Heilige Maria
ohne Sünden empfangen,
bete für uns,
die wir uns an dich wenden.
Amen.
Für St. T. de L., die, ohne daß ich es merkte,
angefangen hatte, mir zu helfen
Siehe, ich habe euch Vollmacht verliehen, auf
Schlangen und Skorpione zu treten, und über
alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch
beschädigen.
Lukas, 10:19
Am 11. November 1997 entschied Veronika, jetzt sei es – endlich – an der Zeit, sich das Leben zu nehmen. Sie machte ihr Zimmer sauber, das sie in einem Kloster gemietet hatte, stellte die Heizung ab, putzte die Zähne und legte sich aufs Bett.
Sie nahm die vier Schachteln mit den Schlaftabletten vom Nachttisch. Lieber wollte sie eine Tablette nach der anderen nehmen, anstatt sie zu zerdrücken und in Wasser aufzulösen, da schließlich zwischen Absicht und Umsetzung einer Absicht ein himmelweiter Unterschied besteht und sie sich die Freiheit bewahren wollte, es sich auf halbem Weg noch einmal anders überlegen zu können. Doch mit jeder hinuntergeschluckten Tablette wurde sie sich ihrer Sache sicherer: Nach fünf Minuten waren alle Schachteln leer.
Da sie nicht genau wußte, wie lange es dauern würde, bis sie das Bewußtsein verlor, hatte sie neben sich auf dem Bett die neuste Ausgabe des französischen Männermagazins Homme, die gerade erst in der Bibliothek eingetroffen war, in der sie arbeitete. Sie war beim Durchblättern der Zeitschrift zufällig auf einen Artikel über ein Computerspiel von Paulo Coelho gestoßen. Sie hatte den brasilianischen Schriftsteller bei einem Vortrag im Hotel Grand Union kennengelernt und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Beim Abendessen, zu dem sie Coelhos Verleger sogar eingeladen hatte, ergab sich in der großen Runde jedoch keine Gelegenheit für ein Gespräch mit ihm.
Weil sie den Autor kennengelernt hatte, dachte sie, er sei auch Teil ihrer Welt, und etwas über seine Arbeit zu lesen würde ihr bestimmt helfen, sich die Zeit zu vertreiben. Während sie auf den Tod wartete, begann Veronika über ein Computerspiel zu lesen, etwas, das sie im Grunde überhaupt nicht interessierte. Aber das war typisch für sie. Ihr ganzes Leben hatte sie den Weg des geringsten Widerstands beziehungsweise das Nächstliegende gewählt, wie zum Beispiel jetzt diese Zeitschrift.
Die Beruhigungsmittel hatten sich in ihrem Magen noch nicht aufgelöst, aber Veronika war von Natur aus passiv. Bereits die erste Zeile jedoch riß sie unverhofft aus ihrer Lethargie und führte dazu, daß sie zum ersten Mal überlegte, ob an dem Modeausdruck »nichts auf dieser Welt geschieht zufällig« nicht doch etwas Wahres sei.
Wieso dieser erste Satz gerade jetzt, da es ans Sterben ging? Welche verborgene Botschaft starrte ihr da entgegen, sofern es überhaupt so etwas wie verborgene Botschaften gibt und nicht einfach Zufälle.
Unter einem Bild aus diesem Computerspiel leitete der Journalist sein Thema mit der Frage ein: »Wo liegt Slowenien?«
›Keiner weiß, wo Slowenien liegt‹, dachte sie. ›Nicht einmal das.‹
Doch Slowenien gab es, und es lag dort draußen, hier drinnen, in den Bergen ringsum und auf dem Platz vor ihrem Fenster: Slowenien war ihre Heimat.
