Hansjörg Schneider

Das
Wasserzeichen

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1997

im Ammann Verlag, Zürich.

Die vorliegende Ausgabe folgt

der ebenfalls im Ammann Verlag erschienenen,

überarbeiteten Ausgabe von 2003.

Umschlagillustration: Félix Vallotton,

›Sandbänke an der Loire‹, 1923 (Ausschnitt)

Copyright © 2012, Kunsthaus Zürich.

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Mein Dank geht an die

Zuger Kulturstiftung Landis und Gyr,

in deren Schreibstube in London

ich den Großteil des vorliegenden Romans

geschrieben habe, und an den

Historiker Pirmin Meier, der mich auf das

Zitat von Paracelsus aufmerksam

gemacht hat.  H.S.

Autor und Verlag danken dem Kanton Aargau

für die freundliche Unterstützung.

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24196 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60218 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

[5] Ich, Moses Binswanger, zurzeit ansässig in hiesiger Universitätsklinik Friedmatt, straffällig geworden wegen Tötung einer Frau unter noch ungeklärten Umständen, wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einem Städtchen des Tieflands geboren. Der Vater war ein normaler Landspießer kräftigen Zuschnitts, herstammend von einem der beiden Höfe auf dem Bottenstein oben. Die Mutter kam ursprünglich aus einem Juradorf an der Aare unten. Eine Frau von hohem, schlankem Wuchs, fast eine Wasserfrau, aber eben nicht ganz.

Das Gebiet, in dem ich aufwuchs, war damals noch Bauernland. Steile Studdächer ragten über die Birnbäume, vormals strohbedeckt, jetzt mit Ziegeln aus gebranntem Ton bestückt. Vier Höfe waren es, einigermaßen zusammengerückt, aber genügend Zwischenraum lassend für Blumengarten, Miststock und kurzen Auslauf für Schwein und Kalb. Umflossen war dieser Weiler vom Altachen- und vom Mühlebach, Letzterer ein Kanal, weggeleitet vom hohen Wehr, um im Wiggerfeld draußen eine Spinnerei anzutreiben.

Jenseits des Altachenbachs, verbunden durch einen Holzsteg, stand das Haus meiner Eltern. Ein Backsteinbau, ziemlich schäbig hochgezogen um die Jahrhundertwende von einem Heimwerker, mit beinahe flachem Dachstuhl, von dem der Schnee bis in den März heruntertropfte. Ein Einzelgänger scheint dieser Mann gewesen zu sein, ein Rutengänger, wie man sich berichtete, der den Bauern die versteckten, rheumatisierenden Wasseradern auszuschnuppern pflegte. [6] Er sei, so hat die alte Marie vom Niklausenhof erzählt, im Pferdestall an einer Überdosis Holunderschnaps verreckt.

Mein Vater hat diese Kate billig erstanden, als er Anfang der dreißiger Jahre seine Stelle in der Spinnerei draußen antrat. Wir haben darin zusammengelebt, wie das der Brauch war, schlecht und recht, nicht anders als andere Kleinfamilien. Geschlagen haben sich meine Eltern nie, das weiß ich sicher, höchstens angeschrien. Mich selber hat der Vater fast nie berührt. Ich bin ihm von Anfang an fremd gewesen.

Heimisch war ich im Bach. Das scheint eine seltsame Formulierung zu sein, aber sie stimmt. Ich bin, seit ich mich erinnern kann, in regelmäßigen Abständen stundenlang in seinem Wasser gelegen, um meine Wunde zu begütigen. Das muss gleich nach meiner Geburt begonnen haben.

Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie mich zu Hause aus sich herausgepresst habe. Es sei eine leichte Geburt gewesen, nur die alte Marie sei zugegen gewesen. Ich sei locker herausgerutscht, die alte Marie habe mich ergriffen, angeschaut und gesagt: Ein schöner Bub. Aber er hat die Wasserwunde.

Tatsächlich hätte ich auf der linken Seite des Halses, also auf der Mutterseite, einen eigentümlichen Spalt aufgewiesen, rosa schimmernd zwar, aber keineswegs blutend. Sie, so erzählte mir Mutter, sei für einen Augenblick tief erschrocken. Die alte Marie aber habe sie beruhigt mit dem Hinweis, das sei nicht schlimm, ich müsse nur regelmäßig gewässert werden.

So hat mich also meine Mutter wenige Tage nach der Entbindung, als sich meine Wunde zu öffnen begann, zum Altachenbach getragen und, vom Schilf verdeckt, hineingelegt. [7] Heimlich sei das geschehen, sie wollte nicht auffallen mit seltsamem Tun. Das sei Ende Oktober gewesen, das Wasser schon ziemlich kalt. Sie habe meinen Kopf mit der Hand über der Oberfläche gehalten. Aber ich hätte zu strampeln angefangen, zu schnappen, und sie habe sich ein Herz gefasst und mich unter Wasser gleiten lassen. Ich sei sogleich weggeschwommen ins Röhricht hinein. Dort hätte ich mich stillgehalten, wie festgeklebt. Sie habe gewartet, ängstlich gespannt, was geschehen würde. Der Anblick des wässernden Kindes sei durchaus auch schön gewesen, fast märchenhaft, so hat sie erzählt. Nach nicht ganz einer Stunde sei ich wieder aufgetaucht, leicht wie ein Korken. Ich hätte kurz geschrien. Sie habe mich ergriffen und sogleich gesehen, dass sich die Wunde geschlossen hatte. Sie habe mich in eine mitgebrachte Windel gewickelt und nach Hause getragen. Dort habe sie mich geherzt und geküsst.

Sie müssen wissen, sehr geehrter Herr Seelendoktor, dass dieser Bach ein erstklassiges Laichbiotop war. Sein Bett war in nichts vergleichbar mit den heutigen Abwasserröhren, die ja wahre Mordkanäle sind. Wie soll sich in diesen ausbetonierten Entwässerungsleitungen, zu denen die Bäche des Tieflandes verkommen sind, noch Leben entwickeln, wo soll sich da unsereins noch festklammern können? Alles wird weggespült in schnellstmöglichem Tempo, hinab, hinab dem alles gleichmachenden Fluss entgegen. Mit den Flüssen geschieht paradoxerweise das genaue Gegenteil. Sie werden an allen möglichen und unmöglichen Stellen gestaut, um ein paar Meter Gefälle für die Turbinen zu gewinnen. Lächerlich inkonsequent scheint mir das zu sein. Und wie sollen die laichwilligen Fische solch perfekt abriegelnde Schwellen [8] überwinden und das Oberwasser gewinnen? Sie schaffen es mit bestem Willen und kräftigstem Schwanzflossenschlag nicht. Die Folge ist eine verkümmernde und langsam aussterbende Ichthyo-Population.

