Über das Buch:
Die Welt von Grace, der ältesten Tochter der amischen Familie Byler, ist zusammengebrochen. Vor Wochen schon hat ihre Mutter Lettie die Farm bei Nacht und Nebel verlassen und ist seitdem verschwunden. Wohin ist sie gegangen und warum? Grace ist erschüttert, aber fest entschlossen, ihre Mutter zu finden und das Geheimnis zu lüften. Die Situation wird nicht gerade einfacher, als Grace verwundert entdeckt, dass Yonnie Bontrager um sie wirbt, in den doch eigentlich ihre beste Freundin Becky verliebt ist.
Erst als Heather, eine junge Englische, nach Bird-in-Hand kommt, beginnen sich die Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammenzufügen, das einen deutlicheren Blick auf die »Familiengeheimnisse« gewährt …

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

Kapitel 6

Judah war jetzt allein und nahm Letties Brief in die Hand. Seine Augen hungerten nach einem Wort von seiner Frau. Familie Judah Byler hatte sie auf den Umschlag geschrieben. Das war die einzige Stelle, an der sie ihn erwähnte. Er las den kurzen Brief und stellte fest, dass sie einfach mit Mama unterschrieben hatte.

Nicht mit: In Liebe, Lettie.

Er legte den Brief auf die Bibel und stand vom Stuhl neben dem Fenster auf, wo er im Laufe der Jahre oft mit Lettie gesessen hatte. Er bückte sich, um seine Socken auszuziehen. Morgen würde wieder ein langer Arbeitstag werden. Neue Lämmer kämen weiterhin in kurzen Abständen nach dem Ablammplan, den er sorgfältig ausgearbeitet hatte, zur Welt. Aber bald wäre die Ablammzeit vorbei und sie würden die Lämmer gut füttern, damit sie sich zu einem guten Preis verkaufen ließen.

In den letzten zwei Tagen hatte Grace nicht mehr davon gesprochen, dass sie nach Ohio fahren und Lettie suchen wollte. Er konnte nur hoffen, dass sie sich diesen Unsinn aus dem Kopf schlagen würde. Wie sähe es aus, wenn zwei Frauen aus seinem Haus sich in der Welt herumtrieben? Judah erhob sich, griff nach der dunkelgrünen Jalousie am ersten Fenster und zog sie nach unten, bis sie mit dem Fensterbrett abschloss. Genauso verfuhr er mit der zweiten Jalousie.

Während er seine Hosenträger abnahm, wanderten seine Gedanken zu Willow. Er hoffte um Graces willen und um des Pferdes willen, dass die Behandlung des Tierarztes eine positive Wirkung zeigen würde. Und auch Yonnies Bemühungen, was immer sie wert sein mögen.

Er ging zu seiner Seite des Bettes und warf einen erneuten Blick auf Letties Nachricht. Warum hatte sie überhaupt geschrieben? Glaubte sie, sie würden sie vergessen, wenn sie sich nicht meldete?

Er ging zu ihrer gemeinsamen Kommode, öffnete die mittlere Schublade und holte eine saubere Pyjamahose heraus. Fragst du dich je, was wir denken, Lettie?

Eines war sicher: Er war es müde, jeden Morgen allein aufzuwachen. Es war Zeit, dass seine Frau nach Hause kam und ihm erklärte, warum sie weggegangen war. „Und es ist auch Zeit für ein langes Gespräch.“

Als er seine Arbeitshose ausgezogen hatte und in seinen Schlafanzug geschlüpft war, zog er die Quiltdecke zurück und legte sich ins Bett. Warum führe ich eigentlich Selbstgespräche? Das ist ja lachhaft. Er griff nach der Bibel und dem Brief seiner Frau. Judah war sehr müde, aber er las zwei Psalmen hintereinander, bevor er Letties Worte noch einmal las. Warum hatte sie nicht ihm allein einen Brief geschrieben?

Müde von dem langen Tag schob er den Brief unter sein Kopfkissen und schlief schnell ein.

* * *

Als Heather am Mittwoch aufwachte, dachte sie an die kleine Schachtel, die sie letzten Monat wie zufällig wiedergefunden hatte, als sie ihren Schlafzimmerschrank aussortierte. Die kleine Schachtel, in der ihre Mutter ihre Milchzähne und ihre ersten weichen Babyhaare aufbewahrt hatte.

Sie streckte sich und musste bei der Erinnerung an diese Kindheitsschätze lächeln. Sie schlüpfte aus dem Bett in ihrem gemieteten Zimmer, da sie wusste, dass es ratsam war, früh das einzige Badezimmer im ersten Stock zu benutzen. Sie nahm ihre Bürste, ihr Shampoo und ihren Bademantel und eilte über den Gang.

Sie duschte in Rekordzeit. Als sie sich später angezogen und mit einem Handtuch die Haare getrocknet hatte, stellte sie fest, dass sie keine Lust hatte, etwas zu essen. Null Appetit. Sie war zu nervös wegen ihres Arzttermins, um sich an Marians großem Frühstück zu bedienen, das die gesellige Amischfrau ihrer Familie und ihren Gästen servierte. Das Haus der Riehls war bis unters Dach ausgebucht. Jedes Gästezimmer war belegt. „Der Frühling lockt viele Touristen nach Lancaster County“, hatte Becky gestern erklärt, als sie und Heather die Hühner gefüttert hatten. Die Unsicherheit zwischen ihnen legte sich allmählich wieder. Heather hatte Becky nicht beleidigen wollen, als sie sich zurückzog, nachdem sie anfangs sehr offen für den Kontakt mit Becky gewesen war.

Sie hat mich durchschaut … wie es jeder irgendwann macht, sinnierte Heather, während sie nach unten ging.

Marian stand an der Arbeitsplatte in der Küche. Sie trug ein pflaumenfarbenes Kleid und eine dazu passende Schürze, ihre dunkelblonden Haare waren zu einem sauberen Knoten im Nacken gebunden. Die Bänder ihrer Kapp fielen über ihre schlanken Schultern, als hätte sie sie nach hinten geschoben, und ihre klaren, blauen Augen funkelten, als sie sich von ihrer Schüssel mit dem Pfannkuchenteig umdrehte. „Du bist heute ja sehr früh auf, Heather“, sagte sie und bedachte sie mit einem ansteckenden Lächeln. „Kann ich dir einen frischen Kaffee einschenken?“

„Ein Kaffee wäre gut. Danke.“ Heather war nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten, aber sie vermutete, dass sie dem üblichen Smalltalk nicht entkäme, wenn sie ihre nötige Dosis Koffein haben wollte.

