Drei Dinge im Leben, die man schwer aussprechen kann:
Es tut mir leid.
Ich brauche Hilfe.
Worcestershiresoße.
Narzissmus und narzisstischer Missbrauch sind zwei Paar Schuhe. Wer sich mit dem Thema Narzissmus auseinandersetzt, konfrontativ oder aufklärend, findet sich schnell in einem Spannungsfeld zwischen Opfern narzisstischen Missbrauchs und narzisstischen Tätern wieder.
Ich möchte niemals verharmlosen, was den Opfern narzisstischen Missbrauchs passierte und passiert. In meinem Bemühen, die ganze Breite des Themas zu erfassen, die unterschiedlichen narzisstischen Verhaltensmuster, die gelegentlich anspringen, oder die gefestigten narzisstischen Muster, die dauerhaft und zerstörerisch auf menschliche Beziehungen wirken können, wird mir von Aktivistinnen vorgehalten, Victim Blaming, Täter-Opfer-Umkehr und sogar den »Gaslicht-Effekt« zu nutzen. Das trifft mich, und es trifft nicht zu. Zumal ich selbst aktiv in der Opferhilfe engagiert bin und in der Aufklärung über toxische Führungskräfte auch wissenschaftlich arbeite. Was wiederum deren Widerstand auslöst, weil sie sich ertappt und wiedererkannt fühlen in den Veröffentlichungen, die meine Fachkollegen und ich verfassen, wenn wir über Toxic Leaders berichten. In einem Fall entanonymisierte sich sogar eine Führungskraft und attackierte die wissenschaftliche Abhandlung mit einem Klageverfahren.
Es gibt also Tretminen an beiden Fronten. Denn wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der einzelne Interessengruppen sich stark selbst legitimieren und das bekämpfen, was den Zusammenhalt der eigenen Gruppe – der Opfer und der Täter – gefährdet. Meinungen und Fakten werden gleichermaßen aus dem Weg geräumt, statt den Dialog zu suchen. In einer westlichen, demokratischen und wissenschaftlich denkenden Welt muss es jedoch möglich sein, so differenziert wie nur möglich über das komplexe Thema Narzissmus zu arbeiten, auch in Form von Anekdoten, Fallvignetten, Berichten, Abhandlungen und Büchern wie diesem, ohne von der einen oder der anderen Seite unter Beschuss zu geraten.
Allem voran stehen für mich die Aufklärung, Information und eine Kultur guter Kommunikation. Auch und besonders vor dem individuellen Leid, der Erfahrung und Wahrheit des Einzelnen. Sonst setzt sich die Spaltung fort zwischen den Lagern, wird tiefer, radikaler und degeneriert mehr und mehr zu einem Weltbild, wie ein Narzisst es sieht: aufgeteilt in zwei, die sich bekämpfen, weil sie unterschiedliche Meinungen haben, nur ihre Fakten sehen, verschiedene Rechtsansprüche geltend machen, alles einteilen in Gut und Böse, in Richtig und Falsch und in Schwarz und Weiß.
Das wirklich Böse aber liegt, wie Hannah Arendt sagte, im Banalen. Heute mehr denn je in der Verwirrung durch bewusst gestreute Halbwahrheiten und Unwahrheiten, die die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Schauen wir also genauer auf das Gewöhnliche in uns und wie wir miteinander umgehen; jede und jeder, soweit es zumutbar ist.
Um erlittene Verletzungen zu heilen, gibt es mittlerweile sehr gute Behandlungskonzepte, für Opfer narzisstischen Missbrauchs und auch für die Täter, von denen sich eine immer größere Zahl bewusst für einen korrigierenden Weg entscheidet.
Missbrauchsopfer werden leicht »getriggert«, und Narzissten reagieren »hyperallergisch«, wenn sie mit ihrer seelischen Verletzbarkeit konfrontiert werden. Es herrschen große Lagerkämpfe um Begriffe, die einer Seite zugehörig sind und der anderen zugeschrieben werden. Dabei muss uns bewusster werden, dass ein narzisstischer Täter oder ein Opfer narzisstischer Gewalt nicht synonym zu verwenden ist für stark selbstbezogene narzisstische Muster, die hin und wieder auftauchen, ohne einen deutlichen Wiederholungscharakter zu zeigen. Beide Lager müssen sehr behutsam mit ihrer Wortwahl umgehen, um nicht unfair zu sein, auch wenn sie selbst großes Unrecht erfahren haben.
Die Wissenschaft2 ist sich heute einig, dass Narzissmus kein starres Phänomen ist, sondern sich von einem »Stil« (maladaptive Akzentuierung) mit noch guter Verträglichkeit und vielen positiven Aspekten bis zu einer sehr seltenen, schweren Störung (Persönlichkeitsstörung) erstreckt und die Grenze zur Psychopathie (leicht bis schwer ausnutzend-impulsiv) überschreiten kann. Von der Norm abweichend betrifft uns alle ein narzisstisches Verhaltensmuster, das je nach Situation, eigener Not, genetischer Ausstattung und Hirnfunktion mehr oder weniger stark ausgeprägt ist.3 Wer narzisstisch ist, kann auch eher histrionisch (narz-/histriotypische Kombination bei Leuten wie mir!), paranoid, antisozial oder borderline sein. Dabei unterscheiden sich gesunde und selbstbewusste Verhaltensweisen der Selbstbehauptung von grenzüberschreitender Selbstbezogenheit, die zerstörerisch für andere ist. Am Narzissmus leiden also meist die anderen, dem Narzissten selbst geht es für gewöhnlich prima damit. Narzissmus ist sichtbar oder verdeckt, großartig (grandioser, dickhäutiger Narzissmus) oder verletzlich (vulnerabler, dünnhäutiger Narzissmus), männlich und weiblich, erfolgreich, erfolglos und gescheitert.4, 5, 6
In der populären Narzissmus-Debatte sollten wir daher sehr darauf achten, in welche Kisten wir andere Menschen packen, denn wer der Voreingenommenheit unterliegt und stigmatisiert, wird sich schwertun, eigens vorgenommene Kategorisierungen wieder aufzugeben oder zu korrigieren. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft und deren geduldiges Streben, komplexes menschliches Verhalten in Fakten aufzuschlüsseln. Bringen wir also Geduld auf, denn es gibt berechtigte Hoffnung für beide Seiten, dass Therapie hilft und es eine Zeit nach der narzisstisch-missbräuchlichen Phase gibt, in der sich Opfer und Täter neu begegnen können.
