In Liebe für meine Söhne

Inhalt

Einführung

Was ist eigentlich Selbstwert?

Selbstsicherheit

Selbstvertrauen

Selbstbewusstsein

Selbstwert

Deshalb ist ein guter Selbstwert wichtig

Die Kraft, die Kinder trägt

Schatzsuche: Wie wir Kinder beim Entdecken ihres Selbst unterstützen

Kinder ihr Leben mitgestalten lassen

Dem Kind eine Stimme geben

Belastende Gefühle erkennen und validieren

Ein Gesprächsklima schaffen, in dem Kinder gern erzählen

Jedes Kind ist einzigartig

Individualität bestärken

Der liebevolle Blick auf uns selbst als Vorbild

Liebevolle Selbstansprache vorleben

Was ist schon normal?

Selbstwertstärkend loben

Bewusst loben

Aufrichtig loben

Eher beschreibend als bewertend loben

Selbsteinschätzung fördern

Anstrengung loben

Kindern helfen, ihr Potenzial zu leben

Vertrauen verleiht Flügel

Mutmacher- und Mut-Killer- Gedanken

Die Macht der Glaubenssätze

Der Zauber der inneren Bilder

Ausdauer gibt Kraft

Für seine Werte einzutreten, schafft Selbstwert

Dankbarkeit schafft Fülle

Soziale Eingebundenheit

Gute Noten, Schule und Leistung sind nicht alles

Die eigene Entwicklung zählt

Erziehungsfalle Hausaufgaben

Der Unterschied zwischen Erfolg und Erfüllung

Sport, Kunst, Lesen und Musik: Freizeit genießen ohne Druck

Kinder im »Flow«

Soziale Medien: Der liebevolle Blick auf sich selbst in Zeiten der Selbstdarstellung

Entfremdung durch »Likes«

Eltern sollten wissen, was in der virtuellen Welt passiert

Situationen, die den Selbstwert herausfordern

Fehler bergen Chancen

Niederlagen: Versuche auf dem Weg zum Erfolg

Konflikte müssen kein Drama sein

Einfühlsam Verständnis und Kooperation fördern

Frustrationen vermeiden: Erklärungen statt Ansagen

Wie geht man mit Kränkung um?

Elternliebe: der Schatz, der unseren Kindern das Tor zur Selbstliebe öffnet

Ich liebe dich so, wie du bist

Blicke machen Mut

Trösten verleiht Kraft

Sich einlassen schafft Nähe

Geborgenheit als Schutzschild für das Kind

Der Zauber der Vergebung

Liebe »einfach so«

Selbstwert- Geschichten zum Vorlesen

Auch Hasenkinder machen Fehler

Vom Hinfallen und Wiederaufstehen

Frau Dr. Wackelzahn und das verbotene Lachen

Folge deinen Träumen

Der Angsthase im Paket

Der kleine Funke Freundlichkeit geht um die Welt

Nachwort

Liste mit Gefühlen

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Dank

Über die Autorin

Einführung

Als kleines Kind schüchterten mich fremde Menschen ein; ich wurde ängstlich und zurückhaltend, wenn ich auf sie traf. Neue Situationen waren eine große Herausforderung für mich; ich wollte sicherstellen, dass ich tatsächlich erwünscht war. So musste meine Mutter mir beispielsweise immer und immer wieder bestätigen, dass ich wirklich einfach bei der Turnstunde des örtlichen Turnvereins mitmachen könne – ich hatte vor meiner ersten Turnstunde große Zweifel, dass ich da einfach so auftauchen durfte. Im Kindergarten integrierte ich mich in die Gemeinschaft, weil ich die Regeln verstand und befolgte, nicht weil ich mich wohlfühlte und gern hinging. Ein Schüchternheitsgefühl, das mich daran hinderte, meine Wünsche zu äußern oder ihnen nachzugehen, war mein täglicher Begleiter.

Ich erinnere mich an einen Jungen, der mich damals ungeheuer beeindruckte. Jürgen war etwas älter als ich, etwa fünf Jahre alt, blond und der Inbegriff von Selbstsicherheit. Er war fröhlich, lebhaft, offen, und alle wollten mit ihm spielen. Jürgen machte Ansagen, verteilte Rollen und war in der Lage, mit allen Kindern gut umzugehen. Besonders im Gedächtnis ist mir ein Ausflug geblieben, bei dem Jürgen das Zentrum darstellte und alle Kinder sich um ihn scharten.

Die Worte Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstwert kannte ich damals noch nicht, dennoch kann ich aus heutiger Sicht erkennen, dass all diese Begriffe auf Jürgen zutrafen – er konnte seine Wünsche äußern, konnte auf die Wünsche von anderen Menschen eingehen und mit positiver Kraft kommunizieren. Selbstbewusste Menschen haben ein natürliches Selbst-Verständnis: Sie überlegen nicht hin und her, ob sie dies oder jenes dürfen oder sollen – es ist für sie einfach selbstverständlich, ihrem Inneren zu folgen. So war auch Jürgen – er war im Einklang mit sich und in Verbindung mit seiner Umwelt; das machte ihn attraktiv für die Gemeinschaft. Die Bestätigung durch die anderen Kinder, die alle mit ihm spielen wollten, verstärkte seine Selbstsicherheit. Und Jürgen war auch bei den Erwachsenen beliebt; die Erzieherinnen wählten ihn stets als »Gruppenleiter«, wenn es darum ging, Verantwortung an ein Kind zu übertragen. Dies hat seine Selbstsicherheit wahrscheinlich weiter bestärkt.

Ich selbst empfand mich so ganz anders als Jürgen. Ich traute mich nicht, vor fremden Menschen zu sprechen, hielt mich bei Spielen zurück, an denen ich eigentlich gern teilgenommen hätte. Die Gefühle der Schüchternheit, des Mich-nicht-Trauens machten mich traurig. Ich fühlte mich in vielen Situationen ausgeschlossen. Dass ich mich selbst ausschloss, konnte ich damals noch nicht begreifen. Ich war offensichtlich nicht in der Lage, meine Bedürfnisse zu äußern. Umso mehr bewunderte ich Jürgen, der so frei äußerte und tat, was er wollte.

