Cover

Inhalt

Einführung

1. Rechter Ort, Rechte Zeit

Vorab

Schuhe an und los

Rechnen

Wiederkehren

Expertenrat

Ziel-Workshop

Der Spitze folgen

2. Herz & Verstand

Heimatgebiet

Familienleben

Unsichtbar sein

Undercover

Direkte Worte

Die Prachtstraße zur Erlaubnis

Bitte um Vergebung

Beziehungen

Diplomatische Kanäle

Der Brückenbauer

3. Eintauchen

Obsession

Der Außenseiter

Hinterhof

Langzeitverpflichtung

Engagieren

Inspiration ist für Amateure

Mit dem Strom schwimmen

Einbetten

Besonders empfindsam

Wenn Sie es ernst meinen

4. Deep Learning

Esoterisches Wissen

Erfinderisch

Genrefähigkeiten

Neue Technologien

Quellmaterial

Fabrikbesuche

5. Unkonventionell

Vergessen Sie Perfektion

Willkommen Mehrdeutigkeit

Ins Extreme gehen

Etwas Eigenes

Erfundene Welten

Identität erkunden

Rekonstruierte Welten

Studio an der Front

Index

Bildnachweise

Einführung

Wenn Sie sich wirklich für Fotografie interessieren, müssen Sie eine Verbindung zu dem eingehen, was Sie fotografieren. Und dazu brauchen Sie Zugang. Um Fotos aufzunehmen, die anderen nicht gelingen, geht es ausschließlich um den Zugang zu Ihrem Motiv.

Zugang beschränkt sich nicht auf das Offensichtliche. Er reicht von der Erlaubnis, an eine bestimmte Stelle zu gelangen, bis zum mentalen Zugang zu einem Motiv – was vielleicht nicht ganz so offensichtlich scheint. Die Frage ist doch, wie Sie zu Ihrem Motiv kommen – nicht nur so, dass es direkt vor Ihrer Kamera liegt, sondern auch so, dass Sie es verstehen und es auf Sie einwirkt. Es kann ein Ort sein, ein Ereignis, eine Person oder eine Sache, doch es wird in Ihrem Bild nur dann zum Leben erwachen, wenn Sie Zugang dazu haben.

Es gibt heutzutage die gruselige Tendenz, in akademischen oder philosophischen oder poetischen Begriffen über die Fotografie zu sprechen, und ich hoffe, dass ich nie in diese Falle getappt bin. Fotografie ist nicht vage. Am Ende müssen Sie ein Bild abliefern und das bedeutet, Sie müssen genau wissen, wovor Sie stehen, und dass Sie sich bemüht haben, dorthin zu gelangen.

Ich gehe davon aus, dass Sie ausreichend Können und Talent haben, um aus jedem Ding ein gutes Bild zu machen. Es gibt andere Bücher, die Ihnen weiterhelfen, falls Sie noch nicht so weit sind. Ich weise auch ganz unbescheiden darauf hin, dass einige dieser Bücher von mir stammen, wie etwa Der fotografische Blick. Nehmen wir jetzt jedoch einfach einmal an, dass Sie in der Lage sind, ein gutes Foto aufzunehmen, wenn man Sie in die richtige Richtung weist.

Stanley Kubrick, um den es später in diesem Buch gehen wird und der ein wirklich großartiger Fotograf war, sagte einmal über das Filmemachen: »Mein Ursprung als Fotograf machte es mir viel einfacher, eine interessante Art und Weise zu fi nden, etwas im letzten Augenblick zu filmen und mich nicht um das Wie kümmern zu müssen.«

Wie Sie feststellen werden, besitzt jeder Fotograf eine bestimmte Methode, auf das zuzugreifen, was er fotografieren möchte, und diese Methoden sind ganz unterschiedlich. Auch jede Situation ist einmalig und anders, und es ist entscheidend, sich jedem Motiv auf ganz verschiedene und neue Weise zu nähern. Falls ich jemals anfange zu denken: »Hier ist schon wieder eine von diesen Situationen«, werde ich mich selbst treten, und zwar ganz heftig. Jede ist neu. Um jedoch eine gewisse Ordnung in die Sache zu bringen, habe ich diese vielen einfallsreichen Vorgehensweisen in fünf Arten des Zugangs aufgeteilt.

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Michael Freeman
Yi-Bestattung, Yunnan, China, 2013

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Michael Freeman
83 Jahre alter Akha-Mann, Chiang Rai-Provinz, Thailand

Bei der ersten geht es darum, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Sie konzentrieren sich hier darauf, sich selbst und Ihre Kamera in Position zu bringen. Selbst bei feststehenden Motiven, wie etwa einer Landschaft oder einem berühmten Gebäude, wendet ein guter Fotograf Sorgfalt und Aufmerksamkeit auf, weil man nicht das Bild haben möchte, das jeder machen könnte. Bei unberechenbaren Motiven wird die Sache komplexer.

