.“
Ryan folgte Abby die Treppe hinunter, während er immer wütender wurde. Er war ziemlich sicher, dass Bud seine Tochter seit ihrer Hochzeit nicht mehr gesehen hatte, und der Mann konnte sich nicht mal von seinem Stuhl erheben, um sie zur Begrüßung in den Arm zu nehmen? Er hatte sie ja kaum angesehen.
Schlimmer noch war, dass Abby nichts anderes zu erwarten schien. Er verstand nicht, wie ein Mann sein eigen Fleisch und Blut so behandeln konnte. Vor allem jemanden wie Abby. Lillian versuchte, Buds Verhalten mit lieben Worten und einer aufgesetzten Begeisterung wettzumachen, aber manche Dinge ließen sich nun einmal nicht überspielen.
Im Wohnzimmer saß Bud auf dem Sofa und sah fern, die nackten Füße auf den Couchtisch gelegt. Lillian saß am Tisch und war über ein Puzzle gebeugt. Boo lag zusammengerollt auf einem Kissen in der Nähe. Sie hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz, als Abby auf den einzigen noch freien Stuhl zuging.
Ryan könnte sich zu Bud aufs Sofa setzen, aber er war hier, um seine Frau zurückzuerobern, und nicht, um mit seinem Ex-Schwiegervater zu plaudern. Also kam er Abby zuvor, setzte sich auf den Stuhl und zog sie auf seinen Schoß.
Ihr stockte der Atem.
Lillian lächelte sie über ihre Lesebrille hinweg an. „Im Esszimmer sind noch mehr Stühle.“ Ryan hielt Abby fester, bevor sie fliehen konnte. „Das geht schon.“ Ihr Fliegengewicht fühlte sich genau richtig an. Er schob den Arm um ihre Taille und legte die flache Hand auf ihren Bauch.
Sie überraschte ihn, als sie ihre Arme auf seinen Arm legte – bis ihre Fingernägel sich in sein Handgelenk gruben.
„Dann hole ich euch aber wenigstens etwas zu trinken.“ Lillian sprang auf.
„Ich helfe dir.“ Abby versuchte, ebenfalls aufzustehen, aber Ryan hielt sie fest.
„Nein, Liebes, bleib du schön sitzen“, erwiderte Lillian und eilte in die Küche.
Abby funkelte ihn an und stieß seine Hand von ihrer Taille. Was soll das?, formulierten ihre Lippen lautlos.
Er zeigte auf seinen Ehering.
Sie schüttelte energisch den Kopf und machte erneut Anstalten aufzustehen, aber gegen ihn hatte sie keine Chance.
Als Lillian zurückkam, hielt Abby wieder still. Ihre Mutter stellte die Getränke auf den Tisch, dann reichte sie Bud ein Glas, wobei sie eine Hand auf seine Schulter legte, bevor sie wieder zu ihrem Platz ging.
„Ihr zwei seid wirklich süß. Es tut meinem Herzen gut zu sehen, dass ihr euch immer noch so nahe seid. Oh! Du trägst ja Nanas Ring! Ich dachte, du hättest ihn verloren.“
„Wir haben ihn wiedergefunden“, erklärte Ryan.
„Da bin ich aber froh. Ich weiß, dass er dir eine Menge bedeutet.“ Lillian nahm ein Puzzleteil und drehte es in alle Richtungen. „Ihr habt bestimmt von dem Sturm gehört, der von Nordosten herüberzieht.“
„Ich habe es in den Nachrichten gesehen“, nickte Ryan. „Ist er immer noch so heftig?“
„So heftig, wie er in dieser Jahreszeit wird. Wahrscheinlich wird er uns morgen nach Mitternacht erreichen. Ich hoffe, es stürmt erst nach der Feier.“
„Die Feier ist doch nicht draußen, oder?“
„Nein, nein, im Hotel Tourmaline, auf der Insel Folly Shoals.“
Abby hatte sich etwas entspannt und Ryan nutzte die Gelegenheit und zog sie näher an sich. Ihr Körper schmiegte sich an seine Brust, als wäre er dafür geschaffen worden. Ihre Haare rochen nach dem Zitrusshampoo, das sie immer benutzte, und er atmete den Duft tief ein. Mensch, hatte er es vermisst, sie im Arm zu halten. Wenn sie ihn ließ, würde er sie auf seinem Schoß halten, bis ihm die Beine taub wurden. Es juckte ihn in den Fingern, in ihren langen rotbraunen Locken zu wühlen, aber er wollte den Bogen nicht überspannen.