„Heute Morgen gibt es Blaubeerpfannkuchen“, verkündete Marian fröhlich. Obwohl diese Frau das Essen offenbar sehr genoss, war Marian trotzdem ziemlich dünn. „Becky war gestern Nachmittag bei Kusine Emma, wo wir eine Gefriertruhe mieten, und hat einige Blaubeeren mitgebracht, die wir im letzten August eingefroren haben.“

„Das klingt lecker, aber ich muss gleich losfahren, da ich heute Morgen einen Termin habe.“

„Wir haben im letzten Sommer ziemlich viele Beeren gepflückt. Auf den meisten lag noch der Tau, als wir sie zum Frühstück nach Hause brachten.“ Marians Lächeln wurde noch breiter. „Aus irgendeinem Grund gab es im letzten Jahr mehr Blaubeeren als Himbeeren.“

Heather drehte sich um und schaute aus dem Fenster, während sie auf den Kaffee wartete. An Tagen wie diesem vermisste sie ihre Mutter besonders stark. Der Geruch nach Pfannkuchen – die es bei ihrer Mutter auch oft zum Frühstück gegeben hatte – weckte so viele glückliche Erinnerungen. Anfangs, direkt nach dem Tod ihrer Mutter, hatte Heather diese Erinnerungen verdrängt. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, überhaupt zu überleben, und sie hatte sich gefühlt, als würde sie durch tiefes Wasser waten. Sie war sogar so weit gegangen und hatte alle Bilder von ihrer Mutter in ihrem Zimmer abgehängt. Es hatte sie innerlich zerrissen, ihre Mutter so gesund und fröhlich und … so lebendig zu sehen.

Aber in den letzten Monaten hatte sie angefangen, die Vergangenheit zuzulassen, und ihr war bewusst, dass ihre Gedanken häufig um ihre Mutter kreisten. Je stärker ihr bewusst wurde, wie viel sie verloren hatte, umso stärker meldete sich die Sehnsucht nach glücklichen Erinnerungen.

„Hier ist dein Kaffee … genau so, wie du ihn magst.“

„Danke.“ Heather drehte sich um und lächelte Marian dankbar an.

„Möchtest du noch etwas anderes? Willst du vielleicht etwas mitnehmen?“ Marian klang ein wenig besorgt.

„Heute Morgen nicht, aber trotzdem danke.“ Sie setzte sich nicht wie üblich an den Tisch, sondern nahm die Tasse mit in ihr Zimmer und stellte sie auf den Untersetzer auf der Kommode. Sie betrachtete ihr sauber gewaschenes Gesicht und begann, sich zu schminken. Dann bürstete sie ihre noch immer feuchten Haare noch einmal durch.

Als sie vor der Arztpraxis ankam, stellte Heather erfreut fest, dass nur zwei andere Autos auf dem Parkplatz standen. Bei den vielen Malen, die sie ihre Mutter zum Arzt begleitet hatte, besonders zum Onkologen, hatte sie festgestellt, dass Ärzte sehr darauf achteten, dass sie keine Zeit vergeudeten. Wenn man der erste Patient am Tag war, war das eindeutig von Vorteil. Und als Heather zum Fenster am Empfang trat, sah sie an der Liste, dass sie tatsächlich die erste Patientin heute war.

Das fängt gut an.

* * *

Grace fand Mamas Brief unter Dats Kopfkissen, als sie am Morgen sein Bett machte. Sie verzichtete darauf, ihn noch einmal zu lesen, sondern legte ihn nur auf den kleinen, runden Tisch neben dem Bett. Die Frage beschäftigte sie, ob Dat oder vielleicht Mammi Adah eine Ahnung hatte, warum Mama eine Hebamme suchte. Und warum diese Hebamme so weit weg von zu Hause sein musste. Konnte eine solche Frau Mama vielleicht bei Problemen helfen, die Frauen in ihrem Alter manchmal haben? Grace war so verwirrt wie selten in ihrem Leben.

Während sie die obere Quiltdecke glatt strich, schaute sie sich im Zimmer um. Gab es hier im Schlafzimmer, das Mama so lange mit Dat geteilt hatte, vielleicht einen Hinweis darauf, warum sie hatte weggehen müssen? Gab es überhaupt irgendeinen Hinweis außer den fehlenden Gedichtbänden?

Zögernd öffnete sie die Kommodenschubladen, die ihrer Mutter gehört hatten. Nachdem sie festgestellt hatte, dass alle leer waren, ging sie zum Fußende des Bettes und hob den Deckel der Truhe hoch. Es gab doch bestimmt etwas, das ihr bis jetzt entgangen war, etwas, das in den Falten oder unter den Decken versteckt war.

Aber sie fand nichts. Wenigstens nichts, was sie einer Antwort nähergebracht hätte.

Als sie den Deckel zugeklappt hatte, fuhr sie wieder mit der Hand über die Bettdecke und seufzte. Oh, Dat, dachte sie. Es tut mir so leid für dich. Was hätte ich anders machen können?

Unten rührte Mandy den Waffelteig an, nachdem sie gestern Abend angeboten hatte, das Frühstück zu machen. „Dadurch hast du Zeit, um nach Willow zu schauen“, hatte sie gesagt. Grace gab ihr einen Kuss auf die Wange, eilte nach draußen und trat unter die großen Bäume, die Dat vor Jahren gepflanzt hatte. Sie genoss den kühlen Schatten und atmete die frische Morgenluft ein. Sie bemerkte die ersten Blüten am Trompetenbaum. Die orange leuchtenden, trompetenförmigen Blumen kletterten an dem frisch gestrichenen, weißen Spalier hinauf, das Adam vor Jahren an die Rückseite des Hauses genagelt hatte. Mama hatte sie immer Kolibriblumen genannt, weil sie die lebhaften, kleinen Vögel anlockten, denen die ganze Familie gerne zuschaute.

Im Frühling und im Sommer hatte Mama mit Vorliebe in ihrem schattigen Garten gesessen und die vielen Vogelarten bewundert, die zwitscherten und in der Kühle des Morgens von Ast zu Ast flatterten. An den Abenden trug Dat manchmal auch für Dawdi und Mammi Gartenstühle in den Garten. Die vier saßen gerne hier zusammen, tranken Kräuterbier oder Wiesentee, ganz erschöpft von der Arbeit des Tages, aber aus ihren Gesichtern sprach eine große Zufriedenheit. Immer beherrschten Mama und ihre Eltern das Gespräch, und Dat nickte nur gelegentlich, wenn überhaupt.