Narzissmus-Typen: Die Wissenschaft ist sich fast einig – Narzissmus gibt es als Verhaltensmuster in vielen Variationen. Mal mehr, mal weniger. Allen gemeinsam ist die Hauptmotivation, irgendwie und ständig an Anerkennung zu kommen, egal ob sie sich dafür großartig, verletzlich oder selbstaufopfernd zeigen müssen. Richtig leiden kann nur die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS), und diese ist damit die einzige Diagnose. Die NPS ist daher auch sehr selten, weil die meisten Narzissten kaum Leidensdruck spüren.
Narzissmus ist kein Schimpfwort.
Narzissmus ist eine Form, wie wir Menschen funktionieren.
Kapitel 1: Das Spiel an sich
Die Wirkmächte in unserem Inneren
Unser Körper ist eine Stressbewältigungsmaschine.
Kapitel 2: Das Spiel um Autonomie
Anna und die Nähe
Der Konflikt um Autonomie und Bindung
Mechanik der Psyche
Ein passives Leben in der Bindung
Perfide Tricks in einer Beziehung
Bindung: großartig, aber unsicher
Lösung aus der toxischen Bindung
Kapitel 3: Das Spiel um Versorgung
Christina und die Sache mit dem Pflaster
Konflikt der Versorgung oder Unabhängigkeit
Die Falle
Komplexe Traumatisierung
War Christina krank?
Das Helfersyndrom umkehren und die eigene Toleranz korrigieren
Kapitel 4: Das Spiel um Macht
Hannelore und die Ohnmacht
Schweigen und Beziehung
Kontrolle und Unterwerfung im Alltag
Erfolg mit Macht
Halb wahr ist nicht ganz gelogen
Hauptsache, die Story hört sich gut an
Macht in Unternehmen: Toxic Leaders
Schlagen Sie zurück!
Methoden gegen Macht, Kontrolle und Bestrafung
Rückeroberung der Macht
Jetzt sind Sie dran: Befreien Sie sich aus der Opferrolle!
Treten Sie für Ihre Werte ein!
Ich bin wichtig.
Kapitel 5: Das Spiel um den Selbstwert
Frida lacht sich kaputt.
Beweislast
Erfolg hängt vom Selbstwert ab.
Der Rettungsversuch des eigenen Selbstwertes
Durchschauen und verstehen
No Contact oder was?
So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus
Kapitel 6: Das Spiel um Identität
Emma und die Lebenslüge
Die Identitätskrise
Wer bin ich und wenn ja, welche meiner Freunde?
Gestalten Sie Ihre eigene Identität!
Wahren Sie Grenzen!
Fühlen Sie sich klein!
Wer zuletzt lacht – Exit-Strategie!
Kapitel 7: Das Spiel um Schuld und Scham
Baseline
Kontrollverlust und Gedächtnis
Verzerrungen, Verdrehungen und Verunsicherungen
Emotionale Erpressung
Scham und Schweigen
Scham, Verlustangst und Veränderung
Schuldprojektion, Sünde und das schlechte Gewissen
So lösen Narzissten Schuld- und Schamgefühle aus – wahre Geschichten aus meiner Praxis
Rosenkrieg oder doppeltes Spiel?
Unglaublich, aber leider wahr
Narzissmus beschämt, Schamwut befreit – befreien Sie sich aus dem Schuld-Scham-Sumpf.
Kapitel 8: Das Spiel um Empathie
Dominik und die Empathie-Lüge
Die narzisstische Not
Selbsterkenntnis und die Reise nach innen
Die Triangulierung als empathische Geheimwaffe
Interaktionsproblem
Aus? Und wieder Einsteigen
Kapitel 9: Das Spiel um Liebe und Sexualität
Trieb oder Ziel?
Sinnlichkeit und Sex-Appeal
Domenika und ihr Loverboy
Schutz vor dem Schrecklichen
Vorsicht bei der Partnerwahl
Moralapostel
Sex ist das eine – aber wie steht es um die Liebe?
Danksagung
Anmerkungen und Quellenverzeichnis
»Bevor ich ihn kennengelernt habe, war ich eine starke, selbstständige und temperamentvolle Frau. Er hat mich von sich abhängig gemacht. Am Ende hatte er mich so weit, dass ich überzeugt davon war, ich sei ein Nichts ohne ihn.«
»Mit viel Liebe hätte ich ihn vielleicht heilen können. Aber meine Liebe war schlicht nie genug.«
»Du bist für dich, dein Glück, deine Seele verantwortlich. Nicht dein Kerl. Nicht dein Therapeut. Niemand.«
»Das war keine Liebe, sondern Abhängigkeit. Ich war süchtig. Hatte Angst, alles zu verlieren. Wollte das alles wiederhaben.«
»Der Kerl tat mir leid. Ich dachte, ihm helfen zu können, zu heilen.«
»Die Abhängigkeit kommt durch Manipulation. Du willst das Tolle wiederhaben, das nur noch dann passiert, wenn du dich vollkommen unterwirfst.«
»Der große Irrtum ist, dass Narzissten nur sehr selbstbezogene Menschen seien. Die meisten Narzissten sind freundlich, geben sich uneigennützig, gern in hilfsbereiten Berufen. Und teilen dennoch aus. Das kapiert niemand. Ein Narzisst: Da stecken zwei drin!«
»Das Problem ist nicht der Narzissmus, sondern die Misshandlung!«
»Bei Misshandlung nichts überstürzen. Das macht Angst und Stress. Angst lähmt. Cool bleiben und aussteigen.«
»Und an sich arbeiten. Nicht an der eingebildeten Schuld. Sondern am Selbstwert. Am Respekt vor dir selbst!«
»Narzissten haben sich selbst verloren, sie können sich selbst nicht lieben.«
»Narzisstisches Verhalten ist eine Abwehrgeste, ausgelöst durch Unsicherheit, Bedrängnis oder Beschämung. Leicht reagieren wir extrem gekränkt, beleidigt oder wütend, wenn wir in unserem Selbstwert bedroht werden. Logisch, wer nicht?«
»Der Narzissmus anderer ist oft so anziehend, weil er verspricht, unsere eigenen inneren Löcher zu deckeln. Es lohnt, sich selbst zu reflektieren: Warum sehne ich mich nach jemandem, der mir die Welt zeigt, mich führt, der mir versichert, dass ich besonders und besser bin als andere? Eine Illusion, unsere eigene!«1
Seit dem Erfolg meines Buches Gestatten, ich bin ein Arschloch plagte mich eine gewisse Sorge, dass Carlota und ich als Paar die dort beschriebene narzisstische Art, miteinander zu leben, beibehalten müssten. Die Lesenden erwarteten es von uns. Noch verdrehter, wir dachten, dass sie es von uns erwarteten. Und verhielten uns dementsprechend. Ständig kokettierten wir damit, wer narzisstischer wäre. Narzisst. Klang wie ein Schimpfwort. Immer noch. Dabei wollte ich mit Gestatten, … doch eigentlich die Schattenseiten dieser Charaktereigenschaft beleuchten.
