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Inhalt

Zur Einführung

1.Den Konservatismus denken: Karl Mannheim und Panajotis Kondylis

2.Liberaler Konservatismus: Friedrich Julius Stahl

3.Einstürzende Neubauten: Hermann Wageners Revision des Konservatismus

4.Irrungen, Wirrungen: Rudolf Meyers Weg von der Berliner Revue zur Neuen Zeit

5.Vom »Staatssozialismus« zum »christlichen Sozialismus«: Adolph Wagner, Rudolf Todt, Adolf Stoecker

6.Träume vom »wahren Conservatismus«: Constantin Frantz und Paul de Lagarde

7.Ironischer Konservatismus I: Julius Langbehn

8.Ironischer Konservatismus II: Heinrich Mann und Thomas Mann

9.»Scheinkonservatismus« in der Weimarer Republik

Exkurse

I. Der Schatten Bonapartes

II. Konservativer Sozialismus?

Abkürzungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Zur Einführung

Als Thomas Mann am Ende des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil einen Vortrag über das Schicksal seines Landes hielt, das soviel Tod und Elend über die Welt gebracht hatte, kam er auch auf die Rolle des Konservatismus zu sprechen, zu dem er sich selbst einmal bekannt hatte. Deutschland, so sein Gedankengang, habe sich mit der Reformation, genauer gesagt: mit der Reformation lutherischen Gepräges, auf einen Sonderweg begeben, in dessen Verlauf das Streben nach Freiheit aus der politischen Sphäre in die Innerlichkeit verbannt worden sei. Dort habe es in Magie und Mystik, aber auch in Musik und Literatur, reichen Ausdruck gefunden, während zur gleichen Zeit das politische Feld den powers that be überlassen wurde. Im 19. Jahrhundert sei daraus jenes fatale Amalgam von politischer Romantik und Konservatismus entstanden, das im 20. Jahrhundert den Nationalsozialismus hervorgebracht habe. Damit habe sich auf politischer Bühne wiederholt, was der Autor des Doktor Faustus zur gleichen Zeit am Schicksal seines Helden, Adrian Leverkühn, exemplifizierte: »Wo der Hochmut des Intellektes sich mit seelischer Altertümlichkeit und Gebundenheit gattet, da ist der Teufel.«1

Historiker und Politikwissenschaftler pflegen diese Geschichte etwas anders zu erzählen, doch nicht so, daß dieses Grundmuster nicht noch erkennbar wäre. Ganz gleich, wann man den Konservatismus beginnen läßt: ob schon im 17. Jahrhundert mit der Kritik am Rationalismus2, im 18. mit dem Kampf gegen den bürokratischen Staat und / oder die Französische Revolution3 oder erst im 19. mit der Reaktion auf den Liberalismus4: stets sind es spezifisch moderne Erscheinungen, die ihn erst erzeugt haben sollen. Als »der Geist, der stets verneint«, sei der Konservatismus die reine Negativität, allerdings nicht im Goetheschen Sinne »jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Vielmehr sei er für die »Zerstörung der Vernunft« (Georg Lukács) verantwortlich, die Abdrift in den Irrationalismus, die politische Romantik oder auch den »Nihilismus« (Fritz Stern), Erscheinungen, die es bewirkt hätten, daß Deutschlands »Weg in den Westen« sich so ungebührlich in die Länge zog und überhaupt nur mit fremder Hilfe abgeschlossen werden konnte.5 Lange Zeit eine elitäre Angelegenheit ländlicher Honoratioren, habe sich der Konservatismus mit dem Aufkommen der modernen Massenpolitik auf ein Bündnis mit nationalistischen und rassistischen Verbänden wie dem Bund der Landwirte eingelassen und dabei offensichtlich nichts von seinem Wesen eingebüßt, vielmehr dieses sogar noch zu einem »Radikal«- oder »Ultrakonservatismus« gesteigert, der in einer letzten Stufe sich selbst aufgehoben habe und im völkischen deutschen Nationalismus aufgegangen sei6 – eine Entwicklungskonstruktion, die bis heute für Darstellungen das Schema abgibt, die unter dem Obertitel Konservatismus »Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus« abhandeln.7 Wie lange die Metaphorik Thomas Manns auf diesem Feld nachgewirkt hat, konnte man noch 1982 in einem Text von Jürgen Habermas lesen, in dem er anläßlich der »innenpolitischen Wende zum Neokonservativismus« – gemeint ist der Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl – vor einem »Teufelskreis« warnen zu müssen glaubte, der dazu führen könne, daß »die intellektuelle Jugend […] zu Nietzsche zurückkehrt und in den bedeutungsschwangeren Stimmungen eines kultisch erneuerten, eines authentischen, noch nicht von Kompromissen entstellten Jungkonservatismus ihr Heil sucht.«8

Diese bis heute gepflegte große Erzählung hat freilich nicht überall Zustimmung gefunden. Vor allem amerikanische und britische Forscher haben den Akzent auf die zunehmende Fragmentierung gelegt, die das konservative Lager schon in wilhelminischer Zeit zersplittert und besonders die moderateren Kräfte geschwächt habe.9 Spätestens die Führungskrise in der Deutschnationalen Volkspartei, aus der 1928 Alfred Hugenberg als Sieger hervorgegangen sei, habe dann einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Konservatismus markiert, an dem sich Konservatismus und radikaler Nationalismus getrennt hätten.10 Einen wesentlichen Beitrag dazu habe der radikalnationalistische Alldeutsche Verband geleistet, durch dessen Interventionen »the development of a moderate, state-supporting, mass-based conservative party« unterbunden worden sei.11 Der Aufstieg des Nationalsozialismus müsse deshalb gerade nicht als Ergebnis einer Transformation des deutschen Konservatismus verstanden werden, sondern als Folge seiner »Marginalisierung« und ›Veralldeutschung‹, die schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt und seine Fähigkeit beeinträchtigt habe, die radikale Rechte einzubinden und auf eine »konservative« Plattform zu verpflichten.12

