Hans-Georg Schumann

(K)ein Fall für Lieblos

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

1 Ein Toter im Wald

2 Ermittlungen

3 Keine neue Spur

4 Schicksale

5 Der Tod von Urban Klein

6 Spurensuche

7 Begegnungen

8 Viele Vielleichts

9 Noch mehr Tote

10 Hinter den Kulissen

11 Neue Erkenntnisse?

12 Verdachtsmomente

13 Von Tätern und Zeugen

14 Fundsachen

15 Zeugnisse

16 Dem Täter auf der Spur

17 Raffaels Finale

18 Abgesänge

Impressum neobooks

1 Ein Toter im Wald

Viktor Tepes brauchte eine Zeitlang, um sich zu orientieren. Es war kalt und ziemlich dunkel. Er lag auf dem Boden im Wald, über ihm ein sternenklarer Himmel und ein gelber Halbmond, die er wie durch einen dichten Nebel sah. Wo war er? Was war los?

Er war gestolpert und gestürzt, und hatte dabei seine Brille verloren, Sie musste hier irgendwo liegen. Dann hatte ihn irgendetwas gestochen, ihm war schwindlig und übel.

Jemand beugte sich über ihn, seine Gesichtszüge konnte er nicht erkennen. Oder bildete er sich das nur ein? Er spürte, dass er gleich das Bewusstsein verlieren würde. In einer plötzlichen Vorahnung lallte er noch ein Nein, dann spürte er einen furchtbar stechenden Schmerz in der Herzgegend, ehe es für ihn völlig und für immer dunkel wurde.

*

Leopold Lieblos fuhr mit dem Bus. In der Nähe seiner Wohnung in Hellern war er eingestiegen. Er besaß zwar ein Auto, doch meistens ließ er es stehen und nutzte lieber den Bus. Erst letzte Woche hatte er sich eine Netzkarte gekauft.

Als er am Neumarkt ankam, stieg er aus. Hier war er jetzt schon einige Male gewesen, seit er in Osnabrück wohnte. War durch die Große Straße gebummelt, hatte schon eine ganze Reihe von Cafés und Imbissstuben ausprobiert und dabei nicht wenige Cappuccini genossen.

Diesmal hatte er auf einmal Lust weiterzufahren, vielleicht ein bisschen die Gegend zu erkunden. Er nahm irgendeinen anderen Bus und ließ sich dort auf einem freien Platz nieder. An der nächsten Station stiegen drei Jungs ein, sie fielen ihm auf, weil sie unüberhörbar lärmten. Aber Lieblos beschloss sie zu ignorieren.

Das klappte nicht lange, denn er musste mit ansehen, wie die drei ein Mädchen belästigten. Die Jungs mochten um die 14 bis 15 Jahre alt sein, das Mädchen etwas jünger. Sie wehrte sich tapfer. Zuerst ging das Ganze nur mit Worten. Lieblos wollte nicht einschreiten.

Dann hörte er plötzlich das Mädchen rufen: »Finger weg!« Lieblos stand auf, ging zu den Jungen und sagte laut deutlich: »Ihr habt es gehört: Finger weg. Lasst sie in Ruhe!«

Was dann passierte, überraschte ihn doch. Er kannte so was, aber eher von älteren Jugendlichen. Diese drei Grünschnäbel waren keineswegs eingeschüchtert, obwohl Lieblos groß war und glaubte, dass er imposant aussah.

»Was willst du, Opa?«, fragte der eine, trat nach ihm und traf ihn am Schienbein. Das gefiel Lieblos gar nicht. »Das tat weh«, sagte er und schnappte nach dem Kerl. Er erwischte sein Bein und verdrehte es. Dann schob er es über das andere Bein, damit der Junge nicht damit nachtreten konnte.

»Scheiße! Au!«, meckerte der Kerl. Die anderen hielten inne und drehten sich zu ihm, taten aber nichts. »Fahrer, halten Sie an!«, rief Lieblos durch den Bus. Er wiederholte das solange, bis der Bus stoppte.

»Lassen sie die Kerle aussteigen!«, rief Lieblos nach vorn. »Hier ist keine Haltestelle!«, erwiderte der Busfahrer. »Lassen Sie sie aussteigen!« Lieblos hörte sich brüllen. Endlich ging die Tür auf.

»Besser, ihr lasst künftig andere in Ruhe«, meinte Lieblos und ließ das Bein des einen Jungen wieder los. »Kommt, wir hauen ab!«, sagte einer der anderen beiden.

Lieblos schaute zu, wie die Jungen ausstiegen. Kurz bevor der dritte durch die Tür sprang, stieß er Lieblos die Faust gegen den Bauch, sodass der das Gleichgewicht verlor und auf seinem Hintern landete. Ehe Lieblos wieder auf den Beinen war, war auch der letzte der Jungen draußen.

Nun hatte er sich zum zweiten Mal überrumpeln lassen, und beide Male von demselben Kerl. Ehe er sich darüber ärgern konnte, hörte er ein »Danke«.

Das Mädchen, das die Jungs belästigt hatten, stand neben ihm und half ihm auf (obwohl er es allein geschafft hätte). »Danke für Ihre Hilfe!«, sagte sie noch einmal. »Schon gut«, meinte Lieblos und setzte sich wieder auf seinen Platz. Der Bus war wieder angefahren.

»Ich bin Frieda«, sagte das Mädchen. Auf einmal saß sie ungefragt neben ihm und lächelte ihn an. »Ich bin Leo«, hörte er sich spontan antworten. Eigentlich hatte Lieblos keine Lust auf eine Unterhaltung. Aber das Mädchen hatte etwas Ansteckendes. Und er hatte sich auf das Gespräch bereits eingelassen.

»Gibt es das öfter?«, fragte er. »Sie meinen den Ärger mit solchen Typen?« Lieblos nickte. »Eigentlich nicht. Aber wenn, dann tun die anderen Fahrgäste nichts. Sie schauen lieber weg.« »Hm«, machte Lieblos.

»Das war toll, dass Sie so reagiert haben!« »Hm«, machte Lieblos nochmals. »Ist das alles?«, fragte Frieda. »Was?« »Sie sagen: Hm. Und ich frage: Ist das alles.« Fast hätte Lieblos ein drittes Mal »Hm« gemacht. »Sollte das nicht eigentlich normal sein?«, sagte er stattdessen, »Wenn alle nicht nur hinschauen, müsste es so was nicht geben. Die anderen sind doch in der Mehrheit.« Frieda nickte: »Da haben Sie recht.«

»Was sind Sie von Beruf?«, fragte sie auf einmal. »Meiner lässt sich leicht erraten, ich bin Schülerin«, fügte sie hinzu. Für ihr Alter drückte sie sich sehr gut aus, fand Lieblos. »Ich bin pensioniert«, sagte er.