Ihre Gedanken an Mama verwandelten sich schnell in Traurigkeit, als sie in den Stall trat und sah, wie Willow auf dem Sägemehlbett lag und das Bein mit dem erkrankten Huf angezogen hatte. Was auch immer der Tierarzt der Stute gegeben hatte, es wirkte anscheinend nicht.

Grace berührte Willows Mähne und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. „Du bist so ein liebes Pferd.“ Sanft massierte sie das verletzte Bein und beobachtete, ob sie irgendeine Reaktion feststellen könnte. Sie und Dat hatten sich gestern Abend die Zeit genommen, das Bein abwechselnd zu kühlen und mit warmen Umschlägen zu behandeln. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass es für Willows Bein das Beste wäre, wenn sie Stallruhe hatte.

Adam war auch in den Stall gekommen und hatte nach Willow geschaut, obwohl er anscheinend unbedingt über Yonnie hatte reden wollen. Er hatte sich laut gefragt, wie es Grace damit ging, dass Yonnie Dat auf dem Hof half.

Grace hatte Adam nicht verraten, wie sie sich dabei fühlte. Sie vermutete, dass ihr Bruder immer noch verärgert war, weil sie ihre Verlobung mit Henry gelöst hatte. Adam meinte, dass Yonnie großes Interesse an Grace zeige. „Er ist richtig in dich verknallt“, hatte ihr Bruder fast anklagend zu ihr gesagt.

Grace fragte sich, wie er bloß auf diese Idee kam. Um Beckys willen sollte er solche Gedanken lieber für sich behalten. Jetzt hörte sie auf, Willow zu massieren, und streichelte das Pferd zum Abschied, da sie ziemlich sicher war, dass Mandy die Waffeln bestimmt schon fertig hatte. Auf dem Weg zurück ins Haus zog sie ein einziges Mal an der Essensglocke. Dieses eine Mal genügte, da die Männer bestimmt großen Hunger hatten.

Sie ging in die Küche und schenkte allen Kaffee ein. Dabei musste sie wieder daran denken, dass Mama nicht da war. Schon ganz oft war es ihr in den vergangenen Wochen passiert, dass sie sich umdrehte, um ihrer Mutter eine Frage zu stellen, weil sie für einen kurzen Moment vergaß, dass sie fort war. Oder sie dachte kurz vor dem Schlafengehen an etwas und wollte es gerne ihrer Mutter erzählen. Warum treibt sie sich in Ohio herum? Und warum kann sie nicht mit einer Hebamme hier in Lancaster County sprechen?

Grace war froh, als sie ihren Vater und ihre Brüder durch die Haustür hereinkommen hörte. Die vertrauten dumpfen Geräusche, als sie im Flur ihre Arbeitsstiefel auszogen, trösteten sie ein wenig. Bald würden sie in Socken in die Küche kommen und Mandys heißes Frühstück genießen. Sie trat zurück und betrachtete den Tisch. Alles war ordentlich gedeckt. Und als Dat, Adam und Joe sich zum Essen die Hände gewaschen hatten, stellte sie überrascht fest, dass ein breites Lächeln über Dats gebräuntes Gesicht zog.

„Du und deine Schwester, ihr habt euch selbst übertroffen“, sagte er leise, während er sich an die Stirnseite des Tisches setzte.

Sie wollte ihre Dankbarkeit für die unerwartet freundliche Bemerkung ihres Vaters zeigen, sagte aber nichts, als sie sich an ihren Platz setzte. Der Platz, an dem Mama immer gesessen hatte, solange Grace zurückdenken konnte, blieb schmerzlich leer.

Nach dem schweigenden Tischgebet und ihrem gemeinsamen „Amen“ erzählte Grace, wie schwach und krank Willow an diesem Morgen ausgesehen hatte. „Kann man nicht noch irgendetwas tun?“

„Über Nacht ist keine Veränderung eingetreten“, stellte Dat mit leiser Stimme fest.

„Yonnie wird sicher alles versuchen“, verkündete Joe von der anderen Seite des Tisches. „Gestern hat er eine ganze Weile mit ihr geredet und sie einfach nur gestreichelt.“

„Was weiß er über Pferde, das wir nicht wissen?“ Adam schaute seinen Bruder skeptisch an. „Ich würde sagen, wir sollten uns keine zu großen Hoffnungen machen.“ Er blickte Grace ernst in die Augen. „Willow hat viele gute Jahre gehabt. Das ist doch das Einzige, was zählt, oder?“

Grace wurde bei diesen Worten schwer ums Herz, aber sie nickte nur stumm.

Dat sprach kein Wort, und sie begannen, schweigend das Frühstück zu genießen. Dat und die Jungen schmatzten alle begeistert. Doch Grace entging das gelegentliche traurige und bemitleidenswerte Wiehern aus dem Stall nicht. Es war nicht richtig, das Tier so leiden zu lassen. Die arme, liebe Willow.

Sie stand auf, um Dat noch eine Tasse Kaffee einzuschenken, hatte aber Mühe, dabei nicht zu weinen. Als sie zum Tisch zurückkehrte, schlug Adam vor: „Vielleicht könntest du hinüberrutschen und dich auf Mamas Platz setzen, um die Lücke ein wenig zu schließen.“ Auf der anderen Tischseite konzentrierten Mandy und Joe sich darauf, ihre Teller neu mit Rühreiern, Schinken, Toast und heißem Haferbrei zu füllen, und schienen Adams unglaubliche Bemerkung nicht gehört zu haben.

Als Dat Adams Vorschlag mit einem schnellen Kopfnicken auch noch zustimmte, war Grace völlig verblüfft. Seine spontane Zustimmung verstärkte ihre Ängste noch mehr. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht kannte, glaubte er anscheinend nicht, dass Mama bald wieder nach Hause käme.

Grace sagte kein Wort, sondern warf nur stumm einen Blick auf den Platz ihrer Mutter auf der Holzbank zwischen sich und Dat. Warum machte ihr Bruder ausgerechnet jetzt, nachdem Mamas Brief gekommen war, einen solchen Vorschlag? Immerhin hatte sie geschrieben, dass sie ihre Familie vermisste. Zählte das denn gar nicht?

Adam drängte sie wieder: „Warum nicht, Grace?“ Die Frage ärgerte sie. Adam schien auch nicht zu glauben, dass ihre Mutter wieder nach Hause käme. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.