Noch einen Schritt weiter ist Panajotis Kondylis gegangen. Für ihn handelt es sich beim Konservatismus nicht um eine konstante, auf Sicherung des jeweiligen Status quo ausgerichtete Einstellung, die daher unter wechselnden Umständen in stets neuen Formen auftreten kann, vielmehr um eine konkrete geschichtliche, an eine bestimmte Sozialformation – die vormoderne societas civilis – und eine bestimmte Trägerschicht – den Adel – gebundene Erscheinung, welche in dem Augenblick zu ihrem Ende kam, »als sich die Trennung von Staat und Gesellschaft (d. h. vom modernen zentralisierten und einheitlich verwalteten Staat und der vom Bürgertum beherrschten, sich rasch industrialisierenden Gesellschaft) auf der ganzen Linie durchsetzte« – ein Prozeß, der in England und Frankreich seit 1830 zu beobachten sei, in Deutschland bzw. Preußen zwischen 1848 und der Nationalstaatsgründung.13 Im Zuge dieser Entwicklung habe sich eine Art von doppelter Mimikry vollzogen. Während diejenigen, die »den Ideen des herkömmlichen adligen Konservativismus treu geblieben waren, sich bei etwaiger Beibehaltung des konservativen Schildes (alt-)liberale Grundpositionen« aneigneten, »vornehmlich in bezug auf die Unverletzlichkeit des Eigentums und der Wirtschaftsfreiheit«, hätten umgekehrt die Liberalen angesichts der wachsenden sozialistischen Gefahr immer stärkere Neigung gezeigt, »sich das ›konservative‹ Schild anzuhängen«.14 Es entspricht dieser Sachlage, wenn neuere Untersuchungen zum Konservatismus nach 1945 zu dem Ergebnis kommen, man habe es entweder mit einem Hybrid aus liberalen und konservativen Denkfiguren (mit deutlichem Vorrang der ersteren) zu tun oder mit Rückgriffen auf das Ideengut der radikalen Rechten.15 Von solchen Diagnosen unterscheidet sich Kondylis nur in der Rigorosität, mit der er den Konservatismusbegriff bereits für das Kaiserreich und die nachfolgenden Regime verabschiedet.

Über die einzelnen Schritte seiner Argumentation wird noch ausführlicher zu sprechen sein. Hier sei nur vorausgeschickt, daß dieses Buch ihr zwar in der großen Linie folgen, im historischen Detail aber einige Nuancierungen vornehmen wird. Denn auch wenn man zugibt, daß sich in Deutschland nach 1848 der soziale Träger des Konservatismus in den Rahmen einer »ökonomisch orientierten Gesellschaft« fügte und in »eine der antagonistischen Gruppen oder Klassen der neuen [scil. bürgerlichkapitalistischen] Gesellschaft« verwandelte16, so muß doch für eine längere Übergangsphase mit der Kopräsenz von Formen der Vergemeinschaftung im Sinne Max Webers gerechnet werden, die mit den Formen der Vergesellschaftung nicht durchweg harmonierten. So hat insbesondere die neuere, wesentlich von Heinz Reif angestoßene Adelsforschung nachweisen können, daß Adlige und Bürgerliche auf dem Lande bis zum Ende des Kaiserreiches, weit davon entfernt, zu einer einzigen composite elite zu verschmelzen, zwei deutlich voneinander unterscheidbare Gruppen bildeten17: zum einen durch die unterschiedliche Besitzverteilung, blieben doch die ersteren mehrheitlich im Besitz der größeren Güter und vermochten diese auch zu bewahren, wohingegen die Bürgerlichen »weitgehend den schon lange vor 1800 existierenden Markt kleinerer Güter [übernahmen], die immer wieder zwischen oft wechselnden Besitzern fluktuierten« und demgemäß nicht die Stabilität aufwiesen, die für den adligen Besitz charakteristisch blieb18; zum andern durch die nach 1848 massiv einsetzende Tendenz zur Besitzsicherung im Wege der Fideikommißbildung, die über ein Viertel der Rittergüter dem Markt entzog und zumal dem Kleinadel eine seigneuriale Lebenshaltung ermöglichte, mit dem Effekt, auf diese Weise die Verbürgerlichung der grundbesitzenden Klassen, wenn nicht zu blockieren, so doch erheblich in die Länge zu ziehen19; last, but not least sozial und kulturell durch den Ausbau exklusiver Heirats- und Geselligkeitskreise, vermöge deren der Bürger auch als Großgrundbesitzer Bürger blieb und »nicht (neo-)feudalisiert oder aristokratisiert« wurde.20 Ungeachtet aller Tendenzen zur Herausbildung einer »Elitensynthese aus Großbürgertum und den reichsten, kultiviertesten Teilen des alten Adels« blieben deshalb in Deutschland »Adel und Bürgertum […] bis in das 20. Jahrhundert hinein zwei im europäischen Vergleich ungewöhnlich deutlich voneinander getrennte Gruppen«.21

Die dadurch entstehende Spannung zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung war groß genug, um Raum für Versuche zu bieten, die membra disiecta des historischen Konservatismus zu Ordnungen zusammenzufügen, in denen sich Neues mit allerlei Altem verbinden sollte, von der christlichen Religion über die Monarchie bis hin zum Ständewesen. Das geschah, eine Folge der Bildungsrevolution des 19. Jahrhunderts, durch ideologische Unternehmer, durch Intellektuelle in jenem Sinne, den Gangolf Hübinger im Anschluß an Max Weber dieser Kategorie verliehen hat.22 Allerdings betraten diese die Bühne zu einem Zeitpunkt, als sich in Deutschland ein ›literarisches Feld‹ eben erst zu bilden begann – einer Lage mithin, die ihnen nur begrenzte Möglichkeiten bot, ihre Existenz über den Verkauf geistiger Erzeugnisse auf preisregulierten Märkten zu sichern.23 Typisch für sie war deshalb die gesuchte und zeitweise auch erreichte Nähe zur politischen Herrschaft, die in zentralen Bereichen wie den Spitzen von Armee und Verwaltung noch lange vom Adel geprägt blieb. Das gilt schon für Friedrich Julius Stahl, der als Staatsrechtslehrer an der Berliner Universität und zugleich als Mitglied der Ersten Kammer bzw. des Herrenhauses wirkte; für Hermann Wagener, der jahrelang zu den engsten Beratern Bismarcks gehörte; für seinen Mitarbeiter Rudolf Meyer, der mit der Berliner Revue das wichtigste Theorieorgan des preußischen Konservatismus leitete und später im Exil adlige Sozialpolitiker der Donaumonarchie beriet; für Adolf Stoecker in seiner Doppelfunktion als Hofprediger und Vorsitzender der Christlich-sozialen Partei, in der auch der Nationalökonom Adolph Wagner eine wichtige Rolle spielte; und es gilt selbst noch für Constantin Frantz, der vor seiner Entscheidung für eine Privatgelehrtenexistenz zur Entourage des preußischen Ministerpräsidenten Manteuffel zählte und einige Jahre im diplomatischen Dienst verbrachte. Erst mit Lagarde, Langbehn, den Brüdern Mann und anderen meldeten sich Autoren zu Wort, die sich bewußt außerhalb dessen plazierten, was im weitesten Sinne des Wortes noch als »konservatives Milieu« gelten mag.