»Und was waren Sie von Beruf?« »Ich war Polizist.« Er hörte sie laut lachen. »Was ist daran so lustig?« »Das hatte ich zuerst gedacht«, meinte das Mädchen lächelnd, »dass Sie Polizist sein könnten.«

»Hoffentlich habe ich jetzt nicht meinem guten Ruf geschadet«, meinte Lieblos und versuchte zurückzulächeln, »wo doch Polizisten bei der Jugend eher als die bösen Bullen gelten.«

»Böse sehen Sie aber nicht aus«, meinte Frieda. »Nein«, Lieblos musste jetzt lachen, »Und ich bin auch nicht böse.« Das Mädchen lächelte: »Sind Polizisten nicht immer die Guten? Ich kenne selber einen.«

Ein Telefon klingelte, es war das von Frieda. »Entschuldigung«, sagte sie zu Lieblos und nahm dann den Anruf an. »Was? Wirklich?«, Frieda schien erstaunt und verwirrt.

»Im Wald bei unserer Schule liegt ein Toter. Das ist die übernächste Station. Wo wollten Sie aussteigen?« »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, ich bin einfach so in diesen Bus eingestiegen.«

»Zur Endstation ist es nicht mehr weit. Sie könnten auch mit mir aussteigen. Interessiert Sie der Tote nicht?« Lieblos wollte den Kopf schütteln. Warum tat er es nicht? Warum sagte er nicht »Nein«? Er versuchte es mit »Ich bin pensioniert.«

»Einmal Polizist, immer Polizist, hat mal jemand gesagt«, entgegnete Frieda. Lieblos musste grinsen. Hatte dieses Mädchen zu allem etwas zu sagen?

Nein, sie schaffte es tatsächlich schweigend zu warten, bis sie die Haltestelle erreicht hatten, die in der Nähe einer Schule lag. »Kommen Sie«, sagte sie dann und stand auf. Und Lieblos folgte ihr.

An der Rosenkranzkirche stiegen sie aus und gingen ein Stück die Straße entlang. Dort sahen sie zwei Polizeifahrzeuge stehen. Ein Junge kam ihnen entgegen, er mochte so alt sein wie Frieda. Wahrscheinlich der, mit dem sie im Bus telefoniert hatte, vermutete Lieblos. Allerdings hatte er mit einem weiteren Mädchen gerechnet.

»Das ist Ali«, meinte Frieda zu Leo, »er hat mich angerufen.« »Hallo, Ali«, sagte Lieblos. »Hallo«, gab Ali zurück. »Mein Onkel ist da vorn. Der Tote ist dahinter im Wald«. Er zeigte mit dem Finger in eine Richtung. Zu dritt gingen sie weiter, bis sie von einem Polizisten aufgehalten wurden: »Ihr könnt hier nicht durch.«

Der Mann war hochgewachsen und kräftig, hatte schwarzes kurzgeschnittenes Haar und das, was man einen Dreitagebart nennt.

»Das ist Kemal«, sagte Frieda zu Lieblos, »Alis Onkel.« »Und das ist Leo«, wandte sie sich dann an den Polizisten, »ein Kollege.« Lieblos schüttelte den Kopf. »Also kein Kollege?«, meinte der Mann, den Frieda Kemal genannt hatte. »Ich bin pensioniert.« »Also ein Ex-Kollege«, sagte Kemal und grinste.

»Er möchte einen Blick auf die Leiche werfen«, grinste Frieda zurück. »Das geht nicht so einfach.« Ali sagte nichts, sondern schaute betreten zu Boden. »Du hast Frieda angerufen«, sagte Kemal vorwurfsvoll zu ihm, und zu Lieblos gewandt fuhr er fort: »Wie kommen Sie zu den Kids?«

»Ich habe Frieda im Bus kennengelernt«, meinte Leo, »Sie hat mich gebeten mitzukommen.« Kemal schüttelte den Kopf. »Und Sie sind einfach mitgekommen?« »Wie Sie sehen, Ja.«

»Und was wollen Sie?« »Nichts?« »Das ist ja auch nicht Ihr Fall.« »Stimmt.« Kemal schien verwirrt. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Es wird Zeit, dass die Ferien bald aufhören. Dann wärt ihr jetzt in der Schule anstatt euch hier herumzutreiben.«

»Das glaube ich nicht«, meinte Lieblos, »Dann hätten Sie Probleme mit Ihrem Toten.« Kemal sah ihn einen kurzen Moment feindselig an, dann lächelte er: »Stimmt. Gut, dass der Mord in den Schulferien passiert ist.« »Schlecht, dass er überhaupt passiert ist«, entgegnete Lieblos.

»Da hast du ja einen Komiker angeschleppt«, meinte Kemal zu Frieda. Ein Mann tauchte aus dem Wald auf. Er war etwas kleiner als Kemal, aber breitschultriger, hatte einen leichten Bauchansatz und seine dunkelgrauen Haare lichteten sich bereits über der Stirn.

»Was wollen die hier?«, fragte er unwirsch, »Hier gibt es nichts zu sehen. Verschwinden Sie. Oder sind Sie Zeuge?«

Er wandte sich an Kemal. »Wie kommt deine Verwandtschaft hierher?«, sagte er halb verärgert, halb ironisch. Kemal wollte etwas sagen, da ergriff Lieblos das Wort: »Es ist meine Schuld.«

Alle schauen ihn an. »Kann ich den Toten sehen und mit ihm reden?«, fragte Lieblos. Der Mann schaute ihn mit offenem Mund an. »Was will der? Wer ist das?«, fragte er dann Kemal. »Das ist – Leo«, stotterte der. »Ach, Sie kennen ihn?»

»Leo Lieblos«, stellte sich Lieblos vollständig vor. Aber das schien der Mann zu überhören, denn er drehte sich von ihm weg. »Er war mal Polizist«, ergänzte Kemal. »Dann hat er ja seinen letzten Fall schon gehabt«, meinte der andere Mann schon in einiger Entfernung.

Lieblos war verstummt und wandte sich abrupt ab. Ja, er hatte seinen letzten Fall schon gehabt. Und genau dieser letzte Fall war es, weshalb er seinen Dienst als Polizist früher quittiert hatte. Sonst wäre er nicht hier, sondern in Bremen. Denn da kam er her.

Was wollte er hier? Ein Mädchen hatte ihn überredet. Aber dieser Fall war nicht sein Fall, er hatte seinen letzten Fall schon gehabt.

»Warten Sie«, hörte er den Mann sagen, der inzwischen wieder nähergekommen war, »Lieblos? Leopold Lieblos?« Leo nickte. »Aus Bremen?« Lieblos nickte erneut. »Dann weiß ich, wer Sie sind: Der Totenflüsterer.« Der Mann war auf einmal freundlich. »Ich bin Hauptkommissar Krüger und leite die Ermittlungen«, stellte er sich vor.

»Sie kennen mich?«, Lieblos war überrascht. Der Mann nickte. »Sie wollen zur Leiche? Dann kommen Sie«, sagte er und zeigte in den Wald. Lieblos zögerte. Eben noch war er betroffen, als Krüger ihn an seinen letzten Fall erinnerte. Nie wieder wollte er mit Mord etwas zu tun haben. Und jetzt?