Sie legte die Zeitschrift zur Seite. Warum sollte sie sich jetzt über eine Welt aufregen, die nichts von Slowenien wußte: Die Ehre ihrer Nation ging sie nichts mehr an. Jetzt galt es, stolz auf sich selbst zu sein, sich zu ihrer Tat zu gratulieren, dazu, daß sie endlich den Mut gefunden hatte, dieses Leben zu verlassen: Welch eine Freude! Und sie tat es so, wie sie es sich immer ausgemalt hatte – mit Tabletten, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Veronika hatte fast sechs Monate gebraucht, um sich die Tabletten zu besorgen. Sie hatte schon geglaubt, es nie zu schaffen, schon überlegt, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Doch auch wenn dies ein blutiges Zimmer bedeutet und die Nonnen verwirrt und bekümmert hätte, verlangt ein Selbstmord, daß man zuerst an sich und dann erst an die anderen denkt. Wenn irgend möglich sollte ihr Tod unspektakulär ausfallen, doch wenn es sich nicht umgehen ließ, würde sie sich eben die Pulsadern aufschneiden – und die Nonnen müßten dann halt das Zimmer säubern und dann schnellstens das Ganze vergessen. Sonst würde es schwierig werden, das Zimmer wieder zu vermieten; Jahrtausendwende hin oder her – die Leute glaubten immer noch an Gespenster.
Natürlich könnte sie sich auch von einem der wenigen hohen Häuser Ljubljanas stürzen. Doch würde das ihren Eltern nicht noch zusätzliches Leid bescheren? Zu dem Schock über den Tod der Tochter käme noch die Zumutung, die verstümmelte Leiche identifizieren zu müssen: Nein, das war noch schlimmer, als zu verbluten, denn es würde zwei Menschen, die doch nur das Beste für sie wollten, völlig zerstören.
Daran, daß ihre Tochter tot war, würden sie sich am Ende gewöhnen. Doch über einen zertrümmerten Schädel würden sie nicht hinwegkommen.
Sich erschießen, sich von einem Hochhaus stürzen, sich erhängen, das alles paßte nicht zu ihrer weiblichen Natur. Wenn Frauen sich umbringen, greifen sie zu romantischeren Mitteln, wie sich die Pulsadern durchschneiden oder eine Überdosis Schlafmittel nehmen. Verlassene Prinzessinnen und Hollywoodstars haben es ihnen vorgemacht.
Veronika wußte, Leben bedeutete, immer den richtigen Augenblick zum Handeln abzupassen. Und so war es dann auch gewesen; zwei ihrer Freunde, die sich ihre Klagen darüber, daß sie nicht einschlafen konnte, zu Herzen nahmen, hatten ihr jeder zwei Schachteln einer starken Droge besorgt, die die Musiker einer Disko in der Stadt nahmen. Veronika hatte die vier Schachteln eine Woche lang auf ihrem Nachttisch liegen gehabt, mit dem nahenden Tod geflirtet und sich ohne irgendwelche Sentimentalität von dem verabschiedet, was man Leben nennt.
Jetzt war sie zwar glücklich darüber, bis zum Ende gegangen zu sein, aber auch gelangweilt, weil sie nicht wußte, was sie mit der ihr noch verbleibenden kurzen Zeit anfangen sollte.
Sie dachte wieder an diesen absurden Satz, den sie soeben gelesen hatte. Wie konnte ein Artikel über ein Computerspiel mit der idiotischen Frage beginnen: »Wo liegt Slowenien?«
Da sich weiter nichts Interessantes fand, mit dem sie sich hätte beschäftigen können, beschloß sie, den Artikel ganz zu Ende zu lesen, und erfuhr: Das besagte Spiel war in Slowenien produziert worden. Weil die Bewohner dieses merkwürdigen Landes, das sonst keiner kannte, billiger arbeiteten. Vor einigen Monaten hatte die französische Produktionsfirma in einer Burg in Bled für Journalisten aus der ganzen Welt ein Fest gegeben.
Veronika erinnerte sich daran, daß sie etwas über dieses Fest gehört hatte, das ein ganz besonderes Ereignis in der Stadt gewesen war. Nicht nur, weil die Burg neu dekoriert worden war, um ihr soweit wie möglich das mittelalterliche Ambiente jener CD-ROM zu verleihen, sondern auch wegen der Polemik in der lokalen Presse: Deutsche, französische, englische, italienische, spanische Journalisten waren eingeladen worden, aber kein einziger Slowene.
