Salah Naoura, geboren 1964 in Berlin, arbeitet als freier Übersetzer und Autor, veröffentlicht Bilderbücher, Erstlesebücher sowie Kinder- und Jugendromane. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet; sein Erfolgsroman »Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums« wurde mit dem Peter-Härtling-Preis prämiert und fürs Kino verfilmt. Bei Beltz & Gelberg erschienen zuletzt sein Kinderroman »Der Ratz-Fatz-x-weg 23« sowie ein weiteres Abenteuer seines Helden Matti: »Matti und Sami und die verflixte Ungerechtigkeit der Welt«.

1

»Man muss auch Opfer bringen können«, sagt Mama immer. »Man kann auch mal auf was verzichten, was einem lieb und teuer ist – für das Wohlergehen der Allgemeinheit!«

Mama und ich sehen die Dinge ja oft unterschiedlich, aber was die Sache mit dem Opfer angeht, bin ich völlig ihrer Meinung. Als Sami noch ein Baby war, opferte ich zum Beispiel seine Lieblingsrassel, damit die Allgemeinheit endlich ihre Ruhe hatte. Das Rasselgeräusch war einfach schrecklich.

Das fiel mir letzte Nacht wieder ein. Ich lag wach und dachte darüber nach, wie schlimm es sein muss, etwas zu verlieren, was einem lieb und teuer ist.

Onkel Kurt behauptet, dass ein schlechtes Gewissen dafür sorgt, dass man sich mies fühlt. Onkel Kurt hat meistens Recht, aber eigentlich hatte ich ja kein schlechtes Gewissen. Trotzdem war mir heute Morgen nach dem Aufstehen übel. Am liebsten wäre ich sofort zu Papa gegangen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Was aber nicht ging, weil er seit gestern verschwunden ist.

Kurz vor dem Abendessen hörten wir sein löwenlautes Wutgebrüll aus dem Arbeitszimmer! Dann polterte Papa die Treppe hinunter, riss seine Jacke vom Haken und knallte die Haustür hinter sich zu. Seitdem haben wir nichts von ihm gehört. Es ist das allererste Mal, dass er woanders übernachtet hat, und Sami denkt, dass unser Vater vielleicht niiieee, nie wiederkommt!

Onkel Kurt werkelt schon draußen im Garten, und Mama hat auch nicht gut geschlafen. Als ich vorhin ins Wohnzimmer kam, saß sie im Bademantel auf dem Sofa und starrte aus dem Fenster. »Morgen, Matti«, krächzte sie und blickte mich müde an. Ich bemerkte die tiefen, dunklen Schatten unter ihren Augen. »Papa ist immer noch nicht da. Ich glaube, ich rufe jetzt die Polizei.«

»Warte lieber noch. Er kommt bestimmt zurück.«

Mama seufzte. »Ach, Matti, ich verstehe das alles nicht. Es gibt doch keinen Grund, einfach so ohne ein Wort davonzulaufen!«

»Ähm … Eigentlich doch. Es gibt einen.«

Sie runzelte die Stirn und sah mich fragend an.

»Erinnerst du dich daran, wie ich damals diese scheußliche Rassel zertreten habe, als Sami noch ein Baby war?«

»Ja, aber was hat das mit Papa zu tun?«

Ich atmete tief durch. »Papa ist sicher sauer, weil er wegen mir seinen Job verloren hat. Es ging leider nicht anders, das war ein Opfer für die Allgemeinheit! So wie Samis Rassel.«

Mama blickte mich mitfühlend an und streichelte meine Wange. »Matti, was redest du denn da? Wieso sollte Papa seinen Job verlieren? Und wieso wegen dir? Mach dir keine Sorgen.«

Ich erzählte ihr, was ich getan hatte. Und je länger ich redete, desto blasser wurde Mama.

»Bist du verrückt geworden?«, keuchte sie. »Das war sein Traumjob, das, was er schon immer machen wollte!«

»Aber du hast doch gesagt, dass man zum Wohl der anderen manchmal auch verzichten muss!«

»Selber, Matti, selber!«, blaffte Mama. »Man kann nicht einfach so darüber bestimmen, dass andere verzichten müssen. Da hast du leider etwas falsch verstanden!«

Mein Magen meldete, dass Onkel Kurts Theorie mit dem schlechten Gewissen leider stimmte.

»O Gott!«, rief Mama. »Mein Sohn ist kriminell!«

»Muss ich ins Gefängnis?«

»Nein, aber vielleicht stecken wir dich zur Strafe in ein Kohlebergwerk!«, knurrte sie. »Da musst du tief unten in der Erde die Kohlenwagen schieben und so lange schuften, bis du das Geld verdient hast, das Papa wegen dir verliert!«

»Kohle ist schlecht für die Umwelt«, erwiderte ich. »Lasst mich lieber Windräder bauen.«

»Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für deine ewige Besserwisserei!«, schimpfte Mama. »Wie konntest du so etwas nur tun? Du bist doch kein kleines Kind mehr!«

»Für zwölf bin ich sogar ziemlich groß«, erinnerte ich sie. Seit wir wieder in Deutschland wohnen, bin ich nämlich ganz schön in die Höhe geschossen.

»Du bist fast dreizehn, Matti! Und mit fast dreizehn denkt man nach, bevor man etwas tut.«

»Hab ich ja. Sehr gründlich sogar.«

Ich erklärte es ihr, aber Mama schien nicht zu begreifen, wie wichtig Papas Opfer war. Speziell für Samis Glück.

»Wieso für Samis Glück?«, fragte sie, was mich echt wunderte. Denn Samis Unglück dauert nun wirklich schon sehr lange. Eigentlich ist es vollkommen unmöglich, nichts davon zu merken. Es begann genau an dem Tag, als wir Finnland verließen. Vor fast einem Jahr.

2

Die Wolkenfetzen, die draußen am Fenster vorbeihuschten, sahen wie zerrupfte Zuckerwatte aus. Sami wand sich unter seinem Sitzgurt wie ein gefangenes wildes Tier und brüllte das ganze Flugzeug zusammen.

Mama schloss die Augen, weil sie die bösen Blicke der Fluggäste nicht mehr ertrug. Und Papa, der auf der anderen Seite des Mittelgangs saß, starrte an die Decke und tat, als würde er uns gar nicht kennen. Darin ist er wirklich gut.

Ich sah, wie die beiden Stewardessen, die sich am Ende des Ganges gerade auf ihren Sitzen festschnallten, ihre Köpfe zusammensteckten und möglichst unauffällig mit dem Kinn in Samis Richtung deuteten. Seit einer Minute leuchteten über uns die Anschnallzeichen auf, weil wir in heftige Turbulenzen geraten waren.

Die heftigste Turbulenz saß direkt neben mir.

»Ich will zurück nach Finnland!«, schrie Sami. »Ich will zu Onkel Jussi!«

Onkel Jussi ist Samis großes Vorbild. Er ist der finnischste Finne, den wir kennen, und Sami will später einmal ganz genauso werden wie er. Mama schlug die Augen wieder auf und hielt meinem kleinen Bruder einfach den Mund zu. »Gib endlich Ruhe! Wir fliegen zurück nach Deutschland, und ich habe dir schon tausendmal erklärt, warum!«

Vor ein paar Tagen hatten wir erfahren, dass Tante Eva gestorben war, die Frau von Mamas Bruder. Und Mama wollte ihm beistehen und hatte Papa deswegen überredet, nach Deutschland zurückzuziehen. Zu Onkel Kurt. Allerdings hatte sie dummerweise vergessen, uns zu fragen, ob wir einverstanden waren.

Mir machte es in diesem Fall nichts aus, weil ich mich auf Deutschland freute. Aber irgendwie konnte ich Sami echt verstehen, denn Mama vergisst leider ziemlich oft zu fragen, ob man einverstanden ist. Oder sie vergisst die Antwort abzuwarten. Wenn sie zum Beispiel einen Lampenladen sieht, fragt sie zwar: »Ach, wollen wir da mal reingehen?« Aber ehe man nein sagen kann, ist sie schon drin, weil sie nämlich einen Lampentick hat und grundsätzlich in jeden Lampenladen geht.

Sami war kein bisschen damit einverstanden, wieder in Deutschland zu wohnen, was Mama deutlich daran merkte, dass er sie in ihren Finger biss. Aber zum Glück ohne Blut.

»Au, verdammt!« Sie zog ihre Hand weg, und Sami brüllte weiter.

Im nächsten Moment sackte die Maschine plötzlich ab und ditschte ein paarmal hintereinander über die Wolkendecke wie ein flacher Kieselstein über die spiegelglatte Wasseroberfläche eines finnischen Sees.

Ein hundertfaches Stöhnen war zu hören, dann wurde es mucksmäuschenstill in der Kabine. Abgesehen von Sami natürlich.

»Ich will zu Aimo!«, brüllte er.

Aimo war ein Jahr älter als Sami und ging schon in die zweite Klasse. Sami hatte sich total darauf gefreut, nach dem Sommer endlich eingeschult zu werden und in die Grundschule von Anttola zu gehen, genauso wie sein bester Freund.

Mama warf mir einen verzweifelten Blick zu, und ich beugte mich zu meinem kleinen Bruder rüber und zischte ihm ins Ohr: »Sei still, sonst drückt die Stewardess dahinten auf den roten Knopf. Dann geht unter deinem Sitz eine Klappe auf, und du fliegst raus.«

»Das darf die gar nicht!«

»Doch, weil du den Piloten störst. Wer den Fahrer stört, muss aussteigen. Genau wie im Bus, weißt du noch?«

Sami starrte mich entgeistert an.

Papa war früher Busfahrer gewesen, und wenn wir mit ihm im Dreiundsechziger fuhren und Sami sich mit ihm unterhalten wollte, legte unser Vater immer den Finger an die Lippen und zeigte dann auf das kleine Schild mit der Aufschrift: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen! Einmal hielt er mitten auf der Straße an, weil eine Frau pausenlos auf ihn einredete. Als Papa auf den Knopf drückte und die vordere Bustür mit einem wütenden Fauchen aufsprang, klappte die Frau erschrocken ihren Mund zu. Danach drückte er zum zweiten Mal auf seinen Knopf, die Tür schloss sich wieder, und wir fuhren ohne Fahrerstörung weiter.

»Flugzeuge sind wie Busse, nur höher«, flüsterte ich meinem kleinen Bruder ins Ohr. Und weil Sami sich mit den Aussteigregeln in Flugzeugen nicht so gut auskannte, schwieg er lieber und schlief ein paar Minuten später ein.

Papa bemerkte die plötzliche Stille und guckte wieder zu uns rüber, und Mama drückte erleichtert meinen Arm und flüsterte: »Danke, Matti.«

3

Matti ist ein finnischer Name und bedeutet Gottes Geschenk. Obwohl Mama seit meinem Geständnis ja der Meinung ist, dass die Namensforschung sich in diesem Fall geirrt haben muss, weil ich ganz offensichtlich Gottes Strafe bin.

Früher habe ich über meinen Namen eigentlich nie nachgedacht. Auch nicht über Finnland, wo mein Vater herkommt. Wahrscheinlich, weil wir elf Jahre lang nie hingefahren sind und ich das Land gar nicht kannte. Damals habe ich mich komplett deutsch gefühlt. Inzwischen hat sich das geändert. Seit wir letzten Sommer für zwei Monate in Finnland gewohnt haben, merke ich mein Finnischsein seltsamerweise ab und zu. Ich kann es in meinem Körper spüren – allerdings nicht immer an derselben Stelle. Manchmal ist es im Bauch und fühlt sich an, als hätte ich zu viel finnische Saunawurst gegessen, die mir im Magen liegt wie ein Kilo Steine. Und manchmal ist es eher so ein Ziehen in der Brust. Als befände sich mitten in meinem Herzen ein winzig kleiner Kompass, bei dem die Nadel Richtung Finnland zeigt.

Am Flughafen beschwerte Sami sich, weil Onkel Kurt uns nicht abholte. »Ich will Taxi fahren! Alles soll genau wie früher sein!«, verlangte er. »Und früher hat Onkel Kurt uns immer mit seinem Taxi abgeholt!«

»Tja, leider ist aber nicht alles so wie früher«, blaffte Mama. »Und wir fahren mit der S-Bahn, Ende der Diskussion!«

Als wir wenig später im Zug saßen, erklärte sie ihm zum millionsten Mal, wie wichtig unser Umzug sei. Dass Onkel Kurt nun ja ganz alleine in dem Haus wohnte, weil er Tante Eva nicht mehr hatte. Und dass er uns jetzt dringend bräuchte.

Samis Antwort auf Mamas Vortrag war, dass er aufstand, sich vier Reihen weiter nach vorne setzte und so tat, als würde er nicht zu uns gehören.

»Ach, Sulo«, seufzte Mama und guckte Papa an. »Ihr seid euch wirklich ähnlich, du und Sami.«

Ich stand ebenfalls auf und setzte mich auf den freien Platz neben meinem Bruder, der mit finsterer Miene aus dem Fenster blickte. Draußen war es für einen Spätsommertag ungewöhnlich trüb und dunkel, als hätte das Wetter sich perfekt auf Samis miese Laune eingestellt. Es fiel ein leichter Nieselregen, und auf der Straße neben den Schienen schlichen die Autos lustlos im Schritttempo dahin.

Ich erzählte Sami von Timo, der in Deutschland doch immer sein bester Freund gewesen war und sich bestimmt auf ihn freute, so wie Turo sich auf mich freute.

»Der Timo ist nicht mehr mein bester Freund. Ich hab ganz vergessen, wie der aussieht«, erklärte mir Sami. Anscheinend waren die zwei Monate in Finnland ihm vorgekommen wie zwei Jahre. Vielleicht vergeht für Sami die Zeit ja schneller als für mich. Er konnte sogar schon ein bisschen Finnisch und hatte sich problemlos mit den Nachbarskindern verständigt. Keine Ahnung, wie er das macht. Sami ist manchmal wie ein Wunder.

An der nächsten Station stieg eine freundlich aussehende alte Frau ein und setzte sich uns gegenüber. Ihr rot geschminkter Mund lächelte, und unter ihrer schräg sitzenden Franzosenmütze wucherten wilde, graue Locken hervor.

Ich merkte, dass sie mich die ganze Zeit so seltsam anguckte und dabei lächelte, und als ich zurücklächelte, sah ich, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.

Mir wurde komisch.

Ich hatte das unangenehme Gefühl, von einer Welle aus Mitleid und Liebe überrollt zu werden. Dabei kannten wir uns doch gar nicht!

»Gefällt es dir denn bei uns, mein Junge?«, fragte sie und sprach dabei interessanterweise unnötig laut und langsam, als wäre ich schwerhörig.

»Bei uns? Wieso denn bei uns?«

»Hier bei uns in Deutschland.«

»Oh, danke, hier bei uns in Deutschland gefällt es mir sehr gut. Wir sind gerade angekommen.«

Die alte Frau hob überrascht eine Augenbraue. »Dafür sprichst du aber schon ganz ausgezeichnet Deutsch«, lobte sie mich. »Kommst du aus Syrien?«

»Nein, aus Finnland.«

Ich werde im Sommer immer sehr schnell braun, genau wie Mama. Sami dagegen ist wie Papa. Beide sind blass und hellblond und kriegen sehr leicht einen Sonnenbrand.

»Dass ich so braun bin, liegt an der finnischen Sonne«, erklärte ich ihr. »Und dass ich so gut Deutsch spreche, liegt daran, dass ich Deutscher bin.«

Die alte Frau schüttelte ungläubig den Kopf. »Dieser Junge da ist Deutscher«, sagte sie und zeigte auf Samis schulterlanges, blondes Haar.

»Das ist mein kleiner Bruder.« Ich stieß Sami mit dem Ellbogen an. »Na los, sag der Frau, dass du mein Bruder bist.«

Aber Sami starrte einfach weiter aus dem Fenster.

Die alte Frau hob ihren Zeigefinger und sagte: »Na, na, na, nicht flunkern!«

»SAMI, DU SAGST JETZT SOFORT, DASS DU MEIN BRUDER BIST

»Nö, sag ich nicht!«

Die Frau runzelte die Stirn. »Sami? Ist das nicht ein türkischer Name?«

»Nö, ich bin Finne, und hier bei uns in Deutschland gefällt’s mir überhaupt nicht – ich will sofort zurück. Perkele!«, rief mein mies gelaunter finnischer Bruder so laut, dass die alte Frau zusammenzuckte. »Minä olen suomalainen!« (»Verdammt, ich bin ein Finne!«)

Und ein paar Sitzreihen hinter uns fing Papa an zu lachen und brüllte mit donnerlauter Stimme: »Pitää paikkansa!« (»Das stimmt!«)

Über die Frau in der S-Bahn habe ich später noch viel nachgedacht. Anscheinend reicht es, dass meine Haut dunkler ist als sonst, und schon bin ich kein Deutscher mehr. Und was ich seltsam finde: Wenn jemand mich so komisch anguckt und wissen will, wo ich herkomme, fühle ich mich plötzlich ausländisch. Wie ein Finne, der nicht so ganz dazugehört. Ich muss Papa unbedingt mal fragen, ob es ihm damals auch so ging, als er nach Deutschland kam.

4