Gemeinsam war ihnen die Absicht, den historischen Konservatismus auf verschiedenen Wegen – mittels Memoranden, Gesetzgebungsinitiativen oder publizistischen Interventionen – theoretisch der Zeitlage anzupassen und praktisch zu festigen, indem sie ihm über seine bisherige Verankerung im Adel hinaus neue Trägerschichten erschlossen, sei es im Bürgertum, im Handwerk, im Bauerntum oder der städtischen und ländlichen Arbeiterschaft. Manche, wie Stahl, zögerten nicht, »jenen großen Gewinn unseres öffentlichen Zustandes« anzuerkennen, »der sich von der Epoche 1789 an datirt«, und rückten den Konservatismus an den Liberalismus.24 Sie ebneten damit den Weg für konservativ-liberale Hybridbildungen, denen auf liberaler Seite ähnliche Bestrebungen in Richtung einer Assimilierung konservativer Elemente entsprachen.25 Andere, wie Hermann Wagener, warben um das von den Fortschritten der Industrie gefährdete Handwerkertum und setzten sich frühzeitig für das allgemeine Wahlrecht ein, während wieder andere sich der Kleinbauern und Landarbeiter annahmen oder das neue Feld der Sozialpolitik entdeckten, von dem die Liberalen nichts wissen wollten. Gewiß waren die Motive, in diesen Richtungen tätig zu werden, nicht primär philanthropischer Natur. In diesem Punkt ist Kondylis recht zu geben, auch wenn die von ihm angegebenen ökonomischen Motive durch die Notwendigkeit zu ergänzen sind, sich auf einem neu entstehenden politischen Massenmarkt zu behaupten, der, je länger, je mehr, zu Ungunsten der konservativen Parteien wirkte.26 Darüber hinaus war die angestrebte Inklusion von Anfang an mit massiven Exklusionen verbunden, die sich gegen religiöse und ethnische Minderheiten richteten, nicht nur, aber in besonders aggressiver Weise, gegen Juden.

Eine Darstellung indessen, die nur hiervon handelt und dafür einen generellen ›Antimodernismus‹ verantwortlich macht, wird den Widersprüchen nicht gerecht, die für alle großen politischen Ideologien charakteristisch sind. Der ausgehende Konservatismus mag alle Vorwürfe verdienen, die an seine Adresse gerichtet wurden. Ihn darauf zu reduzieren, hieße die Bedeutung zu ignorieren, die einige seiner Verfechter im Vorfeld der im Fin de siècle einsetzenden »Umverteilungsrevolution« gehabt haben, formulierten sie doch schon den den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Vorschläge, wie durch Steuerreformen, den Aufbau von Institutionen der sozialen Sicherung sowie die Einrichtung von Formen der kollektiven Interessenvertretung der Lohnabhängigen die sozialen Spannungen, wenn nicht beseitigt, so doch verringert werden konnten.27 Das alles mag als Mittel für gänzlich andere Zwecke gedacht worden sein. Daß es geschehen ist und diese Resultate hinterlassen hat, gehört zu jenen eigentümlichen ›Paradoxien der Wirkung gegenüber dem Wollen‹, für die Max Weber den Blick geschärft hat.28

Zur Zitierweise: Um das Literaturverzeichnis zu entlasten, werden dort nur die häufig zitierten Hauptwerke der Primär- und Sekundärliteratur ausgewiesen. Das übrige Schrifttum wird mit vollen bibliographischen Angaben im Anmerkungsapparat nachgewiesen, bei wiederholter Bezugnahme innerhalb eines Kapitels nur in Kurzzitation. Hervorhebungen im Original wurden nur in Ausnahmefällen übernommen, eigene als solche markiert.

1.Den Konservatismus denken: Karl Mannheim und Panajotis Kondylis

Mit Blick auf die breite Literatur, die sich um eine Klärung der Begriffe »konservativ« bzw. »Konservatismus« bemüht, hat man mit Recht von einer babylonischen Sprachverwirrung gesprochen.1 Den Gang der Diskussion nachzuvollziehen, würde ein eigenes Buch erfordern. Für die hier verfolgten Zwecke muß es genügen, sich auf die beiden Deutungen zu konzentrieren, die Höchstrelevanz beanspruchen können: die Bücher von Karl Mannheim (1893–1947) und Panajotis Kondylis (1943–1998). Mannheim hat sein Werk 1925 in Heidelberg als Habilitationsschrift eingereicht, konnte aber zu Lebzeiten nur einen etwa die Hälfte des Textes umfassenden Auszug im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlichen. Die vollständige Fassung erschien erst 1984 in einer von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr besorgten Edition.2 Zu dieser Zeit arbeitete Kondylis bereits an seinem Artikel über »Reaktion, Restauration« für die Enzyklopädie Geschichtliche Grundbegriffe sowie an seinem eigenen Buch Konservativismus, so daß er auf Mannheims Arbeit nur in der gekürzten Fassung Bezug nehmen konnte.3 Was er zu ihr zu bemerken hatte, ist indessen so knapp gehalten4, daß die Gemeinsamkeiten und Differenzen nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Eine weiter ausholende Präsentation der beiden Argumentationsstränge ist daher unumgänglich.

I.

Von dem, was landläufig unter »Konservatismus« verstanden wird5, setzt sich Mannheim durch drei Entscheidungen ab. Konservatismus erschöpft sich für ihn, erstens, nicht in der allgemein menschlichen Neigung zum Festhalten am Gewohnten und zur Reserve gegenüber Neuerungen – eine Neigung, die Mannheim als »vegetativ« und »reaktiv« qualifiziert und in Anlehnung an Max Weber als »Traditionalismus« bezeichnet.6 Während bei Weber dieser Terminus eine erhebliche Schwingungsweite aufweist und dadurch andere Perspektiven eröffnet – traditional bestimmtes Verhalten steht einerseits »ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ›sinnhaft‹ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann«, andererseits diesseits dieser Grenze, etwa wenn es um »traditionale Herrschaft« geht7 – wird er von Mannheim eindeutig auf der Seite des nicht sinnhaften Handelns plaziert und vom Konservatismus abgegrenzt. »›Konservatives‹ Handeln ist sinnorientiertes Handeln und zwar orientiert an einem Sinnzusammenhange, der von Epoche zu Epoche, von einer historischen Phase zur anderen verschiedene objektive Gehalte enthält und sich stets abwandelt.«8