Der Korrespondent von Homme, der auf Kosten des Magazins zum ersten Mal nach Slowenien gekommen war, um sich die Zeit damit zu vertreiben, andere Journalisten zu begrüßen und bei Gratishäppchen in der Burg angeblich interessante Dinge von sich zu geben, hatte beschlossen, sein Thema mit einem Scherz einzuleiten, der den hochgestochenen Intellektuellen seines Landes gefallen würde. Bestimmt hatte er den Kollegen in der Redaktion diverse Lügengeschichten über Land und Leute aufgetischt und ihnen beschrieben, wie unelegant und einfach sich Sloweninnen kleiden.
Das war sein Problem. Veronika war dabei zu sterben, und eigentlich sollten sie andere Dinge beschäftigen wie beispielsweise die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gab oder wann man ihre Leiche finden würde. Dennoch oder vielleicht gerade wegen der wichtigen Entscheidung, die sie getroffen hatte, ärgerte sie der Artikel.
Sie schaute aus dem Fenster des Klosters, das auf den kleinen Platz von Ljubljana hinausging. ›Wenn sie nicht einmal wissen, wo Slowenien liegt, wird Ljubljana für sie ein Mythos sein‹, dachte sie. ›Wie Atlantis oder Lemurien und die anderen versunkenen Kontinente, die die Phantasie der Menschen beschäftigen.‹ Niemand auf der Welt würde einen Artikel mit der Frage beginnen, wo der Mount Everest lag, auch wenn der Schreiber selbst noch nie dort gewesen war. Dennoch schämte sich mitten in Europa ein Journalist einer renommierten europäischen Zeitschrift nicht, eine solche Frage zu stellen, weil er wußte, daß der größte Teil seiner Leser tatsächlich keine Ahnung hatte, wo Slowenien lag, ganz zu schweigen von Ljubljana, der Hauptstadt.
Da wußte Veronika, wie sie sich die Zeit vertreiben würde. Zehn Minuten waren schon vergangen, und sie hatte noch keine Veränderungen in ihrem Organismus gespürt. Die letzte Tat in ihrem Leben würde ein Brief an diese Zeitschrift sein, in dem sie erklären wollte, daß Slowenien eine der fünf Republiken sei, die nach der Teilung des ehemaligen Jugoslawien entstanden waren.
Sie würde den Brief als Abschiedsbrief zurücklassen und keine weiteren Erklärungen zu den wahren Beweggründen für ihren Selbstmord abgeben.
Wenn dann ihre Leiche gefunden würde, sollten die Leute ruhig denken, sie hätte sich das Leben genommen, weil eine Zeitschrift nicht wußte, wo ihr Land lag. Sie lachte beim Gedanken, daß es in den Zeitungen zu einer öffentlichen Kontroverse kommen würde, ob die Ehre ihres Landes der Grund für ihren Selbstmord gewesen war oder nicht. Und sie war beeindruckt, wie schnell sie ihre Meinung geändert hatte, denn noch wenige Augenblicke zuvor hatte sie genau das Gegenteil gedacht, nämlich daß die Welt und geographische Probleme sie nichts mehr angingen.
Sie schrieb den Brief. Das versetzte sie vorübergehend in Hochstimmung und ließ sie beinah an der Notwendigkeit zweifeln zu sterben, doch sie hatte die Tabletten nun mal geschluckt, und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
Sie hatte durchaus schon gutgelaunte Augenblicke wie diesen erlebt und brachte sich nicht einfach um, weil sie eine traurige, verbitterte, ständig depressive Frau gewesen wäre. Viele Abende war sie fröhlich durch die Straßen von Ljubljana gezogen oder hatte aus ihrem Klosterfenster auf den beschneiten kleinen Platz mit der Statue des Dichters geblickt. Einmal war sie fast einen Monat lang auf Wolken gegangen, weil ihr ein Unbekannter auf diesem Platz eine Blume geschenkt hatte.
Sie hielt sich für einen vollkommen normalen Menschen. Ihr Entschluß zu sterben hatte zwei einfache Gründe, und sicher würden viele Menschen sie verstehen, wenn sie sie in einer entsprechenden Erklärung darlegte.
