Über das Buch:
Wollten Sie schon immer mal ein paar Worte mit Joseph, dem Zimmermann aus Nazareth, wechseln? Oder mit Lazarus sprechen, den Jesus auferweckte? Haben Sie sich gefragt, was wohl in der Tochter des Jairus vor sich ging oder was die Samariterin bewegte? Was dachte der Bräutigam von Kana, als Jesus seine Hochzeit rettete? Und wie mag es wohl dem Soldaten vor dem leeren Grab ergangen sein? Eckart zur Nieden stellt uns dreißig Persönlichkeiten aus den Evangelien vor, indem er mit ihnen ins Gespräch kommt. Jedes Interview wird abgerundet durch einen geistlichen Impuls und ein Gedicht aus der Feder des bekannten Buch- und Hörspielautors.

Über die Autorin:
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.

8. Der Gelähmte

Eines Tages brachten einige Männer auf einer Trage einen Gelähmten. Sie wollten ihn ins Haus zu Jesus bringen. Aber es herrschte ein solches Gedränge, dass sie nicht hineinkamen. Da stiegen sie auf das Dach, deckten einige Ziegel ab und ließen den Gelähmten mit seiner Trage in den Raum hinunter, direkt vor Jesus. Als der ihren Glauben sah, sagte er zu dem Kranken: „Mein Freund, deine Sünden sind dir vergeben.“ Da regten sich die Schriftgelehrten und Pharisäer auf: „Wer ist das, dass er solche Gotteslästerung ausspricht? Sünden vergeben kann nur Gott!“

Jesus wusste, was sie dachten, und sagte: „Warum denkt ihr so? Was ist leichter – zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: Stehe auf und geh umher! Ihr sollt wissen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.“ Er wandte sich zu dem Gelähmten und sagte: „Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause!“ Sofort stand der Mann auf, nahm vor den Augen aller seine Trage und ging. Dabei lobte er Gott. Alle waren außer sich vor Staunen, priesen Gott und sagten: „Wir haben heute unglaubliche Dinge erlebt.“

Lukas 5,18–26

Im Gespräch

Gratulation! Ich freue mich mit dir!

Weswegen? Wegen der Heilung oder der Sündenvergebung?

Na ja, irgendwie beides.

Danke!

Und ich gratuliere dir auch, dass du solche Freunde hast. Hilfsbereit, einfallsreich und zielstrebig.

Ehrlich gesagt, mir war’s etwas mulmig zumute, als die mich da die Außentreppe hoch aufs Dach trugen und dann anfingen, das Flachdach kaputt zu machen. Was würde der Hausbesitzer sagen? Und wenn nun alle auf diese Weise nahe an Jesus herankommen wollten – das gäbe eine Schlägerei. Meine Hoffnung auf schnelle und einfache Hilfe zerbröselte wie die Lehmbrocken zwischen den Dachbalken. Und dann schwebte ich da runter – immer in Sorge, ob sie die vier Stricke auch gleich schnell nachlassen, damit ich nicht von der Trage rutsche! Und unter mir sah ich lauter verblüffte Gesichter, die sich schnell abwandten, als ihnen der Staub entgegenrieselte.

Sie mussten ja auch Platz machen, damit du vor Jesus landen konntest.

Allgemeines Gedränge, allgemeiner Ärger – nur Jesus hat mich freundlich angesehen. Und als ich angekommen war, hat er nach oben geblickt, wo am Rand des Loches vier Köpfe erschienen. Ich glaube, er hat auch sie angelächelt, soweit ich das von unten sehen konnte.

Ihren Glauben hat Jesus gelobt und – wenn man so will – belohnt. Nicht deinen.

Ist es nicht großartig, wenn man solche Freunde hat, die für einen glauben?

Aber du selbst hast auch geglaubt, oder?

Dass er mich gesund machen kann, ja. Aber an Sündenvergebung habe ich – ehrlich gesagt – gar nicht gedacht.

Jesus weiß ja immer, was in den Menschen vorgeht. Also wird er auch gewusst haben, dass die Freunde dich nicht brachten, damit deine Sünden vergeben werden. Er sollte dich heilen.

Sicher. Ich weiß nicht, ob er deutlich machen wollte, dass meine Krankheit von meiner Sünde kam. Dass also die Sünde erst vergeben sein musste, ehe ich gesund werden konnte.