Die zweite Entscheidung folgt gleich anschließend an diese Festlegung. Der mit Konservatismus bezeichnete Sinnzusammenhang ist nicht nur als politische Theorie oder Doktrin im engeren Sinne zu verstehen, sondern als ein »objektiv-geistiger Strukturzusammenhang«, in den »auch Zusammengehörigkeiten allgemein weltanschaulicher, gefühlsmäßiger Art« eingeschlossen sind, bis hin zur »Konstituierung einer bestimmten Denkweise«.9 Es sei eine Tatsache, heißt es an anderer Stelle, daß »mit dem interessenmäßigen politischen Konservatismus zugleich ein weltanschaulicher verbunden ist«, daß der Konservative »eben nicht nur sein Interesse« wolle, »sondern zugleich seine Welt, in der sein Interesse heimisch ist«.10 Es ist diese »konservative Weltanschauung«, auf die sich Mannheims eigentliches Interesse richtet.11

Die dritte Entscheidung besteht in einer strikten Historisierung des Forschungsobjekts. Unter Konservatismus ist nach Mannheim keine allgemein menschliche Abneigung gegen Veränderungen zu verstehen, sondern eine Weltanschauung, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt herausbildete (Ende des 18., anfangs des 19. Jahrhunderts), in Reaktion auf eine vorgängige Weltanschauung entstand (das Weltbild der exakten Naturwissenschaften) und von bestimmten sozialen Schichten getragen wurde (dem Adel und der mit ihm verbundenen ›freischwebenden‹ Intelligenz). Mannheims Buch beschränkt sich auf die Startphase dieses Prozesses, dem auch von anderen so bezeichneten »Altkonservatismus«.12

Sinnzusammenhang, Strukturzusammenhang, Weltanschauung: das sind Konzepte, die auf die Weltanschauungslehre Wilhelm Diltheys verweisen.13 Tatsächlich hat sich Mannheim in seinen Arbeiten der frühen und mittleren 20er Jahre, in die auch die Konservatismus-Studie fällt, entschieden in die Nachfolge Diltheys gestellt und dessen Werk bescheinigt, auf »eine soziogenetische Kulturerklärung im weitesten Sinn des Wortes« angelegt zu sein.14 Diltheys Verdienst sei es, »in großartigster Weise sowohl in historischen Forschungen wie in methodischen Essays die Verwirklichung einer Durchforschung der geschichtlichen Ideenwelt wie auch der Bewußtseinsstrukturen in Angriff genommen« zu haben.15 Sein Programm, »aus einem Gemeinschaftsbewußtsein, aus einer Weltanschauung heraus die einzelnen Gebilde zu verstehen«, überschreite den Rahmen der Geschichte, sowohl im Sinne der Ereignis- wie der Ideengeschichte, es ziele auf »soziologisch-genetische Sinndeutung« und sei darin, ungeachtet aller Polemik gegen die zeitgenössische Soziologie, Ausgangspunkt für jede nachfolgende, ähnlich ausgerichtete Bestrebung.16

Von diesem demonstrativen Schulterschluß sollte man sich freilich nicht zu der Annahme verleiten lassen, Mannheim sei ein bloßer Epigone Diltheys.17 Gewiß ist in diesen frühen Texten, bedingt auch durch den Einfluß von Lukács, zu dessen Budapester Sonntagskreis Mannheim während des Ersten Weltkriegs gehörte18, sehr viel vom Leben, von Erlebniszusammenhängen und von der Tatsache die Rede, »daß das Subjekt der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht bloß das erkenntnistheoretische Subjekt, sondern der ›ganze Mensch‹ ist«19 – Topoi, die unzweifelhaft im Denken Diltheys ihre Wurzel haben. Die Konservatismus-Studie kann nachgerade als Entwurf einer Genealogie der Lebensphilosophie gelesen werden, zeigt sich Mannheim doch überzeugt, daß der moderne Lebensbegriff konservativen Ursprungs ist und einen »Erlebniskeim lebendig [hält]«, welcher erstmals in der Romantik auftaucht und alle folgenden Lebensphilosophien bis hin zu Bergson grundiert.20 Auch das diese Studie tragende Konzept des »Weltwollens« steht in deutlicher Kontinuität zu Diltheys (seinerseits auf Schopenhauer rekurrierendem) voluntaristischem Bewußtseinsmodell, demzufolge die Ausbildung der Weltanschauungen bestimmt ist »von dem Willen zur Festigkeit des Weltbildes, der Lebenswürdigung, der Willensleitung, der aus dem […] Grundzug der Stufenfolge in der psychischen Entwicklung sich ergibt«.21 Gleichwohl: zu jenem extremen »Perspektivismus«, dem sich Mannheim, womöglich unter dem Einfluß Nietzsches, verschreibt, hat Dilthey stets Distanz gehalten, beharrte er doch darauf, den »Quellpunkt des Lebens und der Wirklichkeit zu erweitern, für objektive Erkenntnis tauglich zu machen«.22 Dazu bedurfte es der Überschau, bedurfte es der Synthese und als Mittel dazu: der Allgemeinbegriffe und Idealisierungen, wie sie, wie immer auch psychologisch verkürzt, in Diltheys »Typologie der Weltanschauungen« vorliegen. Mannheim hat diese zwar nicht schlechterdings abgelehnt, ihr aber vorgeworfen, bloß flächenhaft, schematisch und unhistorisch zu sein und letztlich in eine »Auflösung der einmaligen Weltanschauungskomplexe« zu münden.23

Mit der Ablehnung der generalisierenden Abstraktion geht Mannheim auch zu jenen Strömungen in der Soziologie auf Distanz, die er dem »neuzeitliche[n] Rationalismus« zuordnet24: der »reinen Soziologie« Georg Simmels und der »generalisierenden Soziologie« Max Webers.25 Einen Terminus Alfred Webers aufgreifend und diesen gegen dessen Bruder Max wendend, spricht Mannheim von einem ›zivilisatorischen Denken‹, das auf ein »Hineinprojizieren des Zweckrationalen in alle vergangenen Zustände« hinauslaufe und die Soziologie in ein »Pendant zu den rationalen überkonjunktiven Naturwissenschaften« verwandle.26 Ihr setzt er seinen Entwurf einer ›dynamischen Kultursoziologie‹ entgegen, die um den Leitbegriff der »Situation« im Sinne einer singulären, nie identisch wiederkehrenden Ganzheit aufgebaut ist.27 In dem in Rede stehenden Zeitraum ist sie bestimmt durch den Aufstieg des neuzeitlichen Rationalismus, der durch die experimentelle Wissenschaft, den bürokratischen Absolutismus, den modernen Kapitalismus und dessen Träger, das Bürgertum, vorangetrieben wird und zu einer »Entpersönlichung und Entgemeinschaftung« führt, in deren Gefolge »das ›Irrationale‹ (die ursprünglichere Beziehung von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Ding)« marginalisiert wird28: durch eine Zurückdrängung des »Lebendigen« auf die Intimbeziehungen sowie auf jene Schichten und Gruppen, die eher Opfer als Träger des Rationalisierungsprozesses sind: den Adel, die Bauern, die mit dem Handwerk in Kontinuität stehenden kleinbürgerlichen Schichten, endlich auch die religiösen Sekten, soweit sie (wie etwa der Pietismus) Traditionen bewahren, die im Lebensstil der modernen Gesellschaftsklassen keinen Platz mehr haben.29