Der erste Grund war: Ihr Leben verlief gleichförmig, und wenn die Jugend erst einmal vorbei war, würde es nur noch abwärtsgehen, sie würde altern, krank werden, Freunde verlieren. Letztlich würde Weiterleben nichts bringen, vermutlich nur mehr Leiden.
Der zweite Grund war: Veronika las die Zeitungen, sah fern und wußte, was in der Welt geschah. Nichts war so, wie es sein sollte, und sie konnte nichts dagegen tun. Und das gab ihr ein Gefühl vollkommener Ohnmacht.
Demnächst würde sie jedoch die letzte Erfahrung ihres Lebens machen, und die versprach ganz anders zu werden: den Tod. Der Brief an die Zeitschrift war geschrieben, und damit war für sie die Geschichte erledigt. Jetzt richtete sie ihr Augenmerk auf wichtigere Dinge: auf ihr momentanes Leben beziehungsweise Sterben.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es ist zu sterben, doch es gelang ihr nicht.
So oder so brauchte sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, denn sie würde es in wenigen Minuten wissen.
In wieviel Minuten? Sie hatte keine Ahnung. Doch sie genoß den Gedanken, daß sie die Antwort auf die Frage erhalten würde, die sich alle stellten: Gibt es Gott?
Anders als für viele Menschen war dies für sie keine lebenswichtige Frage gewesen. Unter der ehemaligen kommunistischen Regierung war die offizielle Lehrmeinung gewesen, daß das Leben mit dem Tod endete, und sie hatte sich damit abgefunden. Andererseits war die Generation ihrer Eltern und Großeltern noch in die Kirche gegangen, hatte gebetet und Wallfahrten unternommen und glaubte felsenfest, daß Gott ihre Gebete hörte.
Mit ihren vierundzwanzig Jahren, und nachdem sie das Leben in vollen Zügen genossen hatte, war sich Veronika fast sicher, daß alles mit dem Tod aufhören würde. Daher hatte sie den Selbstmord gewählt: endlich Freiheit. Vergessen für immer.
Im Grunde ihres Herzens gab es dennoch Zweifel: Und wenn es Gott nun doch gab? Die Jahrtausende machten den Selbstmord zu einem Tabu, zu einem Affront gegen die Religion: Der Mensch kämpft, um zu überleben, und nicht, um zugrunde zu gehen. Die Menschheit muß sich fortpflanzen. Die Gesellschaft braucht Arbeitskräfte. Ein Paar braucht einen Grund dafür, zusammenzubleiben, wenn die Liebe aufgehört hat, ein Land braucht Soldaten, Politiker und Künstler.
›Wenn es Gott gibt, was ich ehrlich gesagt nicht glaube, wird er begreifen, daß der menschliche Verstand Grenzen hat. Gott hat dieses Durcheinander voller Elend, Ungerechtigkeit, Geldgier und Einsamkeit geschaffen – sicher in der besten Absicht, doch mit verheerenden Folgen. Wenn es Gott gibt, wird er mit den Geschöpfen, die verfrüht von dieser Erde gehen wollen, großmütig verfahren, und er sollte uns vielmehr um Verzeihung bitten, daß er uns dieses Leben hier zugemutet hat.
Zum Teufel mit den Tabus und dem Aberglauben!‹
Ihre fromme Mutter hatte immer gesagt: Gott kennt die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nun denn, er hatte sie in diese Welt gestellt, wohlwissend, daß sie sich am Ende umbringen würde – da durfte ihn das auch nicht schockieren.
Veronika begann eine leichte Übelkeit zu verspüren, die schnell zunahm.
Wenige Minuten später konnte sie sich schon nicht mehr auf den Platz draußen vor ihrem Fenster konzentrieren. Sie wußte, es war Winter und etwa vier Uhr nachmittags. Die Sonne ging schnell unter. Sie wußte, daß die anderen Menschen weiterleben würden. In diesem Augenblick ging ein junger Mann unter ihrem Fenster vorüber, blickte zu ihr hoch und wußte nicht, daß sie kurz davor stand zu sterben. Eine Gruppe bolivianischer Musiker (Wo liegt Bolivien? Warum fragen Zeitungskorrespondenten nicht danach?) spielte vor der Statue von France Prešeren, dem großen slowenischen Dichter, der die Seele seines Volkes so nachhaltig geprägt hatte.