Glaube ich nicht. Den Zusammenhang hat Jesus bei keiner Krankenheilung so hergestellt. Ich vermute eher, dass er die Gelegenheit genutzt hat, den Schriftgelehrten und Pharisäern seine Vollmacht klarzumachen. Denn der Beweis war ja nun wirklich überzeugend.

Was auch immer seine Absicht war – jedenfalls hat er mich gesund gemacht, an Leib und Seele.

Aber im ersten Moment hast du sicher einen Schrecken gekriegt, als er dich noch nicht geheilt, sondern dir die Vergebung zugesichert hat.

Ja, schon. Aber so genau weiß ich nicht mehr, was ich dachte. Ich war total gebannt von seiner Persönlichkeit. Wie er so sicher vor all den gelehrten Herren stand. Und wie er mich mit liebevollen Augen ansah … Wie gelassen er annahm, dass ich wirklich sofort aufspringen kann, wenn er nur einen Befehl gibt.

Zu sagen – nur zu sagen – „dir sind deine Sünden vergeben“ ist leichter als zu sagen: „sei gesund!“ Denn das mit der Gesundung kann jeder kontrollieren, die Vergebung nicht. Aber es wirklich zu tun, das ist etwas anderes. Da braucht es für das Auslöschen der Schuld mehr Vollmacht als für eine Wunderheilung.

Was du dir alles überlegst! Das ist mir zu kompliziert. Ich freue mich, dass er beides kann. Und dass er es an mir bewiesen hat.

Ein Gedanke

Es lohnt sich, der Frage weiter nachzugehen. Der Frage von Jesus: „Was ist leichter – zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: stehe auf und gehe umher!“

Sagen kann man ja vieles. Ob das Gesagte richtig ist, sieht man an den Auswirkungen. Die Auswirkungen des Befehls: Stehe auf und gehe umher! können alle Anwesenden sehen. Ob die Sünden auf Jesu Wort hin vergeben sind, kann kein Mensch kontrollieren. Also wenn Jesus das Schwerere kann – heilen –, dann kann er auch das Leichtere, nämlich Sünden vergeben.

Das ist die Logik der Menschen, und Jesus nutzt sie, um zu belegen, dass er Sünden vergeben kann. Aber in Wirklichkeit müsste die Frage, was schwerer ist, anders beantwortet werden: Sünden zu vergeben ist ein größeres Wunder, als einen Kranken gesund zu machen. Vergeben kann nur Gott, wie seine Widersacher ja selbst sagen. Und dass Jesus es auch kann, zeigt, dass er in Gottes Auftrag handelt, ja, dass in ihm Gott selbst unter ihnen ist.

Dass der Gelähmte geheilt wird, ist nicht der Beweis, dass Jesus auch Sünden vergeben kann, auch wenn die Leute es so verstehen. Es ist allenfalls ein Hinweis darauf, dass er noch Größeres tut. Er schenkt Heilung, aber er schenkt auch das Heil. Er lässt einen Gelähmten gesund nach Hause gehen, aber er lässt auch einen Sünder ins Vaterhaus gehen.

Stellen wir also nicht nur die Frage, was schwieriger ist! Stellen wir auch die Frage, was für uns und für alle Menschen das Wichtigere ist! Die Antwort: Dass unsere Sünde vergeben wird, dass unser Leben vor Gott in Ordnung kommt, ist viel bedeutender als Gottes Hilfe in den äußeren Problemen des irdischen Lebens.

Anscheinend wollte Jesus das auch deutlich machen. Sicher, der Gelähmte tat ihm leid, und er wollte ihn heilen. Aber er nutzte die Gelegenheit, klarzumachen, was für den Kranken und für alle erstrangig sein muss.

Da staunen die Pharisäer und all die Neugierigen, als der Gelähmte plötzlich aufsteht und fröhlich davongeht. Da staunen wohl auch die Freunde oben auf dem Dach. Ob auch jemand gestaunt hat über das größere Wunder, dass ein Mensch, dem vorher die ewige Verdammnis gedroht hat, nun unter Gottes Ja steht?

Man sieht die Wirkung nicht unbedingt, wenn Jesus Vergebung zusagt. Darum brauchen viele Menschen erst ein sichtbares Zeichen für seine Macht, ehe sie ihm glauben. Manchmal gibt es das, aber er sagt auch: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Wir brauchen kein sichtbares Wunder. Dass Jesus uns seine Vergebung zusagt, seine Liebe, sein Erbarmen, das ist das größte Wunder. Und seine Zusage ist absolut zuverlässig.