Im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution verdichtet und beschleunigt sich dieser Vorgang derart, daß sich erstmals eine Abwehrfront bildet: nicht nur, aber besonders ausgeprägt in Deutschland. Die Abwehr manifestiert sich auf zwei Ebenen: einer vortheoretischerlebnismäßigen, auf der sich eine konservative »Grundintention« oder auch, wie Mannheim mit Schopenhauer und Dilthey sagt, »Grundstimmung« herausbildet, und einer bewußt-reflexiven, die sich durch die Entwicklung eines eigenen »theoretischen Zentrums« auszeichnet.30 Zur Grundintention rechnet Mannheim jene Dispositionen, die nicht bloß traditionaler Art sind, sondern aus der bestimmten Negation zentraler Aspekte des Rationalisierungsprozesses entspringen. Dazu gehört das emphatische Erleben des »Konkreten«, das dem durch die Aufklärung gesteigerten Abstraktionsvermögen und der Erweiterung des Möglichkeitsspielraums entgegengesetzt wird, gehört die Verklärung des Eigentums, der Vergangenheit und der Geschichte sowie das Ausspielen des ›raumhaften Erlebens‹ gegen das lineare Fortschrittsbewußtsein der bürgerlichen Schichten. Unübersehbar ist hier allerdings der Widerspruch, daß alle diese Formen konservativen Erlebens bestimmte Negationen und damit Ergebnisse von Reflexion sind31, zugleich aber das Gegenteil davon sein sollen: definiert Mannheim doch die Grundintention als eine »Strebensrichtung der Seele«, welche »im unbewußten Denkwollen« verankert sei.32

Dieser Widerspruch ist um so fataler, als er das Fundament der idealtypischen Entwicklungskonstruktion betrifft, die Mannheim für das altkonservative Bewußtsein entwirft. Dieses entfaltet sich in drei Stufen. Am Anfang steht eine Aktivierung des altständischen Bewußtseins in Form des »Urkonservatismus« (repräsentiert durch Justus Möser), der seine politische Spitze gegen den aufklärerisch-bürokratischen Zentralismus richtet.33 Ihm folgt der »romantisierte[n] Konservatismus«, der seine Impulse nicht mehr allein aus der Gegenstellung gegen den bürokratischen Rationalismus bezieht, sondern zugleich aus der Reaktion gegen Aufklärung und Revolution.34 Sozialer Träger dieser romantischen Reaktion ist eine Schicht, die Mannheim in Anlehnung an Alfred Weber als ›sozial freischwebende Intellektuelle‹ bezeichnet.35 Eine dritte Stufe im »konservativ-dynamischen Denken« soll schließlich in der von Hegel entwickelten »Dialektik« vorliegen.36

Ausgeführt hat Mannheim nur die beiden ersten Stufen und auch hier nur deshalb eine gewisse Evidenz erzielt, weil er sich ausschließlich auf das gemeinsame Moment – die Negation des neuzeitlichen Naturrechts – beschränkt und die fundamentalen Differenzen ausblendet, die das altständische Denken von jenem ›subjektivierten Occasionalismus‹ trennen, den Carl Schmitt nur wenige Jahre zuvor als das zentrale Merkmal der politischen Romantik und zugleich als den Grund für deren nahezu beliebige politische Anschlußfähigkeit herausgearbeitet hatte.37 Ob das zutrifft, sei hier dahingestellt, doch fällt auf, daß Mannheim aus heutiger Sicht den Beitrag der Romantik stark überzeichnet und demgegenüber Vertreter des gegenrevolutionären Konservatismus wie die Brüder Gerlach vernachlässigt, die weit mehr von Theoretikern der Restauration wie Haller beeinflußt waren, auch wenn sie sich in ihrer Jugend romantischen Impulsen nicht verschlossen.38 Daß das geplante Kapitel über Hegel nicht zur Ausführung gelangte, dürfte schließlich nicht nur äußere Gründe gehabt haben. Denn obschon Hegel in seinen jungen Jahren Ansichten vertrat, die in mancher Hinsicht »eine Übernahme, Modifizierung oder Weiterentwicklung von Gemeinplätzen adliger-konservativer Kritik am frühen Kapitalismus« waren39, brach er mit diesen doch bald und stellte sich, wenn auch mit gewissen Vorbehalten, auf den Boden der Moderne. In seiner Phänomenologie des Geistes lehrte er den »Glauben an die Allmacht des Wissens«, in seiner Rechtsphilosophie die Trennung von Staat und Gesellschaft, in seiner Geschichtsphilosophie die Durchsetzung des Prinzips der Freiheit des Willens gegen das vorhandene Recht, die mit der Französischen Revolution vollzogen worden sei.40 Kaum überbietbar war endlich die wechselseitige Abneigung, die Hegel und die Romantiker einander entgegenbrachten. War für Hegel die Romantik, zumal die romantische Ironie, ein Exzeß der »leeren Subjektivität« Fichtes41, so meinte Friedrich Schlegel vom System Hegels, es verwechsele in seiner atheistischen Spitzfindigkeit und im Unwesen seines allumfassenden Rationalismus den Satan mit dem lieben Gott.42 Es mag sein, daß Hegels klassizistisch verengter Blick ihn blind machte für die Ansätze zur Autonomisierung des Ästhetischen in der Romantik43, doch wird er damit noch nicht zu einem Vertreter der Anti- oder Gegenmoderne. Seine Dialektik in eine Entwicklungsreihe zu stellen, die mit Justus Möser einsetzt und über Friedrich Schlegel und Adam Müller bis zu Nietzsche und Bergson führt44, ist so abwegig wie nur irgendetwas.

Mannheims Entscheidung, seine Entwicklungskonstruktion auf Hegel zulaufen zu lassen, ist freilich nicht so zu verstehen, als habe er damit die Geschichte des Konservatismus als abgeschlossen betrachtet. Zwar stellt er es für ›historisch-dynamische Strukturzusammenhänge‹, zu denen er auch den Konservatismus zählt, als wesentlich heraus, daß sie in der Zeit einmal beginnen, in der Zeit ihr Schicksal haben und in ihr enden.45 Doch relativiert er diesen Gedanken für den Konservatismus gleich wieder. Auch wenn die alten Lebensformen unter dem Druck der kapitalistischen Rationalisierung dahinschwänden, rette sich das konservative Erleben doch, indem es »immer mehr auf die Ebene der Reflexivität und der methodischen Beherrschbarkeit jene Einstellungen zur Welt erhebt, die für das originäre Erleben sonst verlorengegangen wären.«46 Die konservative Grundintention, eine vortheoretische Willensdisposition, winde sich gewissermaßen aus der Zeit heraus, indem sie zur Theorie werde, zu einer Vergangenheit, die nicht vergehe, die vielmehr imstande sei, »sich stets, den neuen Stufen des Bewußtseins und der Sozialentwicklung entsprechend, [zu] transformieren und hierdurch sozusagen eine Linie im geschichtlichen Geschehen [zu] erhalten, die sonst absterben würde.«47

Zu dieser Auffassung ist Mannheim später auf Distanz gegangen. In einem vier Jahre später erschienenen Essay zu Ehren Alfred Webers kam er wohl noch einmal auf den Konservatismus zurück, rückte ihn nun aber in eine Phänomenologie des »utopischen Bewußtseins«, in der er als Zwischenstufe zwischen dem orgiastischen Chiliasmus der Wiedertäufer und der liberal-humanitären Idee einerseits, der sozialistisch-kommunistischen Utopie andererseits plaziert war. Läßt man den Widersinn einer Konstruktion beiseite, die »die konservative, in die Wirklichkeit eingesenkte Idee« einem Oberbegriff subordinierte, dessen wichtigstes Bestimmungsmerkmal gerade die Inkongruenz des Bewußtseins »mit dem es umgebenden ›Sein‹« sein sollte48, so fällt vor allem die Relativierung auf, die das utopische Bewußtsein in allen seinen Gestalten erfuhr. Die Gegenwart, heißt es dort, stehe im Zeichen einer »allmähliche[n] Senkung der utopischen Intensität«, eines »Verschwinden[s] des Utopischen in jedweder Gestalt« zugunsten einer fortschreitenden »Spannungslosigkeit«, wenn nicht auf der sozialen, so doch auf der ideellen Ebene.49 Zwar begegne man immer noch Utopikern, Romantikern und Ekstatikern, doch handele es sich dabei um Intellektuelle, Angehörige einer »Dünnschicht«, die gegen eine ubiquitär sich ausbreitende »Sachlichkeit« anzukämpfen hätten.50 Mannheim glaubte es nicht länger ausschließen zu dürfen, daß dieser Prozeß zu einer »völligen Destruktion aller spirituellen Elemente, des Utopischen und des Ideologischen zugleich« führen könnte51, wie Herbert Marcuse dies dreieinhalb Jahrzehnte später für die one-dimensional society behauptete, ließ allerdings auch nicht im Zweifel, welche Folgen dies aus seiner Sicht haben würde: »Das Verschwinden der Utopie bringt eine statische Sachlichkeit zustande, in der der Mensch selbst zur Sache wird.«52 Es lag in der Konsequenz dieser Gedankenführung, wenn in Mannheims letztem großen Buch von Konservatismus nicht mehr die Rede war.53

II.

Was die zuletzt angedeutete Perspektive betrifft, so berührt sie sich in vielem mit Kondylis’ These einer zunehmenden »Antiquiertheit der politischen Begriffe«.54 Aber auch in der Auffassung des Konservatismus finden sich manche Übereinstimmungen. Hier wie dort ein historisch-typisierender Ansatz, darauf ausgerichtet, die »für eine ›Periode‹ relativ stabilen Typenbegriffe […] für die Erklärung und Deutung der Kulturgebilde« herauszuarbeiten und entsprechend den Konservatismus zeitlich und räumlich zu lokalisieren; hier wie dort eine Zurechnung von Denkweisen zu bestimmten Weltanschauungen und Ideologien sozialer Klassen, auch wenn dies im Fall des Konservatismus bei Mannheim zu einem deutlich breiteren Spektrum führt als bei Kondylis; hier wie dort eine ausgesprochen agonale Sicht der zwischen den Klassen waltenden Beziehungen, sowohl auf der Ebene der Interessen wie auf derjenigen der Ideen, die als »geistige Waffen« präsentiert werden.55 Und wenn Mannheim darauf beharrt, den Konservatismus nicht isoliert zu behandeln, sondern als Teil einer »Gesamtsituation«, dann ist es nicht weit zu Kondylis, der ebenfalls großes Gewicht auf die Spannungen und Wechselwirkungen legt, die zwischen dem Konservatismus und seinen jeweiligen Gegenspielern – dem Absolutismus, dem Liberalismus oder der Demokratie – bestehen. Gewiß: Mannheim sieht in dieser Lagerung die Kräfte von Aktion und Reaktion eindeutiger verteilt als Kondylis, der immer wieder davor warnt, den Konservatismus auf bloße Reaktion zu reduzieren. Aber lokalisiert letztlich nicht auch Kondylis die eigentliche Triebkraft der Veränderung im neuzeitlichen Rationalismus, der die Positivierung des Rechts und damit die Trennung von Staat und Gesellschaft vorantreibt? Was schließlich trennt eine Sichtweise, die in diesem Rationalismus die Manifestation einer »weltanschauliche[n] Grundhaltung« erkennt56, von einem Ansatz, der darauf zielt, ›Grundintentionen‹, Stilprinzipien sichtbar zu machen, die im Aufbau der Weltanschauungen und Ideologien wirksam sind?57