Würde sie die Musik, die vom Platz herauftönte, bis zu Ende hören können? Es wäre eine schöne Erinnerung an dieses Leben: die Dämmerung, die Melodie, die Träume von der anderen Seite der Welt erzählte, das warme, gemütliche Zimmer, der hübsche, lebhafte junge Mann, der jetzt stehenblieb und sie ansah. Da sie spürte, daß das Medikament wirkte, würde er der letzte Mensch sein, der sie sah.
Er lächelte. Sie lächelte zurück. Sie hatte ja nichts zu verlieren. Er winkte. Sie tat so, als würde sie woanders hinsehen. Für ihre Begriffe ging der junge Mann bereits zu weit. Verwirrt setzte er seinen Weg fort, vergaß dieses Gesicht am Fenster für immer.
Doch Veronika war glücklich, weil sie noch ein Mal begehrt worden war. Sie brachte sich nicht um, weil ihr Liebe fehlte. Nicht, weil ihre Familie ihr zu wenig Zärtlichkeit entgegenbrachte, nicht aus finanziellen Gründen oder wegen einer unheilbaren Krankheit.
Veronika hatte beschlossen, an diesem schönen Nachmittag in Ljubljana zu sterben, während bolivianische Musiker auf dem Platz spielten, ein junger Mann unter ihrem Fenster vorbeiging, und sie war glücklich über das, was ihre Augen sahen und ihre Ohren hörten. Noch glücklicher war sie, daß sie dies alles nicht noch weitere dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre sehen mußte, denn es würde sich abnutzen und zur Tragödie eines Lebens werden, in dem alles sich wiederholt und ein Tag dem anderen gleicht.
Ihr Magen begann nun zu rumoren, und sie fühlte sich elend. ›Merkwürdig, ich dachte immer, eine Überdosis Beruhigungsmittel würde mich sofort einschlafen lassen.‹ Doch statt dessen fühlte sie Ohrensausen und Brechreiz.
›Wenn ich mich übergebe, sterbe ich nicht.‹
Sie beschloß, die Krämpfe zu ignorieren, und konzentrierte sich lieber auf die schnell hereinbrechende Dunkelheit, auf die Bolivianer, auf die Ladenbesitzer, die einer nach dem andern ihre Geschäfte schlossen und nach Hause gingen. Das Brausen in ihren Ohren wurde immer schriller, und zum ersten Mal, seit sie die Tabletten genommen hatte, verspürte Veronika Angst, schreckliche Angst vor dem Unbekannten.
Doch es dauerte nicht lange, und sie verlor das Bewußtsein.
Als sie die Augen öffnete, dachte Veronika nicht: ›Das muß der Himmel sein‹. Im Himmel gab’s keine Neonröhren, und der Schmerz, der unmittelbar darauf einsetzte, war etwas typisch Irdisches, ein einzigartiger, typisch irdischer Schmerz. Sie wollte sich bewegen, aber das tat weh. Leuchtende Sterne tanzten vor ihren Augen, und Veronika begriff, daß diese Sterne nicht zum Paradies gehörten, sondern von ihren ungeheuren Schmerzen herrührten.
»Sie kommt zu sich«, hörte sie eine Frauenstimme sagen. Und dann: »Sie sind schnurstracks in die Hölle gekommen, jetzt sehen Sie zu, wie Sie damit fertigwerden.«
Nein, das konnte nicht wahr sein, diese Stimme log. Das war nicht die Hölle, denn ihr war eiskalt, und sie bemerkte, daß Plastikschläuche aus ihrem Mund und ihrer Nase ragten. Einer dieser Schläuche, der tief in ihrem Hals steckte, würgte sie.
Sie wollte ihn herausziehen, doch ihre Arme waren festgebunden.