Er sollte sich abwenden, von Frieda verabschieden und den nächsten Bus in die Innenstadt nehmen. Dann dort ein Café aufsuchen und mindestens einen Cappuccino trinken. Doch er ging einfach hinter dem Kommissar her und ließ die verblüfften Frieda, Ali und Kemal zurück.

Am Tatort angekommen traf Lieblos einige weitere Polizisten an, die die Umgebung untersuchten, sowie einen Toten, in dem ein Holzpfahl steckte. Sein Gesicht war im Schmerz verzerrt und erstarrt, der Täter oder die Täterin hatte es geschminkt. Der tote Mann war schwarz gekleidet, seine Haare waren dunkelbraun, die Gesichtshaut fast weiß, seine Lippen blutrot.

»Dracula«, meinte Lieblos. »Genau das habe ich auch gesagt«, pflichtete Krüger ihm bei. »Schauen Sie!« Er beugte sich hinunter zu dem Toten und öffnete mit seinen behandschuhten Fingern dessen Lippen. Zwei lange Reißzähne wurden sichtbar. »Angeklebt«, sagte Krüger und stand wieder auf. »Was will uns der Täter damit sagen?«, fragte er.

»Was will uns der Tote sagen?«, entgegnete Lieblos. Dann trat er auf die Leiche zu und ging dicht bei ihr in die Hocke. »Hallo, ich bin Leo Lieblos«, sagte er leise, »Lassen Sie uns reden. Was ist passiert?«

Die Polizisten um ihn schauten einen Moment verwundert in seine Richtung, doch auf ein Zeichen ihres Chefs wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Auch Krüger ging einige Schritte beiseite.

Lieblos musste nicht lange warten, bis eine lautlose Stimme in seinem Kopf sagte: »Ich bin Viktor Tsepesch. Ich bin tot. Jemand hat mich umgebracht.«

Und als Lieblos fragte: »Wie ist es passiert?«, da begann der Tote zu erzählen: »Ich war auf dem Weg zu meiner Nachtschicht, wie immer durch den Wald, ist eine gute Abkürzung.« »Hm«, machte Lieblos.

»Irgendwie bin ich ausgerutscht, dann gestürzt. Beim Versuch aufzustehen habe ich einen kurzen Stich im Rücken gespürt. Wie von einer Wespe oder so was. Und auf einmal fühlte ich mich wie betäubt. Dann lag ich am Boden, jemand hat mich auf den Rücken gedreht. Ich habe ihn noch gesehen, denn ich war noch nicht tot. Aber sehr unscharf, ich hatte meine Brille verloren, und mir war völlig schwindlig.«

»Wie könnte er ausgesehen haben?«, fragte Lieblos. »Mittelgroß vielleicht, dunkles Haar.« Es entstand eine längere Pause. Lieblos schwieg und wartete, ob der Tote weitersprach.

Gerade wollte er nachfragen, da hörte er wieder die Stimme im Kopf: »Auf einmal habe ich es gespürt: Du musst jetzt sterben. Nein, wollte ich sagen. Vielleicht hab ich's gesagt. Er hat mich mit etwas Spitzem erstochen. Aber das war nicht alles, danach kam noch etwas Größeres, ein Pfahl oder so was. Dann hat er etwas mit meinem Gesicht gemacht.«

Der Tote schwieg und Lieblos hatte den Eindruck, dass er jetzt nicht mehr sagen würde.

Er hatte fast zehn Minuten regungslos bei dem Toten gehockt. Nun stand er langsam auf, räkelte sich einen Moment und bedankte sich für das Gespräch. Dann kam er auf Krüger zu.

»Der Tote ist auf dem Weg zu seiner Nachschicht gestürzt, er spürte einen kurzen Stich im Rücken, wurde wohl betäubt. Als er am Boden lag, wurde er erst mit etwas Spitzem erstochen, danach kam der Pfahl. Er kannte seinen Mörder nicht, hat ihn nur unscharf gesehen. Ihm war schwindlig und er war wohl kurzsichtig. Lag hier irgendwo eine Brille?«

Krüger schüttelte den Kopf. »Dann hat der Täter sie mitgenommen«, fuhr Lieblos fort, »Der Täter könnte ein mittelgroßer Mann sein und dunkles Haar haben. Mehr weiß ich nicht. Warum er den Tod von Dracula inszeniert hat, ist auch nicht klar.«

»Nicht viele neue Erkenntnisse also?«, knurrte Krüger, der sich mehr erhofft hatte. Lieblos schüttelte langsam den Kopf. »Doch ich habe einen Namen: Viktor Tsepesch«, sagte er dann. »Danke«, erwiderte Krüger, »Wir haben zwar in der Nähe einen Rucksack gefunden, der wohl dem Toten gehört, aber noch nicht hineingeschaut. Jetzt wissen wir schon mal wie er heißt.«

In diesem Moment kam Kemal hinzu. »Uwe«, sagte er zu Krüger, »ich habe mir den Rucksack mal von innen angeschaut und weiß jetzt, wie der Kerl heißt.« »Viktor Tsepesch«, grinste Krüger ihn an. »Tepes«, sagte Kemal verwirrt.

*

Lieblos saß zu Hause in seiner Zweizimmerwohnung und blätterte in der Tageszeitung von gestern. Sein Nachbar von gegenüber hatte angeboten, ihm die »Neue Osnabrücker Zeitung« zu überlassen, nachdem er selbst sie gelesen hatte. Und Lieblos machte es nichts aus, die Zeitung etwas später zu lesen. Nicht wie in Bremen noch gewohnt schon früh am Morgen. Er war jetzt Pensionär, er hatte Zeit.

Diesmal blätterte er mehr aus Verlegenheit in der gestrigen Tageszeitung, er war gespannt, was in der heutigen Ausgabe über den Toten stehen würde.

Es war gestern Nachmittag, als er genau das wieder tat, was er seit fast einem Jahr nicht mehr getan hatte und eigentlich nie mehr tun wollte: Sich in einen neuen Kriminalfall einmischen. Wäre er nicht in diesen Bus gestiegen, sondern wie sonst auch einfach durch die Große Straße gebummelt, hätte er dieses Mädchen nicht getroffen. Und wäre damit um den Fall herumgekommen, der ihn bereits seit gestern beschäftigte.

Da war ein Mord kunstvoll wie Draculas Hinrichtung inszeniert worden, und Lieblos befürchtete, dass dies der Auftakt zu einer ganzen Mordserie sein könnte. Ebenso wie gestern Kommissar Krüger, der ihn als »Totenflüsterer« erkannt hatte.

Dummerweise hatte er dem seine Telefonnummer gegeben, als der ihn darum bat. Dafür hatte er jetzt die Visitenkarte des Kommissars.

Einen Festnetzanschluss hatte Lieblos hier noch nicht, aber sein Handy war tagsüber ständig auf Empfang geschaltet. Eine alte Gewohnheit, sagte er sich, denn eigentlich sollte er als pensionierter Polizist für niemanden mehr erreichbar sein.