Eine erste Abweichung findet sich in der Bestimmung des Verhältnisses von Traditionalismus und Konservatismus. Anders als Mannheim, der dieses Verhältnis als eines zwischen präreflexiven und reflexiven Einstellungen deutet und dies zugleich mit einem zeitlichen Index versieht, weist Kondylis die Annahme zurück, es habe einen »stummen unreflektierten Traditionalismus der vorrevolutionären Zeit« gegeben, von dem sich dann der Konservatismus abgehoben habe.58 Die Behauptung einer solchen »teils unreflektierten teils passiven Billigung herrschender Verhältnisse [sei] historisch unhaltbar bzw. eine rein hermeneutische Fiktion«, die allenfalls insofern ein begrenztes Recht habe, als im 17. und 18. Jahrhundert zeitweise eine gewisse »Müdigkeit des Adels nach seinen Niederlagen im Kampfe gegen den Absolutismus« zu verzeichnen sei.59 Zuvor jedoch, und dann wieder verstärkt zur Zeit der französischen Fronde und der prérévolution, habe es eine höchst bewußte, z. T. dezidiert an Aristoteles und Thomas von Aquin anknüpfende Verteidigung der überlieferten Strukturen der alteuropäischen Herrschaftswelt gegeben, und zwar sowohl von Seiten einzelner Autoren wie der Spätscholastiker oder der Monarchomachen, als auch von Seiten der dazu legitimierten Institutionen wie der Ständeversammlungen und vormodernen Parlamente.60

Diese Verteidigung aber, so der zweite Punkt, mit dem Kondylis andere Akzente setzt, reagierte auf eine Herausforderung, die nicht erst auf das späte 18. Jahrhundert datiert. Sie ergab sich durch das Aufkommen der modernen Souveränitätsidee und einer entsprechenden Praxis, in deren Gefolge sich die Politik aus ihrer Bindung an Religion und Ethik sowie an die herkömmlichen leges fundamentales löste und das Recht sich aus einer mit Sitte und Brauch identischen, ontologisch verbürgten Größe in eine zweckrational konzipierte und jederzeit in ihrem Bestand revidierbare Ordnung verwandelte. Auf diese Weise wurde die alteuropäische societas civilis, die in politischer Hinsicht polyzentrisch war (»wegen des Aufbaus des sozialen Ganzen auf der Grundlage von autonomen Oikoi und Korporationen«), in weltanschaulich-religiöser Hinsicht dagegen »monistisch«, auf den Kopf gestellt, war doch der vom entstehenden Absolutismus durchgesetzte Gesetzgebungsstaat politisch einheitlich und religiösethisch polyzentrisch, nämlich »tolerant«.61

Aus dem Widerstand gegen diese Umkehrung ist nach Kondylis der Konservatismus hervorgegangen, gestützt auf die politisch aktionsfähigen Schichten: den ländlichen, städtischen und höfischen Adel. Sein Ziel war, wenn nicht de jure, so doch de facto, die Adelsrepublik, die Sicherstellung der Naturwüchsigkeit und strukturellen Unabänderbarkeit der societas civilis62, in der Terminologie Louis Dumonts: des »homo hierarchicus« gegenüber dem »homo aequalis«. Daraus entstand die erste Stufe des Konservatismus, der »antiabsolutistische Konservatismus«, dessen Leitpräferenzen Kondylis folgendermaßen zusammenfaßt: »Priorität der Gruppe gegenüber dem in ihr geborenen und ihr lebenslänglich angehörenden Individuum«; Ausschluß der rechtlichen und politischen Unmittelbarkeit des Einzelnen; Ablehnung des Gleichheitsgedankens und »Verteidigung der Hierarchie sowohl unter den Ständen als auch innerhalb derselben.«63

Die letzte Abweichung ergibt sich unmittelbar aus den beiden anderen. So wie die Revolution des 18. Jahrhunderts in vielem nur eine Radikalisierung des absolutistischen Souveränitätsanspruchs war, war auch der gegenrevolutionäre Konservatismus – die zweite Stufe des Konservatismus – keine parthenogenetische Erscheinung, setzte er doch die Bemühungen des antiabsolutistischen Konservatismus um eine Bewahrung der societas civilis fort. Das geschah freilich unter Bedingungen, die es erforderlich machten, die Strategie neu zu justieren. Um die von der Revolution noch weit grundsätzlicher als vom Absolutismus negierte societas civilis zu verteidigen, entschloß sich der Adel, die vom modernen Staat bereitgestellten Zwangsmittel zunächst zu übernehmen und gegen den radikaleren Gegner zu wenden.64 Unter Umständen konnte dies die Errichtung oder auch nur die Tolerierung einer Diktatur bedeuten, welche man allerdings (wenn auch nicht immer erfolgreich) auf eine »kommissarische« (im Unterschied zu einer »souveränen«) Diktatur festzulegen bemüht war.65 Auf der gleichen Linie lag die Strategie, das Lager der Gegner zu spalten und den gemäßigten Flügel auf die eigene Seite zu ziehen – ein Vorhaben, das nicht nur auf der politischen Bühne spielte, sondern ein Pendant auf ideeller Ebene hatte: in zahlreichen Versuchen, »aufklärerische Sprache und gelegentlich auch (uminterpretiertes) aufklärerisches Gedankengut gegen die liberalen und demokratischen Auswüchse der Aufklärung zu verwenden«.66 Daß diese wie immer auch partielle Anpassung an den Gegner zu keiner stabilen Position führte, vielmehr in einen offenen Selbstwiderspruch mündete, der den Niedergang des Konservatismus beschleunigte, stand für Kondylis jedoch außer Zweifel.67

Eine Bedingung der Möglichkeit dafür war nach Kondylis, daß die Aufklärung als Denkweise des aufstrebenden Bürgertums mitnichten auf eine extreme Form des »Intellektualismus« reduziert werden kann, wie das bei Mannheim geschieht.68 Auch wenn es in ihr eine dahingehende Tendenz gab, war diese doch keineswegs vorherrschend. Die Hauptströmung der Aufklärung wandte sich vielmehr »gegen das, was sie als theologischscholastischen und cartesianischen Intellektualismus betrachtete, und dabei entwickelte sie eine umfassende antiintellektualistische Position, die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch anthropologisch und geschichtsphilosophisch fundiert war.«69 Das wiederum ermöglichte es konservativen Ideologen, hieran anzuschließen und den aufklärerischen Antiintellektualismus gegen zentrale Normen und Absichten der Aufklärung selbst zu wenden. Das geschah z. T. im Ausgang von Positionen der literarischen Romantik, jedoch weder so ausschließlich noch so eindeutig, wie von Mannheim dargestellt. Weit davon entfernt, eine bloße Gegenbewegung gegen den neuzeitlichen Rationalismus zu sein, legte die Romantik nach Kondylis vielmehr den Akzent ganz auf die konstitutive Tätigkeit des ästhetischen Subjekts, das die Welt im Sinne Carl Schmitts »als Anlaß und Material seines unablässigen geistigen Experimentierens« behandelte.70 Staat und Gesellschaft gerieten von hier aus nicht in der geschichtlich konkreten Gestalt der societas civilis in den Blick, sondern als fiktive Gemeinschaft, »welche die vom romantischen Subjekt vertretenen (ästhetischen) Werte verkörpert«, also utopischer Qualität sei.71 Das habe zeitweilige Bündnisse zwischen dem Konservatismus und den romantischen Intellektuellen nicht ausgeschlossen, wie die Karriere von Adam Müller oder Friedrich Schlegel zeigt. Insgesamt aber sei die Romantik eine viel zu ambivalente Erscheinung gewesen, als daß sie in so exklusiver Weise für die Grundlegung des Konservatismus herangezogen werden könne, wie dies bei Mannheim der Fall sei:

»Denn Konservativismus bedeutet Glaube an eine feste, überindividuelle und von keinem menschlichen Subjekt gemachte (geschweige denn aufgrund ästhetischer Kriterien improvisierte) Ordnung, also radikale Absage an jeden Subjektivismus und Individualismus. An der Notwendigkeit einer Wahl zwischen Romantik und Konservativismus konnte offenbar kein Weg vorbeiführen.«72

Daß der hier angesprochene Glaube das 19. Jahrhundert nicht überlebt hat, ja schon um die Jahrhundertmitte deutliche Erosionserscheinungen aufwies, ist die nächste und im Ergebnis wichtigste Abweichung von Mannheim. Die Epoche zwischen 1789 und 1848 war für Kondylis wohl noch einmal eine Hochblüte konservativer Ideologiebildung, jedoch zugleich Schauplatz einer Doppelrevolution, die neben einer weiteren Ausgestaltung des souveränen Staates vor allem durch die Etablierung einer bürgerlich-kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung bestimmt war. Vor die Wahl gestellt, sich ihr anzupassen oder unterzugehen, entschied sich der Adel für das erstere. Er verwandelte sich in eine nach kapitalistischen Maximen wirtschaftende Grundrentnerschicht, akzeptierte die Trennung von Staat und Gesellschaft und öffnete sich sozial gegenüber dem bürgerlichen Reichtum und dessen Besitzern. Was zunächst als Modernisierung konservativer Politik gedacht war, wurde zu deren Transformation: »konservative Politik wird zur Interessenpolitik, angesichts der offensichtlichen Unwiederbringlichkeit des Alten läßt sie sich also nicht mehr von der Idealvorstellung der societas civilis, sondern von konkreten und beschränkten Zielen leiten, wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß der Realisierungsrahmen dieser Ziele nur die neue bürgerlichkapitalistische Gesellschaft sein könnte.«73 Neuere Untersuchungen zu den sich konservativ nennenden Parteien des ausgehenden Kaiserreichs bestätigen diesen Trend.74

Mag es von Mannheims Standpunkt aus noch diskutabel sein, die Geschichte des Konservatismus bis in die Verfassungskonflikte des 16. Jahrhunderts zu verlängern, so ist in dieser Frage kein Kompromiß möglich, ist doch für Mannheim der Konservatismus Ausdruck einer Grundintention, die durch Vorgänge geschichtlich-sozialer Art wohl in Schwingung versetzt und in Richtung auf neue, von einer historischen Phase zur anderen sich wandelnde »objektive Gehalte« geöffnet wird, aber letztlich unberührt durch diese Wandlungen hindurchgeht75 – zumindest solange, wie die Kräfte in Geltung sind, die sie an ihrer Entfaltung hindern. Aus diesem Grund kann Mannheim seinen Untersuchungsgegenstand – »das konservative Denken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland« – als »Altkonservatismus« bezeichnen und damit grundsätzlich die Möglichkeit einer Erneuerung dieses Denkens in Gestalt eines »Jung-«, »Neu-« oder »Neokonservatismus« signalisieren, um von der vielzitierten »konservativen Revolution« zu schweigen.76 Eingelöst hat Mannheim diesen Scheck freilich nicht. Wie ein Konservatismus nach dem Altkonservatismus aussehen könnte, hat er nicht ausgeführt, aber immerhin in die die richtige Richtung gewiesen, indem er schon bei Friedrich Julius Stahl »die ersten Spuren des Einflusses liberaler Art auf den Konservatismus« ausmachte.77

So hat es auch Kondylis gesehen, allerdings sehr viel schärfer gefaßt. Aus seiner Sicht setzte in den 1830er Jahren in England und Frankreich sowie bald darauf auch in Deutschland eine Entwicklung ein, die mit dem »Aufgehen des Konservativismus im (Alt)Liberalismus« endete.78 Zwar veränderte sich dabei auch der Liberalismus, der sich beim Aufkommen der modernen Massendemokratie spaltete: in einen linken, sozialliberalen Flügel, der die ursprünglich rein formal verstandenen Grund- und Menschenrechte im Sinne universaler materieller Teilhaberechte deutete, und einen rechten, oligarchischen Flügel, der sich zunächst als alt-, dann als neoliberal bezeichnete und den Schulterschluß mit dem Konservatismus suchte.79 Dem letzteren aber kam dies nicht zugute, weil dabei mehr vom Liberalismus auf ihn abfärbte als umgekehrt. Die Umwandlung seiner Trägerschicht im kapitalistischen Sinne zog unvermeidlich die Loslösung von der Leitvorstellung der societas civilis nach sich und war Mitte des 19. Jahrhunderts so weit fortgeschritten, daß von Konservatismus nur mehr in uneigentlichem, metaphorischem oder polemischem Sinne die Rede sein konnte: einem Konservatismus in Anführungszeichen. »Die Geschichte des Konservativismus fällt weitgehend mit der Geschichte des Adels zusammen, was offensichtlich bedeutet, daß das Ende des Adels als traditionell (im Weberschen Sinne) herrschender Schicht auch das Ende des sozial relevanten und begrifflich prägnanten Konservativismus nach sich ziehen mußte.«80

Wenn Kondylis sich hier auf Max Weber beruft, dann deckt sich das mit dessen Urteil aus dem Jahr 1917, das den Konservativen bescheinigte, seit Stahl, Gerlach und den »alten Christlich-Sozialen« »politischen Charakter im Dienst großer staatspolitischer oder idealer Ziele […] niemals gezeigt« zu haben, vielmehr immer nur dann in Aktion getreten zu sein, wenn es um die Verteidigung von Geldinteressen, Ämterpatronage oder Wahlrechtsprivilegien ging.81 Diese Sichtweise wird durch das Urteil vieler zeitgenössischer Beobachter und moderner Forscher gestützt, die die konservative Partei auf dem Weg sahen, »mehr und mehr sozusagen eine rein agrarische Organisation« zu werden.8283