»Ich mache nur Spaß, das ist nicht die Hölle«, fuhr die Stimme fort. »Es ist schlimmer als die Hölle, wo ich im übrigen noch nie gewesen bin. Es ist Villete.«
Trotz der Schmerzen und der würgenden Sonde begriff Veronika sofort, was geschehen war. Sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht, und jemand war rechtzeitig gekommen, um sie zu retten. Vielleicht eine Nonne, eine Freundin, die unangemeldet vorbeigeschaut hatte, jemand, der ihr unerwartet etwas vorbeibringen wollte. Tatsache war, sie hatte überlebt und befand sich in Villete.
Villete, das berühmt-berüchtigte Irrenhaus, das seit 1991, dem Jahr der slowenischen Unabhängigkeit, existierte. Damals glaubte man noch, daß die Teilung Jugoslawiens friedlich vonstatten gehen würde (in der Tat mußte Slowenien nur elf Tage Krieg durchmachen); damals wurde eine Gruppe europäischer Unternehmer autorisiert, eine alte Kaserne, deren Unterhalt zu teuer geworden war, in eine Klinik für Geisteskranke umzuwandeln.
Doch kurz darauf brach der Krieg aus: erst in Kroatien, dann in Bosnien. Die Geschäftsleute machten sich Sorgen: Die Investoren waren über die ganze Welt verstreut, und keiner wußte, wer sie waren, so daß man sie nicht zu einer Sitzung bitten konnte, um ihnen ein paar Entschuldigungen vorzutragen und sie um Geduld zu bitten. Sie lösten das Problem, indem sie ein paar für eine psychiatrische Anstalt nicht gerade empfehlenswerte Praktiken übernahmen; und in dem jungen Land, das gerade einen liberalen Kommunismus abgeschüttelt hatte, wurde Villete zum Symbol der schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus: Man brauchte nur zu zahlen, um in die Klinik aufgenommen zu werden.
Es gab genug Leute, die wegen Erbstreitigkeiten oder peinlichen Benehmens ein Familienmitglied loswerden und ein Vermögen für ein ärztliches Attest ausgeben wollten, das ihnen erlaubte, ihre Problemkinder oder -eltern einzuweisen. Andere wiederum ließen sich für beschränkte Zeit selbst in die Anstalt einweisen, um Gläubigern zu entgehen oder bei schweren Straftaten Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit zu erwecken, und kamen so ungeschoren davon.
Villete, der Ort, von wo noch nie jemand ausgebrochen war. Wo die wirklich Verrückten – die vom Richter oder von anderen Spitälern eingewiesen worden waren – mit den anderen, deren Geisteskrankheit nicht nachgewiesen oder nur vorgetäuscht war, zusammenlebten. Das Ergebnis war ein wahres Durcheinander, und die Presse publizierte ständig Geschichten über Mißhandlungen und Mißbrauch, obwohl keiner je vor Ort hatte ermitteln dürfen. Die Regierung ging zwar den Klagen nach, konnte jedoch nichts beweisen; die Aktionäre konterten mit der Drohung, überall herumzuerzählen, welche Schwierigkeiten ausländische Investoren in Slowenien zu gewärtigen hatten. Und so bestand Villete fort und brachte es sogar zu einiger Blüte.
»Meine Tante hat vor ein paar Monaten Selbstmord begangen«, fuhr die Frauenstimme fort. »Acht Jahre lang hatte sie sich nicht aus ihrem Zimmer getraut, hat nur gegessen, zugenommen, geraucht, Beruhigungsmittel genommen und fast die ganze Zeit geschlafen. Sie hatte zwei Töchter und einen Mann, der sie liebte.« Veronika versuchte ihren Kopf in die Richtung der Stimme zu wenden, was ihr aber nicht gelang.
»Nur einmal hat sie reagiert. Das war, als ihr Mann sich eine Geliebte anschaffte. Da hat sie einen Aufstand gemacht, ein paar Kilos abgenommen, Gläser zerschmissen und wochenlang den Nachbarn mit ihrem Geschrei den Schlaf geraubt. Doch so absurd es auch klingen mag, ich glaube, das war ihre glücklichste Zeit. Sie fühlte sich lebendig und stellte sich den Herausforderungen.«
›Was hat das mit mir zu tun?‹, fragte sich Veronika. ›Ich bin nicht ihre Tante, und ich habe keinen Mann.‹
»Am Ende hat der Mann seine Geliebte verlassen«, fuhr die Frau fort, »und meine Tante kehrte allmählich zu ihrer gewohnten Passivität zurück. Eines Tages rief sie mich an und sagte mir, daß sie ihr Leben geändert und mit dem Rauchen aufgehört habe. In derselben Woche, nachdem sie die Dosis Beruhigungsmittel erhöht hatte, weil sie nicht mehr rauchte, gab sie allen bekannt, daß sie sich umbringen wollte.