Sie beugten sich über den Tisch und beteiligten sich am Puzzlen. Das Motiv war ein Leuchtturm an einer Felsküste. Abby wandt sich, bis Boo zu ihr gelaufen kam. Sie nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen und einen Esszimmerstuhl an den Puzzletisch zu ziehen.
Ryan tat es leid, dass sie weg war, aber es würde noch mehr Gelegenheiten geben. Viel mehr.
Sie puzzelten noch über eine Stunde und plauderten dabei über das Fest am nächsten Tag. Wann immer es ihr möglich war, bezog Lillian ihren Ehemann in die Unterhaltung mit ein.
Sie erkundigte sich nach Ryans Familie und ihre Augen leuchteten auf, als er seine kleinen Zwillingsnichten erwähnte. Zu spät bemerkte er seinen Fehler.
„Oh, die ersten Enkelkinder deiner Mutter! Sie ist bestimmt ganz aus dem Häuschen.“
„Ava und Mia sind wirklich hinreißend.“ Abby fügte ein Puzzleteil in das Bild ein. „Sieh mal, Mom, ich habe es endlich gefunden.“
„Ich hätte ja so gerne selbst ein Enkelkind“, fuhr Lillian fort und blickte Ryan über den Tisch hinweg an. „Ich frage Abby ständig, wann ihr beide es mal versucht, aber sie weicht mir immer aus.“
„Wir sind noch nicht ganz so weit.“ Ryan suchte unterm Tisch nach Abbys Hand und drückte sie.
Sie zog die Hand fort.
„Ach, lass sie in Ruhe“, sagte Bud. „Vielleicht wollen sie keine Kinder.“
Abbys Rücken versteifte sich und sie senkte den Blick auf den Tisch.
„Unsinn. Die beiden wären wunderbare Eltern. Ich hoffe, ihr wartet nicht mehr zu lange. Es ist schwieriger, wenn die Gewohnheiten sich erst einmal eingeschliffen haben.“
Er fragte sich, ob sie aus eigener Erfahrung sprach. „Habt ihr Beau eigentlich in letzter Zeit gesehen?“ Es war ein unbeholfener Versuch, das Thema zu wechseln, aber er würde alles tun, um die Anspannung aus Abbys Miene zu vertreiben. „Wir treffen uns morgen zum Frühstück.“
Down East Roadhouse
„Das ist einer von Beaus Brüdern“, erklärte Abby Ryan, aber dann fiel ihr ein, dass er das wahrscheinlich schon wusste. Wieder gähnte sie und stand dann auf. „Ich glaube, ich muss schlafen gehen.“
Ryan bot an, mit Boo rauszugehen, dann verabschiedete auch er sich und folgte Abby zehn Minuten später nach oben.
Sie lag schon im Bett, als er das Zimmer betrat, und hatte das Licht ausgeschaltet. Er war so leise, wie er konnte, aber die Fußbodendielen machten eine lautlose Bewegung unmöglich. Er fand die Decke und breitete sie auf dem Boden aus. Dann zog er Schuhe und Socken aus und wünschte, er könnte seine Kleider ablegen. Bud schien kein Freund von Klimaanlagen zu sein.
Er versuchte, es sich auf dem Boden halbwegs bequem zu machen. Ein Kissen gab es nicht, also knüllte er das zusätzliche Laken unter seinem Kopf zusammen.
„Mach das nicht noch mal.“
Als er ihre Stimme in der Dunkelheit hörte, drehte er sich um. „Was soll ich nicht noch mal machen?“
„Das weißt du ganz genau. Diese kleine Farce beinhaltet kein Auf-dem-Schoß-Sitzen.“
Er seufzte. „Beruhige dich, Abby. Das ist doch kein großes Ding.“
Das Bett quietschte, als sie sich umdrehte. „Für dich ist nie etwas ein großes Ding, Ryan.“
Das stimmte nicht. Sie zu verlieren, war ein großes Ding gewesen. Das größte Ding seines Lebens. Aber sie war noch nicht bereit, das zu hören.
Er ließ den Kopf auf sein improvisiertes Kissen sinken. Ohne ein richtiges Kopfkissen würde es eine lange Nacht werden. „Du, Abby, hast du noch ein zweites …“
Etwas Großes, Weiches traf ihn am Bauch. „Kopfkissen.“
Er tauschte das zerknüllte Laken gegen das neue Kissen aus und stellte sich auf eine lange Nacht ein – denn mit oder ohne Kissen würde sie das werden. „Danke.“