Damals war der Altachenbach noch ein mäanderndes Wassersystem, das sich frei entwickeln und verändern konnte. Gespeist wurde es aus den uralten Wässermatten, die sich der Wigger entlang über die ganze Talbreite hinauf bis zum Napf hinzogen. Ein Hinweis ist das, der Aufschluss gibt über die Wasserqualität. Der größte Teil des tiefländischen Flusssystems wird ja aus den hochliegenden Gletscherfirnen gespeist, die langsam abtauen und ein kaltes, milchiges Nass entlassen, das ich tot nennen möchte. Darin zu baden mag ja für erhitzte Bergsteiger ein kühlendes Vergnügen sein. Für Wassertiere indessen ist es nicht zu empfehlen.

Schon die Wigger, die vom Mittelgebirge des Napfs herunterfließt, ist wesentlich lebendiger, obschon auch sie im Frühjahr Schneeschmelze mitführen kann. Aber bereits im April wird sie grünlich warm, und es sprießt und quakt an ihren Ufern.

Der Altachenbach hingegen muss als das Fruchtwasser schlechthin bezeichnet werden. Es ist Wurzelwasser, Tannenwasser, Wiesenwasser, gemütlich dahinrieselnd durch fettes Blattwerk, langsam zusammenfindend in Rinnsalen und Tümpeln, kniehoch gestaut durch morsche Wehre, plätschernd in verkrauteten Gräben, wo Krebse und Wasserratten unter der Böschung hausen, sich sammelnd zum Bächlein, wo die ersten, fingerlangen Forellen stehen. Gleich nebenan liegen die von Weidenbäumen bewachsenen Tümpel, aus denen es unkt und quakt. Der schwarze Egel liegt auf dem Grund, [9] der Salamander kriecht durch eine verfaulte Holzröhre. Nur der Reiher, dieser ekelhafte Stelzengänger, will nicht recht ins friedliche Bild passen. Aber vom hydrobiologischen Standpunkt aus hat auch er durchaus seine Berechtigung.

Das alles, dieses Gurgeln, Wimmeln und Fließen, versammelt sich endlich im ausufernden Bett des Altachenbaches. Ein Fließgewässer der beglückenden Art, an einigen Stellen von den Bauern notdürftig kanalisiert mit Holzbohlen und allerlei Flechtwerk, worin Wasseramseln und Bachstelzen nisten, meist aber frei dahintreibend, wie es ihm gefällt. Manchmal im Hochsommer, wenn ein Gewitter in die umliegenden, von Buchen und Tannen bestandenen Hügel hineinzüngelt und tonnenweise Regen fallen lässt, schwillt der Bach in Minutenschnelle an, überschwemmt Wiesen und Äcker, reißt Erlen und Weiden mit und hinterlässt, wenn er sich nach ein, zwei Tagen beruhigt hat, weiße Schlammbänke.

Vor dem hohen Wehr gleich unterhalb unseres Hauses schwamm dann das Strandgut. Morsche Mostfässer mit weggerissenen Dauben, ertrunkene Ferkel mit bläulich geblähten Bäuchen, entwurzelte Baumstämme, die von den Bauern mit eisenbestückten Stangen geländet und als Brennholz gestapelt wurden.

An jener Stelle zweigte der Mühlebach ab. Ich habe ihn stets zutiefst verachtet. Er enthielt zwar auch das zarte Altachenwasser, in dem ich mich so wohlig aufgehoben gefühlt habe. Aber er war Menschenwerk, zentimetergenau in den Wiesengrund gehauen mit senkrechten Ufern, an denen kein Bergmolch hochklettern konnte.

Das hohe Wehr selber, obschon auch von Menschenhand [10] gebaut, war indessen das Paradies meiner Jugend. Das Wasser stürzte dort über Eichenbalken zwei Meter tief in ein ausgewaschenes Becken von beträchtlicher Größe, einen undurchsichtigen Vorhang bildend, hinter dem man sich vor allzu aufdringlichen Komantschenblicken jederzeit verstecken konnte. Man war dort behütet, umrauscht vom tosenden Wasserfall, gischtbesprüht. Das war fast so gut wie das Wässern. Hatte man genug vom Sitzen in diesem Wasserschloss, konnte man kopfvoran durch diesen lebendigen Vorhang hindurchspringen, das kurze Grauen der Grenze überwindend, und locker ins Becken eintauchen, in dem es quirlte und schäumte. Dort standen die alten Forellen, die sich schnell an mich gewöhnt hatten und sich nicht mehr von ihren Standplätzen vertreiben ließen.

Das anschließende Stück, das sich bis unter die Eisenbrücke hinzog, habe ich Amazonas genannt. Ein Gewirr von Sandbänken und Rinnsalen, überwachsen von wasserliebendem Kraut. Eine Tafel an der Straße oben besagte, dass das Betreten verboten sei wegen der Gefahr plötzlichen Hochwassers, was mir sehr passte. Dort war ich immer allein, nicht einmal meine Mutter hat mich hinbegleitet.

So war das damals an diesem Bach, ein urtümliches Naturparadies wie zu Babylons Zeiten, das ja aus gebranntem Schwemmsand errichtet worden war. Erzählt nicht eine altsumerische Sage, dass Tiamat, die Urmutter, ein riesiges, drachenähnliches Ungetüm, im Schlamm gelegen hatte, als Wasser und Erde noch nicht geschieden waren, und ihren Sohn Marduk gebar? Dieser Marduk muss einer der widerlichsten Emporkömmlinge und Stelzenbeiner gewesen sein, wusste er doch nichts Besseres, als mit seiner Mutter Streit [11] anzufangen und ihr mit Hilfe der Winde, die er ihr so stark ins aufgesperrte Maul hineinjagte, dass sie die Kiefer nicht mehr zum tödlichen Bisse zusammenbrachte, den Leib aufzuschneiden und Himmel und Erde daraus zu machen. Mir wäre so etwas nie in den Sinn gekommen, auch wenn ich Herr der Winde gewesen wäre. Ich habe nie Streit angefangen mit meiner Mutter, es gab keinen Anlass. Hat sie mich doch immer, wenn es Zeit war dazu, ans Wasser getragen und mich ohne jede weibliche Habgier abtauchen lassen.