Mehr als ein Jahr hatte er doch nun mit all diesen Dingen nichts zu tun. Aber stimmte das wirklich?

Gleich nach seiner Pensionierung hatte er zu sich gesagt: »Du bist raus, deinen letzten Fall hast du in Bremen abgelegt.« Und sich vorgenommen, künftig um Kriminalfälle einen weiten Bogen zu machen. Doch immer, wenn er irgendeine Meldung aufschnappte, in der es um Mord ging, kreisten seine Gedanken um die Nachricht. Und es kostete ihn jedes Mal einige Mühe, endlich wieder an etwas anderes oder an nichts zu denken.

Dazu hatte er extra einen Kurs in Autogenem Training besucht. Immerhin konnte er sich jetzt besser entspannen, aber seine Gedanken waren immer noch »kriminell«. Und an überhaupt nichts denken konnte er ohnehin keine Minute lang.

Es war jetzt mehr als ein Jahr her, seit seinem letzten Fall. Vor ihm lagen damals noch mehr als zwei Jahre bis zu seiner offiziellen Pensionierung. Und er hatte zuerst auch vor, die ganze Zeit bis dahin noch aktiver Polizist zu bleiben. Aber sein letzter Fall änderte vieles.

Mehr als fünfzehn Jahre waren er und der deutlich jüngere Fritz Herzog ein Team. Aber Fritz war nicht nur Kollege und Partner, er war auch der beste (und vielleicht einzige wirkliche) Freund. Man konnte sagen: Leo und Fritz waren ein Herz und eine Seele. Sie ergänzten sich sehr gut, Leo hatte die Gabe, mit Toten reden zu können, und Fritz war Meister darin, auch kleinste Spuren aufzuspüren, die andere (also auch Leo) übersehen hatten. Für Lieblos gab es keinen Grund, jemals mit dem Polizeijob aufzuhören.

Als die beiden Polizisten damals an einen Tatort kamen, lag dort eine tote Frau. Auf einer Wiese im Museumsgarten in der Nähe der Weser. Ein anderer Kollege schien auf sie zu warten. Als er Lieblos und Herzog sah, kam er auf die beiden zu.

Lieblos kannte ihn, es war der junge Thorsten Müller, gerade mal ein Jahr im Polizeidienst. Er war ein netter Kerl, fand Lieblos, er war ihm ein paarmal begegnet. Aus dem würde bestimmt ein guter Polizist. Fand Lieblos.

Sein Freund war da skeptischer. »Ich weiß nicht«, hatte Herzog irgendwann mal gesagt, »irgendwie kann ich mit diesem jungen Schnösel nichts anfangen.« »Der ist ja kaum älter als du«, zog Lieblos ihn auf und lachte, »Ich finde ihn ganz nett.« »Du kannst ihn ja übernehmen, wenn ich als Partner zu alt bin«, lachte Herzog zurück.

Müller berichtete gerade, dass er in der Gegend war, er hatte eigentlich frei, ein aufgeregter Passant hätte ihn angesprochen, da läge eine Frau. Er wäre sofort zum Tatort gerannt, dann hätte er die beiden Kollegen angerufen.

»Sie ist erschossen worden«, sagte Müller, während Lieblos sich dicht an die Frau hockte. »Ich bin Leo Lieblos. Lassen Sie uns reden«, sagte er leise, »Was ist passiert?«

Nur kurze Zeit später tauchte in seinem Kopf ein Satz auf, der ihn sofort zu seiner Schusswaffe greifen ließ: »Er ist hier«.

Fritz Herzog konnte es nicht sein, doch wirklich glauben, dass es Müller war, wollte Lieblos auch nicht. Deshalb zögerte er. Doch als er Müller ansah, wusste er, dass der es wusste.

Auf einmal hatten alle ihre Waffen gezogen. Herzog musste etwas gespürt haben, er bewegte sich mit einem lauten »Nein!« in die Schusslinie, sodass nicht Lieblos, sondern er tödlich getroffen wurde. Lieblos hörte einen zweiten Schuss, der aus seiner eigenen Waffe stammte, und sah Müller zusammenbrechen.

In seinem Kopf tauchte der Name auf, den die Tote jetzt als ihren Mörder nannte: »Thorsten. Es war Thorsten Müller.« Lieblos sprang auf, und beugte sich zu Fritz, der schwer atmete. Er nahm sein Handy und rief den Notruf. »Nun brauchst du einen neuen Partner«, versuchte sein Freund zu lächeln. Als der Notarztwagen eintraf, war Fritz Herzog tot. Um Müller hatte sich Lieblos nicht kümmern wollen, er war sicher, dass er tot war, denn Lieblos war ein sehr guter Schütze.

Zuerst schob er alles beiseite, als wäre es nicht passiert. Es gab drei Tote, würde er später sagen. Eine Frau wurde von einem Polizisten ermordet, ein Polizist wurde von einem Polizisten erschossen, ein Polizist wurde von einem Polizisten hingerichtet.

Es gab keine Verhaftungen und keine Verurteilungen. Alle Kollegen waren der Meinung, dass Lieblos in Notwehr gehandelt hatte, so handeln musste, um sich selbst zu retten. Lieblos sah es anders: Er hatte seinen Freund gerächt. »Ich bin vom Polizisten zum Richter und zum Henker geworden«, meinte er.

Er war 63 Jahre alt, Fritz Herzog starb mit 46 und hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Leo Lieblos hatte keinen Partner mehr, einen Freund verloren. Eine Familie hatte er nicht, die Polizei war seine Familie. Sein Leben war nun inhaltsleer geworden. Weil er 63 war, konnte er früher in Pension gehen. Also stieg er aus und kehrte dem Polizeidienst den Rücken.

Einige Monate trieb er sich ziellos in der Gegend von Bremen herum, dann machte eine 100-tägige Weltreise. Als er zurückkam, wohnte er zwar noch zwei Monate in Bremen, fasste dort aber keinen Fuß mehr. Er wollte alles aufgeben, um das Weite zu suchen, verkaufte und verschenkte die Möbel und vieles vom übrigen Hausrat.

Den Rest brachte er bei einem Freund unter, der auch einen Kleintransporter hatte. Später wollte er das alles abholen, wenn er eine neue Bleibe hatte. Als er seine Wohnung verließ, hatte er nicht mehr als das, was auf den Rücksitz und in den Kofferraum seines silberfarbenen Porsche 911 passte.

Er mochte das inzwischen fast 20 Jahre alte Fahrzeug. Auch wenn es ein Spritschlucker war. Doch Lieblos fuhr nicht oft Auto, aber wenn, dann wollte er sich auch etwas gönnen.

Im Moment war es ihm egal, wie viele Liter Super der Motor brauchte. Eigentlich ohne Ziel war er von Bremen losgefahren. Unterwegs auf der Autobahn in den deutschen Süden hatte er in der Nähe der Ausfahrt Osnabrück-Hafen eine Panne. Er musste einen Abschleppdienst anrufen. Das brachte ihn nach Osnabrück und in eine Werkstatt. Dort eröffnete man ihm, dass es mindestens zwei Tage dauern würde, um seinen Wagen wieder »flottzukriegen«.