Selbstunsicherheit löst unangenehme Gefühle aus – Traurigkeit, Ängstlichkeit, Gefühle der Isolation und Scham. Selbstsicherheit hingegen bewirkt Gelassenheit, Zuversicht, Vertrauen und Tatkraft. Außerdem macht Selbstsicherheit attraktiv – als »beliebte« Kinder gelten die, die sozial sicher sind. Sie sind als Spielpartner begehrt und können sich aussuchen, mit wem sie spielen möchten. So tragen diese positiven Reaktionen der Umwelt auf die selbstsicheren Kinder weiterhin zu einer Verstärkung ihrer Selbstsicherheit bei, während unsichere Kinder weniger positive Rückmeldungen von ihrer Umwelt bekommen, was ihre Unsicherheit verstärkt. Erhalte ich positive Rückmeldungen von meiner Umwelt, so fühle ich mich gemocht, geliebt und wertgeschätzt. Mein Selbstwertgefühl wird genährt.

Dieses Buch gibt Empfehlungen und Anregungen, wie Eltern dazu beitragen können, den Selbstwert ihres Kindes zu stützen und zu fördern. Jede Leserin, jeder Leser kann aus der Palette der Vorschläge die ausprobieren, die sie oder ihn überzeugen und die zu ihnen passen. Die Bande, die Eltern und Kinder miteinander knüpfen, sind immer hoch individuell, und nicht jeder Ansatz passt zu jeder Familie.

Ich bin jedoch überzeugt von zwei Grundlagen, die für jede selbstwertfördernde Erziehung gelten:

Aus meiner Sicht lassen sich diese Prinzipien für die Erziehung eines jeden Kindes anwenden und ich werde sie in diesem Buch ausführlich erörtern.

Da Eltern ihren Kindern gegenüber immer als Vorbild agieren und niemals nicht Vorbild sein können, komme ich in diesem Buch auch sehr häufig auf die Haltung, Einstellung und das Verhalten von dir als Vater oder Mutter zu sprechen. Ich bin der Ansicht, dass wir als Eltern immer wieder innehalten und uns in unseren Reaktionen und Haltungen überprüfen können, um unseren Kindern in der jeweiligen Situation ein möglichst gutes Vorbild zu sein. Das geht hin und wieder auch schief – da wir alle nicht perfekt sind, sind es Versuche, die mal besser, mal schlechter gelingen. Wichtig ist nur, dass wir diese Versuche tatsächlich unternehmen und nicht in unreflektierten Automatismen funktionieren. Wir sind nicht als Eltern geboren, entsprechend müssen wir in diese Rolle erst hineinwachsen und für uns herausfinden, wie wir sie gestalten möchten. Häufig sind unsere Verhaltensweisen von unbewussten Motiven geprägt, die nicht selten in unserer eigenen Erziehung und Kindheit begründet liegen, und es ist überaus hilfreich, uns damit immer wieder auseinanderzusetzen. Das ist ein hoher Anspruch an uns selbst und auch sehr anstrengend! Es vermittelt jedoch spannende Erkenntnisse auch für die eigene Entwicklung und ist auf jeden Fall einer positiven Beziehung zum Kind förderlich.

Um die Lektüre des Buches nicht allzu anstrengend, sondern auch immer wieder leicht und spielerisch zu gestalten, habe ich im Anhang Geschichten für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter zusammengestellt, die einige der im Buch behandelten Themen in Form von kindgerechten Geschichten aufnehmen. Über diese Geschichten habt ihr die Möglichkeit, euch gemeinsam mit eurem Kind mit diesen Themen zu befassen und euch darüber auszutauschen. Eltern und Kinder können auf diese Art und Weise spielerisch ins Gespräch kommen. An einigen Passagen in den folgenden Kapiteln findet ihr Verweise zur jeweiligen Geschichte.

Die aufgeführten Vorschläge und Anregungen im Umgang mit deinem Kind sollten immer eine freiwillige und spielerische Komponente haben. Übungen oder Gespräche lassen sich nicht erzwingen – dein Kind sollte sich immer freiwillig und gern darauf einlassen. All die vorgeschlagenen Ansätze sind konzipiert, um Leichtigkeit, Vertrauen und Nähe zu befördern, und sollen unter keinen Umständen zu Zwang und Druck führen.

Geht dein Kind nicht auf einen Vorschlag von dir ein, ist es vielleicht gerade der falsche Moment dafür, der falsche Ort, oder es herrscht nicht die passende Stimmung – es gibt vielfältige Gründe, warum ein Kind sich nicht auf den einen oder anderen Ansatz einlassen kann, und das muss überhaupt nicht an dir oder deiner Art liegen. Lass dich deshalb nicht entmutigen, wenn ein Gesprächsansatz vielleicht nicht gleich gelingen sollte. Gib nicht auf, aber erzwinge auch nichts. Du kannst dein Glück dann einfach zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort oder mit einer veränderten Stimmung noch einmal versuchen.

Der Mangel an Selbstwert gilt, neben anderen Faktoren, als Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Störungen. Im Rahmen von Therapien kommt dem Aufbau des Selbstwertgefühls eine große Bedeutung zu. In Deutschland erkranken innerhalb eines Jahres rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Störung, das betrifft jedes fünfte Kind. Dabei ist nur jeder zwanzigste unter Achtzehnjährige in psychotherapeutischer Behandlung.1 Seit Beginn des Jahres 2020 sorgte die Pandemie für zusätzliche Belastungen – fast jedes dritte Kind zeigte auch zehn Monate nach ihrem Beginn noch psychische Auffälligkeiten.2 Weil ein guter Selbstwert als der protektive Faktor für die gesunde psychische Entwicklung von Kindern gilt, kann durch eine selbstwertstärkende Erziehung von Anfang an viel individuelles und auch gesellschaftliches Leid verhindert werden.