Es widerstrebte ihr, auf Mamas Platz zu rutschen, auch wenn ihr Vater seine Zustimmung gegeben hatte. Aber als unverheiratete, junge Frau wurde von ihr erwartet, dass sie ihrem Vater und ihrem älteren Bruder gehorchte.

„Das ist nur eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass sie fort ist“, erklärte Adam leise.

„Dat?“ Grace blickte hilfesuchend zu ihrem Vater.

Judah holte tief Luft, dann deutete er mit dem Kopf. „Du und Mandy könnt beide weiterrutschen … vorerst.“

Ohne noch länger zu zögern, tat Grace, was ihr gesagt wurde. Sie schob ihren Teller und ihr Besteck weiter, und Mandy folgte ihr und setzte sich auf Graces Platz. Grace musste sich erst an die neue Sitzordnung gewöhnen und war leicht desorientiert, aber sie aß stumm weiter. Es war ein so befremdliches Gefühl, hier zu sitzen.

In diesem Moment kamen Dawdi Jakob und Mammi Adah in die Küche und setzten sich zu ihnen an den Frühstückstisch. Mammi entschuldigte ihre Verspätung mit der Erklärung, dass sich Dawdi nicht gut fühle. Als sie auf der anderen Seite des Tisches Platz genommen hatten, warfen sie Grace einen strengen Blick zu.

„Warum sitzt Gracie dort?“, fragte Dawdi mit einem missbilligenden Stirnrunzeln.

„Das kann nicht schaden, Jakob“, antwortete ihr Vater. „An diesem Tisch ist ein Platz leer.“

„Ja, leider“, brummte Dawdi.

Später, als sie das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatten und Grace mit ihren Großeltern auf ihre Seite des Hauses gegangen war, wurde nichts mehr dazu gesagt. Darüber war Grace sehr erleichtert. Es hätte keinen Sinn, Dat noch mehr infrage zu stellen. Immerhin befanden sie sich in einer Übergangsphase. Und niemand, auch nicht ihr Vater, wusste, wie alles wieder in normale Bahnen zurückgelenkt werden konnte.

Kapitel 7

Grace und Mandy spülten gerade das letzte Frühstücksgeschirr, als Yonnie in seinem offenen Einspänner in einem flotten Trab in den Hof rollte. „Angeber“, murmelte Grace leise. Mandy musste das gehört haben, denn sie zuckte die Achseln, bevor sie den nächsten Teller nahm.

Dat war offenbar nicht überrascht, dass Yonnie wiederkam. Im Gegenteil, aus der Art, wie sie aus dem Stall kamen und ihn begrüßten, schloss sie, dass Joe und Dat Yonnie sogar erwartet hatten.

Grace wandte sich ab, da sie keine Lust hatte, mit Mandy, die sie jetzt mit neugierigen Augen musterte, über ihre Überraschung zu sprechen. Da sie die Küche fertig putzen wollte, beeilte sich Grace, das Spülbecken zu schrubben und es dann gründlich nachzuspülen. Als sie damit fertig war, ging sie zum Ofen und wischte ihn ab.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte Mandy.

„Natürlich.“

Mandy atmete hörbar durch geschürzte Lippen aus. „Du siehst aber nicht so aus.“

Ihre Schwester vermutete höchstwahrscheinlich, dass Grace sich ärgerte, weil Yonnie schon wieder auftauchte. Aber Mandy konnte unmöglich wissen, warum sie das ärgerte, es sei denn, sie hatte Yonnies Interesse an Becky auch bemerkt und dann gesehen, wie er die letzten zwei Male nach dem Singen alleine nach Hause gegangen war. „Mir geht es wirklich bestens“, beharrte Grace.

„Mir kannst du nichts vormachen, Gracie.“

„Holst du mir Kartoffeln aus dem Keller?“, fragte Grace und hoffte, ihre Schwester würde diesen Wink verstehen und sie in Ruhe lassen. Außerdem war es höchste Zeit, mit der Zubereitung des Mittagessens zu beginnen. Es gäbe einen dicken, herzhaften Rindfleischeintopf, der auf dem Ofen köcheln konnte, während sie ihre anderen Arbeiten erledigte.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, begab sich Mandy zur Treppe, die in den kühlen Keller hinabführte. Erleichtert trat Grace zum Fenster und wünschte immer noch, sie hätte ihre Gefühle besser versteckt. In diesem Moment bemerkte sie, wie der große Hund der Spanglers, der Labrador, mit dem sie gestern gespielt hatte, über die Schafweide lief. „Um Himmels willen, nein!“ Sie eilte zur Küchentür und blieb wie angewurzelt stehen, als sie sah, dass Yonnie schon schnell über den Hof rannte. Er schlüpfte unter dem Zaun durch, schob seinen Strohhut zurück und schritt forsch auf die Mitte der Wiese zu.

Die verängstigten Schafe kauerten sich in der anderen Ecke zusammen. Einige der trächtigen Schafe waren bestimmt so erschrocken, dass sie zu früh ablammten, und das wäre überhaupt nicht gut. Dat brauchte in diesem Jahr jedes einzelne neugeborene Lamm, genauso wie in jedem anderen Frühling. Die Lämmer waren ihre Haupteinnahmequelle.

Yonnie ging in der Mitte der Wiese in die Hocke und hielt dem aufgeregten Hund die Hand hin. Obwohl Grace aus der Ferne nicht ganz sicher sein konnte, glaubte sie zu sehen, wie er mit dem Labrador sprach.

Sie beobachtete Yonnie weiter und drückte sich dabei die Nase fast an der Mückengittertür platt. „Meine Güte …“ Der Hund hörte auf zu bellen und kam langsam auf Yonnie zu, bis er ihm die Hand leckte und dann sogar das Gesicht und ihm dabei fast den Hut vom Kopf stieß. „Unglaublich“, flüsterte Grace.

„Was ist?“, fragte Mandy und schreckte Grace auf, die sie nicht aus dem Keller hatte kommen hören.

„Da drüben.“ Sie deutete zu Yonnie, der jetzt den Hund ihrer Nachbarn am Halsband den Hang hinauf zum Haus der Spanglers führte.

„Ach, dieser Hund beobachtet die Schafe schon seit Tagen“, erwiderte Mandy. „Ich hatte schon befürchtet, dass das passieren könnte.“

Grace hatte auch schon das Interesse des Hundes an den Schafen bemerkt. Erst gestern hatte sie es deutlich beobachten können. „Es ist gut, dass jemand da war, der diesen Labrador beruhigt hat“, sagte sie und dachte an die aufgeregten Schafe.