Grundsätzlich war Lieblos in solchen Fällen misstrauisch, weil er wusste, dass nicht wenige Werkstätten eine solche Situation zur Abzocke nutzten. Doch der Automechaniker erklärte ihm die »Leiden« seines Wagens so glaubwürdig, dass Lieblos ihm vertraute.

In einer nahegelegenen Pension mietete er sich ein Zimmer, um dort zu wohnen und zu warten, bis sein Porsche wieder fahrbereit war. Als er am Abend an dem im Vergleich zu Bremen sehr mickrigen Stadthafen entlang schlenderte, kam ihm das auf einmal wie eine Bestimmung vor. Und als er im Gespräch mit der Pensionswirtin erfuhr, dass sie gerade eine möblierte Wohnung im Osnabrücker Stadtteil Hellern zu vermieten hatte, stand sein Entschluss fest. Er würde hierherziehen und zumindest eine Weile seines Lebens in einer Stadt verbringen, in der er niemanden und ihn niemand kannte.

Inzwischen war Lieblos 64 und wohnte seit einigen Monaten hier. Sein Auto war repariert, die Kosten waren fair, er konnte es in einer angemieteten Garage unterstellen, die etwa fünfzig Meter von seiner Wohnung entfernt lag. Er war zufrieden.

Und bisher klappte es gut, was er sich nach seiner Pensionierung vorgenommen hatte: Nichts mehr mit einem Mordfall zu tun haben. Dass er rund ein Jahr später wieder mit einem Toten reden würde, damit hatte er nicht gerechnet.

 

2 Ermittlungen

Gestern hatte Frieda nicht genau mitbekommen, was geschah. Auf einmal wurde der Mann, den sie im Bus als Leo kennengelernt hatte, von Kemals Chef überaus freundlich behandelt. Er kannte sogar seinen Nachnamen: Lieblos. Und faselte etwas von »Totenflüsterer«.

Als Leo dann aus dem Wald zurückkam, verabschiedete sich Kommissar Krüger höflich und gab ihm sogar ein Kärtchen mit seiner Telefonnummer. Als er die von Lieblos wollte, zierte der sich zuerst ein bisschen. Dann wählte er die Zahlenfolge, die er auf der Visitenkarte fand, damit Krüger die Nummer von Lieblos auf dem eigenen Handy speichern konnte.

Frieda hatte die Gelegenheit genutzt und Lieblos gebeten, dasselbe nochmal mit ihrer Handynummer zu wiederholen, die sie ihm langsam zum Eintippen diktierte. Dass er das nur widerwillig tat, war eindeutig zu erkennen.

»Was heißt Totenflüsterer?«, hatte sie ihn gefragt. Lieblos zögerte einen Moment, ehe er antwortete. »Ich kann mit Toten reden«, sagte er dann knapp. »Mit Toten reden? Die hören, was Sie sagen, und Sie hören, was die sagen?« »So ungefähr.« »Das ist ja cool«, sagten Frieda und Ali wie aus einem Munde. Nun wussten es alle, denn nicht nur Kemal konnte es hören.

Lieblos hatte sich dann schnell verabschiedet, er wolle jetzt nach Hause. Und Frieda hatte ihn noch zusammen mit Ali zur Haltestelle gebracht. »Damit Sie den richtigen erwischen«, hatte sie gesagt. Als der Bus kam, verabschiedete sich der Ex-Polizist mit den Worten: »Dann tschüss, bis irgendwann mal.«

Frieda hatte sich geärgert. Das wäre ihre Chance gewesen, endlich an der Lösung eines Mordfalls mitzuwirken. Wo sie doch Krimis bisher immer nur in Büchern und Filmen miterleben konnte. Alis Onkel Kemal war Polizist, aber nur einfacher Kommissar. Er träumte davon, endlich Hauptkommissar zu werden. Wenn Ali und Frieda sich bei einem Tatort herumtrieben, fand Kemal, das sei eher schlecht für seine Karriere.

Auf einmal lernte Frieda mit Leo jemanden kennen, der mal Polizist war und sogar mit Toten reden konnte. Und es gab einen Toten. Aber Leo Lieblos hatte sich dann einfach verabschiedet. Doch jetzt hatte Frieda einen Grund, ihn wiederzusehen.

*

Lieblos saß beim Frühstück in einem Café nicht weit von seinem Wohnort entfernt. So konnte er die NOZ (wie die Osnabrücker Tageszeitung in Kurzform hieß) schon jetzt lesen. Es ging ihm dabei auch nur um einen bestimmten Artikel. Erst nach einigem Suchen fand er einen kurzen Text mit dieser Überschrift: »Mord im Osnabrücker Stadtteil Schinkel.«

»Gestern wurde ein 30 bis 35 Jahre alter Mann gefunden. In ihm steckte ein Holzpfahl, sein Gesicht und seine Zähne waren so präpariert, dass er wie Dracula aussah. Es wurden bisher keine Hinweise auf den oder die Täter gefunden, obwohl die Kriminalpolizei die Umgebung des Tatorts gründlich absuchte. Der Mann wurde wahrscheinlich zwischen 20 und 21 Uhr getötet.«

Die Information im letzten Satz war für Lieblos neu. Muss mich das das eigentlich interessieren?, fragte er sich. Da klingelte sein Smartphone (Lieblos benutzte den klassischen Klingelton alter Telefone). Es war Frieda, das Mädchen, das er gestern im Bus getroffen hatte. Und das ihm die Anteilnahme an dem Dracula-Fall eingebrockt hatte.

»Ja«, fragte er eher abweisend. »Leo, äh Herr Lieblos, können wir uns treffen? Wir haben ein Beweisstück gefunden.« »Wer ist wir?« »Ali und ich. Wir waren heute Morgen bei der Schule im Wald. Ich hatte da so eine Ahnung.« »Eine Ahnung?« »Ja, und da habe ich was entdeckt.«

»Und was?« »Das kriegen Sie, wenn wir uns treffen.« »Du willst es mir geben? Für den Fall ist Hauptkommissar Krüger zuständig. Der muss es haben, wenn es ein Beweisstück ist. Ihr kennt doch einen von der Osnabrücker Polizei, Kemal. Dem könnt ihr es auch geben.« »Na gut, aber erst möchte ich es Ihnen zeigen.«

Dieses Mädchen war hartnäckig. Und schlau. Sie wollte nicht sagen, um was genau es ging. Und sie hatte Lieblos neugierig gemacht. Jetzt wollte er wissen, was es war, das die beiden im Wald gefunden hatten.

»Ich komme mit dem Bus aus Hellern. Wir treffen uns am Neumarkt, an der Haltestelle, wo dieser Bus hält.« »In einer Stunde?« Lieblos schaute auf das gekochte Ei vor ihm, auf die beiden Weltmeister-Brötchen und auf die Marmelade, die er noch nicht angerührt hatte. Und auf eine halbvolle Tasse Kaffee. »In zwei Stunden«, sagte er.