Durch meine therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen habe ich wertvolle Erfahrungen mit der Förderung des Selbstwertgefühls bei jungen wie älteren Kindern machen dürfen. Therapeutische Anregungen, die in der Regel auf eine Veränderung bisheriger unangemessener – das heißt das Kind und/oder seine Umwelt belastender – Einstellungen oder Verhaltensmuster abzielen, können von einem Kind nur dann angenommen werden, wenn es sich in seinem Selbstwert nicht massiv infrage gestellt fühlt. Insofern ist eine Stabilisierung des Selbstwerts notwendig, um therapeutisch etwas bewirken zu können. Als Therapeutin weiß ich, dass man nicht jedes Kind auf dieselbe Art und Weise erreicht; es geht immer wieder darum, die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen, um ihm konstruktiv und hilfreich begegnen zu können. Und auch als Eltern, die wir glauben, unser Kind in- und auswendig zu kennen, können wir neugierig bleiben und immer wieder zu erfassen versuchen, wer und wie das eigene Kind tatsächlich ist. Immer wieder sollten wir überprüfen: Ist mein Kind tatsächlich so, wie ich mir das denke, oder ist diese oder jene Einschätzung nur eine Wunschvorstellung von mir? Kinder durchleben ständig neue Phasen – sie sind kleine Persönlichkeiten in Entwicklung, nichts ist »in Stein gemeißelt«.

In vielen Situationen sind selbst die wohlmeinendsten unter uns Eltern sich nicht bewusst, dass wir uns unser Kind auf eine bestimmte Art und Weise wünschen (gesellig, ehrgeizig, kämpferisch, sportlich, musikalisch …) und in dem Bestreben, es möglichst in diese Richtung zu lenken, versäumen, das authentische Wesen unseres Kindes zu erfassen. Wenn wir unsere Kinder in ihrem Selbstwertgefühl unterstützen wollen, tun wir gut daran, sie in ihrer Individualität zu erkennen und anzunehmen.

Ich habe heute drei fast erwachsene Söhne. Natürlich habe ich nicht annähernd all das, was ich in diesem Buch Eltern rate, als Mutter selbst einlösen können – vieles, von dem ich hier schreibe, war mir als junge Mutter nicht bewusst, viele Erkenntnisse sind mit den Jahren und mit der Erfahrung gereift. Während des Schreibens kamen mir einige Situationen mit meinen Kindern in Erinnerung, von denen ich mir wünschte, sie noch einmal mit der größeren Ruhe, Erfahrung und Gelassenheit von heute angehen zu dürfen.

Selbstverständlich lässt sich aus der Perspektive einer Mutter mit »großen« Kindern vieles elegant herunterschreiben, was sich im harten Überlebensalltag mit kleinen Kindern zwischen Windeln, Schlaflosigkeit, Quengeln, Job-Stress und Partnerschaftsansprüchen nicht so geschmeidig umsetzen lässt, wie es hier beschrieben ist. Der Alltag mit Kindern ist wunderschön – und super anstrengend. Nicht immer läuft alles so, wie wir es uns wünschen, und nicht immer verhalten wir uns so, wie wir es uns wünschen würden. Das ist normal. Alle Eltern erleben das. Insgesamt geht es aus meiner Sicht nicht um Perfektion, sondern darum, eine bestimmte Erziehungshaltung einzunehmen – wenn die Grundrichtung klar und stabil ist, unsere Kinder merken, dass wir uns immer wieder bemühen, auf sie einzugehen, und sie unsere zuverlässige Zuwendung und Liebe spüren, dann ist eine emotionale Familienbasis geschaffen, die auch stressige Zeiten und Konflikte gut bewältigen lässt.

Wir Eltern sind immer die besten, die wir gerade sein können. Entscheidend ist, dass wir nicht stagnieren − auch in schwierigen Phasen, die alle Familien auf die eine oder andere Art durchleben −, dass wir uns nicht entmutigen lassen und uns immer wieder hinterfragen und weiterentwickeln. Und dass wir großzügig sind – mit uns und unseren Kindern.

Was ist eigentlich Selbstwert?

Im Alltag verwenden wir viele mit »Selbst« zusammengesetzte Wörter: Selbstwert, Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und etliche mehr. Diese Begriffe assoziieren wir mit positiver Stärke, Annahme und Vertrauen in uns selbst. Wir verwenden sie oft synonym, obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben. Diese möchte ich im Folgenden kurz erläutern.

Selbstsicherheit

Die Französischlehrerin der siebten Klasse eines Gymnasiums fragt in die Klasse, wer bereit wäre, die angereiste Schulklasse aus Frankreich, die zum Austausch an die deutsche Schule gekommen ist, im Namen der Schülerschaft zu begrüßen. Betretenes Schweigen. Keiner meldet sich. Alle gucken weg. Vor vielen Menschen sprechen, und dann auch noch auf Französisch? Nach einem kurzen Moment meldet sich Leonie: »Ja, klar mache ich das.« Ohne große Aufregung und mit einer freundlichen und offenen Art heißt sie wenig später die französischen Gäste im Namen der Schülerschaft willkommen. Sie wirkt dabei nicht aufgeregt, ihr Auftreten ist selbstsicher und hat eine gewisse Selbstverständlichkeit.

Selbstsicherheit bedeutet, dass man sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten sicher, das heißt ohne Angst und auch ohne Aggression, angemessen verhalten kann. Ein selbstsicheres Kind geht offen auf andere Menschen zu und weiß, wie es sich in unterschiedlichen Situationen angemessen verhält. Das müssen nicht solche herausfordernden Situationen wie im oben genannten Beispiel sein; im Alltag eines Kindes gibt es genug unterschiedliche soziale Kontexte, auf die es sich immer wieder neu einstellen muss und in denen es entsprechend angemessen reagieren sollte. Wenn es eine Gruppenarbeit mit anderen Kindern in der Schule macht, wenn es in der Schulpause mit anderen Kindern spielen möchte, wenn es auf dem Spielplatz auf neue Kinder trifft, wenn es im Verein einen Team-sport macht, wenn es sich nachmittags mit Freunden trifft: Immer wieder geht es darum, sicher und angemessen auf die anderen zuzugehen und ebenso auf sie zu reagieren.

Selbstvertrauen

Es ist der Beginn eines neuen Schuljahres, Ben und Alex besuchen beide die 5. Klasse ihrer neuen Schule. Ben ist vergnügt und freut sich auf das Neue, Alex ist etwas nervös und macht sich Sorgen, ob er den Schulstoff wohl schaffen wird. Obwohl beide einen ähnlichen Notendurchschnitt hatten, denkt Ben: Ich werde das schon packen, auch die neuen Fächer – bisher habe ich ja auch alles gut geschafft. Alex denkt sich: Na, hoffentlich schaffe ich alles. Ich habe etwas Angst vor den neuen Fächern. Bisher hat zwar alles geklappt, aber die Fächer werden immer schwieriger und der Stoff wird immer mehr – hoffentlich komme ich gut mit an der neuen Schule. Ben geht mit Selbstvertrauen in das neue Schuljahr, Alex startet mit Selbstzweifeln.

Beim Begriff Selbstvertrauen geht es um unsere Kompetenzen: Selbstvertrauen bezieht sich auf mein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten. Je häufiger ich die Erfahrung mache, dass mir etwas gelingt, desto mehr werde ich in meine Kompetenzen vertrauen. Erlebte Erfolge fördern das Selbstvertrauen. Mein Selbstvertrauen hängt stark von meinem Anspruch ab. Habe ich einen hohen Anspruch an mich selbst, dann kann es sein, dass ich trotz objektiver Erfolge und guter Leistungen kein hinreichendes Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten entwickle. So haben Perfektionisten einen immens hohen Anspruch an sich selbst, dem sie nur mit größter Anstrengung, wenn überhaupt, gerecht werden können. Nie finden sie sich gut genug, ständig zweifeln sie an ihrer Leistung, überprüfen und korrigieren ihre Leistung immer wieder. Und haben entsprechend Schwierigkeiten, in ihre Fähigkeiten zu vertrauen. Dass man unterschiedliche Ansprüche an sich und seine Leistung hat, erklärt auch, warum jeder Mensch etwas anderes als Erfolg wahrnimmt. Dieselbe Leistung mag für das eine Kind ein riesiges Erfolgserlebnis sein, während sie für ein anderes Kind mit einem höheren Anspruch vielleicht nur ein Okay-Erlebnis darstellt.

Ein Kind mit einem guten Selbstvertrauen traut sich etwas zu und ist überzeugt: Ich schaffe das, was ich mir vornehme. Es trägt in sich eine Selbstwirksamkeitserwartung: Es hat Vertrauen in seine Fähigkeiten und geht davon aus, dass es Schwierigkeiten, die auftreten können, überwinden und von ihm anvisierten Ziele erreichen kann – so wie Ben im oben genannten Beispiel.

Selbstbewusstsein

In der Schülervertretung sollen sich die Schüler, die für das Schulsprecher-Amt kandidieren, den anderen in der Runde vorstellen. Leila gelingt es, sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen zu benennen: »Ich bin offen, habe viele Freunde, komme gut mit Lehrern zurecht und setze mich gern für andere ein.«

Und: »Ich erledige meine Pflichten oft auf den letzten Drücker und gerate deshalb manchmal in stressige Situationen, manchmal drängle ich mich gern in den Vordergrund.«

Leilas Auftreten ist selbstbewusst.

Selbstbewusstsein hat zwei Bedeutungen: Zum einen – im Sinn des englischen Begriffs »self consciousness« – wird das aktive Erkennen der eigenen Persönlichkeit beschrieben. Bin ich mir meiner selbst bewusst, so habe ich ein Bewusstsein darüber, wer ich bin – was ich denke, was ich fühle, was ich kann und was nicht, was meine Bedürfnisse sind, wie ich mit anderen zurechtkomme. Diese Erkenntnisse werden von inneren und äußeren Prozessen gesteuert: Kinder erlangen sie durch Erfahrungen und Gedanken, die sie sich machen, aber ganz wesentlich auch durch Einsichten, die sich aus Interaktionen ergeben – zunächst besonders aus Interaktionen mit ihren Eltern und Geschwistern, später, wenn sich der soziale Radius ausweitet, auch aus solchen mit Freundinnen und Freunden, Lehrpersonen, Kita- und Kindergartenpersonal und anderen Menschen. Durch die Rückmeldungen all dieser Personen wird das Bild, das Kinder sich von sich selbst machen, geformt und geprägt. Je jünger die Kinder sind, desto stärker wiegen die Einschätzungen der für sie wichtigen erwachsenen Bezugspersonen. Ein in diesem Sinn selbstbewusstes Kind kann sich angemessen einschätzen. Es weiß, wer es ist, was es mag und was nicht, was ihm wichtig ist und wie es auf andere wirkt. Es hat eine gute Selbstwahrnehmung und kann seine Gefühle einordnen: Es fühlt sich nicht nur »gut«, »okay« oder »mies«, sondern weiß, dass es sich traurig oder ärgerlich fühlt, es kann unterscheiden zwischen fröhlich oder stolz.

Zum anderen bedeutet Selbstbewusstsein, vom eigenen Wert und den eigenen Fähigkeiten überzeugt zu sein, hier wird also das Selbstvertrauen miteingeschlossen. Ein in diesem Sinn selbstbewusstes Kind vertraut in sich und blickt seiner Zukunft mit Zuversicht und Optimismus entgegen. Leila bewirbt sich um das Amt der Schulsprecherin mit der Zuversicht, dass sie dafür geeignet ist und sicherlich viele Kinder für sie stimmen werden.

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl meist synonym verwendet.

Selbstwert

Der etwas übergewichtige Leopold wird wieder einmal nicht gewählt und bleibt als Letzter von der Klasse übrig, als es im Sportunterricht darum geht, unterschiedliche Mannschaften für ein Spiel zusammenzustellen. Leopold ist das gewohnt. Er weiß: Ich bin nun mal nicht der Sportlichste, für mein Team wäre ich deshalb kein Gewinn. Ich weiß aber, dass meine Kumpels mich trotzdem mögen, weil ich ein guter Freund bin: Ich bin zuverlässig, mutig und lustig. Die anderen lachen oft über meine schlagfertigen Witze. Ich bin eine Null in Sport, aber ich habe andere Stärken, und insgesamt mag ich mich, auch wenn ich nicht schlank und sportlich bin. Und obwohl ich dick bin, habe ich ein schönes Gesicht und kleide mich cool. Leopolds Übergewicht und seine sportlichen Misserfolge können seinem insgesamt stabilen Selbstwert nichts anhaben.

Selbstwert bezeichnet den Wert, den wir uns selbst beimessen. Hierbei geht es um unsere Einstellung uns selbst gegenüber und die Frage, inwieweit wir uns mit all unseren Schwächen und Stärken annehmen und schätzen können. Der Selbstwert ergibt sich aus den Einschätzungen, die eine Person über ihre Fähigkeiten, Eigenschaften und insgesamt über ihr Wesen entwickelt. Diese ergeben sich aus Vergleichen mit anderen Menschen und auch aus Vergleichen, die sie zwischen ihrem Real- und ihrem Ideal-Selbst anstellt.

Eine Person mit einem guten Selbstwert
empfindet sich als wertvoll so, wie sie ist.
Weder überschätzt sie sich, noch unterschätzt sie sich. Sie akzeptiert und schätzt sich.

Unser Selbstwert beeinflusst unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Ein Kind mit einem guten Selbstwert fühlt sich geliebt und findet sich gut so, wie es ist. Es ist nicht von der Erfahrung geprägt, dass es sich verstellen, anstrengen oder beweisen muss, um angenommen und geliebt zu werden. Es kann sich authentisch verhalten und erfährt Anerkennung und Liebe. Unser Selbstwertgefühl wird gestärkt, wenn wir erleben, dass wir angenommen und geliebt werden, wie wir sind: Ich liebe dich, weil du du bist. Du bist einzigartig und wunderbar, genauso, wie du bist.

Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und Selbstwert ergänzen sich in einer Persönlichkeit zu einer sehr individuellen Persönlichkeits-Komposition. So kann ein Kind mit einem schwachen Selbstvertrauen in seine schulischen Leistungen trotzdem einen guten Selbstwert entwickeln, da es sich über seine schulischen Leistungen hinaus als eine hilfsbereite und freundliche Person erlebt, die von ihren Mitmenschen gemocht und geschätzt wird.

Ein Kind mit einem selbstsicheren Auftreten kann möglicherweise trotzdem einen schlechten Selbstwert besitzen, da es zwar soziale Kompetenz besitzt und nach außen hin selbstsicher auftritt, sich aber zum Beispiel aufgrund von erlebten Ablehnungserfahrungen nicht als liebenswert empfindet.

Ein Jugendlicher, der selbstunsicher in neuen sozialen Kontexten ist, kann trotzdem Selbstvertrauen in seine schulischen Leistungen haben, da er dort gute Erfolge erzielt. Er kann aber möglicherweise einen geringen Selbstwert haben, da er sich als ungelenk und unbeliebt empfindet und ihm die Anerkennung der Gleichaltrigengruppe sehr wichtig ist, viel wichtiger als seine schulischen Leistungen.

Wenn wir über unseren Selbstwert sprechen, nennen wir ihn häufig Selbstwertgefühl, obwohl der Selbstwert streng genommen kein Gefühl ist. Er ist jedoch mit Gefühlen verbunden. Wir alle wünschen uns für unsere Kinder einen positiven Selbstwert, denn dieser ist gekoppelt an angenehme Gefühle wie Wohlbefinden, Freude, Zutrauen und Sicherheit, die sich aus der eigenen Selbstakzeptanz und Selbstachtung entwickeln. Ein schlechter Selbstwert hingegen ist verbunden mit belastenden Gefühlen wie Angst, Traurigkeit, Mutlosigkeit, Wut, Scham und Unsicherheit.

Selbstwert ist zum Teil Veranlagung, er wird uns also zu einem gewissen Anteil mit in die Wiege gelegt, zum anderen und wohl entscheidenderen Teil entwickelt er sich aus den Erfahrungen, die wir im Leben machen. Grundlegend wichtig ist die Liebe, die Kinder von ihren Eltern erfahren: Fühlen sie sich bedingungslos von ihren Eltern geliebt, so stärkt das ihren Selbstwert und stabilisiert ihn. Später kommen Erfahrungen der Annahme oder Ablehnung durch andere Menschen wie Erzieher, Lehrerinnen und andere Kinder hinzu, die einen Einfluss auf den Selbstwert haben. Kinder, die von anderen angenommen werden, entwickeln einen besseren Selbstwert als solche, die viel Ablehnung erfahren.

Ein starker Selbstwert unterstützt eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Er ist verbunden mit positiven Auswirkungen auf Freundschaften und Partnerschaften, auf Schulleistungen und Erfolg im Beruf sowie auf die psychische Gesundheit. Ein niedriger Selbstwert hingegen ist ein Risikofaktor für Probleme in sozialen Beziehungen, für Leistungen in Schule und Beruf und die Entstehung von Depressionen.