„Du meinst den Löwenbändiger?“, neckte Mandy sie.

Grace lächelte leicht. „Er kann eindeutig gut mit ihnen umgehen.“

„Wenigstens mit Hunden.“

Sie lachten beide. Dann erzählte Mandy, dass sie Yonnie gestern gesehen hatte, wie er eines ihrer kranken Lämmer getragen hatte. „Dat sagt, Yonnie hat sich in den Kopf gesetzt, das schwächste Lamm zu retten. Du weißt, welches ich meine?“

Grace wusste, welches Tier sie meinte. Adam und Joe hatten das kleine Geschöpf weiter mit der Flasche gefüttert, nachdem Yonnie gegangen war. „Mandy, hat Dat etwas davon gesagt, dass er noch mehr Hilfe braucht?“

„Kein Wort. Warum?“

Jetzt war es Grace, die die Achseln zuckte. „Ich bin nur neugierig.“

„Es stört doch nicht, dass Yonnie Bontrager hier ist. Oder?“

„Wie kommst du denn darauf?“ Aber es war eine unangenehme Situation, und Grace wusste ganz genau, dass Mandy klüger war, als sie verriet. Trotzdem hatte Grace keine Lust, über den Jungen zu sprechen, der Becky so verletzt hatte. Sie fragte sich, was Becky denken musste. Sie hat ihn sicher zu uns kommen sehen. Sie konnte einfach nicht zulassen, dass ihre beste Freundin auf die Idee käme, Yonnie könnte in sie verliebt sein. Das durfte auf keinen Fall geschehen!

Als Mandy ihre Schürze mit den Kartoffeln auf die Arbeitsplatte geleert hatte, ging sie, um Mammi Adah bei einem Stoß Flickwäsche zu helfen. Grace seufzte erleichtert auf und ihre angestaute Frustration verpuffte allmählich, während sie die Kartoffeln für den Eintopf klein schnitt. Dieser Yonnie ist wirklich charmant. Meine Güte, aber die liebe Becky war die perfekte Frau für ihn. Wie konnte er nur so blind sein und das nicht sehen? Ziemlich unerwartet kam Grace der Gedanke, dass er ihr vor einem Jahr auch das Herz hätte brechen können, wenn sie ihn gelassen hätte.

Was würde passieren, wenn der Mann, dem Beckys Zuneigung galt, weiterhin kommen und Dat helfen würde, solange Mama fort war? Im Moment konnte Grace nur hoffen, dass Yonnie nicht so unverschämt wäre und zum Mittagessen bliebe. Als wäre er ein bezahlter Arbeiter. Oder noch schlimmer: Als gehörte er zur Familie! Mandys Necken konnte sie verkraften, aber die unübersehbare Missbilligung ihres Bruders Adam belastete sie sehr.

* * *

Die junge Empfangsdame und das Pflegepersonal, das sie begrüßte, waren so freundlich, dass Heather ganz überrascht war. Diese nette Art half ein wenig, ihre Ängste und ihre Anspannung zu vertreiben, als sie der brünetten Arzthelferin durch den Flur zum Untersuchungszimmer folgte. Sie wurde nicht von der typischen sterilen Einrichtung eines Arztzimmers begrüßt. Das Zimmer, das sie betrat, verbreitete mit seinen Erdtönen und der Deckenbeleuchtung eine angenehme, ruhige Atmosphäre. Heather setzte sich auf den gemütlichen Stuhl und zwang sich, sich zu entspannen.

Von Dr. Marshall, einer hübschen, lebhaften, blonden Frau mit einem ansteckenden Lächeln und funkelnden, blauen Augen war sie ebenfalls beeindruckt. „Als Erstes möchte ich Sie bitten, mich Annie zu nennen“, begann sie. „Ich hoffe, dass wir gute Freunde werden.“

Durch diese freundliche Art ermutigt, nickte Heather. „Ich hoffe, dass Sie mir helfen können“, sagte sie. „Bei mir wurde ein Non-Hodg-kin-Lymphom im Stadium IIIA festgestellt. Aus diesem Grund bin ich hier.“

„Das ist wirklich eine beunruhigende Krankheit“, nickte Dr. Marshall ernst. „Die konventionelle medizinische Behandlung für B-Zell-Lymphome ist Rituximab. Das ist ein monoklonaler Antikörper, der das Antigen CD22 auf der Oberfläche der Lymphomzelle bekämpft.“

„Das ist ein komplizierter Name für Chemotherapie, nicht wahr?“ Heather erzählte von den schrecklichen Erfahrungen, die ihre Mutter gemacht hatte. Dann sagte sie: „Glauben Sie mir, daran habe ich kein Interesse.“

Annie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte sie verständnisvoll an. „Sie wissen vielleicht, dass unser Körper die erstaunliche Fähigkeit besitzt, Krebszellen zu bekämpfen, wenn er die richtige Ernährung bekommt.“ Dann beschrieb sie die Folgen von ungesunder Ernährung.

„Ich bin offensichtlich das Produkt der schlechten Essgewohnheiten meiner Eltern“, gab Heather zu.

„Das gilt für die meisten Menschen. Aber vergessen Sie nicht: Es ist nie zu spät für einen Neuanfang.“

„Ich hatte gehofft, das zu hören.“ Plötzlich fühlte sich Heather nicht mehr so allein.

Annie reichte ihr eine Broschüre über eine Kureinrichtung. „Vielleicht sollten Sie meine ganzheitliche Kurklinik in Betracht ziehen. Es ist die effektivste Art, die ich kenne, den Schaden, der durch ungesunde Ernährung und Umweltgifte im Körper angerichtet wurde, zu beheben. Betrachten Sie die Kur als Einstiegshilfe für Ihr persönliches Gesundheitsprogramm.“

Eine zehntägige Kur? Sie überflog den Prospekt und stellte überrascht fest, dass die Einrichtung sich in der Nähe des Bauernhofes der Riehls, auf dem sie wohnte, befand. „Danke. Ich werde es genau durchlesen.“

Annie lächelte. „Bevor Sie eine Entscheidung treffen, brauche ich einige Blutuntersuchungen, die mir helfen werden, einen auf Sie zugeschnittenen Therapieplan zu erstellen. Ich will genau wissen, womit wir es zu tun haben.“

Heather bemühte sich, ihr Unbehagen, weil sie erneut diese Untersuchungen über sich ergehen lassen musste, zu verbergen. Nadeln sind alles andere als natürlich.

* * *

Nach dem Gespräch mit der Ärztin wartete Heather im Wartezimmer, bis sie zur Blutabnahme ins Labor gerufen würde. Dr. Marshalls Arzthelferin hatte sie gebeten, bei ihrem nächsten Besuch in der Praxis auf Parfum und Haarprodukte zu verzichten, da nicht nur mehrere Patienten, sondern auch einige Mitarbeiter Allergien hatten.

Sie blätterte in einer Ernährungszeitschrift und war von einem Artikel über die Stärkung des Immunsystems fasziniert.

„Heather“, rief die Arzthelferin.

Sie stand auf und nahm die Zeitschrift mit ins Labor, wo sie den Artikel erneut aufschlug. Widerstrebend schob sie ihren Ärmel hoch, um sich Blut abnehmen zu lassen, und wünschte, sie hätte ihre Unterlagen von ihrem Arzt zu Hause angefordert. Andererseits wurden in dieser Praxis Dinge untersucht, die ihre Praxis überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte, wie Schilddrüsenunterfunktion, mögliche Unregelmäßigkeiten der Leberenzymwerte oder eine mögliche Überbelastung mit Schwermetallen. Auch Quecksilber, das aus Zahnfüllungen austrat, konnte das Immunsystem beeinträchtigen, hatte sie gelernt.

Mit zusammengekniffenen Augen wartete sie auf den ersten Stich, dem ein gleichmäßiger Strom dunklen Blutes in die Spritze folgen würde. Ihr graute vor Nadeln. Aber das motivierende Auftreten der ungefähr vierzigjährigen Ärztin hatte sie wirklich überrascht. Heather konnte spüren, wie sehr die optimistische Frau ihre Arbeit liebte. Am besten war, dass Annie glaubte, dass sie ihr tatsächlich helfen konnte, ihre Krankheit zu besiegen. Sie hatte das Gefühl, den richtigen Weg gefunden zu haben, um wieder gesund zu werden.

„Es kann gut sein, dass Sie sich erst schlechter fühlen, bevor es besser wird“, hatte die Naturheilpraktikerin sie bei ihrem Gespräch gewarnt. „Übelkeit, Kopfschmerzen, Krämpfe, Hautunreinheit – alle diese Symptome können auftreten, wenn kranke Zellen und Gifte den Körper verlassen. Aber das sind die ersten Anzeichen dafür, dass die Heilung einsetzt.“

Heather begriff, dass dieser Weg eine eiserne Disziplin von ihrer Seite verlangte. Der Aufenthalt in der Kureinrichtung würde bedeuten, dass sie keine feste Nahrung zu sich nehmen würde, damit ihr Körper seine Energie für den Heilungsprozess statt für die Verdauung verwenden konnte. Säfte und Brühen auf Pflanzenbasis würden ihren Körper von Giftstoffen befreien. Und zusätzlich zur täglichen Leber- und Darmreinigung, zu Dampfbädern und Saunagängen würde sie eine Trockenbürsttechnik lernen, mit der sie ihr größtes Organ, ihre Haut, entgiften konnte. Aber der Schwerpunkt wurde auf das Fasten mit Säften gelegt. „Frisch gepresstes, biologisches Gemüse und Obst wird Ihren Körper entgiften“, hatte Annie erklärt, als sie ihr eine ungefähr einstündige Einführung in ganzheitliche Heilung gegeben hatte.

Als Annie davon sprach, dem Körper die richtigen Nahrungsmittel zuzuführen, um Krankheiten zu verhindern und die Gesundheit zu erhalten, hatte Heather scherzhaft gesagt: „Wenn man Müll hineinsteckt, kommt auch Müll heraus?“

Zu ihrer eigenen Überraschung war Heather nach alledem immer noch fest entschlossen, ihre ganze Energie auf natürliche Heilungsmethoden zu konzentrieren. Sie wollte gleich heute damit beginnen und sich die nötigen Kräutertees und Nahrungsergänzungsmittel kaufen, unter anderem Zink und Vitamin B und C.

Mit Annies ermutigenden Worten im Kopf und einem Pflaster in der Ellenbeuge verließ Heather das Labor und ging zu ihrem Auto. Sie wollte gleich nach dem Mittagessen in einem Naturkostrestaurant zu Elis Naturkostladen im Osten von Bird-in-Hand fahren, bevor sie den Mut verlor oder anfing, Annies ganzheitlichen Ernährungs- und Lebensplan wieder infrage zu stellen. Abgesehen von den wenigen, bruchstückhaften Informationen, die sie von ihrer Mutter vor deren Tod bekommen hatte, hatte Heather noch nie so viele Informationen über Naturheilkunde aus einer verlässlichen Quelle bekommen.

Als sie die Kureinrichtung entdeckte, die Annie und ihre Angestellten ganzjährig betrieben, nahm sie den Fuß vom Gaspedal. Sie kannte das Äußere dieser Einrichtung ziemlich gut, da sie schon mehrmals daran vorbeigefahren und von dem eindrucksvollen Gebäude fasziniert gewesen war. Das Haus bildete einen starken Kontrast zum schlichten Haus der Riehls, obwohl beide ähnliche weiße Schilder auf dem Rasen in der Nähe der Straße aufwiesen. Das Bauernhaus aus roten Ziegelsteinen, das in eine Kurklinik umfunktioniert worden war, war von dem Grundstück, das ihr Vater vor Kurzem erworben hatte, sogar zu Fuß zu erreichen. Breite, weiße Fensterläden schmückten das Haus von vorn und von den Seiten, und ein großes Fenster glänzte links neben der schwarzen Eingangstür. Rund herum blühte violetter Flieder. Das Gelbgrün der Weiden dahinter unterstrich den Lauf des Mill Creeks, der sich durch das große Grundstück schlängelte.

Während sie im Schritttempo an dem Haus vorbeifuhr, staunte Heather erneut, welches Glück sie gehabt hatte, dass sie Wochen vor dem ursprünglich vereinbarten Termin mit Annie hatte sprechen können. War es wirklich Glück? Diese Frage ging ihr nicht aus dem Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie jetzt auf einen neuen Weg zusteuerte, eine wichtige Weggabelung für ihre Zukunft. Und ich verdanke es Mama, dass das alles in Gang gesetzt wurde.

„Es wird Zeit, diese CD22-B-Zellen zu bekämpfen“, sagte sie mit einem Blick in den Rückspiegel. „Und es wird Zeit, Dad über meine Diagnose zu informieren.“

Heather holte tief Luft und erinnerte sich an den Satz, den Marian und Becky Riehl oft sagten, wenn sie ihrer täglichen Arbeit nachgingen: „Mit Gottes Hilfe.“

„Wie wahr“, flüsterte sie.

* * *

Lettie Byler schloss die Tür ihres Motelzimmers hinter sich. Dann nahm sie ihr dünnes Tuch ab, zog ihr blaues Kleid und ihre Schürze aus und legte die Kleidungsstücke ordentlich auf den Stuhl. Sie schaute sich in dem kleinen, aber sauberen Zimmer um. Die weiß gestrichenen Wände waren noch heller als ihre Wände zu Hause, aber der graue Teppich und die ebenfalls grauen Vorhänge machten das Zimmer düster und bildeten einen krassen Gegensatz zu dem freundlichen Zimmer, das sie im Kidron Inn gehabt hatte. Tracie Gordon hatte Lettie mit großem Bedauern mitgeteilt, dass die gesamte Frühstückspension für diese Woche schon lange im Voraus reserviert worden war. Lettie war froh, dass sie für diese Zeit ein anderes Zimmer in der Gegend von Kidron gefunden hatte. Wenigstens so lange, bis sie das Gefühl bekam, nichts unversucht gelassen zu haben, um die Hebamme Minnie Keim, die bei der Geburt ihres ersten Kindes geholfen hatte, zu finden.

Bevor sie Kidron verlassen hatte, war Lettie zweimal zur wöchentlichen Viehauktion gegangen, wo die Bauern Milchkühe, Schweine, Schafe und Ziegen versteigerten. Obwohl bei den Auktionen vor allem Männer zugegen waren, hatte sie ein paar Frauen kennengelernt – die Ehefrauen und Töchter der Käufer – und hatte gehofft, sie könnte mit jemandem sprechen, der vielleicht Minnie oder ihren Mann Perry kannte.

Als sie am Samstagnachmittag gerade das Auktionsgelände verlassen wollte, war Lettie stehen geblieben, um einem strohblonden Schuljungen seinen Ball zuzuwerfen, der ihm weggerollt war. Er stand mit seinen zwei jüngeren Brüdern vor einer Waschanlage. Alle drei trugen breitkrempige Strohhüte und warteten, bis ihre Mutter damit fertig war, ihren schwarzen Einspänner für den Predigtgottesdienst am nächsten Tag abzuschrubben. Als sie Minnies Namen hörte, hatte die hübsche blonde Frau sie angestrahlt und ihr erklärt, dass die Hebamme in die Nähe von Baltic gezogen war. „Minnie wohnt dort bei einem Onkel und bei einer Tante, habe ich gehört.“

„Warum denn das?“, hatte Lettie gefragt.

„Ihr Mann hat vor Kurzem seine Arbeit verloren“, sagte die Frau und verzog mitfühlend das Gesicht. „Viele leiden unter der Wirtschaftskrise.“

Und so war Lettie hierher in das unauffällige, kleine Baltic gekommen, das nur wenige Meilen südöstlich von Charm lag. Es war für sie wie ein Geschenk des Himmels gewesen, dieses erschwingliche Zimmer zu finden, das für längere Aufenthalte einen Preisnachlass anbot. Aber sie war trotzdem froh, dass sie vielleicht nicht mehr lang hierbleiben müsste. Sie war den wenigen Hinweisen in dieser Kleinstadt und auch in der Gegend nördlich und östlich der Stadt nachgegangen. Der einzig brauchbare Tipp stammte von einer Amisch, einer gesprächigen Verkäuferin in Lehmans Gemischtwarenladen, die Minnies einzige Tochter Dora kannte. Sie hatte erfahren, dass Doras Verlobter bei Green Acres Furniture, gleich nördlich von Mt. Eaton, arbeitete. Also hatte Lettie die ganze Gegend abgesucht, auch Apple Creek und die umliegenden Dörfer, wo die vielen roten Scheunen sie überrascht hatten, die in Lancaster County nur selten zu sehen waren. Sie hatte auch eine junge Mennonitin dafür bezahlt, sie im Goose Bottom Valley und in Walnut Creek herumzufahren, aber ihre Suche war erfolglos geblieben. Sie fand keine Spur von Minnie, Dora oder von Doras Verlobtem.

Lettie war ziemlich deprimiert, dass die Leute, die sie getroffen hatte, ihr doch nie genau sagen konnten, wo Minnie sich zurzeit aufhielt. Einige sagten, sie sei möglicherweise zu Besuch bei Verwandten in Wisconsin, während andere erzählten, dass sie manchmal Missionseinsätze in Südamerika machte. Nicht einmal die Post hatte eine aktuelle Adresse von ihr. Lettie befürchtete allmählich, dass sie Minnie Keim nie finden würde.

In ihrem Herzen weigerte sie sich, die Suche aufzugeben, aber ihr Körper war von den ständigen Hindernissen auf dem Weg ganz erschöpft. Allmählich drängte sich ihr die Frage auf, ob die Hebamme aus einem bestimmten Grund untergetaucht sei. War es möglich, dass die nette amische Hebamme, die die Adoption von Letties Baby arrangiert hatte, jetzt einer anderen Arbeit nachging? Minnie hatte den Kontakt zu dem Arzt hergestellt, den sie und die Amischgemeinschaft hier in Ohio sehr geschätzt hatten. Sowohl Letties Mutter als auch die einfühlsame Hebamme hatten ihr versichert, dass alles gut geregelt werde. Minnie war damals alles andere als geheimnisvoll, verschlagen oder ausweichend gewesen, aber die Jahre konnten die Erinnerungen trüben.

Lettie erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass sie sich nicht aufregen solle, weil der Arzt bereits die Adoption des Babys über einen Anwalt vor Ort in die Wege geleitet habe. Was war das für ein Anwalt?, fragte sie sich jetzt. Haben sie mir je seinen Namen oder den Namen des Arztes gesagt?

Müde trat sie vor den Spiegel, nahm ihre Kapp ab und begann, die Haarnadeln aus ihrem Knoten zu ziehen. Sie ließ ihre hüftlangen Haare offen nach unten fallen. Meine Mutter zwang mich, für die Entbindung meine Gebetshaube abzunehmen und meinen Haarknoten zu lösen …

Die Erinnerungen an jenen furchtbaren Tag schlugen über ihr zusammen wie eine Meereswoge, und Lettie fühlte sich in diesem Moment genauso hilflos wie in den Stunden vor und nach der Geburt ihres ersten Kindes. Das geliebte Kind, das sie nie gesehen und nie in den Armen gehalten hatte, war so weit weg von zu Hause, in einer Pension, die völlig fremden Menschen gehörte, geboren worden. Ganz anders als ihre Kinder mit Judah, die in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer zur Welt gekommen waren, während Judah am Fenster saß und gespannt auf den ersten Schrei jedes neugeborenen Babys gewartet hatte. Diese Geburten waren so gesegnet gewesen, aber trotzdem waren sie alle von ihrer ersten Entbindung überschattet worden.

„So ist es am besten“, hatte Mama die Worte der Hebamme wiederholt, nachdem Letties erstes Kind in Decken gewickelt und weggebracht worden war. „Für das Baby und für dich, meine Liebe.“

„Meine Liebe“, flüsterte sie jetzt. Sie schüttelte die Ungerechtigkeit des Ganzen von sich ab und kehrte in Gedanken nach Hause zurück. Sie malte sich aus, wie Grace oder Mandy ihren Brief im Briefkasten fanden und ihre Töchter es nicht erwarten konnten, ihn zu lesen, und die Köpfe eng zusammensteckten.

„Wie soll ich das ertragen können?“, flüsterte Lettie. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Judah, wie er aus dem Stall kam, um sich die Hände zu waschen. „Mama hat uns geschrieben“, sagte vielleicht eines ihrer Kinder und reichte ihm den Umschlag. Würde er sich so weit für sie interessieren, dass er den Poststempel las und sah, dass sie in Ohio war? Würde er sich fragen, warum sie hierhergefahren war?

Er hat nie erfahren, was in Kidron passiert ist, dachte sie mit einer Mischung aus Reue und Traurigkeit.

Es gab Zeiten, in denen sie wünschte, ihre Mutter hätte nicht darauf bestanden, dass Judah dieses Geheimnis nie erfahren dürfe. Der ahnungslose Mann hatte ein Mädchen geheiratet, mit dem er nur sehr kurze Zeit befreundet gewesen war. Sie war nicht die unschuldige Braut gewesen, die Judah Byler in ihr gesehen hatte. Und das bedauerte Lettie immer noch. Es tat ihr sehr leid, und es machte sie furchtbar traurig.

Aber sie hatte es nie gewagt, die Worte ihrer Eltern infrage zu stellen. Warum war sie so schnell bereit gewesen, Dat und Mama alle Entscheidungen treffen zu lassen und warum hatte sie sich von ihnen wegschicken lassen? Ach, sie wusste es. Als Tochter war von Lettie erwartet worden, ihren Eltern zu gehorchen und alles zu tun, was sie für richtig und gut hielten. Ihre Verliebtheit in Samuel hatte ihre Familie verletzt, und dass sie ihr Baby hergeben musste, war ihre Strafe gewesen. Sie hatte ihre Eltern enttäuscht, und das konnte nicht vergeben werden. Und auch nicht vergessen.

Sie hatte in jenen Wochen und Monaten so viel Angst gehabt. Angst, dass Samuel sie nicht mehr lieben würde, dass er sie fallen ließe, wenn er erfuhr, dass sie schwanger war. Nachts hatte sie von ihrem Bett aus zum Himmel hinaufgeschaut, und ihr hatte vor ihrer Zukunft gegraut: Wenn Samuel sie verließe und das Geheimnis bekannt würde, würde kein Mann im ganzen Kirchenbezirk sie noch haben wollen. Sie wäre für den Rest ihres Lebens dazu verdammt, unter der strengen Hand ihrer unnachgiebigen Eltern als Mädel zu leben.

Und jetzt bin ich hier, und das habe ich mir ganz allein zuzuschreiben. Die Vergangenheit ließ ihr immer noch keine Ruhe. Dazu kam eine neue, immer größer werdende Angst, dass Judah umso wütender werden würde, je länger sie fortbliebe. Hatte sie schon zu lange gewartet?

Lettie zog ihre langen Haare auf eine Seite und setzte sich auf das gemachte Bett. Werde ich bald mit dem Gemeindebann belegt werden?, fragte sie sich besorgt.

Sie umklammerte den Rand des Kopfkissens, während ihr heiße Tränen über die Wangen und den Nasenrücken liefen. Oh, lieber Gott, hilf mir, stöhnte sie und fühlte sich völlig verloren. Sie musste Minnie Keim finden. Irgendwie musste sie die Hebamme ausfindig machen. Und auch den Arzt, der sicher etwas über ihr Baby wusste. Irgendetwas.

Ein Zug polterte durch die Stadt und schreckte sie mit seinem Pfeifen hoch. Sie rollte sich auf dem Bett zusammen und zog ihre nackten Füße unter ihrem langen Unterrock an. Völlig ausgelaugt sank Lettie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

* * *

Grace sah zu, wie ihr fünfzehnjähriger Bruder so schnell und drahtig wie ein Grashüpfer über den Hof sprang. „Ich hoffe, du hast genug gekocht“, sagte Joe und warf einen Blick hinter sich zum Stall, bevor er in die Küche trat.

„Wovon genug?“

„Genug Essen natürlich.“ Joes hellbraune Haare waren unter seinem Strohhut, mit dem er sich gerade Luft zufächelte, ganz nass vor Schweiß geworden. „Yonnie isst heute mit uns.“ Seine braunen Augen funkelten, als würde ihn das freuen.

„Heute?“ Sie atmete hörbar ein.

„Und wahrscheinlich auch an allen anderen Tagen … außer am Samstag und am Tag des Herrn.“ Er kratzte sich den Kopf. „Dat will anscheinend, dass er hier arbeitet. Wenigstens bis die Ablammzeit vorbei ist.“

„Das will Dat wirklich?“ Sie klang alles andere als begeistert.

Joe nickte. „Yonnie kann sehr gut mit den schwachen Lämmern umgehen. Das ist seine Aufgabe. Er soll dafür sorgen, dass die von ihren Müttern abgelehnten Lämmer mit der Flasche aufgezogen werden.“ Er lobte Yonnie weiter, als wäre er sein lange verschollener Bruder.

„Du solltest dich lieber waschen“, forderte Grace ihn unwirsch auf und ging zum Tisch zurück. Ihr gefiel diese unvorhergesehene Wende der Ereignisse überhaupt nicht. Ihre Hände zitterten, als sie jedes Glas mit Wasser füllte. Hoffentlich habe ich auch genug Essen gekocht!