Weniger als zwei Stunden später war Lieblos dann am Neumarkt ausgestiegen. Frieda und Ali warteten schon und kamen auf ihn zu.

»Was habt ihr?«, wollte er etwas ungeduldig fragen, aber Frieda hielt ihm schon einen Gefrierbeutel mit einer Brille entgegen. »Hm«, machte Lieblos, dann lächelte er: »Darf ich euch zum Eis einladen?«, fragte er.

Frieda und Ali sahen sich an und nickten freudig. Zielsicher gingen sie vor und steuerten die nächste Eisdiele an. Sie fanden einen freien Tisch und setzten sich. Es dauerte nicht lange, bis eine Kellnerin erschien. Die beiden Kids bestellten einen Eisbecher, Lieblos einen Cappuccino. Für eine Portion Eis war nach dem üppigen Frühstück, das er genossen hatte, kein Platz mehr.

»Darf ich?«, fragte Lieblos und schaute auf den Gefrierbeutel mit der Brille. Und als Frieda nickte, nahm er den Beutel, hielt ihn sich dicht vors Gesicht und drehte ihn langsam hin und her. Kurz darauf kam die Kellnerin und servierte zwei Eisbecher und eine Tasse Cappuccino. »Danke«, sagte Lieblos und schickte der Frau ein kurzes Lächeln.

»Und Sie können wirklich mit Toten reden?«, hörte er Ali fragen. Lieblos nickte: »Sozusagen.« »Was heißt das? Wie sprechen Sie denn miteinander, wenn der andere tot ist? Das geht doch gar nicht.«

Lieblos zögerte einen Moment, dann grinste er: »Ich sage ›Hallo‹, der andere sagt ›Hallo‹, ich frage ›Wie geht’s?‹ und der Tote antwortet ›Nicht mehr gut‹. Dann lass ich mir ein bisschen darüber erzählen, was passiert ist, nicht jeder Tote ist gesprächig, manche wollen auch nichts sagen. Naja, und zum Schluss verabschiede ich mich: ›Na, dann alles Gute‹. Oder so.«

Lieblos lachte und legte den Beutel wieder auf den Tisch. Frieda stieß Ali an: »Der verarscht dich.« »Was?«, fragte Ali. Lieblos schüttelte den Kopf. »Ein bisschen hast du recht«, meinte er, »Wir machen keinen Smalltalk. Also nicht Wie geht es und Alles Gute. Aber ich sage etwas zu dem Toten. Und ich höre ihn antworten. In meinem Kopf. Und manchmal erfahre ich so eine Menge, manchmal aber auch gar nichts.«

»Ich find's cool«, meinte Ali, »Sie könnten ja mal mit meiner Oma reden. Die ist vor ein paar Monaten gestorben.« Frieda schubste ihn wieder: »Deine Oma ist doch nicht ermordet worden.« Ali zuckte mit den Schultern. »Außerdem ist sie ja schon längst begraben.«

Lieblos lächelte schweigend. Dann zeigte er auf den Beutel mit der Brille. »Am besten, ihr bringt dieses Stück gleich zu Kommissar Krüger, wenn ihr euer Eis aufgegessen habt. Könnte sein, dass daran Spuren des Mörders sind.« Frieda nickte.

»Wie hast du diese Brille gefunden? Wo lag sie?«, fragte Lieblos neugierig.

»Wir sind vom Tatort aus ziemlich weit in den Wald hineingegangen, dann die Goldkampstraße runter, Richtung Bremer Straße. Ich hatte so ein Gefühl, da müsste noch was liegen.« Lieblos sah sie fragend an. »Frieda hat manchmal so eine Ahnung«, versuchte Ali eine Erklärung, »Wenn jemand nach etwas sucht, dann ist es meistens sie, die es findet.«

»Aha«, machte Lieblos und dachte an seinen toten Freund Fritz Herzog. Auch der war oft noch die Umgebung eines Tatorts noch einmal weiträumig abgegangen, nachdem die Spurensicherung verschwunden war. Und nicht selten hatte er noch etwas gefunden. Nicht immer war es für den Fall von Bedeutung, aber hin und wieder auch von großer.

Inzwischen hatten Ali und Frieda ihre Eisbecher geleert. »Ich habe die Brille nicht mit den Fingern angefasst«, sagte Frieda zu Lieblos, »sondern den Beutel drüber gestülpt.« »Wie die Profis«, meinte Lieblos anerkennend.

Er nickte ihnen zu. »Wir sehen uns sicher wieder«, meinte Frieda zuversichtlich, »denn wir arbeiten ja jetzt am selben Fall.« Lieblos wollte etwas antworten, doch er lächelte nur schweigend. Als die beiden dann losgegangen waren und ihm noch einmal zuwinkten, winkte er zurück und widmete sich dann seinem Cappuccino.

Kaum war er damit fertig, als sein Smartphone klingelte. »Ja?«, fragte er, »Herr Krüger«, ergänzte er, als er die Stimme am anderen Ende erkannte. »Wo sind Sie gerade?«, hörte er Krüger fragen. »Ist das ein Verhör?«, versuchte Lieblos zu scherzen. »Wo sind Sie?«, wiederholte Krüger seine Frage und ergänzte: »Klingt, als wären Sie in einem Straßencafé.« »Erwischt«, meinte Lieblos, »Gerade habe ich meinen Cappuccino getrunken.«

»Die Kinder waren bei mir, sie haben mir eine Brille gebracht, die sie gefunden haben.« »Und?« »Wären Sie so nett und besuchen mich mal? Ich möchte mit Ihnen reden. Es ist auch nicht weit. Wenn Sie in der Nähe vom Neumarkt sind.«

»Bin ich.« Die Nachfrage »Woher wissen Sie das?« verkniff sich Lieblos. Wahrscheinlich hatten Frieda und Ali dem Herrn Hauptkommissar alles erzählt. »Wie komme ich zu Ihnen?«, fragte Lieblos.

»Vom Neumarkt den Kollegienwall runter, sind nur ein paarhundert Meter.« »Gut, ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.« Lieblos winkte der Kellnerin und rief »Zahlen, bitte!« Die kam auch nach kurzer Zeit und er rundete die Rechnung für den Cappuccino und die Eisbecher großzügig auf. »Danke«, verabschiedete sich die Kellnerin, Lieblos nickte ihr zu und stand auf.

Vom Neumarkt aus fand er den Anfang der besagten Straße nicht sofort, aber dann dauerte es nicht lange, bis er vor dem Haupteingang der Polizeistation stand. Er trat ein und fragte nach Hauptkommissar Krüger, er sei mit ihm verabredet. »Leopold Lieblos ist mein Name.«

Der uniformierte Polizist, der durch eine Glaswand von ihm getrennt war, telefonierte kurz, dann stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie. »Kommen Sie mit!« Und Lieblos trottete hinter ihm her, bis sie an einer Tür anhielten, hinter der er ein »Herein!« hörte, als der Polizist klopfte. Er öffnete die Tür für Lieblos, der nickte dem Mann kurz zu und trat dann ein.