Deshalb ist ein guter Selbstwert wichtig

Entwicklungspsychologe Professor Ulrich Orth von der Universität Bern erforscht das Selbstwertgefühl. Er hat herausgefunden3, dass der Selbstwert typischerweise vom Vorschulalter bis zum Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren steigt und in den Jahren der Pubertät auf dem dann erreichten Niveau bleibt. Auch wenn man typischerweise denken würde, dass der Selbstwert in der von Zweifeln und manchen Krisen geschüttelten Pubertät absinken würde, zeigen die Untersuchungsergebnisse, dass er über diese Jahre stabil bleibt. Im späteren Jugendalter und im Erwachsenenalter steigt das Selbstwertgefühl in der Regel weiter an bis zum Alter von etwa 60, 70 Jahren, wobei besondere Lebensereignisse wie beispielsweise der Beginn einer Partnerschaft, eine Trennung oder eine schwere Erkrankung den Verlauf individuell positiv oder auch negativ beeinflussen können. Insgesamt steigt das Selbstwertgefühl im Erwachsenenalter an. Menschen scheinen mit wachsendem Alter das Leben zu führen, das zu ihnen passt, und das könnte der Grund sein, warum der Selbstwert steigt. Typischerweise nimmt der Selbstwert erst wieder im hohen Alter ab, nämlich dann, wenn die Gesundheit schlechter wird und die Selbstständigkeit eingeschränkt wird oder verloren geht.

Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass sich anhand der Qualität des Erziehungsverhaltens der Eltern das spätere Selbstwertgefühl der Kinder am besten vorhersagen ließ. Was viele vermuteten, wurde durch Studien belegt: Die Rolle der Eltern für die Entwicklung des Selbstwerts ist von fundamentaler Bedeutung. Die Art, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir mit ihnen kommunizieren und mit ihnen umgehen, hat einen immensen Einfluss auf ihren Selbstwert, diesen Schutz- und Kraftfaktor ihrer persönlichen Entwicklung. Professor Orth hat außerdem bei der Auswertung diverser Langzeitstudien festgestellt, dass ein hohes Selbstwertgefühl auch im späteren Leben zu Erfolg in Partnerschaften und Beruf beiträgt und sich positiv auf die Gesundheit auswirkt.4

Warum die Unterstützung eines guten Selbstwerts der größte Schatz ist, den wir Eltern unseren Kindern mitgeben können, das sollen die folgenden Kapitel im Detail beleuchten. Beginnen möchte ich mit einem Überblick, in dem ich zeige, weshalb ein starker Selbstwert für eine gesunde kindliche Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung ist.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert leben ihr Potenzial. Kinder mit einem schlechten Selbstwert haben Angst vor Misserfolg, da dieser ihren ohnehin schon instabilen Selbstwert noch mehr schwächen würde. Oft verhalten sie sich deshalb passiv, gehen keine Risiken ein und meiden Herausforderungen. Sie bleiben oft unter ihrem vollen Potenzial, da sie sich zu wenig zutrauen. Vor eine neue Aufgabe gestellt, resignieren sie oft: »Das schaffe ich sowieso nicht.« »Das brauche ich erst gar nicht zu versuchen.« »Ich bin einfach zu dumm/zu langsam/zu ungeschickt dafür und würde mich sowieso nur blamieren.« Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert nehmen Herausforderungen als etwas Spannendes an. Ein möglicher Misserfolg hält sie nicht davon ab, Dinge, die sie erreichen möchten, trotzdem auszuprobieren und anzupacken. Sie wissen: Wenn ich das nicht schaffe, geht die Welt auch nicht unter. Zumindest habe ich es dann versucht.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert sind in der Lage, Beziehungen auf Augenhöhe einzugehen. Haben Kinder keinen guten Selbstwert, kann ihre Strategie darin bestehen, andere abzuwerten, um sich selbst besser zu fühlen. »Linda ist dick und lahm, ich bin viel sportlicher.« Das verursacht Kränkungen und ist keine Basis für ein gutes Miteinander. Ein anderes Beziehungsmuster von Kindern mit einem schlechten Selbstwert kann der soziale Rückzug sein – weil sie sich selbst nicht wertvoll, nicht gut genug finden, wagen sie nicht, Beziehungen zu anderen Kindern einzugehen. »Keiner mag mich.« »Ich passe nicht zu den anderen.« »Ich bleibe lieber allein.« So werten sie also entweder andere oder sich selbst ab und sind deshalb nicht in der Lage, erfüllende Freundschaften oder einfach gute soziale Kontakte zu anderen Kindern zu pflegen. Kinder mit einem guten Selbstwert werten weder andere noch sich selbst ab. Sie können anderen Kindern auf Augenhöhe begegnen, die Grundlage für ein gutes Miteinander.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert sind keine »Mitläufer«. Sie haben einen eigenen Kompass und ein eigenes Wertesystem. Sie wissen, was ihnen wichtig ist und was nicht, und sind auch in der Lage, dafür einzustehen. Ihr guter Selbstwert hilft ihnen, eigenständige Entscheidungen zu treffen, die ihren Vorstellungen und Werten gemäß sind. Das kann bedeuten, dass sie sich weigern, beim Mobben eines anderen Kindes mitzumachen, obwohl es alle anderen Kinder tun. Jugendliche mit einem guten Selbstwert sind – wenn sie es wollen – in der Lage, Gruppendruck zu widerstehen und Abstand von Drogen zu halten, auch wenn alle anderen kiffen oder andere Drogen konsumieren. Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert nutzen Social Media nach ihren Vorstellungen und posten nicht Dinge, die sie eigentlich nicht posten wollen, nur weil sie den Eindruck haben, dass es in ihrer Peergroup gut ankommen würde.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert achten auf sich. Wenn etwas Wert hat, behandelt man es besonders vorsichtig und aufmerksam. Das ist so mit wertvollen Gegenständen: einem von der Großmutter geerbten Schmuckstück, einem Design-Kleidungsstück oder einem neuen Möbelstück. Man passt auf diese Dinge besonders auf, da sie einen hohen Wert haben. Wenn sie eine Schramme oder einen Fleck bekämen oder ganz kaputtgehen würden, entstände ein hoher Wertverlust, und der Besitzer wäre sehr traurig über den Schaden. So ist es auch mit Menschen: Empfinden sie sich als wertvoll, kümmern sie sich um sich selbst und passen auf sich auf.