Meine Kindheit verlief also in durchaus geordneten Bahnen. Von mildernden Umständen kann keine Rede sein, war doch das Wasser in jener Gegend omnipräsent. Ich war in meinem Element, bachdurchflossen und muttergeliebt. Sie hat um mich gekämpft mit fraulich besorgter Hingabe, ohne Härte, mich weich umschließend wie das Altachennass. Sie hat sich sogar einige Male ins Wasser gewagt mit mir, mit seltsam verunsichertem Gesichtsausdruck, als ob etwas Unpassendes mit ihr geschehen würde. Sie ist hineingewatet bis zu den Knien, mit der Linken ihr Kleid hochschürzend, so dass ich ihre bläulich geäderten Schenkel sah, mit der Rechten das Haar festhaltend, als ob es ihr hätte weggefressen werden können von Hecht oder Aal, unsicher dastehend im liebreichen Geriesel. Ich habe sie gelockt, bin um ihre Beine geschwommen mit behutsamen Armen, habe geplätschert und gefüßelt um ihre Zehen. Es nützte nichts, sie wagte sich nicht weiter hinein. Nie hat sie sich flach gelegt in einem Tümpel, nie sich treiben lassen dort, wo es floss, nie ihren Leib an meinen geschmiegt, schwebend über den blanken Kieseln. Ich habe das nie recht begriffen. Die Trauer darüber durchzog meine nächtlichen Träume, in denen [12] Nymphen und Seejungfrauen auftauchten und mich schwanzflossig zum Spiel einluden. Sie war nie unter diesen Traumgestalten, sie war eben doch ein Landtier, das mich dem Wasser entreißen wollte. Das ist ihr teilweise gelungen, und dafür bin ich ihr herzlich dankbar. Denn wohin hätte es geführt, wenn ich zum reinen Wasserwesen geworden wäre? Mir graut beim heutigen Zustand der Tieflandgewässer vor dieser Vorstellung.

Meine Halswunde hat schon früh Anlass zu einigem Aufsehen gegeben. Vor allem mein Vater wollte sie nicht akzeptieren. Sie sei abnormal, behauptete der Bottensteiner, sie sei ein Makel, ein Geburtsfehler, der zum baldigen Absterben führen müsse. Sie gehöre dringend ärztlich untersucht und zugenäht, er wolle seinen Sohn nicht einer solchen Bagatelle wegen verlieren.

Meine Mutter wusste es besser. Aber sie gab dem Drängen ihres Mannes nach, packte mich eines Morgens in ein Bastkörbchen, setzte den luftdurchlässigen Deckel darauf und trug mich zu Dr. Bertschinger, der an der Bahnschranke vorn eine Arztpraxis hatte.

Ich weiß das noch genau, es muss in meinem zweiten Lebensjahr gewesen sein. Die Erinnerung an diese frühen Vorkommnisse, die mir bis zu meiner Einlieferung hierselbst nicht mehr zugänglich war, weil tief verschüttet vom Lebensgeröll, und erst durch die Seelenarbeit mit Ihnen, sehr geehrter Herr Seelendoktor, wieder ans Tageslicht des Bewusstseins gezerrt worden ist, diese Erinnerung also steht plastisch, ja handgreiflich vor mir. Ich muss schon damals ein genauer Beobachter gewesen sein, mein Auge hellwach.

[13] Ich lag also in diesem Korb, von Mutters Armen getragen. Ich linste durch die Lücken des geflochtenen Bastes, was mit mir geschah. Ich merkte an den schnellen Atemzügen der Mutter – wie verräterisch ist doch dieses Luftschnaufen dem geübten Wasserauge –, dass sie sich nicht wohl fühlte, dass sie folglich etwas zu unternehmen im Begriffe war, was sie lieber nicht hätte unternehmen wollen. Und da sie für diese Unternehmung mich mitnahm, musste sie etwas mit mir im Sinne haben. Ich gab keinen Laut von mir. Aber ich war entschlossen, bei der ersten Gelegenheit die Flucht zu ergreifen und mich in den Bach zu retten.

Meine Mutter muss meine Angst geahnt haben. Sie hielt ein, nahm ein Tuch von ihrer Schulter und legte es über den Korb. So war ich ganz auf mein Gehör angewiesen. Ich hörte das Rauschen des Baches, als wir über den Holzsteg gingen, das nahe Gebimmel der Kälber in Niklausens Baumgarten, das Fallen der Wogen über das hohe Wehr. Ich lauschte dem Plätschern des Amazonas, dem Rascheln einer Wasserratte im Schilf. Dann tappten Mutters Schritte über die Eisenbrücke und hielten an. So weit war ich noch nie vorgedrungen ins Neuland. Kein Rinnen mehr, kein Gurgeln, nichts. Es musste hier ein gefährlicher Punkt sein.

Mich packte die Panik. Ich stemmte die Füße gegen den Deckel, um ihn aufzustoßen. Hab keine Angst, sagte Mutter, es geschieht dir nichts.

Ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Die Frau zitterte innerlich. Was sollte also diese verlogene Begütigung?

Dann nahte ein Ungetüm heran, sehr schnell, es dröhnte und ratterte schrecklich. Das musste der Krieg sein, von dem mein Vater geredet hatte. Panzer so groß wie Häuser, hatte [14] er gesagt, gegen die kann kein Mensch etwas ausrichten. Die Panzer rasten vorbei im Höllentempo, ich erstickte beinahe, aber seltsamerweise geschah mir nichts. Reg dich nicht auf, sagte Mutter, das ist bloß die Eisenbahn.

Ich hörte ein helles Gebimmel, wie die Ziegenglocken bei Niklausens, aber härter. Metallene Schläge, dann wurde es ruhig. Ich wollte heimkehren, zurück ins Wasser, um jeden Preis. Das merkte Mutter, sie hätte auch umkehren wollen, aber sie sagte: Der Arzt will dich anschauen, Bub. Es geht schnell vorbei.

Wir betraten nach wenigen Schritten ein Haus, in dem es ekelhaft roch. Nach Schweiß, nach Ohrenschmalz und nach etwas Fremdem. Ich hörte Husten von Kindern, Röcheln, unterdrückte Angstlaute. Meine Mutter wiegte den Korb mit mir drin, sie summte leise, dass nur ich es hörte. Was sollte dieses Summen? Log sie nicht mehr?

Sie trug mich hinein ins Untersuchungszimmer, sie öffnete den Deckel und zeigte mich dem Arzt. Ich erinnere mich an einen großen, starken Mann mit dunklen Augen. Erst lächelte er mich an, dann drehte er meinen Kopf auf die rechte Seite, sein Blick richtete sich auf meine Halsöffnung. Ich sah genau, wie er erschrak. Er nahm einen silbernen Löffel, stieß diesen in meine Wunde, presste ihn gegen die Luftröhre. Das war ein Stich in mein Mark, aber ich habe nicht geschrien, meine Stimme versagte. Ich sah, wie meine Mutter errötete, ich hatte das noch nie beobachtet an ihr. Und sie antwortete dem Arzt auf seine Frage, woher denn dieser Bub komme, dass er ganz normal gezeugt worden sei.

Der Arzt zögerte lange, bevor er ein Urteil abgab. Ich [15] konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete, er schien einen Moment lang die Fassung zu verlieren. Dann sagte er, dass er in seiner vierzigjährigen Praxis noch nie so etwas gesehen habe, dass es mich eigentlich gar nicht geben dürfte, dass er keine Ahnung habe, was man gegen meine Wunde unternehmen könnte, lebensgefährlich sei sie jedenfalls nicht. Und er fügte die Frage an, ob meine Mutter sehr nahe am Altachenbach wohne. Mit dieser Frage entließ er uns.

Ich konnte damals nicht viel anfangen mit diesem Verhör, ich begriff es nicht. Was sollte zum Beispiel die Frage nach der Nähe des Baches? Das war doch normal in der Gegend, das Wasser war meine Heimat. Und was stocherte der fremde Mann in meiner Wunde herum, dass es schmerzte? Sie ging ihn doch gar nichts an, sie war meine privateste Zone. Dass sie nicht lebensgefährlich sein sollte, tönte in meinen Ohren geradezu lächerlich, ja paradox. Diese Öffnung war für mich das schiere Gegenteil, ein lebensspendender Quell der Lust. Und woher kam das Erröten meiner Mutter, warum war ihr das Blut in den Kopf gestiegen?

Ich habe damals zum ersten Mal die Welt als die Fremde schlechthin erlebt, als das Elend, in das ich als Fremdling ausgesetzt worden war. Ich habe mich still verhalten auf dem Heimweg, ich fühlte mich ausgestoßen. Das Rauschen unter der Eisenbahnbrücke tröstete mich nicht, es war zu schrill, das Plätschern des Amazonas zu grell.

Das Wiegen meiner Mutter besänftigte mich halbwegs, ich merkte ihrem Atmen an, dass sie sich freute. Sie ging langsam und ruhig, selbstbewusst, stolz. Ich im Bastkörbchen drin schaukelte mit. Und plötzlich schrie ich, schmerzerfüllt zwar noch immer, aber es war ein befreiender Ton.

[16] Sie verstand mich sofort. Siehst du, sagte sie, das war gar nicht so schlimm. Sie nahm den Deckel vom Korb, beugte das Gesicht zu mir herunter und küsste mich sorgfältig auf die Stirn. Dann stieg sie die Böschung hinunter zum Bach, es war die Stelle gleich unterhalb des hohen Wehrs, wo die Forellen standen. Sie hob mich heraus und legte mich ins Wasser. Los jetzt, sagte sie, suche die Kiesel.

Ich blieb liegen, wo sie mich hingelegt hatte, ich linste zu ihr hoch, ich wollte nicht weg von ihr. Sie aber erhob sich, sie blieb eine Weile stehen, schlank und rank, und ich sah, wie sie siegesgewiss lächelte. Das war neu an ihr, diese Weibergewissheit, ja Überlegenheit. Erst erschrak ich darüber, denn ich kannte sie als sanfte Frau. Dann aber erhob sie die Hand zur Triumphgebärde, sie winkte mir tatsächlich zu, als wäre ich ihr Kumpan, ihr Mitrevoluzzer. Sie drehte sich um und ging weg.

Ich tauchte ab und glitt unter die unterste Schwelle des Wehrs. Ein Eichenstamm war das, in den die Eisenstützen, welche die Querbalken festhielten, eingelassen waren. Ein mannsdicker Baum, unbehauen und knorrig. Die Rinde war längst weggewaschen, aber das Kernholz hatte dem Wasser standgehalten. Darunter war eine Höhle ausgespült, die ich Lagune nannte. Ein flacher Raum, unten feiner, weißer Sand, darüber das schwarze Eichenholz. Tief verdunkelt, kaum ein zitternder Lichtstrahl fand den Weg hierher. Ruhig lag hier das Wasser, die weißen Luftblasen glitten draußen nach oben, bis sie an der Oberfläche wegplatzten. Ein Tiefwasser, Dunkelwasser, Schwarzwasser. Hier versteckte ich mich, Bauch auf dem Sand, Rücken am Holz, den Blick auf die hochsteigenden Blasen gerichtet. Das Tosen des über das Wehr [17] fallenden Wassers, das aufprallte und weiß schimmernde Wirbel aufriss, füllte meine Ohren, wohltuend, beständig und nur in Nuancen seine Melodie abwandelnd.

Ich fing an, mich zu wässern, richtig durchzuhydrieren. Der Schmerz saß noch immer in meiner Wunde, er war mir den Nacken hochgefahren bis ins Hirn, wo er pochte. Ein tiefsitzendes Bohren war das, ein vitaler Angriff offenbar auf meine Bachexistenz. Ich sog sachte Wasser in meine Öffnung, ließ es stehen darin, spürte, wie Sauerstoff aufgenommen wurde vom feinen Geäder, gemächlich einrann in mich hinein und sich verteilte. Wohltuend war das, über die Maßen beruhigend, der Schmerz ließ nach.

Nach einer Weile sah ich, wie die große Forelle, die Patin, ihren Kopf heranschob und mich begutachtete. Wir kannten uns längst, wir mochten uns gut. Sie schien zu merken, dass etwas nicht stimmte mit mir. Sie drehte ab, mir ihre Schwanzflosse zuwendend, mit der sie sanft fächelte und mir frisches Wasser zuwedelte. Ich war ihr dankbar. Nicht so sehr über ihr Wedeln freute ich mich, das brachte mir nicht viel, das in der Lagune liegende Schwarzwasser genügte vollauf und war erst noch von extrem sanfter Qualität. Aber ihr bloßes Erscheinen, ihr Hiersein war mir hilfreich. Das war erstklassige Kameradinnenhilfe.

Es wurde Abend. Die Dunkelheit begann, das Wasser zu füllen. Die Patin war längst verschwunden, der Schmerz war weg. Ich war vollständig durchhydriert, aber ich tauchte noch immer nicht auf. Eigentlich gefiel es mir hier unten ganz gut, besser als oben jedenfalls bei den widerlichen Stelzengängern, die mich als abnormal bezeichneten und mit Silberlöffeln in mir herumbohrten. Freundinnen hatte ich hier [18] unten genug, die Kühlung zufächelten, und zwar wortlos, ohne das dumme Geschnadder.

Ich wäre um ein Haar dort unten geblieben, für alle Zeiten vermutlich, denn in der Lagune hätte mich niemand gefunden. Wäre da nicht der Mond gewesen, das Wassergestirn. Er ging rund auf an jenem Abend, hing voll über dem Hügel am Horizont. Ich sah seinen Schimmer auf der Oberfläche tanzen, weiß glitt sein Schein in die schwarz wirbelnde Dunkelheit hinab und ließ die Kiesel auf dem Grund aufglänzen. Ein feierlicher Anblick ist das immer wieder, wenn der Wasserstern sein Licht eintaucht und die nächtliche Flut zum Aufschimmern bringt. Mondsüchtig sind sie alle, die Kiementiere, geschuppt oder eingeschalt wie die Muscheln, die sich beim ersten Mondstrahl öffnen, angezogen von der Wunde der Nacht. Dieses Nachtgestirn ist nicht nur die Fremdlingin unter den Menschen, wie mein Kollege Hölderlin, der ja ebenfalls am Wasser gewohnt hat, formuliert hat. Es ist auch eine Magierin, welche die Wasserwesen verzaubert. Man suche nur einmal das nächstliegende Moor auf bei Frühlingsmond, man nehme zur Kenntnis, was da alles anbetend flötet, schreit und quakt, dann weiß man, wovon ich hier spreche.

Ich blieb noch eine Weile liegen in der Lagune und sah dem Licht zu, wie es tanzte. Dann kroch ich hinaus und ließ mich gleiten, getragen von der Strömung, dem Licht entgegen.

Bei der ersten Sandbank tauchte ich auf, den Blick nach oben aufs wasserblasse Gestirn gerichtet. Ein wunderbarer Anblick, dieses Rund, das gleich neben dem Weidenbaum im tiefen Himmel hing. Ein Aal lag neben mir, in den Sand [19] geschlängelt, er ließ sich durch meine Anwesenheit nicht stören. Seine schwärzliche Haut glitzerte wie Silber, die Rückenflosse flatterte leicht.

Da erschien eine Gestalt am andern Ufer, umflossen vom Mondlicht, mit langsamen Schritten wie eine Nachtwandlerin. Sie kam unter dem Gezweige des Weidenbaumes hindurch, trat ans Wasser, schürzte das Kleid und watete hinein. Es war meine Mutter. Sie schien nicht recht bei Sinnen zu sein, träumend, verzaubert von der strahlenden Nacht. Sie blieb stehen mitten im Bach, sie drehte sich zur Weide zurück, deren Laub silbrig rauschte, sie schaute in den Mond, ein Wassertier plötzlich auch sie, eine Nymphe, das wurde mir schlagartig klar. Sie beugte sich nieder zu ihren Füßen, über die es plätscherte, sie schöpfte mit hohler Hand und ließ, das Gesicht nach oben gerichtet in den durchsichtigen Himmel, die Tropfen über Hals und Brust rinnen. Sie legte sich die Hände kreuzweise auf die eigenen Achseln, sie umarmte sich selber im Mondschein, sich wiegend hin und her mit geschlossenen Augen, als hätte ein fremder Gast sie geküsst. Endlich hielt sie ein, stand reglos und schien zu lauschen. Es waren die üblichen Nachtgeräusche zu hören, das Plätschern, das Rauschen der Weide.

Ich lag wie gebannt im Faulschlamm der Sandbank. Der Aal nebenan war verschwunden, er hatte sich verdrückt, ohne dass ich es bemerkt hätte, so fasziniert hatte ich der Frau zugeschaut. Das war eindeutig eine Liebeserklärung, ein Verführungsversuch. Sie wollte den Bach bezirzen, damit er mich entließ, und war doch selber bezirzt. Mich herausholen wollte sie aus der Lagune, von deren Existenz sie zwar keine genaue Kenntnis haben konnte, die sie aber [20] erahnte. Sie wollte mir ihre Lufteinsamkeit zeigen, ihre lieblose Landexistenz neben dem trostlosen Bottensteiner. Ihre Verwandtschaft mit dem Wasser, ihr Eingeborensein in diesem Element, auch wenn sie ihm längst entwachsen war. Und irgendetwas hat ihr geantwortet.

Ihre Wurzeln, das hat sie mir an jenem Abend vorgeführt, waren im Bach. Sie war eine Wasserpflanze, auch wenn sie aufrecht über Land ging und keineswegs ins Nass zurückkehren wollte. Wir alle, das war ihre Lehre, die ich sogleich begriff, sind Wassertiere. Wir sind vor Urzeiten aus dem Wasser an Land gekrochen. Wir schwimmen nach unserer Zeugung neun Monate im Fruchtwasser, bis wir ans Trockene gepresst werden. Wir sind Landgänger geworden, Luftatmer. Aber unsere ursprüngliche Heimat ist das Wasser. Wir können zu ihm zurückkehren, wir können uns ihm hingeben für kurze Zeit, zum Beispiel in einer strahlenden Vollmondnacht, uns küssen lassen vom Hauch der Schwärze, verzaubern lassen vom Wassergestirn.

Jede Frau ist ein Wasserwesen, das habe ich inzwischen gelernt. Viele wissen das nicht, geben sich wasserscheu, wissen nichts vom Quell, der in ihnen sprudelt. Andere tragen das Wassermal deutlich auf der Stirn, und vor diesen muss man sich hüten, will man von ihnen nicht ins Verderben gezogen werden, ein lustvoller Vorgang zwar, aber manchmal tödlich endend.

Ich schaute sie lange an, reglos, dann rief ich leise. Ich wollte meine Anwesenheit anzeigen, meine Muttergefolgschaft, wohin auch immer mich diese führen mochte. Sie verharrte einen Augenblick, als ob sie eine ferne Glocke gehört hätte, schreckte dann leicht zusammen. Sie kam zu sich, drehte [21] den Kopf zu mir und sah mich liegen. Sie löste ihre eigene Umarmung. Der Bann war gebrochen, mein Rufen hatte sie erlöst. Langsam watete sie zu mir, raffte ihr Kleid hoch und wickelte mich hinein. So trug sie mich heim, ich an ihrer nassen Brust liegend, ein gerettetes Säugetier, ein Warmblüter wie sie.

Ich kann dies alles, sehr geehrter Herr Seelendoktor, nicht aufschreiben, ohne dass mir das Augennass unter den Lidern hervordrückt. Ich habe eben, wie ein Altacher Sprichwort sagt, nahe am Wasser gebaut. Das will heißen, ich bin durch und durch sentimental. Das Gefühl drängt unentwegt aus allen meinen Poren heraus. Ich kann es nicht zurückhalten, es will sich befreien aus meinem Körper, will hinauswässern an die Luft. Beherrschung ist nicht meine Art, es sei denn, es handle sich um Hydrologie. Auf diesem Gebiet möchte ich mich allerdings als, wenn auch autodidaktischen, Meister bezeichnen, der seinen Stoff im Griff hat. Aber ich bin eben hydrophil, was so viel heißt wie wasserliebend. Ich bin dem Wasser ganz und gar hingegeben, auch dem Saft, der in mir selber steckt. Dagegen hilft auch Ihre Luft- und Landtherapie hierselbst nichts. So mögen denn meine Tränen ungehemmt auf dieses Blatt Papier tropfen.

Keineswegs bin ich der kalt berechnende, nur den eigenen Lustgewinn suchende, brutale Wassermörder, als den mich eine gewisse Journaille in breitgestreuter Auflage flächendeckend verleumdet hat. Im Gegenteil, ich bin, wie vorstehende Notizen deutlich zur Kenntnis bringen, ein Kind der [22] Wasserliebe. Wasser tötet nicht, es gebiert. Wasser ist Ursprung und nicht Ende. Was nicht heißt, dass ich nicht durchaus im Wasser den Tod finden möchte.

Die ganze Altachen war damals eine gefühlsbetonte, ja vom Gefühl überschwemmte, ganz und gar sentimentalisierte Gegend. Selbst mein Vater, der Bottensteiner, hat ein Leben lang gegen das Augenwasser angekämpft. Ich erinnere mich, dass er einmal an einem runden Geburtstag eine Rede halten wollte. Er klingelte gegen das Weinglas, erhob sich, sprach den ersten Satz, mit dem er seiner Mutter gedenken wollte, und brach dann in Tränen aus, worauf er sich wieder setzte und vor sich hin zu fluchen begann.

Ich behaupte, dass die Trauer das Grundwasser jener Gegend ist. Es fließt in mehreren hundert Metern Tiefe auf dem Felsgrund des Tals, durch Kiesel- und Schottergeschiebe, von keinem Lichtstrahl getroffen, heimlich und verborgen. Erst in moderner Zeit wurde dieser Strom, Hägeler genannt, angebohrt zwecks Speisung des städtischen Wasserreservoirs. Ein klares, anscheinend heiteres Nass kommt da aus der Tiefe, gefiltert vom Steinschutt, den die Gletscher bei ihrem Rückzug ins Gebirge hinterlassen haben, salzlos und kühl, bestens geeignet zur Labung von Mensch und Tier. Sogar Bier wurde daraus gebraut, der helle, erfrischende Gerstensaft der Klosterbrauerei, die ihr Gebäude gleich am Marktplatz stehen hatte.

Indessen scheint mir gewiss, dass es Tränen sind, die aus der Tiefe des Tals aufsteigen, sorgsam kanalisiert, gehortet und eingespeist in die öffentlichen Leitungen. So trinken denn die Altacher, wenn sie den Hahn aufdrehen, um sich zur Stillung ihres Durstes ein Glas Wasser zu gönnen – und [23] durstig sind sie immer, sei es nach Wasser oder nach Bier –, die Trauer ihrer Vorfahren, ohne es zu wissen. Die Depression sickert aufs Neue in sie hinein, neue Tränen gebärend, ein Stausee von Leid und Jammer.

Eigentlich wäre es eine liebliche Gegend, fruchtbar und gesund, mit sanften Büschen und weitläufigen Buchen- und Tannenwäldern auf den Höhen, gegen den unwirtlichen Norden abgeriegelt durch die schroffen Kalkfelsen des Juragebirges. Die Trauer indes ist allgegenwärtig. Sie steckt unausrottbar im Kiesgrund, sie drückt durch die Wässerwiesen, sie klebt wie Pech in den Seelen der Menschen, sie rinnt als Augenwasser unter jedem Lid hervor. Das Sentiment bestimmt diese Landschaft, sie ist durchhydriert von Gram. Selten spricht hier jemand mehr als drei Sätze, ohne das Taschentuch hervorzuzerren und hineinzuschnupfen. Kaum gelingt es, einen Witz zu erzählen, in dem nicht ein peinvolles Absterben die Schlusspointe setzt. Alles endet hier unglücklich, das Gebären, die Liebe, denn auf alles wartet der Tod.

Woher diese Tränen kommen, ist ungewiss. Ich jedenfalls habe noch nie ein diesbezügliches Forschungsergebnis zur Kenntnis genommen, das eine befriedigende, abschließende Antwort auf diese Frage geliefert hätte. Was kein Wunder ist, wird doch der permanente Trauerzustand daselbst keineswegs hinterfragt, sondern als naturgegeben, als Normalzustand akzeptiert. Und wo keine Frage ist, gibt es bekanntlich auch keine Antwort.

Möglicherweise liegt ein Hauptgrund in der jahrhundertealten Untertanenschaft dieses Landstrichs. Erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hat die Gegend dank des [24] Einfalls französischer Heere die Autonomie erhalten. Das scheint zwar lange her zu sein, ist aber im Vergleich etwa mit dem Aufrichten der menschlichen Spezies von allen vieren auf die Hinterbeine erst gestern geschehen. Leider ist das Geschichtsbewusstsein in der heutigen schnelllebigen Zeit aus den Köpfen verschwunden. Die Leute meinen, sie seien von heute oder höchstens von gestern. Dabei sind wir alle von vorvorgestern.

In der Altachen nicht. Dort wissen die Menschen um ihre Herkunft. Jedenfalls war das noch in meiner Kindheit so. Wie es heute aussieht, weiß ich nicht, ich wage mich nicht mehr in meine Heimat zurück, ich bin zu bekannt geworden durch meine sogenannte Untat und will nicht Spießruten laufen. Vermutlich haben ja auch die Altacher inzwischen ihren uralten Wassersinn verloren und sind verblödet wie überall, plattgewalzt von der Beton- und Fernsehlawine, die blühendes Leben vorgaukelt und dürres Absterben sät.

Damals lebte man hier wie im Mittelalter, das seltsamerweise dunkel genannt wird, obschon es mir lichtdurchflutet erscheint, elend zwar bezüglich der technischen Möglichkeiten, aber hell und freundlich, was das menschliche Zusammenleben betraf. Es wurde zwar viel geklagt, geschimpft und geflucht, aber wenig bis gar nichts zerstört. Hunger musste niemand leiden, Kartoffeln gab es genug. Zu dürsten hatte auch niemand, das Wasser lag vor der Haustür. Es wurde wacker gestorben, oft schon in jungen Jahren. Zum Beispiel bei Niklausens, als die beiden noch nicht volljährigen Söhne innerhalb einer Woche von der Kinderlähmung geholt wurden. Dann wurde beerdigt, geweint und weitergelebt.

[25] Es war ein Frauenland damals. Die Männer wurden als notwendige Haustiere betrachtet, die zu pflügen, zu säen und die Ernten einzufahren hatten. Sie mussten die Wehre in den Matten regulieren und so das nährende Wasser verteilen. Oder sie bestiegen, wie mein Bottensteiner, morgens das Fahrrad und fuhren in die Spinnerei, um irgendeine Maschine zu bedienen. Aber Macht hatten sie keine. Sie waren zu sehr geknechtet gewesen durch die Jahrhunderte hindurch. Sie hatten den Vögten abliefern müssen, pünktlich und nicht zu knapp. Sie hatten keine großen Städte bauen können, sie waren höchstens mit dem Pferdewagen allmonatlich einmal zum Vieh- und Warenmarkt ins Städtchen gefahren, das noch genau so aussah wie vor dreihundert Jahren, um sich in irgendeiner Pinte mit Bier und Träsch, Wein war zu teuer, einen Rausch anzutrinken und sich gegen Mitternacht von der vorgespannten Ackermähre heimkutschieren zu lassen.