»Herr Lieblos!« Krüger war aufgestanden und ging um seinen Schreibtisch herum. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Lieblos. »Das frage ich sonst immer«, lachte Krüger und bat ihn mit einer Geste sich zu setzen. Dann ging er wieder um den Schreibtisch herum und nahm auf seinem Sessel Platz.

»Wir wissen inzwischen einiges über Viktor Tepes. Doch bevor ich Ihnen davon erzähle, muss ich wissen, ob ich mit Ihrer Hilfe rechnen kann.«

Lieblos lächelte schwach und wollte gerade etwas antworten, als Krüger fortfuhr: »Eigentlich sind Sie pensioniert. Und eigentlich gehören Sie gar nicht hierher. Das wollten Sie doch sagen?« »So was Ähnliches«, meinte Lieblos leicht überrascht.

»Eigentlich kommen wir auch gut allein zurecht«, redete Krüger weiter, »Aber hier könnten wir jemanden wie Sie gut gebrauchen, um uns die Arbeit zu erleichtern.« »Erwarten Sie noch mehr Tote?«, fragte Lieblos.

Krüger nickte: »Wir gehen davon aus, dass es nicht bei dem einen Vampirmord bleiben wird. Vielleicht kriegen wir es hier mit einer Kette von Ritualmorden zu tun. So was hatten wir hier in Osnabrück noch nicht. Jedenfalls nicht zu meiner Zeit. Und ich bin jetzt seit mehr als fünfzehn Jahren hier.«

»Hm«, machte Lieblos und Krüger sah ihn an. »Mir wäre es lieber, wenn der nächste Mord nicht passiert. Und falls doch, dann könnten Sie uns nützen, wenn Sie mit dem Toten reden.« Lieblos wollte noch einmal mit »Hm« antworten, doch er schluckte nur wortlos.

»Was meinen Sie?« Lieblos wartet noch eine Weile mit seiner Antwort. »Dass ich pensioniert bin und mich eigentlich nicht mehr mit Mordfällen befassen möchte, lassen Sie nicht als Argument für eine Absage gelten«, sagte er dann. Krüger schaute ihn einen Augenblick ernst an, dann lächelte er und schüttelte den Kopf.

»Sie haben doch längst angebissen«, meinte er, »Nachdem Sie bei dem Toten im Wald waren und mit ihm 'geflüstert' haben, wusste ich es, als ich ihr Gesicht sah.« Lieblos musste anerkennend grinsen: »Sie haben mich überführt.« »Das heißt also, ich kann auf Sie zählen, Kollege?« Und Lieblos nickte.

»Mit dem Namen des Toten haben wir uns erst etwas schwergetan: ausgesprochen Tsepesch, geschrieben Tepes. Viktor Tepes war 34 Jahre alt, als er starb. Und er war Brillenträger, wie Sie richtig bemerkten. Ob die Brille, die der Neffe des Kollegen Ödem und seine Freundin Frieda, gefunden haben, ob die zu unserem Viktor gehört, wird sich noch herausstellen.«

»Ödem?« »Kommissar Kemal Ödem ist der Onkel von Ali.« Jetzt verstand Lieblos. Bisher kannte er nur den Vornamen von Alis Onkel.

»Jetzt kommt was Seltsames, von dem wir nicht wissen, ob das vom Mörder einkalkuliert wurde. Der Tote ist nicht in Deutschland, sondern in Rumänien geboren. Das ist noch nicht unbedingt etwas Besonderes. Aber sein Geburtsort Cluj-Napoca ist ungewöhnlich. Diese Stadt hatte auch einen deutschen Namen: Klausenburg, sie liegt in Siebenbürgen.« »Auf Rumänisch Transilvania«, ergänzte Lieblos und Krüger nickte.

»Da hat Bram Stoker die Hauptfigur seines Romans angesiedelt«, fuhr er fort, »Graf Dracula kommt aus Transilvania. Und auch das mögliche Vorbild für seinen Roman soll ja aus dieser Gegend stammen.« »Hm«, machte Lieblos und fand, dass das mal wieder nötig war.

»Es wird noch ein bisschen merkwürdiger: Wissen Sie, was Tepes auf Deutsch heißt?« Lieblos schüttelte den Kopf, dann stutzte er: »Hatte nicht dieser Fürst Vlad Dracul, der als Vorbild für Dracula diente, den Beinamen Tepes, zu Deutsch: Pfähler?« »Sie sagen es.«

»Perfekt«, entfuhr es Lieblos, »Da wird also ein Mann aus Transilvania mit dem passenden Namen gepfählt.« »Der Tod selbst wurde durch einen sehr spitzen Gegenstand verursacht, ein Stich direkt ins Herz. Die Kollegen von der Forensik vermuten, dass der Täter ein Stilett benutzt haben könnte. Damit kann man sehr schnell und effizient töten. Und dann wurde die Stichwunde vergrößert und der Pfahl eingeführt. Genauer: Hineingeschlagen. Und damit die Spuren des vorhergehenden Stiches weitgehend zerstört.«

»Wie kam es zu dem Tatort?« »Das Mordopfer war Krankenpfleger von Beruf, er wohnte im Stadtteil Schinkel, also in der Nähe des Tatorts, einige hundert Meter davon entfernt. Er nahm den Bus in der Bremer Straße zum Neumarkt und stieg dort um. Wenn Sie durch den Wald gehen, in dem wir die Leiche gefunden haben, kommen Sie auf der anderen Seite über die Goldkampstraße zur Bremer Straße.«

Lieblos nickte mehrmals schweigend, während Krüger fortfuhr: »Der Täter musste diese Abkürzung kennen, die Tepes tagtäglich ging. Und ihn abgepasst haben, als er zu seiner Nachtschicht wollte, die er von Montag auf Dienstag hatte.«

»Und die beginnt um?« »22 Uhr. Tepes muss also um etwa 20:30 Uhr durch den Wald gegangen sein, um den Bus zu erwischen, damit er pünktlich vor Dienstbeginn in der Klinik ist.« »Wir haben zwar Herbst, aber richtig dunkel war es da noch nicht«, meinte Lieblos, »Gibt es keine Zeugen, die irgendjemanden gesehen haben?« Krüger schüttelte den Kopf: »Bis jetzt noch nicht. Auch der Spaziergänger, der die Leiche entdeckt hat, kannte den Toten nicht und hat ihn lebend nie gesehen.«

Lieblos schaute eine ganze Weile schweigend auf den Boden. Dann hob er den Kopf und sah Krüger an: »Ich möchte nochmal mit Viktor Tepes reden.«

*

Als die beiden Polizisten die Klinik betraten, seufzte Kemal Ödem. »Was ist?«, fragte Krüger. Doch sogleich erinnerte er sich. Kemals Mutter war vor einem Vierteljahr in dieser Klinik gestorben. Sie war gerade mal 58 Jahre alt geworden, sie hatte Krebs. Krüger hatte miterlebt, wie sein Kollege darunter gelitten hatte, es hatte viele Monate gedauert, immer wieder schien es, als würde diese Frau den Krebs besiegen. Er hatte sie als so lebenslustig kennengelernt. Doch dann hatte sie doch verloren.