Gut ist’s, wenn du Menschen hast,
die die Sorgen, Leid und Last,
liebend mit dir tragen,
die dir helfen, dich versteh’n
und dir treu zur Seite steh’n,
auch in dunklen Tagen.

Besser ist es, du kennst Gott,
dem du alle deine Not
im Gebet kannst klagen,
der dir Leib und Seele heilt
und das Leben mit dir teilt,
auch in dunklen Tagen.

Doch am allerbesten ist,
wenn du Jünger Jesu bist,
kannst die Schuld ihm sagen,
der die Sünde dir vergibt,
dich zurechtbringt, der dich liebt,
führt zu hellen Tagen.

9. Die Mutter des Toten von Nain

Jesus ging zu der Stadt Nain, begleitet von seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge. Als er sich der Stadt näherte, wurde gerade ein Toter herausgetragen. Der war der einzige Sohn einer Witwe gewesen. Zahlreiche Menschen aus dem Ort bildeten den Trauerzug. Als Jesus die Frau sah, packte ihn Mitleid, und er sagte zu ihr: „Weine nicht!“ Er trat näher und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen und Jesus sagte: „Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf!“ Da richtete sich der Tote auf und fing an zu sprechen. Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Da wurden alle von Ehrfurcht ergriffen, dankten Gott und meinten: „Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten. Gott hat sich seines Volkes gnädig angenommen.“ Die Nachricht von diesem Ereignis verbreitete sich in ganz Israel und den umliegenden Gebieten.

Lukas 7, 11 – 17

Im Gespräch

Schon viele haben dich beglückwünscht, Verwandte und Freunde und Nachbarn. Erlaube, dass ich mich mit einreihe und auch sage, dass ich mich mit dir freue.

Danke! Sie haben ja auch alle mit mir gelitten. Nachdem mein Mann gestorben war, nun auch der Sohn!

Wer hätte dich im Alter versorgen sollen!

Nicht nur das. Natürlich ist auch diese Frage wichtig. Aber mir war es nicht nur schwer ums Herz im Gedanken an meine wirtschaftliche Zukunft. Er ist eben mein Sohn, den ich geboren und aufgezogen habe, den ich von ganzem Herzen liebe.

Verständlich. Aber nun lebt er wieder …

Und ich bin überglücklich! Überglücklich! Das Einzige, was mich jetzt noch bekümmert, ist, dass ich nicht weiß, wie ich Jesus meinen Dank abstatten kann.

Du musst ihm nichts geben, als Gegenleistung gewissermaßen. Es gibt sowieso keine Gegenleistung, die seinem Geschenk angemessen wäre. Also freu dich einfach und danke Gott!

Das habe ich schon reichlich getan und werde es bis an mein Lebensende tun.

Jesus ist ja nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um uns zu dienen. Um zu helfen und Liebe zu verschenken. Das hat er selbst gesagt und schon vielfach bewiesen.

Dass er die Menschen lieb hat, das weiß ich. Das habe ich auch gespürt. Aber das Erstaunlichere ist, finde ich, dass er auch die Macht hat, so etwas zu tun. Einem Toten zu befehlen, er soll aufstehen! Und der hört ihn nicht nur, sondern tut es auch. Kann wieder atmen, das Herz beginnt zu schlagen, er bewegt sich, redet … Entschuldige!

Du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen. Es ist doch verständlich, dass einen so etwas zutiefst anrührt.

Dass er das kann – wollte ich sagen. Jemanden vom Tod ins Leben zurückrufen. Wann hat man je so etwas gehört! Es gibt zwar auch Leute, die meinen, mein Sohn wäre nicht richtig tot gewesen, nur ohnmächtig. Aber das ist Unsinn. Ich weiß, dass er tot war, viele Stunden. So wie ich weiß, dass er jetzt lebt.

Es ist mir aufgefallen – anderen offenbar auch –, dass Jesus vom Mitleid mit dir bewegt war, das Wunder zu tun. Nicht vom Mitleid mit deinem Sohn.

Äh – das mag sein. Was willst du damit sagen?