Die zweite Art des Zugangs verlangt den Umgang mit Menschen, sowohl als Motiv selbst als auch als Wächter zu etwas, das Sie fotografieren wollen. Soziale Kompetenz erstreckt sich natürlich über die Fotografie hinaus, und Sie finden sicher keine Hinweise dazu im Kamerahandbuch, aber dennoch sind sie unglaublich wichtig und vielseitig. Wir haben hier ein ganzes Bündel davon, nämlich unter dem Titel Herz & Verstand.

Die dritte ist Eintauchen in Ihre gewählten Motive oder Situationen. Wenn Sie sich komplett einbringen, öffnen sich Ihnen Türen, von denen Sie vorher vielleicht nicht einmal wussten. Die entscheidende Zutat für diese Art von Zugang ist Zeit. Da der größte Teil der Fotografie heutzutage sehr schnelllebig ist, bringen Sie sich sofort in eine vorteilhafte Position, wenn Sie einen Teil Ihrer Zeit und Energie einem Motiv widmen. Die vierte Art des Zugangs ist intensives Lernen. Das ist genau wie das Eintauchen nicht unbedingt das, was den meisten Leuten vorschwebt, weil es viel Zeit und Mühe verlangt – aber es zahlt sich immer aus. Wenn Sie alles über Ihr Motiv wissen, werden Sie Möglichkeiten finden, es so zu fotografieren, dass es wirklich etwas bedeutet. Und damit versetzen Sie sich in die Lage, Aufnahmen vorherzusehen, die anderen vielleicht entgehen.

Schließlich (und wenn alles andere versagt) treten Sie einen Schritt zurück und denken Sie über einen völlig anderen Ansatz nach. Unkonventionell bedeutet, das Unerwartete zu tun. Und ich zeige Ihnen, wie einige sehr kreative Fotografen in innovative, sogar seltsame Richtungen gegangen sind, um das zu erhalten, was sie wollten.

1 Rechter Ort, Rechte Zeit

»f/8 und sei da« lautet das lakonische Rezept.

Es gilt als Zusammenfassung all dessen, was Sie wissen müssen, um erfolgreich in der Fotografie zu sein. Abgesehen natürlich von Talent, Wissen, einem guten Auge und so weiter.

Manche behaupten, dass dies Arthur »Weegee« Fellig (siehe Vorankündigung, S. 12) gesagt habe. Mag sein, er hätte es zumindest nicht geleugnet, da es die professionelle Fotografie ziemlich genau auf den Punkt bringt. Der erste Teil (f/8) dreht sich um die praktische Schärfen- und Fokustiefe – beides Wege, die direkt und garantiert zu einer Aufnahme führen –, während der zweite Teil (»sei da«) hervorragend zusammenfasst, worum es in diesem Buch geht. Schließlich kann die Fotografie nur direkt vor dem Motiv ausgeführt werden.

Das war einfach. Als Nächstes müssen Sie wissen, was und wo »da« ist, und bei diesem schwierigen Teil hilft Ihnen dieses erste Kapitel.

Es folgen nun kleine Fallstudien, die Ihnen zeigen, wie Fotografen mithilfe unterschiedlicher Techniken und Ideen zur rechten Zeit am rechten Ort sein konnten. Ich werde immer wieder an die Worte erinnert, die mein erster Lehrer benutzt hat, als ich mit dem Fotografieren begann. Obwohl er kein Fotograf war und Unterrichten nicht zu seiner Aufgabenbeschreibung gehörte, erteilte mir Lou Klein, der Art-Direktor bei Time-Life Books, meinem ersten großen Kunden, ausgezeichnete Ratschläge. Bei einem Auftrag in Athen sagte er: »Ich möchte wissen, wie die Milchflaschen aussehen.«

Natürlich meinte er das nicht wörtlich. Damals wurden die Milchflaschen in London noch vor die Haustür geliefert, und er meinte damit, dass wir in das normale Leben eintauchten sollten, weil das, was in dieser Welt üblich war, für andere faszinierend sein könnte. Er sagte auch: »Es geht immer darum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.«

Klingt schrecklich offensichtlich, oder? Aber wenn Sie es ernst nehmen, ist es tatsächlich der Schlüssel zum Erfolg.

