Die Bruderschaft der Religionen

(The Brotherhood of Religions)

von

Annie Besant

Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft.

Autorisierte Übersetzung von

Helene Lübke.


Impressum

„Die Bruderschaft der Religionen“ von Annie Besant

Erstveröffentlichung: Leipzig 1908

Cover: © natalia9 - Fotolia.com

Überarbeitung: F. Schwab Verlag

Neuauflage: F. Schwab Verlag – www.fsverlag.de sagt Danke!

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Die Bruderschaft der Religionen.

Ein Leser, der einen Augenblick bei der obigen Überschrift verweilt, mag berechtigterweise ausrufen: – „Wahrlich, was die Religionen auch sein mögen, brüderlich sind sie sicherlich nicht!“ Und leider ist das nur allzu wahr. Betrachten wir die Geschichte der Religionen in ihrer jüngeren Vergangenheit, so finden wir wenig Brüderlichkeit darin. Dagegen sehen wir, wie sich die Religionen gegenseitig bekämpfen, wie sie miteinander um die Herrschaft ringen, wie sie nach der Macht streben, ihre Rivalinnen zu zermalmen. Religionskriege sind die grausamsten gewesen; religiöse Verfolgungen die unbarmherzigsten. Kreuzzüge, Inquisitionen, Schrecken aller Art beflecken die Geschichte religiöser Kämpfe mit Blut und Tränen. Es klingt beinahe wie Hohn auf blutiger Wahlstatt, beim Widerschein lodernder Scheiterhaufen von der Bruderschaft der Religionen zu sprechen.

Auch ist es nicht allein Religion, die mit Religion in Fehde liegt. Selbst innerhalb der Religionen bilden sich Sekten, die miteinander Krieg führen. Deshalb sind religiöse Wirren zum Typus dessen geworden, was im Kampfe der Menschen untereinander am erbittertsten und unbrüderlichsten ist.

Das ist nicht immer so gewesen. Der Antagonismus zwischen den Religionen ist ein Gewächs modernen Ursprungs, entstanden aus dem Anspruch, den eine einzelne Religion erhebt: die allein wahre und allein inspirierte zu sein. Im Altertum gab es vielerlei Religionen, und meistenteils waren sie etwas Nationales, daher fiel es keinem Mitglied der einen Religion ein, das Mitglied einer anderen bekehren zu wollen. Eine jede Nation hatte ihre besondere Religion, wie sie ihre besonderen Gesetze und Gebräuche hatte. Die Menschen wurden in den Glauben ihres Vaterlandes hinein geboren und blieben darin. Blicken wir in die Geschichte der Vorzeit zurück, so wird es uns auffallen, wie selten da Religionskriege vorkommen. Selbst als die Hebräer in Palästina einfielen und die Götzendienst treibenden Eingeborenen niedermachten, handelte es sich nur um einen, von gewöhnlicher Habgier eingegebenen Eroberungskrieg. Die im Altertum so verbreitete Tendenz, die Götter der besiegten Volksstämme in die eigene Religion hinüberzunehmen, tritt auch bei den Hebräern wiederholt hervor. Wohl haben die Propheten diese Tendenz stets scharf getadelt, allein sie tadelten sie nicht als Ketzerei, sondern als nationalen Abfall von der eigenen Gottheit; diese hatte die Hebräer aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit und Palästina für sie erobert. Wir sehen ferner, dass es innerhalb einzelner Religionen verschiedene philosophische Schulen gab, die ohne Hass nebeneinander bestanden. So hat der Hinduismus heute noch seine sechs Darshana’s (Gesichtspunkte), und obgleich die Anhänger der verschiedenen Systeme miteinander streiten und disputieren, und eine jede Schule ihren besonderen Standpunkt verteidigt, fehlt doch nicht das brüderliche Empfinden. Auch werden sämtliche philosophische Systeme heute noch innerhalb der nämlichen Pâthashâlâ (Sanskrit Schule) gelehrt. Selbst in einem einzelnen philosophischen System, in dem Vedânta, gibt es drei anerkannte und gleichberechtigte Unterabteilungen: Advaita, Vishishtadvaita und Dvaita existieren friedlich nebeneinander, obgleich sie in den wichtigsten Fragen – in Fragen über das Verhältnis zwischen Gott und der Einzelseele – zu schroff entgegengesetzten Schlüssen kommen. Es kann sich jemand zu dieser oder jener oder zu keiner der drei Unterabteilungen des Vedânta bekennen und dennoch als orthodoxer Hindu gelten, obwohl auch in Indien das Sektenwesen heutzutage erbitterter geworden ist.