Vielleicht musste er mit deinem Sohn kein Mitleid haben, weil der gar nicht gelitten hat in jener anderen Welt? Nur du, die du zurückbleiben musstest, hast gelitten.

Meinst du? Ich weiß nicht … Wir wissen ja überhaupt wenig von dem, was mit uns geschieht, wenn wir diese Welt verlassen.

Da hast du recht. Einiges deutet Jesus in seinen Reden darüber an. Aber nicht viel. Eins aber ist klar: Wir werden drüben für immer in seiner Gemeinschaft leben, wenn unser diesseitiges Leben schon ihm gehört. Bei ihm wird ohne Ende solche Freude sein, wie du sie hier gerade erlebt hast. Und das Leid und die Trauer, die du vorher empfunden hattest, sind aus Gottes Welt für ewig verbannt.

Das sind große Worte, die du da sagst! Wenn das wirklich stimmt …

Sieh mal, dein Sohn lebt jetzt. Aber er wird wieder sterben, irgendwann. Das geht allen Menschen so und das hat Jesus durch sein Wunder ja nicht ausgeschlossen. Du stirbst auch, wahrscheinlich vor deinem Sohn. Ich sterbe ebenfalls. Aber es gibt in jener anderen Welt ein Leben, das nie endet. Ich glaube … ach, ich will dich mal nicht mit meinen Gedanken aufhalten. Du hast sicher viel zu tun, und andere wollen auch noch mit dir reden.

Das stimmt zwar, aber sage mir trotzdem noch, was du sagen wolltest!

Ich glaube, dass Jesus das Wunder nicht nur aus Mitleid mit dir getan hat. Es ist auch ein Zeichen. Ein Hinweis auf seine Macht. Es unterstreicht: Wenn Jesus Herr über Tod und Leben auf dieser Erde ist, dann ist er auch Herr über das ewige Leben.

Tröstliche Gedanken! Da hast du sicher recht. Danke für das Gespräch! Aber jetzt muss ich meinem Sohn etwas zu essen machen.

Ein Gedanke

Wir lesen das immer wieder in den Berichten der Evangelisten: Jesus kann mit einem einzigen Satz die Dinge grundlegend ändern. Krankheiten und andere Belastungen – und seien sie noch so beherrschend, wie etwa eine achtunddreißigjährige Krankheit – verschwinden im Nu. Menschen werden heil in einem Augenblick.

Hier geschieht aber noch etwas Besonderes. Jesus ruft einen Toten ins Leben zurück. Das hat es noch nie gegeben und da-rum verbreitet sich die Meldung auch schnell im ganzen Land. Sollte noch jemand an der Macht dieses Mannes aus Nazareth gezweifelt haben – jetzt muss ihm doch alle Kritik im Hals stecken bleiben!

Warum eigentlich? Sollte jemand, der Blinde sehend macht, Lahme gehen lässt und Aussätzige heilt, nicht auch Tote auferwecken können? Das ist ein gradueller Unterschied, aber kein grundsätzlicher. Wunder ist Wunder. Ist Gottes Macht in Jesus gegenwärtig, dann kann er alles ändern. Die Erschaffung der Welt und des Lebens ist noch viel größer. Und wenn er Großes kann, sollte er dann nicht auch das Kleinere können?

Vielleicht sträubt sich manches in uns, eine Totenauferweckung als „kleines Wunder“ zu bezeichnen. Nun, zumindest ist es kleiner als das Wunder des Lebens überhaupt. Denn da wird ja nicht neues Leben geschaffen, sondern nur das alte wieder hergestellt. Es kommt nur seltener vor als eine Geburt, deshalb erscheint es uns erstaunlicher. Aber ist nicht die Entstehung des Lebens aus winzigen Genen, in denen alle Eigenarten und Wesenszüge des Menschen codiert sind, viel erstaunlicher? Wir haben uns nur schon so daran gewöhnt.

Und da ist etwas, das noch mehr erstaunt: Nach dem biologischen Leben will der Schöpfer uns ewiges Leben schenken. Alles Leben auf dieser Erde vergeht. Auch das neu geschenkte Leben des jungen Mannes von Nain endet eines Tages wieder. Aber Gott hat ein viel größeres Geschenk für ihn und für uns alle: ewiges Leben in der Gemeinschaft mit ihm.