Niemand glaubte ihr. Eines Morgens hinterließ sie mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, in der sie sich von mir verabschiedete, und brachte sich mit Gas um. Ich hörte mir diese Nachricht mehrfach an. Nie zuvor hatte ihre Stimme so ruhig, so eins mit ihrem Schicksal und gelassen geklungen. Sie sagte, sie sei weder glücklich noch unglücklich und hielte es daher nicht weiter aus.«
Veronika tat die Frau leid, die diese Geschichte erzählte und den Tod ihrer Tante zu begreifen versuchte. Wie sollte man in einer Welt, in der man um jeden Preis versucht zu überleben, Menschen beurteilen, die zu sterben beschließen?
Keinem kommt ein Urteil zu. Jeder kennt nur das Ausmaß des eigenen Leidens oder die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens, wollte Veronika sagen, doch wegen des Schlauchs in ihrem Mund brachte sie nur ein Würgen heraus. Die Frau kam ihr zu Hilfe.
Die Frau beugte sich über die Fesseln, Schläuche und Sonden, die Veronika gegen ihren Willen vor Selbstzerstörung schützen sollten. Veronika warf den Kopf hin und her, flehte mit den Blicken, ihr die Schläuche herauszunehmen, sie in Frieden sterben zu lassen.
»Sie sind erregt«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, ob Sie es bereuen oder ob Sie immer noch sterben wollen, doch das interessiert mich nicht. Ich mache hier nur meine Arbeit. Wenn ein Patient erregt ist, muß ich ihm ein Beruhigungsmittel geben.«
Veronika hörte auf, sich zu wehren, doch die Krankenschwester gab ihr schon eine Spritze in den Arm. Kurz darauf befand sie sich wieder in einer fremden, traumlosen Welt, in der das einzige, an das sie sich erinnern konnte, das Gesicht der Frau war, die sie gerade gesehen hatte: grüne Augen, braunes Haar und die unbeteiligte Miene eines Menschen, der Dienst nach Vorschrift tut, ohne seine Handlungen zu hinterfragen.
Paulo Coelho erfuhr die Geschichte von Veronika drei Monate später, als er in einem algerischen Restaurant in Paris mit einer slowenischen Freundin zu Abend aß, die ebenfalls Veronika hieß und Tochter des Chefarztes von Villete war.
Später, als er sich entschloß, ein Buch darüber zu schreiben, dachte er daran, den Namen Veronikas, seiner Freundin, zu ändern, um die Leser nicht zu verwirren. Er dachte daran, ihr den Namen Blaska oder Edwina oder Marietzja oder irgendeinen anderen slowenischen Namen zu geben. Doch am Ende beschloß er, die wahren Namen beizubehalten. Wenn er Veronika, seine Freundin, meinte, würde er sie »meine Freundin Veronika« nennen. Der anderen Veronika brauchte er keinerlei nähere Bestimmung hinzuzufügen, denn sie würde die Hauptperson des Buches sein und müßte den Lesern nicht ständig mit irritierenden Zusätzen wie »Veronika, die Verrückte« oder »Veronika, die versuchte, sich umzubringen« vorgestellt werden. Zudem würden er wie auch seine Freundin Veronika nur kurz in dieser Geschichte auftauchen, an dieser Stelle nämlich.
Veronika, die Freundin, war entsetzt über das, was ihr Vater getan hatte, zumal er als Direktor um den guten Ruf seiner Klinik bangen mußte und auch weil er demnächst seine Habilitationsarbeit Medizinprofessoren vorlegen wollte, die sie nach traditionellen Maßstäben beurteilen würden.