Trotzdem spielten wir das Spiel weiter, wer toller sei. Kaum entdeckte Carlota etwas großartig Narzisstisches an mir, benannte sie es, und ich fühlte mich immer wieder ertappt. Als Reaktion provozierte ich gewisse Dinge, um umgekehrt sie als verkappte Narzisstin zu überführen. Sie konterte: Das habe sie alles von mir gelernt, sie treffe keine Schuld, und sie kümmere sich nun um sich selbst, statt sich ihren Kopf über mich zu zerbrechen. Es gehe ihr gut damit.
Da war es wieder. Sie stahl sich aus der Verantwortung, wies sämtliche Schuld von sich, schob alles mir in die Schuhe. Immerhin konnten wir darüber lachen und die Anspannung ableiten, die dabei entstand. So lief unser Spiel, und irgendwie machte es Spaß.
Zu meinem Glück kam 2020 die Pandemie, und der Ehe-Vertiefungskurs bei Johannes, unserem Paartherapeuten, fiel aus. Bis auf Weiteres keine Termine mehr. Das tat mir irgendwie gut, obschon ich wusste, dass noch mal in so eine Nabelschau zu gehen, sinnvoll gewesen wäre, um endlich abzugleichen, wie ich dachte zu wirken und wie ich wirklich wirkte.
Stattdessen betrachtete ich wie gewohnt nur die Menschen um mich herum. Meine Klienten. Meine Kollegen. Auch meine Frau. Pardon, die Frau an meiner Seite. Ich meine es nicht so besitzergreifend, wie es klingt. Es ist die Sprache, ich bin frei von Schuld! In jedem von uns gibt es dieses Bedürfnis nach Bindung an einen anderen Menschen. Narzissten missverstehen das. Sie nehmen sich Menschen und machen sie sich zu eigen, Menschen gehen in ihren Besitz über. So stillen sie ihre Sehnsucht nach Anerkennung. Allerdings verwechseln sie das Objekt ihrer Bindungssehnsucht mit etwas Verfügbarem. Narzissten merken nicht, dass Menschen in ihrem Umfeld lebendig und eigenständig sind oder zumindest sein wollen oder können. Das schafft Probleme.
Wie im Fall von Anna.
Anna war jung, hübsch und fand an einem regnerischen Herbsttag zu mir in die Praxis. Sie wirkte ratlos und verwirrt, hängte ihren Mantel zunächst in der Garderobe auf, um ihn dann doch mit ins Sprechzimmer zu nehmen, wo sie ihn über ihren Knien ausbreitete, um an den Ärmeln herumzuspielen. Sie sprach leise und zögerlich. Ihr Blick huschte durch den Raum oder klebte an ihren Händen, die auf ihrem Schoß gefaltet auf ihrem Mantel lagen.
Es war offensichtlich, dass sie eine Schutzmauer aus Angst und Scham um sich errichtet hatte, durch die ich nicht sofort drang. Ich gab mich vertrauensvoll, empathisch und sagte, sie könne sich hier geschützt und willkommen fühlen.
Es dauerte, doch schließlich fing sie an, von ihrer Beziehung zu erzählen, deren desaströser Verlauf sie zu mir geführt hatte.
»Es fing toll an, mein neuer Freund Andreas hofierte mich regelrecht, holte mich mit einem geliehenen Sportwagen von zu Hause ab, zum Champagner- und Kaviarfrühstück. In einer überfüllten Pizzeria stellte er sich plötzlich auf seinen Stuhl und verkündete laut: ›Schaut her, schaut euch diese tolle Frau an! Das ist Anna, meine Freundin – ist sie nicht großartig!?‹« Ein kleines Lächeln huschte über Annas Gesicht, als sie daran zurückdachte. Rasch verschwand es wieder.
Nach einer Weile habe Andreas begonnen, auch ihre Mutter zu umgarnen. Er umwarb sie mit Blumen und Komplimenten, dachte sich ständig etwas Neues aus, gab den perfekten Schwiegersohn.
»Er war wie eine Sprungfeder, die immer in Bewegung ist und nicht ruhig sein kann.«
Irgendwann zogen sie zusammen, renovierten die neue gemeinsame Wohnung. Er ließ ihr freie Hand bei der Gestaltung, es wurde hübsch. Alles war perfekt.
»Aber das blieb es nicht«, stellte ich fest, als das Leuchten, mit dem Anna von dieser Zeit erzählt hatte, aus ihrem Gesicht verschwand und sie mehrmals tief seufzte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Blieb es nicht.«
Andreas stellte Anna seinen Kumpels vor, präsentierte seine hübsche Freundin und nahm sie mit zu den gemeinsamen Aktivitäten.