Kinder mit einem niedrigen Selbstwert sind anfälliger dafür, Opfer von missbräuchlichem Verhalten zu werden. Sie empfinden sich nicht als wertvoll, sind bedürftig nach Liebe, Anerkennung und Wertschätzung. Für sie ist jede Form von Beziehung zunächst eine Aufwertung, deshalb haben manche von ihnen Schwierigkeiten, sich vor missbräuchlichem Verhalten anderer zu schützen.

Kinder mit einem guten Selbstwert sagen rechtzeitig »nein«, wenn jemand über ihre persönlichen Grenzen geht; sie sind willens und in der Lage, sich zu wehren oder abzugrenzen, wenn jemand sie abschätzig oder schädigend behandelt.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert sind aktiv. Kinder mit einem schlechten Selbstwert sind oft der Ansicht, dass sie nichts bewirken können, dass ihre Meinung nicht zählt, dass ihr Einsatz keinen Unterschied macht. Diese Annahmen führen zu einer passiven Haltung – sie meiden Anstrengung und Initiative, da sie sich und ihre Aktionen als wertlos empfinden. »Warum soll ich mich anstrengen, wenn es sowieso nichts bringt?« »Was kann ich schon bewirken?« Kinder mit positivem Selbstwert wissen, dass sie Dinge in Gang setzen und bewegen können. Sie wissen, dass sie mit ihrem Handeln Dinge verändern und gestalten können. Sie wissen, dass sie Einfluss auf ihr Leben nehmen können. Deshalb sind sie aktiv und initiativ. »Ich weiß, dass ich etwas bewegen kann, deshalb engagiere ich mich in der Schülervertretung.«

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert können konstruktiv mit Kritik umgehen. Kinder mit wenig Selbstwert lassen sich schnell verunsichern und sind leicht gekränkt, da sie bei Kritik kein oder nur ein geringes Reservoir an Selbstliebe haben. Wer leicht kränkbar ist, kann weniger konstruktiv mit Kritik umgehen. Kritik verunsichert diese Kinder fundamental, sie stellen sich als gesamte Persönlichkeit infrage. »Ich habe es doch gewusst, dass ich alles falsch mache.« »Keiner mag mich.« Kinder mit einem guten Selbstwert können sachlicher mit Kritik umgehen. Sie stellen sich nicht als gesamte Person infrage und sind deshalb in der Lage, sich mit Kritikpunkten auseinanderzusetzen. »Es stimmt, dass ich oft dazwischenquatsche. Das sollte ich mir abgewöhnen – ich mag es ja auch nicht, wenn andere mich unterbrechen.« Gut mit Kritik umgehen zu können, ermöglicht Entwicklung, da diese Kinder die Möglichkeit haben, an unangemessenen Einstellungen oder Verhaltensmustern zu arbeiten.

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert ruhen in sich. Kinder mit einem schlechten Selbstwert sind sich ihrer Position nicht sicher und vergleichen sich deshalb ständig mit anderen, um herauszufinden, wie ihr Status im sozialen Gefüge ist. Sie gleichen sich mit anderen ab, da sie sich nicht vollends vertrauen und nicht wissen, ob sie und ihr Empfinden, ihre Einstellung, ihre Gedanken, ihre Handlungen richtig sind. Diese auf Unsicherheit beruhenden Verhaltensmuster kosten Energie und strengen an, und sie machen unfrei, da man sich vom Verhalten und der Meinung der anderen abhängig macht. »Wenn Lara später zum Geburtstag kommt, mache ich das auch. Ich will auf keinen Fall als Einzige zu früh da sein.« Kinder mit einem guten Selbstwert akzeptieren und mögen sich. Sie müssen sich nicht ständig mit anderen vergleichen, um zu überprüfen, an welcher Position der sozialen Rangordnung sie stehen. Sie müssen sich auch nicht ständig mit anderen Menschen abgleichen, um herauszufinden, ob sie »richtig« sind oder nicht – sie folgen ihrer Intuition, vertrauen auf sich. Sie müssen keine Energie für anstrengende ver- und abgleichende Verhaltensweisen aufwenden. Dafür bleibt ihnen mehr Kraft und Energie, um Dinge zu verfolgen, die ihnen wichtig sind. »Ich gehe gleich am Anfang zum Geburtstag. Ich mag es gern, zu den Ersten zu gehören und nichts zu verpassen.«

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwert können authentisch sein. Kinder mit einem positiven Selbstwert geben sich so, wie sie sind. Sie müssen sich nicht verstellen oder verbiegen, um von den Eltern geliebt zu werden oder anderen zu gefallen. Kinder mit einem niedrigen Selbstwert geben sich oft nicht, wie sie sind. Sie wenden viel Energie und Kraft auf, um so zu sein, wie sie denken, dass andere es von ihnen erwarten. »Meine Mutter sagt immer, ich soll mich zusammenreißen, wenn ich traurig bin. Also versuche ich, immer fröhlich zu sein und es nicht zu zeigen, wenn ich traurig bin.« Kinder, die ihr authentisches Selbst nicht leben können oder dürfen, sind anfälliger für Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen.

Sein authentisches Wesen leben zu dürfen und sich in dieser Weise geliebt zu fühlen, ist die Grundlage eines gesunden Selbstwerts.

Die Kraft, die Kinder trägt

Wenn Selbstwert bedeutet, dass ich mich annehme und mich mag, so wie ich bin – mit all meinen wunderbaren Stärken und ebenso meinen möglicherweise kraftzehrenden Schwächen −, dann impliziert das zweierlei:

Mich selbst zu kennen, mich im Großen und Ganzen anzunehmen und gut zu finden, heißt nicht, dass es nicht manches gibt, was mir nicht so sehr an mir gefällt. Diese Anteile bekommen aber nicht zu viel Gewicht. Sie sind vorhanden, und es ist auch in Ordnung für mich, dass sie da sind. Dies impliziert eine gewisse Großzügigkeit uns selbst gegenüber, so wie wir sie auch anderen Menschen gegenüber walten lassen, die wir lieben.

Eltern können in diesem Zusammenhang beide oben genannte Prozesse unterstützen: Sie können ihrem Kind behilflich sein, seine individuelle Persönlichkeit zu entdecken, auszudrücken und anzunehmen. Sie können ihm den Raum geben, eine authentische Version seiner selbst zu leben und sich nicht zu verstellen oder anzupassen, um von anderen die Annahme zu erhoffen, die es sich selbst nicht zu geben imstande ist. Und sie können ihrem Kind vermitteln, dass sie es lieben und annehmen, so wie es ist. Kinder sind existenziell von der Liebe ihrer Eltern abhängig. Vermitteln die Eltern ihnen, dass sie gut sind, so wie sie sind, dass sie geliebt sind, genauso, wie sie sind, wirkt dies als Grundlage für eine positive Selbstannahme und ein stabiles Selbstwertgefühl.

Im weiteren Verlauf des Buches werde ich veranschaulichen, wie Eltern diese Prozesse unterstützen können. Denn darum geht es ja auch im Leben mit einem Kind: Wir Eltern haben gute Vorsätze, wissen um die Bedeutung unserer Handlungen. Aber wie setzen wir unsere Haltungen um? Hier möchte ich Ideen, Inspirationen und Kommunikationsanregungen beisteuern, die im Alltag umsetzbar sind und die Freude und Nähe in der Familie befördern.

Schatzsuche: Wie wir Kinder beim Entdecken ihres Selbst unterstützen

Kinder mit einem guten Selbstwert handeln aus dem Bewusstsein ihrer selbst – im Großen und Ganzen gelten ihnen ihre (nicht die anderer Menschen) Bedürfnisse, Wünsche, Einstellungen, Meinungen und Werte als Orientierung für ihr Handeln. Sie verlassen sich auf sich selbst. Um sich seiner selbst bewusst zu sein, muss man sich kennen. Wie bin ich? Was gefällt mir? Worauf lege ich Wert? Was kann ich nicht ausstehen? Mit wem bin ich gern zusammen? Antworten auf diese und so viele andere Fragen geben uns ein Gefühl für unser Selbst. Dieses Bewusstsein muss ein Kind erst entwickeln. Fühlt sich der Säugling in der Zeit nach der Geburt noch als eins mit seiner Bezugsperson, so nimmt er mit etwa zwei, drei Monaten seinen Körper als seinen eigenen wahr. Sein körperliches Selbstgefühl entwickelt sich in der Folge zunehmend und das Kind fängt an, sich als jemanden zu erleben, der selbst in Aktion treten kann und einen eigenen Willen hat. Frühestens in der Mitte des zweiten Lebensjahres erkennt ein Kind sich erstmals selbst im Spiegel, während es vor diesem Zeitpunkt dachte, dass das Kind im Spiegel eine andere Person sei. Im Alter von etwa 2 ½ Jahren sprechen Kinder von sich in der Ich-Form.

In den ersten Lebensjahren erfolgen die prägenden Bindungserfahrungen eines Kindes. Diese Erfahrungen beeinflussen, ob ein Kind ein sicheres Bindungsverhalten entwickelt. Dafür ist das Bindungsverhalten der Haupt-Bezugsperson – meist Mutter oder Vater – entscheidend: Erkennt sie die Bedürfnisse des Säuglings, kann sie Hunger, Durst, Müdigkeit oder den Wunsch nach Aktivität richtig deuten und die Bedürfnisse des Kindes stillen? Geht sie auf seine Emotionen – Wut, Freude, Traurigkeit, Langeweile − feinfühlig und angemessen ein? Kann sie durch körperliche Nähe Sicherheit und Geborgenheit vermitteln? Kommuniziert sie angemessen mit dem Säugling – verbal und auch nonverbal? Wie ist ihre Stimmlage? Wie ist ihre Mimik? Drücken diese Zugewandtheit, Wärme und Liebe aus oder eher Distanz, Stress und Unbehagen? Ist ihre Zuwendung kontinuierlich und zuverlässig oder sprunghaft, unberechenbar und launisch? Reagiert sie prompt, sobald ihr Kind seine Emotionen zum Ausdruck bringt? Weiß das Kind, dass es von Mutter oder Vaters getröstet wird, wenn es fällt, sich stößt oder andere unangenehme Erfahrungen macht? All dies entscheidet mit darüber, ob ein Kind sich sicher gebunden und geborgen fühlt und das sogenannte Urvertrauen entwickelt. Die sichere Bindung ist der Hafen, von dem aus Kinder die Welt erkunden und an den sie immer wieder andocken können.

Eine sichere Bindung ist die Basis für eine
gesunde Entwicklung des Kindes.

Fühlt ein Kind sich sicher gebunden, so ist es in der Lage, eigenständige Erkundungen und Lernerfahrungen zu machen, die zur Entdeckung seiner Umwelt und der Entwicklung seiner Selbsterkenntnis beitragen. Wir können unsere Kinder bei der Entwicklung dieser Prozesse unterstützen.

Kinder ihr Leben mitgestalten lassen