Uwe Krüger legte die Hand auf die Schulter seinen Kollegen. »Willst du lieber draußen warten?« Kemal schüttelte den Kopf. Noch immer kannte er sich hier aus.

Wie oft war er die vielen Gänge dieser Klinik gegangen, wenn er es nicht mehr aushielt, nicht mehr sitzend warten konnte. Er war dann einfach ziellos von einer in die andere Abteilung gewandert und irgendwann wieder zu dem Warteraum zurückgekehrt, in dem Angehörige derjenigen Patienten saßen, die auf der Intensivstation lagen und da gerade nicht besucht werden durften. Sein Bruder Erdal schien da ruhiger, der konnte stundenlang an seinem Platz sitzen und warten. Aber Kemal wusste, dass es in Erdal drinnen brodelte. So wie auch in ihm. Nur er musste sich dazu bewegen. Doch das war jetzt einige Monate her. Jetzt hatte er hier einen Job zu erledigen.

Kemal ging direkt zur Information und hielt der Frau, die dort saß, seinen Dienstausweis hin: »Ich bin Kriminalkommissar Ödem, und das ist Kriminalhauptkommissar Krüger«. Er zeigte auf seinen Chef, der in einigem Abstand auf ihn wartete.

»Wir ermitteln in der Mordsache Viktor Tepes. Der war hier Krankenpfleger. Wir möchten gern mit jemandem sprechen, der ihn kannte.«

Die Frau schaute ihn verwirrt an: »Tot? Mord?« Offenbar wusste sie davon noch nichts. »Kennen Sie Herrn Tepes?« Die Frau schüttelte den Kopf. »In dieser Klinik arbeiten viele Menschen, und ich bin noch nicht so lange hier.« Sie hob den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Als sie eine Verbindung hatte, sagte sie: »Die Polizei ist hier unten an der Information, wegen Viktor Zepes.« »Tsepesch«, sagte Kemal langsam. »Zepesch, Viktor Zepesch« wiederholte die Frau. Nach einer Weile legte sie den Hörer wieder auf: »Es kommt gleich jemand.«

Sie mussten nicht lange warten, als eine Frau auf sie zukam und ihnen die Hand entgegenstreckte: »Ich bin Schwester Hildegard Singer und verantwortlich für die Station, auf der Viktor gearbeitet hat. Schreckliche Geschichte. Ich habe es gestern von der Klinikdirektion erfahren.«

Die Frau hatte hellblondes lockiges Haar und war überall am Körper gut gerundet, ihr ebenfalls rundes rötliches Gesicht strahlte Wärme aus. Nachdem sie jedem der beiden Polizisten die Hand geschüttelt hatte, fragte Krüger: »Was genau wissen Sie?« »Dass er im Wald tot aufgefunden wurde. Und in der Zeitung steht was von Dracula.« Sie schaute erst Krüger, dann Ödem fragend an.

»Ja«, sagte der, »Der Mörder hat ihn so präpariert, dass er aussah wie Dracula.« »Sie gehen von Mord aus?« Krüger und Ödem nickten. »Erzählen Sie uns von Viktor Tepes«, sagte Krüger.

»Er war ein ruhiger netter Mann. Zuverlässig, pünktlich. Hat sich wirklich um die Patienten gekümmert.« »Klingt so, als hätte er keine Feinde. Hatte er welche?« Die Frau schüttelte den Kopf.

»Vor einiger Zeit«, sagte Kemal, »war bei Ihnen ein Patient namens Haferkamp.« Das hatte Lieblos in seinem zweiten »Gespräch« mit dem toten Tepes herausgefunden.

»Oh ja!« Schwester Hildegard lächelte gequält, »Da gab es eine Auseinandersetzung.« »Zwischen Herrn Tepes und dem Patienten?«, fragte Krüger nach. Die Frau nickte. »Erzählen Sie«, forderte Krüger sie auf.

»Naja, dieser Patient war mit einem leichten Herzinfarkt eingeliefert worden und lag dann etwa zwei Wochen bei uns auf der Station. Letzten Freitag wurde er wieder entlassen. Wir wollen ja nichts Schlechtes über unsere Patienten sagen, der Kunde ist König, aber der Herr Haferkamp hat es uns nicht leichtgemacht.«

»Inwiefern?« »Nun, er hatte dauernd etwas zu beanstanden. Das ist ja nicht der einzige Patient, der hier und da unzufrieden ist.« »Hatte er Gründe?« »Nein!«, die Schwester schüttelte energisch den Kopf. »Wir machen alle Fehler, klar, und wir nehmen Kritik von Patienten ernst.« »Klingt wie im Märchen«, entfuhr es Kemal, dafür handelte er sich einen missbilligenden Blick seines Chefs ein.

»Aber«, begann Krüger. »Aber«, meinte Schwester Hildegard, »dieser Mann hatte überall etwas herumzumeckern. Er hat die Krankenschwester, die sich um ihn gekümmert hat, dazu gebracht, weinend wegzulaufen. Woraufhin ich mit ihm geredet habe. Ich lasse mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen und bin eigentlich auch in der Lage, fast immer einen Kompromiss zu finden. Aber dieser Mann« – sie schnaufte und suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Der hat Sie geschafft«, schlug Kemal vor.

Hildegard Singer zuckte mit den Schultern und nickte dann. »Er ließ sich nur schwer auf Kompromisse ein. Und fand kurz darauf etwas Neues, worüber er sich auslassen konnte.«

»Herzinfarkt, sagen Sie«, meinte jetzt Krüger, »hätte er da nicht Ruhe gebraucht?« »Die hatte er anfangs auch, da verhinderten wohl noch die Medikamente, dass er so streitlustig war. Aber dann…«

»Und welche Rolle spielt jetzt Viktor Tepes?« »Als wir mit unserem Latein am Ende waren, ist er gekommen und hat den Mann regelrecht zusammengestaucht. Das kannten wir von Viktor nicht, er war immerzu nur besonnen gewesen. Und er hat sich auch eine ganze Weile geduldig mit dem Patienten auseinandergesetzt. Er ist für Schwester Erna eingesprungen.«

»Erna?«, fragte Kemal, »Ach, das ist wohl die Kollegin, die Haferkamp verscheucht hat?« Hildegard Singer nickte. »Irgendwann ist Viktor dann wohl der Geduldfaden gerissen. Nicht dass er unflätig wurde, aber er hat den Patienten gründlich zusammengefaltet.« »Und Haferkamp?« »Der hat eigentlich nur noch nach Luft geschnappt. Und Sie werden es nicht glauben: Er hat von da an geschwiegen. Gleich zwei Tage lang.«

immer