»Wir waren so viel unterwegs, dass keine Zeit für meine eigenen Freunde blieb. Aber … ich wollte Andreas nah sein und meine Zeit mit ihm verbringen. Also vernachlässigte ich meine Freunde. Hing nur mit seinen herum.« Sie knibbelte am Saum ihres Mantels. »Irgendwann hab ich mich doch mal wieder selbst verabredet. Andreas kannte ihn, einen ziemlich attraktiven Kommilitonen, mit dem ich früher manchmal was unternommen habe. Wir hatten uns lang nicht gesehen, und ich hab mich abends allein mit ihm getroffen, um mal wieder zu quatschen. Als ich nach Hause kam und Andreas davon erzählte, brüllte er mich an und zerschlug vor lauter Wut einen Stuhl. Ich … ich hab mich so erschrocken, dass ich mich tatsächlich mit keinem anderen Mann mehr getroffen habe, obwohl das Treffen ja völlig harmlos war. Auch mit meinen Freundinnen hab ich mich nicht mehr verabredet, er mochte die nicht so, also haben wir uns nur mit Leuten aus Andreas’ Clique getroffen, und immer gemeinsam. Mir ist das zuerst gar nicht so aufgefallen, aber … na ja. Zu vielen von meinen eigenen Freunden habe ich dadurch den Kontakt verloren.«
»Was ist mit Ihren Hobbys?«, fragte ich, eine Vermutung im Hinterkopf, die sich sogleich bestätigte.
»Meine Freizeit verbrachte ich mit den Aktivitäten der Clique, eigene Hobbys vernachlässigte ich.« Anna zuckte mit den Schultern, als wolle sie sich entschuldigen. »Ich wollte vieles in Ruhe machen, musste mich aber immer beeilen, weil Andreas so viel vorhatte. Ständig gab es neue Termine, Pläne, wie der Abend laufen sollte. Anfangs hab ich auch manchmal etwas vorgeschlagen, aber jedes Mal hatte Andreas dann schon eine andere Idee. ›Lass mich mal machen‹ – das war einer seiner Lieblingssätze. Das ging die ganze Zeit so. Ich hatte total Sozialstress und wollte und konnte mir keine Gedanken zu mir selbst machen. Oder zu dem, was ich gern gemacht hätte.« Wieder ein Schulterzucken und Geknibbel am Mantel. »Das merkte ich aber erst später.« Sie erzählte von einer Bronchitis, die sie gehabt habe, mit Schmerzen in der Lunge, weshalb sie eine Abendunternehmung absagte. »Andreas wollte unbedingt, dass ich mitkomme, aber ich konnte einfach nicht und bat ihn, bei mir zu bleiben, damit wir den Abend für uns hätten. Er war total sauer und ist allein gegangen. Und ich hatte ein megaschlechtes Gewissen.«
»Weil Sie das Gefühl hatten, ihn zu enttäuschen?«
Anna nickte. »Ja. Ihm sind die Verabredungen mit seinen Freunden absolut wichtig. Und auch, dass ich mitkam. Das hatte ich ihm an dem Tag aber ruiniert.«
»Sie waren krank.«
Anna schwieg.
In einer kommenden Sitzung streiften wir ihr Sexualleben, und das Muster, das sich bereits deutlich abgezeichnet hatte, setzte sich fort – um ihrem Freund zu gefallen und ihn bei Laune zu halten, verleugnete Anna eigene Bedürfnisse.
»Andreas hatte so bestimmte sexuelle Wünsche«, formulierte sie es. »Na ja, ich steh da heute noch nicht drauf. Aber für ihn und für die Beziehung hab ich es getan, obwohl ich gern was anderes probiert hätte.« Sie seufzte. »Einmal hat er nicht so gekonnt, wie er wollte, da habe ich kurz gelacht. Das hat ihn sehr beschämt, und er war total wütend auf mich. Ich hab versucht, ihn zu trösten, aber er schob mich weg.«
Ich wollte wissen, was sie mit »wegschieben« meinte, und fragte, zugegebenermaßen recht suggestiv: »Hatten Sie Angst vor Andreas?«
Anna wirkte nachdenklich. Zögerte.
»Wissen Sie, Anna«, sagte ich, nachdem sie zu keiner Antwort ansetzte. »Männer haben große Angst davor, von Frauen ausgelacht zu werden.« Ich ließ eine kleine Pause. »Frauen hingegen fürchten sich davor, von Männern totgeschlagen zu werden.«
Annas Blick kehrte sich nach innen, und es dauerte eine Weile, bis sie murmelnd das Thema wechselte. »Irgendwann fing er an, darauf zu bestehen, dass ich sexy Kleider trug, die er für mich aussuchte. Komische goldene Röcke und so was. Ich hätte so eine tolle Figur und müsse das zeigen, alle Frauen wären neidisch auf mich. Also trug ich Miniröcke und enge Oberteile, in denen ich mich unwohl fühlte, und war selbst neidisch auf die anderen Frauen, die Jeans anhatten. Am Ende wusste ich gar nicht mehr, was mein eigener Stil war.« Annas Stimme war nur noch ein schamvolles Flüstern. Und als dürfe sie das Gesagte nicht so stehen lassen, weil es ihren Freund in einem fragwürdigen Licht zeigte, fügte sie hinzu: »Aber bei der Vorbereitung auf meine Abschlussprüfung war Andreas eine riesige Hilfe! Er war richtig gut und trieb mich voran, am Lernstoff zu bleiben und mir einen Job zu suchen.«
Unvermittelt brach sie in Tränen aus und schluchzte. Ich reichte ihr eine Box mit Papiertaschentüchern und ließ sie ein paar Minuten einfach weinen.
Bei den folgenden Terminen erzählte Anna, wie ihr Leben an Andreas’ Seite sich entwickelte. Sie fand einen Job in einer Unternehmensberatung, mit starrer Hierarchie und vielen, vielen selbstbewussten Männern, die rasch erkannten, wie leicht sich Anna lenken ließ. Trotzdem lebte sie für den Job, verbrachte die Freizeit mit Andreas’ Freunden und zahlreichen Partys. Die Tage folgten festen Ritualen, die er vorgab. Trafen sie sich mit anderen, bestimmte er das Gespräch.