»Weißt du, woher das Wort ›Asyl‹ kommt, mit dem hier auch Irrenanstalten bezeichnet werden?« fragte sie. »Es geht auf das mittelalterliche Wort ›asylum‹ und das damals bereits wirksame Recht der Menschen zurück, in Kirchen und an geheiligten Orten Zuflucht zu finden. Das Recht auf Asyl ist doch etwas, was jeder zivilisierte Mensch versteht. Wie konnte mein Vater als Direktor eines Asyls so mit jemandem umgehen?«
Paulo Coelho wollte ganz genau wissen, was geschehen war. Es gab einen ganz persönlichen Grund für sein Interesse an Veronikas Geschichte, war er doch selbst dreimal in so einem Asyl oder so einer Anstalt gewesen – 1965, 1966 und 1967. Die Anstalt, in die er eingewiesen worden war, hieß Casa de Saúde Dr. Eiras und lag in Rio de Janeiro.
Noch heute war ihm nicht ganz klar, weshalb er eingewiesen worden war. Vielleicht war seinen Eltern sein merkwürdiges, zwischen Schüchternheit und Extravertiertheit schwankendes Verhalten suspekt gewesen, zumal er den Wunsch äußerte, »Künstler« zu werden, was für sie zwangsläufig ein Schicksal als dahinvegetierender Außenseiter bedeutete.
Wenn er darüber nachdachte – was er übrigens selten tat –, dann war der eigentliche Verrückte für ihn der Arzt, der zugestimmt hatte, ihn ohne einen konkreten Grund in eine Anstalt einzuweisen. In jeder Familie schiebt man manchmal gern die Verantwortung auf andere ab und wäscht seine Hände in Unschuld, weil ja schließlich keiner die Tragweite dieser drastischen Maßnahme ermessen konnte.
Paulo lachte, als er von Veronikas seltsamem Leserbrief an Homme erfuhr, in dem sie sich darüber beklagte, daß eine so bedeutende französische Zeitschrift nicht wußte, wo Slowenien lag.
»Aber deshalb bringt man sich doch nicht gleich um.«
»Darum hat der Brief auch nichts bewirkt«, sagte Veronika, die Freundin, bedrückt. »Noch gestern, als ich mich hier in meinem Pariser Hotel eingetragen habe, meinte der Portier, Slowenien sei eine Stadt in Deutschland.«
Davon konnte Paulo Coelho als Brasilianer ein Lied singen, denn wie oft hatte man ihn im Ausland nicht schon zur Schönheit von Buenos Aires beglückwünscht, das irrtümlich für die Hauptstadt Brasiliens gehalten wurde. Wie Veronika war er in ein Sanatorium für Geisteskranke gesteckt worden, aus dem er, wie seine erste Frau einmal anmerkte, »nie wieder hätte herauskommen sollen«.
Doch er war wieder herausgekommen. Und als er die Casa de Saúde Dr. Eiras das dritte und, wie er sich schwor, letzte Mal verließ, hatte er sich innerlich zwei Versprechen gegeben: a) einmal über dieses Thema zu schreiben und b) sich nicht eher öffentlich darüber zu äußern, als bis seine Eltern gestorben waren; er wollte sie nicht verletzen, denn beide hatten sich jahrelang Vorwürfe deswegen gemacht.
Seine Mutter war 1993 gestorben. Doch sein Vater, der im Jahre 1997 84 Jahre alt geworden war, lebte noch und war bis auf ein Lungenemphysem (das er bekommen hatte, obschon er Nichtraucher war) kerngesund, auch wenn er sich von Tiefkühlkost ernährte, weil sich keine Angestellte fand, die seine Schrullen ertrug.
Veronikas Geschichte bot Paulo Coelho die Möglichkeit, über das Thema zu sprechen, ohne seinem Versprechen untreu zu werden. Anders als Veronika hatte er nie an Selbstmord gedacht, doch die Anstaltswelt mit ihren Behandlungsmethoden, dem Verhältnis Arzt–Patient, dem von ihr vermittelten zwiespältigen Gefühl von Geborgenheit einerseits und Beklemmung andererseits kannte er sehr genau.
Nehmen wir also Abstand von Paulo Coelho und Veronika, der Freundin, und fahren wir mit der Geschichte fort.