Wenn Jesus Wunder tat, waren es oft zugleich Zeichen. Sie sollten zeigen, dass er von Gott gesandt ist. Das Zeichen der Auferweckung eines Toten soll sicher auch seine göttliche Macht zeigen. Aber es soll auch ein Zeichen, ein Hinweis darauf sein, dass Jesus die Tür zum ewigen Leben aufstößt.

Vielleicht haben die Zeugen aus Nain das noch nicht in der ganzen Tiefe begriffen. Wir aber, die wir von Jesu Kreuzestod und seiner Auferstehung wissen, wir können begreifen, dass durch ihn dem Tod die Macht genommen wurde, und dass wir in ihm ewiges Leben haben. Ewiges Leben, das hier, in diesem Leben schon beginnt.

Ganz egal, ob’s uns gefällt:
Endlich ist das Leben,
das er uns gegeben,
hier auf dieser Welt.

In den wen’gen Jahren Zeit
gilt’s, das Ziel zu finden,
dass die Jahre münden
in die Ewigkeit.

Denn wir dürfen unsre Schuld
gern zum Kreuz hin tragen,
alles Jesus sagen,
trau’n auf seine Huld.

Wenn wir treulich mit ihm gehen
hier auf dieser Erden
und ihm folgen, werden
wir auch aufersteh’n.

Ist beendet unser Lauf,
steht Gott voll Erbarmen
da mit offnen Armen,
nimmt uns freundlich auf.

10. Der Pharisäer Simon

Ein Pharisäer lud Jesus zum Essen ein. Jesus kam und nahm am Tisch Platz. Nun lebte im Ort eine Frau, eine stadtbekannte Dirne. (…) Sie nahm ein Alabastergefäß voll Salböl, ging hin, trat von hinten an Jesus heran und weinte. Ihre Tränen fielen auf die Füße von Jesus, sie trocknete sie mit ihrem Haar, küsste die Füße und salbte sie mit dem Öl. Als der Pharisäer das sah, dachte er: „Wenn dieser Mann ein Prophet wäre, wüsste er, was das für ein Frauenzimmer ist.“ (…)

Jesus wies auf die Frau und sagte zu Simon: „Siehst du die Frau? Als ich in dein Haus kam, war kein Wasser bereitgestellt. Sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben, sie aber hat, seit ich hier bin, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. Du hast mir keine Myrrhe für mein Haar gereicht, sie aber hat meine Füße mit kostbarer Narde gesalbt. Ich kann dir sagen, woher das kommt. Ihr sind viele Sünden vergeben, das sieht man an ihrer großen Liebe. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt auch wenig.“ Und zu der Frau sagte er: „Deine Sünden sind dir vergeben.“

Lukas 7,36–50

Im Gespräch

Na, Simon, da ist dir wohl die Feststimmung vergangen?

Ist sie nicht. Denn es war ja gar keine da.

Ach! Bei so einem großartigen Gastmahl?

Denkst du, ich hätte Jesus eingeladen, weil ich ihn so hoch schätze? Oder um unsere Freundschaft zu pflegen?

Nicht?

Nein. Das war schon darum nicht möglich, weil es diese Freundschaft nicht gibt.

Ich habe das Gespräch mit ihm gesucht. Und dafür ist eine Einladung zum Essen die beste Gelegenheit. Und unverfänglich. Ich wollte ihn und seine Lehre näher kennenlernen. Wollte herauskriegen, was es ist, das ihm diese ungeheure Wirkung auf die Volksmassen verleiht.

Das kann ich dir sagen. Er macht die Blinden sehend, lässt die Lahmen gehen und vertreibt den Aussatz. So etwas zieht verständlicherweise die Menschen an. Und wenn er redet, redet er nicht trocken und theoretisch, sondern bildhaft und verständlich. Und nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern gewinnend und mit Liebe. Ermahnend oder gar drohend nur bei Leuten, die sich selbst für … ach, lassen wir das!

Hältst du zu ihm?

Ich habe nur deine Frage beantwortet. Das ist es, weshalb ihn die Leute lieben und verehren.

Lieben! Es geht im Verhältnis zum Allmächtigen nicht um Gefühle! Es geht darum, ob wir seinen Geboten folgen. Aber das scheint bei Jesus keine Rolle zu spielen.

Da irrst du dich, Simon! Gottes Gebote spielen sehr wohl eine Rolle. Nur ist das nicht alles. Wenn jemand die Gebote nicht befolgt hat – so wie diese Frau –, ist damit nicht alles aus. Es gibt Vergebung. Sünder können umkehren und neu anfangen. Du hast es doch gehört.