»Ich habe nie gefühlt, was ich will«, resümierte Anna. »Was ich bin. Wozu ich Lust habe. Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich aus der Beziehung rauswollte. Wenn ich etwas falsch machte, war er gleich wütend. Außerdem gab er mir ständig zu verstehen, dass er sich Frauen geradezu aussuchen könne, wenn es mit uns nicht funktioniere. Da hatte ich totale Angst, ihn zu verlieren. War völlig betäubt. Ferngesteuert. Es war nicht mein Leben.«
Die Gefühle, die Anna beschrieb, sind typisch für Beteiligte an narzisstischen Beziehungen. Der Narzisst übernimmt die Regie, und die Partnerin (oder umgekehrt) übergibt sich dieser Steuerung aus dem Bedürfnis heraus, die Nähe des Partners nicht zu riskieren. Angst, in diesem Falle Angst vor Abwendung, ist eine starke Triebfeder, die eine eigenständige Befreiung dauerhaft blockieren kann.
Anna hatte Glück. Ihr kam der Zufall zu Hilfe. Bei einem Musicalbesuch mit einer Freundin aus Andreas’ Clique lernte sie einen Schlagzeuger kennen und war sofort »blitzverliebt«, wie sie es nannte. Als Andreas kurze Zeit später für zwei Wochen beruflich unterwegs war und sie nicht mehr täglich mit Ritualen und vorgegebenen Verabredungen an sich binden konnte, kehrte das Leben in Anna zurück, und sie traf sich mit dem Schlagzeuger.
»Als Andreas zurückkam, hab ich ihm das sofort gesagt. Ehrlichkeit ist wichtig für mich«, sagte sie. »Ich hätte ihn nie anlügen können.«
Zähneknirschend erlaubte Andreas seiner Freundin ein weiteres Treffen mit dem netten Trommler. »Ich sollte ihm aber nicht zeigen, was ich für den anderen trug, und schnell verschwinden.«
»Was zogen Sie an?«
»Was ich wollte, keine Ahnung. Vielleicht war es sogar eine Jeans.« Anna lachte und fuhr fort: »Ich verbrachte einen Abend mit dem Schlagzeuger, der mich auf einen Zitronentee zu sich einlud, was dazu führte … na ja, dass ich bei ihm landete und wir Sex hatten.«
Um fünf Uhr in der Früh klingelte und hämmerte es an der Wohnungstür Sturm. Draußen stand Andreas, der Anna mit Schimpfwörtern überhäufte, kaum dass sie geöffnet hatte.
»Du kommst sofort nach Hause«, brüllte er als Letztes, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und davonrauschte. Als sie eine Weile später in der gemeinsamen Wohnung eintraf, setzte er sie vor die Tür. Sie kam bei einer Freundin unter.
»Mit dem Schlagzeuger wurde es nichts«, sagte sie. »Ich war allein.« Und dann schob sie rasch hinterher: »Was ich super fand! Ich hatte viel Energie. Die Freude kam aus mir raus, ohne dass etwas passierte. Ich hatte ein wahnsinniges Freiheitsgefühl!«
Eine Zeit lang geschah nichts, aber bald rief Andreas an, schrieb ihr SMS, die oft mit »Weißt du noch …« begannen und all die schönen Erlebnisse aufzählten, die beide miteinander verbanden. Er schickte Grußkarten, überschüttete Anna mit Komplimenten, beteuerte, wie sehr er unter der Trennung leide. Gleichzeitig setzte er ihr Ultimaten und ließ sie wissen, wo sie ohne ihn sei: nirgendwo, denn ihren Job zum Beispiel verdanke sie ja lediglich ihm. Genauso wie ihr gutes Aussehen, ihre Beliebtheit im Freundeskreis, schließlich hänge alles von seiner Beratung ab.
Dieses »Ohne mich bist du nichts« in Kombination mit »Schau, wie schön wir es hatten, komm zurück!« nennt man populärwissenschaftlich »Hoovering«,7 ein gängiges Verhalten von verlassenen Narzissten, die hoffen, ihre Ex-Partnerin auf diese Weise an sich zu binden und neu von sich zu begeistern. Denn nichts fürchtet der Narzisst mehr, als für die Ex bedeutungslos zu sein und einen Fan zu verlieren.
Als Anna nicht darauf reagierte, tauchten Andreas’ Freunde auf, die Anna fragten, ob sie allen Ernstes glaube, jemand Besseren zu finden als »den Andreas«.
»Jetzt mit Ende zwanzig wird es allmählich knapp«, warfen sie Anna an den Kopf. »Bis du mit jemand anderem so weit bist, kannst du die Familiengründung vergessen. Dann bist du zu alt.« Und: »Du kannst froh sein, dass er dich überhaupt noch nimmt.«
Weil er spürte, dass ihm die Macht über Anna entglitt, schickte Andreas seine Freunde und Bewunderer los, um seine Ex zu bearbeiten und zu einer Rückkehr zu bewegen. Auch diese sogenannten Flying Monkeys8 sind typisch für das Umfeld eines Narzissten. Wie das Opfer selbst überzeugt er sie, es wert zu sein, damit sie ihm zu Diensten sind und in seinem »ehrenvollen« Namen die »Drecksarbeit« erledigen. Meist verbreitet der Narzisst Lügen über seine Ex, die sie nie erfährt, und stellt sich selbst als leidtragendes, hilfloses Opfer dar, damit der Freundeskreis für ihn in die Bresche springt. In Andreas’ Fall gelang ihm das äußerst einfach, denn immerhin war ja Anna die »Böse«, die ihn mit dem Schlagzeuger so fies hintergangen hatte. Großzügig wie er war, würde er ihr verzeihen, wenn sie nur zurückkehrte.
Trotz allem blieb Anna standhaft und kehrte nicht zu Andreas zurück, obwohl sie aufgrund ihres Nähebedürfnisses besonders anfällig war für die Manipulationen durch männliche Narzissten und solchen immer wieder unterlag.
Als sie zu mir in die Therapie kam, war es wichtig für sie, ihre Geschichte zu erzählen und damit eine Grenze zu ziehen. Die Geschehnisse mussten bezeugt werden. Bezeugung ist etwas, das Traumatherapeuten für Opfer missbräuchlicher Beziehungen notwendig für die Heilung erachten. Die Ungeheuerlichkeit muss erzählt, benannt und von anderen Menschen bestätigt werden. Ja, es ist wirklich passiert, und ja, nun ist es abgeschlossen und liegt in der Vergangenheit.
Um zu verstehen, wie Anna und andere Menschen überhaupt zum Opfer narzisstischer Manipulation werden, muss man die verschiedenen psychischen Konflikte betrachten, die in uns allen mehr oder weniger intensiv arbeiten. In diesem Fall geht es um den Konflikt »Autonomie oder Bindung«, der das fein austarierte Spannungsfeld bezeichnet, das zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit und Selbstverwirklichung auf der einen Seite und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Nähe auf der anderen herrscht. In jedem von uns steckt beides, und wer starke Bedürfnisse nach Autonomie hat, der unterdrückt zugleich die ebenfalls in ihm angelegten Bindungswünsche nach Familie, nach Partnerschaft oder Freunden. Wer wenig Interesse an Selbstständigkeit verspürt, verdrängt umgekehrt sein Streben nach Freiheit und Losgelöstheit von anderen Menschen. Solche Personen suchen die engere Bindung zu anderen und ziehen daraus Vorteile, beispielsweise weniger Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu müssen oder weniger Angst zu spüren vor der großen Freiheit.9
Angst bestimmt immer die Richtung, in die Konflikte gelebt werden. Das gilt für alle Konflikte in uns. Die meisten schlummern und sind ausgeglichen. Sie sind halt da, gehören zu unserer menschlichen Psyche und sind ein lebensbestimmendes Thema.
Problematisch wird es erst, wenn ein starker äußerer oder innerer psychischer Druck diese Konflikte aktiviert. Wenn es also darum geht, sich entscheiden zu müssen, weil das feine Gleichgewicht bedroht wird, weil die Lebenssituation sich verändert oder weil ein bösartiger Narzisst seine Spielchen spielt und die Gewichtung in uns verschiebt. In Annas Fall: Vernachlässige ich meine Freunde und eigenen Hobbys, um Zeit mit Andreas zu verbringen? Kleide ich mich nach seinen Wünschen und ignoriere dafür meinen eigenen Stil? Erfülle ich seine sexuellen Bedürfnisse, ohne darauf zu achten, was mir selbst gefällt?
Annas Bindungswunsch war so stark ausgeprägt, dass sie weit ging, um ihn zu erfüllen, dass sie ihre eigene Persönlichkeit beschnitt und quasi betäubte, um Andreas nah zu sein. Dies ist die gefährliche Gabe des überzeugend wirkenden Narzissten: Nicht selten gelingt es ihm, dass sich die betroffene Person sogar existenziell bedroht fühlt, wenn sie sich gegen ihr eigenes Bedürfnis wendet, um wieder mehr sich selbst zuzulassen. Es entsteht eine so große Angst durch die Vorstellung vor einem möglichen Ende der Bindung mit den ganzen furchtbaren Konsequenzen, dass die Person sich freiwillig in eine Abhängigkeit begibt – sogar zu einem Menschen, der ihr nicht guttut. Die Bedrohung ist einfach zu groß. Die Angst vor der Imagination, allein und verlassen zu sein, ist in solch einem Fall größer als die Angst, in einer Bindung zu eben diesem Menschen zu bleiben, der schädlich ist. Damit erklärt sich, warum wir in toxischen Beziehungen verharren, obwohl sie uns schaden.
Die Alternative zur Bindung an einen schädlichen Menschen scheint für abhängige Partner undenkbar und fühlt sich schlimmer an als das bisher Erlebte an der Seite des »ab und an mal schwierigen« Menschen. Partnerinnen von Narzissten winken gern ab. »Ach, ihr wisst ja, wie er ist.« Sie verweisen auf seine schwierige Seite, die sich nun mal nicht ändern lässt.
Gleichzeitig versteht es der Narzisst, den Finger beständig über dem Angst-Knöpfchen kreisen zu lassen und bei Bedarf draufzudrücken, wenn das Bedürfnis nach Freiheit der Partnerin (oder des Partners) doch mal zu groß wird. Bevor dem Drang nach Selbstbestimmung und Autonomie nachgegeben werden kann, erinnert der Narzisst sie oder ihn an die eigene Lebensunfähigkeit. Das geht den Narzissten so nebenbei von der Hand. Eine kleine Geste, ein Nebensatz, ein Augenaufschlag oder ein strenger Blick, sobald sich ein kleines Autonomiestreben im Partner zeigt.
»Schatz, du weißt doch, allein schaffst du das nicht.« Zack, der Bohrer ist aus der Hand genommen und das Regal rasch selbst an die Wand genagelt. Ob’s am Ende tatsächlich besser hängt, ist unwichtig. Der Beweis der eigenen Unzulänglichkeit jedoch ist erbracht.
Eine solche Beeinflussung durch den narzisstischen Partner bestätigt die eigene Suche nach einer Abhängigkeit erzeugenden Beziehung. Tatsächlich ist das in uns Menschen angelegte Bedürfnis nach Zugehörigkeit stärker als das nach Autonomie. Evolutionspsychologisch ist dieser Umstand gut zu erklären.
Männer halten sich an die von Frauen aufgestellten Grundregeln für eine langfristige Beziehung, und beide kommen in den Genuss vieler Vorteile: sexuell, familiär und gesundheitlich.10 Evolutionspsychologe David M. Buss bestätigt, dass eine gute Bindung unser aller Überleben garantiert. Sich allein durch die Wildnis zu schlagen, ist potenziell gefährlicher, als sich mit anderen zusammenzurotten, gemeinsam rund um das Lagerfeuer zu hocken und sich eine Höhle zu teilen. Selbst wenn es in der Höhle auch ein paar unangenehme Mitbewohner gibt. Diese Erfahrung ist so tief in uns eingepflanzt, dass sie uns nahezu beherrscht. Wir sind süchtig nach Bindung und Nähe. Wir alle haben sogar einen eigenen Botenstoff im Gehirn dafür – das Kuschelhormon Oxytocin. Wir schütten es aus, wenn wir uns berühren. Wenn nackte Haut auf Haut trifft. Bindung ist existenziell für den Fortbestand der eigenen Art. Wie sonst würden wir Nachkommen zeugen können, wenn nicht durch die Intensivierung von Bindungsverhalten? Um die Bindung sofort nach der Geburt zu fördern, legt man das Neugeborene, oft noch an der Nabelschnur hängend, der Mutter an die Brust. Wir geben uns die Hände, wenn wir uns begegnen. Zumindest taten wir das bis März 2020. Bis Corona fielen wir uns um den Hals und gaben uns Bussi, Bussi auf die Wangen, und während der Pandemie missachteten viele von uns lang genug die Abstandsregeln, weil uns Berührung wichtig und Distanzwahren fremd ist. Bis uns der Abstand wegen der hohen Inzidenzzahlen diktiert wurde. Wenn wir uns authentisch berühren, dann berühren wir auch unsere Seelen. Dahinter steckt eine große Sehnsucht, die alles andere in den Wind schlägt, und niemand kann heute ermessen, was das radikale Zurückschrauben dieser elementaren Gesten während der Coronapandemie gesellschaftlich und individuell mit uns machen wird.
Der geschickt manipulierende Narzisst jedenfalls schwingt sich an diesem Punkt auf und nutzt das natürlich im Partner angelegte Grundbedürfnis nach Nähe und Bindung für seine eigenen Zwecke, um ihn an sich zu binden. Abhängig von der Art des Narzissten, ob leicht akzentuiert als übertrieben-nerviges Verhalten oder psychopathisch als missbräuchliche Traumabindung, kommuniziert er diese Unterwerfung mehr oder weniger offen: »Du bist doch von mir abhängig, Mädchen.« Für die betroffene Person bleibt die Abhängigkeit meist verdeckt, und nur Außenstehende erkennen und benennen sie hinter vorgehaltener Hand: »Die kann ohne ihn gar nicht leben.«
Partner von Abhängigkeit spendenden Narzissten beschreiben sich oft als Herdentier, das sich in der Gruppe als eines von vielen wohlfühlt. Die Herde kann dabei der Freundeskreis sein, der sich wie ein Bündel um den Narzissten gebildet hat und die eigene Abhängigkeit zum Narzissten verstärkt. Die große Angst und Sorge, dass die Bindung kaputtgehen könnte, hemmt Betroffene, an der Beziehung zu arbeiten, Unabhängigkeit und Freiheit einzufordern. Lieber wählen sie die Unterwerfung – was wiederum dem Narzissten in die Hände spielt.
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, die Mechanismen der Selbstheilung zu fördern und den richtigen Ansatzpunkt zu finden, muss man als Therapeut verstehen, was für ein Spiel im konkreten Fall gespielt wird. Genau genommen muss das auch der Betroffene selbst herausfinden, denn nur wer die Regeln durchschaut, kann ein Spiel beenden.
Kehren wir noch einmal zu Anna zurück und entschlüsseln den Konflikt, in dem sie sich bewegte. Ein wesentlicher Selbstanteil von Anna bemühte sich stets darum, ihre eigene Selbstständigkeit zu verhindern und sich in abhängige Bindungen zu geben. Diesen Selbstanteil können wir mit wissenschaftlich standardisierten Merkmalen beschreiben, die uns die Operationalisierte Diagnostik psychischer Konflikte liefert.11
Konflikte sind per se nicht schlimm, ihre Auswirkungen hingegen schon. Zunächst sind Konflikte lediglich Ausdruck von zwei gegenläufigen Bedürfnissen, die in einem selbst um die Vorherrschaft ringen. Autonomie anstreben oder vermeiden? Bindung wünschen oder umgehen? Beiden Bedürfnissen zugleich gerecht zu werden, funktioniert nur als flexibles Gleichgewicht. Erst wenn sich eine Seite nicht verwirklichen lässt oder die Erfüllung bedroht ist, gerät diese Balance ins Wanken, wachsen die Befürchtungen und entsteht Angst. Das erzeugt inneren Druck, und die nervöse Anspannung steigt ins Unermessliche. Der Konflikt will ins Gleichgewicht ausgelebt, beruhigt und gelöst werden. Erst wenn die Situation wieder passt, löst sich die ängstliche Anspannung.
Auf welche Weise jemand einen bestehenden Konflikt an- und mit den verbundenen Emotionen umgeht, ist individuell und äußert sich entweder als Handlungsimpuls oder als Unterdrückung, also Vermeidung, eigenen Tuns. Die Reaktion kann rein gedanklich erfolgen, was manchmal zu Abwärtsspiralen führt bis hin zu schwerer Grübelei und Verwirrung, wenn man die Fäden nicht mehr auseinanderbekommt.
Dennoch lassen sich viele Konflikte aus eigener Kraft lösen, wenn man zum Beispiel das, was man vermeiden will, graduell auch mal zulässt. Viele Vermeidungsziele unseres Verhaltens sind nämlich angstgesteuert, und wir wollen etwas umgehen, weil wir die Konsequenzen fürchten, von denen wir uns vorstellen, dass sie damit einhergehen. Fängt man jedoch erst mal damit an, durch Vermeidung Situationen und Gegebenheiten zu ertragen, dann erträgt man schnell vieles, um aus »der Nummer« wieder herauszukommen oder damit leben zu können (die betroffene Person begibt sich quasi freiwillig in die Abhängigkeit, weil sie keine bessere Alternative hat).
Manchmal vermeiden wir auch durch Handeln, wenn wir etwas scheinbar Sinnstiftendes verfolgen, das mit der Lösung unseres Konfliktes aber nichts zu tun hat. Diese Ablenkung oder den Irrweg zu bemerken, ist wichtig, weil ein psychischer Konflikt unser vegetatives Nervensystem aktiviert und uns hyperaktiv (Aktivierung des Sympathikus) oder träge (Aktivierung des Parasympathikus) macht und sich auf unseren gesamten Organismus auswirkt. Auf die Dauer kann uns das belasten und krank machen. Daher sollte man anstreben, den Konflikt aus seiner Schieflage oder Blockade zu lösen oder zumindest teilweise zu lösen, sodass die nervöse Anspannung abflaut, das Bedürfnis befriedigt, die Befürchtung zerstreut oder nicht mehr notwendig ist. So legt sich der innere Druck, die Nervosität fällt ab, und alles ist wieder gut. Es herrscht ein ruhiges Gleichgewicht zwischen »Ich will keine Autonomie und ich will Autonomie!«, die betroffene Person kann die Ambiguität (Gegensätzlichkeit) gut aushalten, sie frei gestalten (als sogenannte flexible Ambiguität) und fühlt sich pudelwohl damit. Dies gilt für alle Konflikte.
Anna lebte ihren Konflikt sehr lang durch Vermeidung aus, sie unterdrückte ihren insgeheimen Wunsch nach Selbstständigkeit, weil ihr narzisstischer Partner sie darin blockierte, sie an sich band und weil sie selbst darin fixiert war, ihm zu gefallen, um ihm nah zu sein. Statt selbstständige Entscheidungen zu treffen, dominierte ihre Sehnsucht nach einer engen Bindung.
•Sie streben nach sehr engen und Sicherheit gewährenden Beziehungen um fast jeden Preis.
•Sie vermeiden Verantwortung und Eigenständigkeit.
•Sie ordnen Ihre Wünsche denen Ihres Partners unter.
•Sie verharmlosen die Konflikte, die in Ihnen schwelen, und leugnen Ihre geheimen Wünsche.
•Sie fühlen sich hilflos und schwach und glauben, auf Ihren Partner angewiesen zu sein.
•Sie plagen Gefühle von Bedrohung und existenzieller Angst, vor Verlust, vor Trennung, vor Einsamkeit.
Manipulativen Narzissten gelingt es, die Vermeidung ihrer Opfer zu bestärken, sprich: die Partner zu unterdrücken. Der Narzisst ahnt oder kennt die inneren Konflikte beim anderen und benutzt sie für sich. In seiner manipulativen Beziehung zum Gegenüber bleibt er stets aktiv. Klingt paradox, aber indem der Narzisst handelt, verharrt sein Opfer in einem passiv-blockierten oder passiv-gehemmten Zustand. Und das ist nicht alles. Der Narzisst aktiviert zum einen die Vermeidung und unterdrückt zusätzlich die sowieso gering ausgeprägten Absichten im Opfer, den Konflikt aktiv für sich zu lösen. Indem der Narzisst stets bemüht ist, schadlos und bestens aus einer Situation rauszukommen, überträgt er dem Opfer zum anderen die Last der Verantwortung, was es zusätzlich blockiert. Das ist eine doppelte Strategie und besonders perfide.
Indem Andreas ständig die gesamte Freizeit verplante und Anna dazu drängte, ihn jederzeit zu begleiten, entband er sie von der Verantwortung, eigenen Interessen nachzugehen, hielt sie passiv. Zeigte sie doch mal Eigeninitiative, wenn sie einen Kommilitonen traf, reagierte er ungehalten, sodass sie solch ein aktives Verhalten fortan unterließ. Damit übertrug er ihr die gesamte Verantwortung für die Stimmung innerhalb der Beziehung. Gleichzeitig drohte er ihr damit, sich jederzeit eine neue Freundin zulegen zu können. Während also Anna aus Sorge und Angst über Jahre an der Partnerschaft um jeden Preis festhielt und die emotionale Verantwortung für beide übernahm, gab sie die faktische Selbstverantwortung über ihr Leben an Andreas ab, leugnete eigene Wünsche und Probleme, die für sie daraus entstanden, und verharmloste ihre geschwächte Position in der Beziehung. Weil sie für die Harmonie der Partnerschaft zuständig war, lebte sie in ständiger Angst, verlassen zu werden.
Währenddessen genoss Andreas, der über alles Weitere frei entschied, die Situation. Durch die Freizeitgestaltung befeuerte er Annas enge Bindung zu ihm, er nahm die Verantwortung für das gemeinsame Leben in seine Hände, unterdrückte und verharmloste Annas Wünsche und Bedürfnisse, lachte über ihre Probleme, bestärkte sie darin, schwach und hilflos zu sein, und jagte ihr mit seinem Verhalten regelmäßig Angst ein, indem er andeutete, wie austauschbar sie sei, wenn sie sich nicht so verhielt, wie er es sich wünschte. Anna war auf perverse Weise für den emotionalen Zusammenhalt der Beziehung allein verantwortlich, und Andreas wälzte seine Mitverantwortung komplett auf seine Partnerin ab. Zugleich nahm er sich, wie jeder manipulative Narzisst, heraus, stets unabhängig zu wirken, großartig und frei zu sein, seinen eigenen Bedürfnissen folgend, ohne sich jemals nach Anna zu richten. Und wehe, Anna gefährdete durch eine Regung seine Stimmung!
Annas Geschichte zeigt sehr deutlich, wie gewiefte Narzissten ihr perfides Spiel spielen, und es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie gut diese Beeinflussung durch Verschiebung emotionaler Verantwortung funktioniert.
Einmal jedoch durchschaut, verliert die Manipulation an Wirkmacht. Die betroffene Person erkennt, dass der narzisstische Partner sie dazu bringt, Dinge zu tun, die ihren eigentlichen und unterdrückten Bedürfnissen widersprechen, und ist in der Lage, die Blockade zu lösen und die fremde Hand, die verhindernd auf dem Bedürfnis lag, zu entfernen. Endlich können sich eigene Wünsche durchsetzen.
•Der Narzisst aktiviert die Vermeidungshaltung im Partner.
•Er unterdrückt dessen gering ausgeprägte Motivation zur Veränderung.
•Der Narzisst selbst handelt aktiv und gibt die emotionale Verantwortung gänzlich an den Partner ab.
1213