Vorab

Der in Österreich geborene und in New York aufgewachsene Arthur Fellig war der archetypische Sensationspressefotograf, der sich durch Tatorte, Straßenraufereien, Unfälle und Prominente auf Fußwegen witzelte. Von Ende der 1930er durch die 1940er hindurch erwies sich Fellig, bewaffnet mit einer handlichen 4 × 5-Zoll-Kamera und einem Blitzlicht, als Meister der exklusiven Aufnahme, der sich damit brüstete, er könne schneller als die Polizei am Tatort eines Mordes auftauchen. Obwohl er zur Übertreibung neigte, erwarb er sich den Ruf, immer als Erster vor Ort zu sein. Er nannte sich Weegee – nach dem Slangausdruck für das Ouija-Brett –, um seine fast schon unheimliche Fähigkeit, Ereignisse zu erahnen, zu betonen.

In Wirklichkeit hatte er dies seinem Einfallsreichtum und seiner obsessiv harten Arbeit zu verdanken. Weegee schaffte es, der einzige freiberufliche Fotograf in New York zu sein, der ein tragbares Kurzwellenfunkgerät benutzen durfte, um den Polizeifunk abzuhören. Da er meist nachts arbeitete und häufig mit Blaulicht fuhr, kam er oft vor den Polizisten am Ort des Geschehens an. Der einflussreiche Direktor des Museum of Modern Art, John Szarkowski, schätzte seine Arbeit hoch genug ein, um sie in die Dauerausstellung aufzunehmen und schrieb:

»Nur wenige Polizisten haben vermutlich so viele gewaltsame Sünden gesehen wie Weegee. In seinen besten Jahren als Fotograf lebte er in einem Zimmer gegenüber dem Polizeihauptquartier von Manhattan, wo er auf den unvermeidlichen Ruf auf seinem Polizeifunkgerät wartete, der eine weitere Gangexekution, einen vermasselten Raubüberfall, ein Verbrechen aus Leidenschaft verkündete … berufliche Kompetenz allein hätte nicht diese wunderbar intimen und klugen Fotografien hervorgebracht, die er schuf.« – John Szarkowski

Weegee lernte beim Verfolgen von Gewaltverbrechen außerdem etwas Wertvolles – dass die Menschen, die auf den Szenen auftauchten, als zusätzliche Motive dienen konnten. Er entdeckte, dass das Verhalten zufälliger Besucher einer solchen Szene ebenso morbide faszinierend sein konnte wie ein Leichnam. Er achtete auf die Schaulustigen, die sich bei solchen Gelegenheiten versammelten, und merkte, dass er Zugang zu den menschlichen Reaktionen und Emotionen fand. Wie Szarkowski es ausdrückte: »Seine Erfahrungen hatten ihm gezeigt, dass das Publikum oft ebenso großartig und schrecklich war wie das Ereignis.«

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Weegee (Arthur Fellig)
Harold Horn, Umgeworfener Milchwagen mit gestohlenem Auto, 1941

Später in seiner Karriere, nämlich 1963, wurde Fellig von Stanley Kubrick (siehe Quellmaterial, S. 126) beauftragt, die Filmarbeiten zu Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben zu dokumentieren. Kubrick hatte in jüngeren Jahren selbst als Fotograf für das Magazin Look gearbeitet und mochte Felligs Stil. Sein starker österreichischer Akzent inspirierte Peter Sellers’ Akzent als der titelgebende Ex-Nazi-Wissenschaftler.

Auch wenn die Dinge sich seitdem beträchtlich weiterentwickelt haben – zumindest in Bezug auf Technik und Sensationsgier –, sind Vorausdenken und Recherchen immer noch genauso wertvolle Strategien wie früher. Und die Werkzeuge für die Recherchen sind besser denn je.

Schuhe an und los

Nicht jeder interessiert sich für Schwierigkeiten, geschweige denn die häufigen Enttäuschungen der Streetfotografie, dabei hat sie eine Reinheit an sich, die uns alle etwas über Zugang lehren kann.

Streetfotografie ist heute moderner als je zuvor, was man mit gemischten Gefühlen sehen sollte. Positiv ist, dass sie die Aufmerksamkeit zurück auf das Können beim Fotografieren gelenkt hat. Weniger willkommen ist der Gedanke, dass es für großartige Bilder reichen soll, sich einfach mit einer Kamera auf die Straße zu begeben. Das tut es nämlich nicht. Das Wesen der Streetfotografie ist das Festhalten einer Art von zufälligem Ereignis, das der Fotograf – und nur der Fotograf – sieht und schnell genug einfangen kann. Das geschieht laut Definition nicht sehr oft. Unsicherheit und lange Perioden, in denen nichts geschieht, sind typisch für diese Art der Fotografie, sodass es eine gewisse Sturheit und Optimismus erfordert, um durchzuhalten.