Es gab kein Stadttheater in der ganzen dortigen Tieflandgegend, keine Universität. Die finanziellen Ressourcen fehlten, da abgezweigt zu den Hauptstädtern, die das Gebiet besetzt hielten.

Manchmal blähten sich die Männer zwar auf wie Knallfrösche, besonders wenn sie zu viel Branntwein intus hatten. Dann hoben sie die Fäuste gen Himmel, stießen schwarze Verwünschungen aus, aufmüpfige Rebellentiraden wider Gott und die Welt, bis sie, von Heulkrämpfen übermannt, schluchzend zusammenbrachen und von den herbeigeeilten Weibern getröstet werden mussten. Solchen Wutausbrüchen folgten dann Tage der tropfenden Augen.

Im Grunde haben mich diese Männer nie groß gestört. Selbst mein Bottensteiner hat mich nicht nachhaltig enerviert. [26] Ihr Auftreten war zu mitleiderregend, zu lächerlich auch. Sie wussten, dass sie in der großen Welt nichts zu sagen hatten. Der Unterdrücker lacht, das war die einhellige Meinung, und der Untertan weint.

Merkwürdigerweise waren diese Männer die willigsten Milizsoldaten der ganzen helvetischen Tieflandarmee. Als merkwürdig bezeichne ich diese Tatsache deshalb, weil diese Leute nichts zu verlieren hatten als ihr Leben. Warum hätten sie also im damals vielbeschworenen Ernstfall, der von Norden her unüberhörbar in unser Land hereinbrüllte, ihr Leben aufs Spiel setzen sollen?

Aber sie dachten anders. Sie wollten beweisen, dass sie ihr Schicksal akzeptiert hatten und keineswegs rebellische Gedanken hegten. Sie stellten den Karabiner, den sie aus der Rekrutenschule nach Hause nehmen durften, gut sichtbar in eine Ecke des Esszimmers als Zeichen von alteidgenössischem Trutz und Wehr. Nicht im Traum wäre ihnen eingefallen, mitunter auf die eigenen Herrschaften zu zielen oder gar außerhalb der jährlichen obligatorischen Schießübungen einen aufrührerischen Blattschuss zu wagen. Sie schmierten jedes Frühjahr die Ordonnanzstiefel mit der vorgeschriebenen Bundeswichse ein, sie rollten den widerspenstigen Kaput mit letzter, erschöpfender Anstrengung auf das gesetzliche Ordonnanzmaß zusammen, schnürten ihn auf den prallgefüllten Tornister und rückten fluchend und grölend, Bierflaschen schwenkend, in die Kasernen ein, wenn sie aufgeboten wurden. Im Grunde trugen sie alle gern Feldgrau, denn dadurch konnten sie für einige Zeit der Macht ihrer Weiber entkommen.

Der Bottensteiner hatte das Pech gehabt, kurz nach der [27] Jahrhundertwende geboren worden zu sein. Als er sich zur Musterung stellen musste, war eben der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen, und allgemein herrschte die Meinung, dies sei der sinnloseste aller sinnlosen Kriege gewesen. Nie wieder Krieg!, das war die Losung. Man rüstete ab, man brauchte selbst im helvetischen Tiefland keine Rekruten mehr. Als der Bottensteiner vor dem Aushebungsoffizier stand und dieser ihn fragte, ob er tatsächlich den Milizdienst am Vaterlande leisten wolle, antwortete er klar und deutlich: Nein. Hierauf nahm der Offizier einen Stempel, knallte ihn auf ein Blatt Papier und bestätigte somit meinem kerngesunden Bauernlümmel, dass er einen Kropf habe und dienstuntauglich sei.

Später, als aus den neuen Rundfunkgeräten die deutschen Heilrufe dröhnten und es auch hierzulande manchenorts Mode wurde, Armbinden mit dem Hakenkreuz drauf zu tragen, bedauerte der Bottensteiner sein damaliges Nein. Er ging ins Städtchen und kaufte im Waffengeschäft einen Browning. Das war eine kleine, schwarze Pistole, und mit der hätte er, wie er mir erzählte, versucht, drei der stadtbekannten braunen Schreihälse zu erschießen, wenn die deutsche Wehrmacht einmarschiert wäre. Auf meine Frage, was er anschließend unternommen hätte, hat er geantwortet, er hätte sich im Hochwald oben versteckt.

Wie bekannt, ist die Wehrmacht nicht einmarschiert, was als großes Glück bezeichnet werden muss. Denn mein Vater hätte seinen Plan in die Tat umgesetzt, das glaube ich sicher. Er war flink, er war entschlossen, und er konnte das braune Gegröle nicht mehr hören. Auch hätte ihn sein immerwährend durchdrückendes Augenwasser bei dieser [28] Aktion nicht behindert. Er war zwar, soweit ich mich erinnern kann, zeitlebens jammervoll, aber keineswegs ein jämmerlicher Waschlappen. Ich selber bin, und darauf lege ich allerhöchsten Wert, noch heute stolz auf diesen Browning, auch wenn dieser bei anderem Verlauf der Zeitgeschichte meine Mutter und mich in tiefstes Unglück gestoßen respektive geschossen hätte. Denn selbstverständlich hätte der eingesetzte Gauleiter uns beide zu schnappen versucht, als Geiseln für den entlaufenen Mörder. Bei meiner Mutter wäre das ein Leichtes gewesen, sie vermochte nicht, schnell wegzurennen, und kannte sich auch im rettenden Gewässer nicht aus. Sie wäre in einem solchen Fall ohne Zweifel verhaftet, eingekerkert und womöglich als Terroristenbraut standrechtlich erschossen worden, eine Vorstellung, die mir noch heute absolut unerträglich ist, obschon ich weiß, dass Ähnliches in den umliegenden Ländern tausendfach geschehen ist.

Ich selber hätte mich wohl, wenn ich es fertiggebracht hätte, meine Mutter allein zurückzulassen, in Sicherheit bringen können. Ich hatte verschiedene Schlupfwinkel am Amazonas und auch oberhalb des hohen Wehrs. Ich vermute sogar, dass sie mich selber ins Wasser gebracht hätte mit dem Hinweis, eine Zeitlang nicht mehr aufzutauchen und fortan zu leben wie der Molch oder die Unke. Gewiss hätte ich ihr gehorcht und wäre völlig verwässert, vermutlich in der Lagune und behütet von der Patin, dem Druck zwischen Fingern und Zehen endlich nachgebend, zarte, durchsichtige Flossen bildend. Ich wäre so den Schergen zweifelsohne entkommen. Aber was hätte ich mit meinem Wasserleben angefangen? Zeitlebens hätte ich jenes Bild der bei Vollmond im Bach stehenden Mutter in der Erinnerung getragen, und [29] gewiss würden mich die Schuldgefühle des schnöden Abtauchens wegen noch heute verfolgen.

Zum Glück für uns alle drei – ich sage das ohne Häme, denn wir waren in vielem eine durchaus normale, manchmal im landläufigen Sinne glücklich zu nennende Familie –, zum Glück hatte der Bottensteiner nicht zum Blattschuss anzusetzen. Hingegen hat er im Landsturm oft und gern seinen Mann gestanden. Er trug dann Ledergurt und Helm und ein mausgraues Überkleid. Einmal, als die Sirene auf dem Färbereidach nicht aufhörte zu gellen, ist er mit andern Männern zur Eisenbrücke gerannt. Gemeinsam haben sie mit Holzhebeln und Seilen drei gewaltige Betonblöcke auf die Fahrbahn gerollt, um eventuell auftauchende deutsche Panzer zu stoppen. Ich bin gegen den Willen der Mutter, die mich in den Keller zerren wollte, wo sie sich sicherer fühlte, mitgerannt und habe zugeschaut, wie die Männer keuchten und schwitzten. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil ich damals der etwas älteren Dora Schädler begegnet bin, die bei der Färberei vorn wohnte. Sie hat unbedingt, wie sie gesagt hat, meine Wunde genauer anschauen und untersuchen wollen, sie hat insistiert und gebettelt, aber ich habe abgewinkt, die kriegerische Szenerie war viel zu aufregend.

Ein andermal, als die Sirene aufheulte und von oben das Dröhnen vorbeifliegender Bomber zu hören war, rannte der Bottensteiner auf die Wiese hinaus, den Browning in der Rechten. Er hat geschrien, so laut er konnte, Sausiech! Sausiech! Ich habe ihn vor- und nachher nie mehr so laut fluchen gehört. Dazu hat er, zielend auf das Geräusch der Maschinen, die man der tiefliegenden Wolken wegen nur hörte und nicht sah, das ganze Magazin leergeschossen.

[30] Als am Hauenstein unten ein amerikanischer Bomber in einen dicht über der Aare aufragenden Kalkfelsen flog und brennend zerschellte, hat er sich aufs Fahrrad geschwungen und ist losgespurtet. Ich durfte nicht mit, was mich sehr geärgert hat. Aber so was sei nichts für kleine Jungen, hat mein Vater entschieden.

Als er heimkehrte, ziemlich gewagte Kurven fahrend wegen der paar Biere, die er unterwegs genossen hatte, war er sichtlich begeistert. Das seien die wahren Helden, schrie er durch die Wohnung, diese amerikanischen Piloten. Drei hätten sich vor dem Abschrammen mittels Fallschirmen gerettet, zwei aber treu bis in den Tod im Cockpit ausgeharrt und den brennenden, kaum mehr steuerbaren Vogel über das bewohnte Gebiet gezogen direkt in die Felswand hinein, wo er kein Unheil anrichten konnte.

Es ist also, wie man diesen meinen Aufzeichnungen unschwer entnehmen kann, in meinen ersten Lebensjahren einigermaßen martialisch zugegangen. Ich will indessen nicht verschweigen, dass mir das an den Tag gelegte kriegerische Getue von heutiger Warte aus betrachtet operettenhaft vorkommen will, auch wenn bitterer Ernst dahinterstecken mochte. Obschon man in jenem durchwässerten Gebiet einhellig der Meinung war, den braunen Schreihälsen gehöre nichts anderes als eine gehörige Tracht Prügel, wenn sie denn anrücken sollten, hätte es wohl ein böses Erwachen mit jeder Menge Augenwasser und Tränen gegeben, die das Land aufs Neue überschwemmt und durchhydriert hätten.

Auch will ich keineswegs verheimlichen, dass der Bottensteiner nicht nur ein Nazihasser und freiheitskämpferischer Browningheld war, sondern eben auch ein [31] waschechter Molch- und Krötenfeind. Ein Umstand, der mir noch heute die Galle hochkommen lässt. Um sich für den Kampf Mann gegen Mann zu trimmen, wusste er nichts Besseres, als an einem Tümpel oberhalb des hohen Wehrs Schießübungen abzuhalten, indem er seinen Browning auf die Mitglieder einer Erdkrötenfamilie abfeuerte. Ich war ihm wie immer nachgerannt, als er sich mit der Pistole auf den Weg machte, die Waffe hatte eine eigentümliche Faszinationskraft auf mich, ich wollte dabei sein, wenn sie losknallte. Als ich aber sah, wie die bräunlichen Krötenleiber vor ihren Erdhöhlen unter des Bottensteiners Schüssen zerspritzten, fuhr es wie Feuer durch meine Wunde direkt in meinen Hals hinein. Ich habe geschrien wie am Spieß – so nannte man das anschaulicherweise in jener Gegend –, es war, als ob die stahlgepanzerten Bleistücke in mich selbst hineingefahren wären.

Der Bottensteiner mochte mein Geschrei nicht hören, er begriff es nicht. Woher hätte er auch die Ahnung nehmen können, der Stelzengänger und Hochwaldkomantsche, dass diese Kröten meine Anverwandten waren, dass er somit meine eigene, und folglich auch seine, Familie zusammenschoss? Er hielt ein, fasste mich ins Auge, sichtlich angewidert von seinem Nachwuchs, er schien einen Augenblick lang einen schrecklichen Verdacht zu fassen. Dann tat er das, was man im Hochwald oben immer tat, wenn man nicht mehr weiterwusste. Er beugte sich zu mir nieder und knallte mir mit aller Kraft seiner besten Mannesjahre eine Ohrfeige, die mich von den Füßen hob und in den Tümpel hineinwarf. Nach dieser Aktion schoss er die restlichen Patronen, die noch im Magazin waren, in den leeren Himmel hinauf, steckte [32] die Pistole ein und wandte sich wortlos heimwärts, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Mir war es nur recht, dass er aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Ich hätte diesen Mann nie mehr sehen wollen. Auch musste ich mich dringend hydrieren, das merkte ich trotz des feurigen Schmerzes. Der Bottensteiner hatte nämlich bei seiner Züchtigung genau meine Halswunde getroffen, zufälligerweise oder mit Absicht, das bleibe dahingestellt. Jedenfalls pulsierte es in der Wunde, es war mir, als würde sie gleich aufbrechen und mein Inneres freigeben.