Ja, natürlich habe ich es gehört. Aber ich bin nicht einverstanden. Es sträubt sich alles in mir, zu akzeptieren, dass so eine verkommene Person vor Gott mit mir auf einer Stufe stehen soll. Nur durch ein einfaches Wort dieses Mannes: Dir ist vergeben! Vergeben und vergessen! Schwamm drüber! Nein, nein, so kann es nicht gehen!

Kannst du darüber urteilen? An dir hat die Frau doch nicht gesündigt. Sondern an Gott. Also kann auch nur Gott über Vergebung entscheiden.

Eben. Aber nicht Jesus.

Und wenn es nun stimmt, dass Jesus der Messias ist? Das wolltest du ihn doch letztlich fragen, nicht wahr? Ob in Jesus Gott zu uns Menschen kam.

Das bezweifle ich sehr, und dafür habe ich gute Gründe. Aber ich wollte keine Vorurteile pflegen, sondern mir selbst ein Urteil bilden. Du hast recht, dafür habe ich ihn eingeladen.

Löblich. Und zu welchem Urteil bist du gekommen?

Dreimal darfst du raten. Ist es denkbar, dass der von Gott Gesandte sich von einer Hure die Füße küssen lässt? Ist es denkbar, dass der Messias so eine Frau lobt und einen gesetzestreuen Mann wie mich öffentlich brüskiert? Nein und nochmals nein!

Ist es denkbar, dass Gott, der Allmächtige und Ewige, auch Dinge tut, die für uns kleine Menschen undenkbar sind?

Du schweifst ab ins Philosophische. Ich aber halte mich an die Heilige Schrift. Philosophie kann jeder sich hinbiegen, wie er’s braucht. Gottes Wort aber ist unwandelbar.

Schöne Worte, und auch völlig richtig. Warum bildest du dann dein Urteil nach dem, was deiner eigenen Meinung nach „denkbar“ ist, statt nach der Schrift?

Aber ich halte mich doch an die Schrift!

Zum Beispiel an die Stelle bei Jesaja, dass die Strafe auf ihm liegen soll, damit wir Frieden haben? Oder an das Wort Davids: Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist?

Ich brauche keine Vergebung!

Zumindest glaubst du das. Man merkt es.

Man merkt es? Woran?

Daran, dass du nicht liebst.

Ein Gedanke

Wem gehört unsere Sympathie, wenn wir so eine Geschichte hören?

Es gab Zeiten und Umstände – zum Beispiel vor zweitausend Jahren in der sogenannten „besseren Gesellschaft“ Israels, aber auch in späteren bürgerlichen Kreisen –, da identifizierten sich die Menschen wohl eher mit dem Pharisäer Simon. Das hat sich gewandelt. Heute sieht man die moralische Verfehlung von Prostituierten nicht so dramatisch, da stößt einen der Hochmut des Gastgebers mehr ab.

Aber Vorsicht!

Ist etwa die Schuld der Frau nicht so schlimm, weil dauernd von diesen Dingen geredet wird? Und somit in der Öffentlichkeit eine gewisse Gewöhnung eintritt und damit Toleranz? Und ist die Bemühung des Mannes, Gottes Maßstäben möglichst gerecht zu werden, nichts wert, weil nach Gottes Maßstäben im Allgemeinen nicht mehr gefragt wird?

Schuld vor Gott haben beide. Die Frau sicher größere. Aber nachdem wir auch durch Jesu Worte wissen, dass niemand aufgrund eigener Bemühungen vor Gott recht ist, sehen wir, dass auch Simon schuldig ist.








Die Schuld – wir können sie perfekt
vernebeln und verschleiern.
Wir lassen uns als ganz korrekt
und hoch moralisch feiern.
Die eig’ne Schuld ist uns tabu,
wir woll’n uns nicht besinnen.
Doch gäben wir die Fehler zu –
die Heilung könnt’ beginnen.

Die Schuld – was ist das? Wer legt fest,
was gut ist, was Versagen?
Verantwortung, wenn man uns lässt,
woll’n wir alleine tragen.
Wir tun doch nur, was jeder tut!

Wir werden erst entdecken,
dass Gott uns gnädig ist und gut,
wenn wir die Waffen strecken.