Im Bezug auf den Zugang bedeutet es, dass Sie einfach dranbleiben müssen. Spitzenfotos mit dieser Art der Fotografie sind ein bisschen wie die gute alte Goldgräberei – arbeiten Sie nur lange und hart genug daran, dann werden Sie ab und zu mal ein Nugget finden. Sie können hier nicht viel planen oder vorbereiten, aber Sie können sich mit Erwartungen wappnen und losziehen. Matt Stuart, einer der bekanntesten Verfechter dieser Kunst, gibt zu, dass er vor allem auf Sturheit setzt: »Du musst besessen sein, du musst es jeden Tag machen.«

Und damit meint er wirklich jeden Tag. 20 Jahre lang. Wenigstens für ein paar Stunden. Zu seinen Spitzenzeiten in London sah sein Tag so aus: Er verließ das Haus um 10 Uhr und lief herum, bis es dunkel wurde, was im Sommer in England ziemlich spät sein kann.

»Du musst draußen sein und es einfach tun. Gary Player, der Golfer, sagte: ›Es ist witzig, je stärker ich trainiere, umso mehr Glück habe ich.‹ Bei der Fotografie ist es genauso … Die Trefferrate besonders bei der Streetfotografie ist recht niedrig, weil man losziehen und warten muss, ob was passiert, oder man muss es aufspüren. In einem großartigen Jahr hatte ich vielleicht zehn gute Aufnahmen.« – Matt Stuart

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Matt Stuart
New Bond Street, 2006

Es erfordert wahre Disziplin, jeden Tag loszugehen, auch wenn Stuart sagt, dass er »immer total begeistert ist vom Fotografieren«. Für das Bild hier hat er sechs Monate gebraucht.

»Sechs Monate lang ging ich jeden Tag an dieser Anzeige mit dem Pfau vorbei und liebte sie, aber es passierte eigentlich nichts … Zwei Wochen vorher hatte mich Joel Meyerowitz kontaktiert und gesagt, er wolle nach London kommen, und ob wir nicht gemeinsam losziehen und Fotos machen könnten? … Joel ist eine wirklich inspirierende Figur und eines der Dinge, die uns gemeinsam ist, ist der Gedanke, dass man positiv und offen sein muss … An diesem speziellen Tag hatte jemand eine Schuttwanne vor den Pfau gestellt und mit einer blauen Plane abgedeckt, das war’s. Es ist immer noch eines meiner Lieblingsbilder, und das war definitiv einer meiner Lieblingstage auf der Straße.« – Matt Stuart

Es reicht nicht allein, jeden Tag einen bestimmten Weg zu laufen, auch wenn das sehr diszipliniert ist. Sie brauchen mentale Taktiken, um sicherzustellen, dass Sie vorbereitet sind. Es hilft zu wissen, was man persönlich mag, und auf bestimmte »Trigger« zu achten, wie Stuart sie nennt, also »Dinge, auf die man reagiert.« Bei ihm sind das unter anderem gähnende Menschen, die Farbe Rot und die Hände.

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Matt Stuart
Needham Road, 2005

»Das Erste, wonach ich suche, wenn ich eine Straße entlanggehe, ist Farbe, und wenn ich jemanden in Rot sehe – ich stehe auf Rot –, schaue ich immer genauer hin und warte, was passiert. Es sei denn, es ist ein großer Augenblick, in dem jemand zum Beispiel zu Boden gefallen ist oder in der Luft einen Purzelbaum schlägt, wo man also keine Zeit hat, an Farbe zu denken und einfach abdrückt. Falls also etwas Nettes passiert und auch noch die Farbe stimmt, dann haben Sie möglicherweise etwas gefunden.« – Matt Stuart

Diese Intuition führte zu dieser Aufnahme (gegenüber), die vor einem Pub in West London entstand – es gab dreimal Rot und dann geschah etwas. Außerdem, und das mag offensichtlich sein, nehmen Sie immer Ihre Kamera mit, selbst wenn Sie, wie in diesem Fall (auch wenn man es nicht sehen kann) in der anderen Hand ein Glas Bier haben.

Ein zusätzlicher Vorteil dieser Art von Gewissenhaftigkeit ist, dass Sie Einsichten gewinnen, die den meisten Menschen nicht gelingen würden. Der durchschnittliche Wochenkalender vermerkt normalerweise Arbeitstage und freie Tage. Bei Matt ist das anders. In seinem normalen Jagdrevier, Londons West End, sieht das so aus:

Montag: Liefertag.

Dienstag: