Eckhard Lange

Die Vergessenen

Vermutungen über vier Frauen aus den Anfängen des Christentums

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

JUNIA - 1

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LYDIA - 1

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PRISKA - 1

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PHOEBE - 1

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EINIGE ANMERKUNGEN ZUM BESCHLUß

Impressum neobooks

JUNIA - 1

Johanna hatte ihre Freundinnen in ihrem großzügigen Haus in Magdala versammelt, und fast alle waren erschienen. Nur Maria, die Mutter des Meisters, trauerte noch immer um den Sohn, obwohl die Nachricht seiner Auferweckung sie ein wenig getröstet hatte. Aber die Aufregungen der Wochen zuvor, der schmerzliche Anblick des Gefolterten, das Miterleben seines Todeskampfes am Kreuz hatten sich tief in ihr Gemüt eingeprägt, das ließ sich nicht einfach verdrängen. So hatte sie Johanna die Nachricht überbringen lassen, sie fühle sich noch nicht in der Lage, den Weg von Kapernaum herüber zu wandern.

Die anderen Frauen hatten sich im Atrium des Anwesens des Chusa versammelt, die Sklavin reichte frische Datteln und Weintrauben, süßes Brot und den mit Wasser vermischten Wein von den Hängen Galiläas. Während ihre Mutter die Gäste begrüßte, saß die kleine Junia still in einer Ecke und schrieb eifrig auf ihrer Wachstafel, doch wer genau hinübersah, konnte unschwer erkennen, daß sie mehr auf das Gespräch der Frauen horchte als die Rechenaufgaben zu lösen, die ihr Vater ihr gestellt hatte. „Ich muß die Getreidelieferungen zusammenzählen, die im Palast eingegangen sind,“ hatte er ihr gesagt, „da kannst du mir sicherlich schon ein wenig behilflich sein.“ Stets hatte er ihr Aufgaben überlassen, an denen sie etwas lernen konnte, und da er die Listen natürlich immer selber aufstellte und nachrechnete, konnte er die Ergebnisse der Tochter ohne große Mühe damit vergleichen und so Lob oder Tadel aussprechen.

Doch an diesem Tag galt Junias Aufmerksamkeit dem, was die Frauen dort über den Meister sprachen. Auch früher waren seine Worte, die Heilung eines Kranken, eine Auseinandersetzung mit seinen Kritikern Thema dieser Zusammenkünfte gewesen. Da hatten sie dann auch über die Hoffnungen auf die kommende Herrschaft Gottes geredet, über die Feste, die der Meister diese Herrschaft vorwegnehmend mit vielen Menschen schon gefeiert hatte, über die geheimnisvollen Andeutungen, die er so oft schon gemacht hatte. Doch diesmal drehte sich alles um dieses erschreckende und doch auch tröstliche, ja Freude weckende Erlebnis, das Johanna gemeinsam mit Maria aus Magdala, Maria Klopas und Salome am Grabe des Meisters hatten. Und Junia nahm das alles auf, ihre kindliche Fantasie sah es wie mit eigenen Augen, was die Frauen dort erzählten.

Sie kannte ja den Meister. Mehrfach war er zu Gast in ihrem Hause gewesen, hatte auch mit der Achtjährigen nicht nur ernsthaft gesprochen wie mit jemand, der doch schon groß und verständig ist – er hatte auch mit ihr gespielt, gescherzt und ihr beim Abschied segnend die Hände auf den Lockenkopf gelegt. Sie mochte diesen Jesus aus Nazareth, auch wenn er schuld daran war, daß die Mutter oft wochenlang fort war, weil sie mit dem Meister durchs Land wanderte wie viele andere, Männer und Frauen. Der Vater sagte dann immer: „Sie probt für das Himmelreich!“ Doch das hatte sie nie so recht verstanden, und sie wusste auch nicht, ob Chusa, ihr Vater, den Meister wirklich ernst nahm oder das ganze für eine Marotte der Mutter hielt, die er nachsichtig lächelnd duldete, auch wenn sie manchen Denar für den Meister und seine Freunde ausgab.

Nun aber war der Meister fort, verhaftet, verurteilt und umgebracht. Sie hatte einmal auf dem Weg nach Cäsarea, wohin der Vater sie mitgenommen hatte, zwei Männer an einem solchen Kreuz hängen sehen, die Arme an einen Balken gebunden. Chusa konnte nicht verhindern, daß sie dort vorbei mussten, und auch wenn er der Tochter rasch den Kopfschleier ins Gesicht zog, damit sich diese Szene nicht in ihr kindliches Gemüt eingraben konnte – das schreckliche Stöhnen dieser Männer, ihr rasselnder Atmen, ihre unflätigen Flüche und Verwünschungen, die ihren Peinigern galten, das alles hatte sie gehört, und es hatte sie noch wochenlang bis in ihre Träume verfolgt. Ja, sie wusste, wie der Meister an einem solchen Kreuz gestorben war. Auch wenn man ihr alle Einzelheiten vorenthielt, ihre Träume von damals kehrten zurück. Doch niemals, das wusste sie noch Jahre später, hatte Jesus in diesen Träumen seinen Peinigern geflucht wie jene Männer an den Kreuzen vor Cäsarea. Nein, das hatte er nicht!

Jetzt aber sprach die Mutter von etwas anderem, und das war bestens geeignet, ihre Fantasie zu beflügeln: Die vier Frauen waren am Tag nach dem Passahfest zum Grabe gegangen, um die Salbung des Meisters nachzuholen, die während des Festtages ja verboten war. Und sie hätten dort in eine leere Grabeshöhle geschaut und eine Stimme gehört, die ihnen sagte, daß Gott den Meister auferweckt habe, daß er nicht im Totenreich weilte, sondern bei Gott. Und nun, so erzählten die Frauen, hätten auch die Freunde des Meisters Jesus gesehen, nicht so, als wenn er noch lebte, aber doch auch nicht tot. Und Junia sah vor ihrem inneren Auge, was jene erlebt hatten: Sie sah den Meister, wie er zu ihnen sprach, ihnen ganz nahe war und doch unendlich weit entfernt, weil er ja nun in der Welt Gottes lebte. Und sie war überzeugt, das sind keine Träume, das ist wirklich so.

In diesem Augenblick betrat Chusa den Innenhof, freundlich grüßte er die Frauen und winkte dann der Tochter. „Schade,“ dachte Junia, „ich hätte viel lieber zugehört, was die Großen hier besprechen“. Aber eben das wollte ihr Vater verhindern. Er ließ sich die Wachstafel zeigen und sah sofort, wie abgelenkt sie dieses Mal gewesen sein mußte. Doch er schalt sie nicht für die Fehler, sondern wischte die Zahlen einfach fort und gab ihr den Auftrag, der Sklavin in der Küche bei der Zubereitung des Mahles zu helfen. „Bei so vielen Gästen musst du ihr schon zur Hand gehen,“ sagte er. „Du willst doch nicht, daß man die Flavia bestraft, weil sie nicht rechtzeitig fertig geworden ist.“ Nein, das wollte Junia nicht, auch wenn sie sicher war, die Mutter würde die Sklavin deswegen nicht bestrafen. Aber Flavia war immer lieb zur Tochter des Hauses gewesen, da war es nur recht, wenn sie ihr half.

Chusa, ihr Vater, hatte indessen noch ganz andere Sorgen. Er war verantwortlich für den Palast des Herodes, des Tetrarchen von Galiläa, in Tiberias, doch dieser einträgliche Posten bedeutete schon stets, daß er zwischen die Fronten geraten konnte. Einerseits ging es um seine Tätigkeit in der neuen Hauptstadt Tiberias. Chusa war durchaus ein frommer Jude, denen jedoch war diese Stadt fluchwürdig. Nicht nur, weil sie ganz nach Art heidnischer Städte angelegt war mit all den Gebäuden, die heidnischer Lebensart entsprachen – Theater, Bäder, sogar ein Tempel. Vor allem aber hatte Herodes für die Anlage der Rennbahn einen Friedhof überbauen und die Grabsteine einfach beseitigen lassen – ein unverzeihlicher Frevel in den Augen der Pharisäer. Die Rabbinen hatten die Stadt deshalb für unrein erklärt, aber Chusa mußte sie dennoch betreten. Immerhin hatte er selbst sich ein Grundstück im benachbarten Magdala gekauft, um dort sein durchaus luxuriöses Haus zu errichten – also nicht auf entweihtem Boden. Daß sein fürstlicher Arbeitgeber, Landesherr in Galiläa und den Gebieten östlich des Jordans, bei seinen schlicht gläubigen Untertanen herzlich unbeliebt war, wegen seiner Prunksucht, seiner Arroganz und seiner wenig frommen Lebensart, das kam noch hinzu.

In den letzten Jahren hatte Chusa dazu mit einem anderen Problem zu kämpfen. Seine Frau Johanna hatte sich ganz eindeutig diesem Wanderprediger aus Nazareth angeschlossen, lud ihn in sein Haus ein, begleitete den Meister auch gelegentlich auf seinen Wanderungen und sammelte eifrig Spenden für ihn und seine Freunde, wobei sie selbst am meisten gab. Chusa fand diesen Jesus durchaus sympathisch, und manches von dem, was er sagte, beeindruckte ihn, doch er wusste wohl, daß der Tetrarch nichts von dem Nazarener hielt, ja, sogar zweimal einen Haftbefehl ausgestellt hatte, der aber jedes Mal wieder außer Kraft gesetzt wurde. Da war es schon höchst gefährlich, einen Landesfeind als Gastfreund im Hause zu haben. Doch Johanna zuliebe hatte er das stets geduldet, und bislang war es auch ohne böse Folgen geblieben.

Nun aber war eine neue Situation eingetreten. Jesus war tot, das machte Chusa das Leben leichter – auch wenn er den Nazarener für unschuldig und das Opfer bloßer Intrigen hielt. Aber eben – Jesus war ein vom römischen Prokurator verurteilter Verbrecher, und dennoch trafen sich seine Anhänger weiterhin und verbreiteten die Nachricht, er sei von den Toten auferweckt worden. Und ausgerechnet seine Frau Johanna wurde da als Zeugin genannt. Chusa wusste, Johanna war eine ernsthafte Frau, nie würde sie solche Behauptungen aufstellen, wenn sie nicht wirklich etwas Besonderes erlebt hätte. Doch sie war eben auch nur eine Frau, deren Zeugnis in der Öffentlichkeit wohl wenig Gewicht hätte. Und er, ihr Mann, der Verwalter des Tetrachen, stand wieder einmal dazwischen. Wenigstens die Tochter, die mit ihren acht Jahren noch für vieles empfänglich war, wollte er deshalb aus dieser Angelegenheit heraushalten.

In den nächsten Wochen wurden die Treffen der Frauen im Hause des Chusa allerdings seltener, einerseits versammelten sich die Anhänger des Meisters, Männer wie Frauen, nun häufig im Hause des Fischers Simon Petrus in Kapernaum, um dort das gemeinsame Mahl zu feiern, wie der Meister es ihnen bei seinem Abschied nahegelegt hatte. Andererseits trafen die Frauen sich zwar weiterhin auch in Magdala, doch jetzt vermehrt im Hause der Maria. Jesus hatte sie, wie alle wussten, vor langer Zeit von einer tiefen Schwermut befreit, und seitdem war Maria eine besonders treue und fürsorgliche Jüngerin gewesen. Dennoch vermied der Meister es, in ihr Haus einzukehren, sie war ehelos geblieben, da schickte es sich nicht, wenn Männer dort zu Gast waren, und er wollte keinesfalls ihrem Ruf schaden. Nun aber freute sich Maria, endlich die Freundinnen bei sich bewirten zu können, und weil Johanna manches zu den Mahlzeiten beisteuerte, brachten sie diese Einladungen auch nicht in Verlegenheit. Johanna jedoch sah schon, daß Chusa darüber erleichtert war, und sie verstand seine Lage durchaus.

So war es vor allem Junia, die die Gespräche der Frauen vermisste, doch bald hatte sie die Mutter überredet, sie wenigstens zu Maria mitzunehmen, und der Vater konnte es ihr nicht verwehren. Je älter Junia wurde, desto mehr fragte sie nun auch, statt bloß zuzuhören, und manche Erinnerung an den Meister blieb ihr so im Gedächtnis. Anderes dagegen lernte sie bei den Treffen der Frauen, was sie als Kind noch nicht verstanden hatte. So galt sie dann ebenfalls als eine Jüngerin des Meisters, und sie selbst verstand sich auch so – hatte Jesus sie nicht ebenso gesegnet wie andere?

2

Zwei Jahre war es nun schon her, daß der Meister in Jerusalem gekreuzigt worden war. Seitdem mied Johanna die Stadt, niemals wieder würde sie den Hügel Golgatha wiedersehen wollen; aber auch vor jenem Grab des Josef, an dem sie zusammen mit den anderen Frauen jene Botschaft erhalten hatte, daß der Meister von Gott aus dem Totenreich herausgeholt worden sei, hatte sie eine fast panische Scheu – das Licht, die Stimme, die Nachricht selbst – das alles war so überwältigend gewesen, hatte sie für einen Augenblick die Nähe des Allmächtigen erfahren lassen, daß sie es nicht über sich bringen konnte, diesen Ort noch einmal und ohne all dies zu sehen.

Immer wieder hatte Junia sie nach ihrem Erlebnis ausgefragt, und sie hatte versucht, ihr zu erklären, was doch unerklärbar war, doch die Tochter war dennoch immer tiefer eingetaucht in eine Wahrheit, die sie selbst nie erlebt hatte und die ihr inzwischen so vertraut war wie die Erinnerung an die Besuche des Meisters im Hause des Chusa. Junia war ein verständiges, ernsthaftes Mädchen, dazu durchaus lebhaft und von rascher Auffassungsgabe. Der Vater, dem keine Söhne geschenkt waren, ließ ihr von einem griechischen Freigelassenen Unterricht erteilen, als wäre sie ein Knabe. So wuchs sie zweisprachig auf. Mit den Angestellten, auf der Straße, auch mit den Freundinnen der Mutter und natürlich in der Synagoge wurde aramäisch gesprochen, die Muttersprache der galiläischen Juden, doch in der Familie nutzte man weitgehend das Griechische. Chusa sprach es am Hofe des Herodes, und er pflegte diese Sprache auch zu Hause, war sie doch Zeichen seiner Bildung, seiner Zugehörigkeit zur höheren Gesellschaftsschicht. Sogar einige Brocken Latein wusste er zu verwenden, wenn es nötig wurde.

Und obwohl die Mutter darauf verzichtete, den Gatten nach Jerusalem zu begleiten, wenn er im Auftrag des Tetrarchen nach Judäa reiste oder auch, soweit es der Beruf erlaubte, um an den Festen im Tempel teilzunehmen, Junia drängte den Vater stets, sie doch mitzunehmen. Gerne verweilte sie dann im Vorhof der Frauen, aber wenn es der Vater erlaubte, suchte sie auch die Gemeinschaft der Jünger des Meisters auf, die sich täglich in einem Hause ganz in der Nähe des Tempels traf. Auch wenn sie erst zehn Jahre alt war, man begrüßte die Tochter der Johanna stets freundlich. Chusa gestattete es, wusste er sie doch dort wohlbehütet, wenn er in Geschäften unterwegs war, und Maria, die er ja gut aus Magdala kannte, bewachte das Mädchen wie ihren Augapfel, da war er ganz sicher.

Es gab in Jerusalem jedoch noch eine andere Gruppe, die sich zu den Anhängern des Nazareners zählte. Das waren griechischsprachige Juden, die lange in der Fremde gelebt hatten oder sogar dort geboren waren. Und Maria, die gerne erzählte, daß der Meister sogar heidnischen Menschen geholfen hatte – einem römischen Centurio etwa oder einer kranken Frau aus Tyros – ging gerne auch zu diesen Brüdern und Schwestern. Sie verstand nicht, daß Petrus und Johannes dorthin eher Abstand hielten, glaubten sie doch ebenso an die Auferweckung des Meisters und daran, daß er bald wiederkommen und Israel erlösen würde. Ein oder zwei Male hatte sie deshalb auch Junia bei ihren Besuchen mitgenommen, schließlich kannte das Mädchen ja auch diese andere Sprache.

Auch wenn Johanna Jerusalem nicht aufsuchte – gerne hörte sie von der Tochter, was dort geschah, und auch die Freundinnen erzählten oft von Petrus und Johannes und den anderen Freunden, die Jesus nachgefolgt waren. Nun war übrigens auch der Bruder des Meisters dazugestoßen, der doch zu seinen Lebzeiten sich stets ablehnend verhalten hatte. Doch der Auferstandene, so erzählte man, sei auch ihm erschienen. So fanden immer wieder Menschen zum Glauben, und die Gemeinschaft wuchs langsam, aber stetig. Nicht nur Männer und Frauen aus Jerusalem und den umliegenden jüdischen Gebieten, sondern eben auch jene hellenistischen Juden bekannten sich zu Jesus als dem Messias.

Junias wacher und kritischer Geist hatte wohl bemerkt, daß diese Gruppe sich längst nicht mehr streng an die vielen Vorschriften hielten, die doch für einen frommen Juden Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben bedeuteten. Maria hatte es ihr einmal so erklärt: Auch Jesus selbst hatte die Gesetze, die Israel auferlegt waren, oft durchbrochen oder missachtet. Nicht sie seien es, die den Weg zu Gott öffnen, so erklärte sie Junia, sondern allein die Barmherzigkeit Gottes selbst. Das habe der Meister klarmachen wollen. Wenn also Petrus und Jakobus alle die Vorschriften treu erfüllen, so sei das zwar gut, um fromme Juden nicht zu verstören, wenn sie ihnen den Messias verkündeten, aber notwendig sei es nun nicht mehr. Das verstand Junia wohl, und sie konnte sich den oft so fröhlichen Meister auch nicht als sauertöpfischen Pharisäer vorstellen, der jeden Sabbat seine Schritte zählt, um nur nicht einen zuviel zu tun.

Eines Tages aber brachte Chusa aus Jerusalem eine schreckliche Nachricht mit: Eben diese Pharisäer hätten einen der Leiter dieser hellenistischen Anhänger des Meisters angezeigt, und er sei verhaftet worden. Mit großer Sorge hörten Johanna und ihre Tochter davon, und Junia erzählte nun der Mutter, sie hätte diesen Mann mit Namen Stephanus selbst einmal durch Maria kennengelernt. „Er ist voller Begeisterung,“ sagte sie, „und er wird sich nicht irgendwie herausreden, sondern fest zum Meister stehen. Das kann ihn den Kopf kosten.“

Und sie sollte recht behalten. Einige Tage später kam die Nachricht aus Jerusalem, der Hohe Rat hätte ihn verhört und zum Tode verurteilt. Er sei wegen Gotteslästerung gesteinigt worden. Als Johanna der Tochter die Botschaft überbrachte, war sie erstaunt über Junias Antwort: „Ich kann nicht trauern, Mutter,“ sagte sie. „Er ist doch für den Meister, für Gottes Sache gestorben. Ich wollte, ich hätte einmal den gleichen Mut.“

3

Chusas Gedanken waren recht zwiespältig, als er im dritten Jahr der Regierung des Kaisers Caligula von seinem Herrn Herodes Antipas den Befehl erhielt, ihn auf einer Reise nach Rom zu begleiten. Einerseits wusste er die Ehre und das Vertrauen zu schätzen, das der Tetrarch in ihn setzte, andererseits würde er für Monate seine Familie nicht zu Gesicht bekommen – daß er sie nie wiedersehen sollte, damit rechnete er allerdings nicht. Seit der Neffe seines Herrn, Herodes Agrippa, zwar nur das unbedeutende Ituräa zugesprochen bekommen hatte, das aber nun verbunden mit dem Titel eines Königs von Juda, lag die ehrgeizige Gattin dem Herodes Antipas in den Ohren, beim Kaiser auch für Galiläa diesen Rang zu erbitten. Also beschloß er, mit entsprechendem Gefolge, Caligula aufzusuchen. Und sein Verwalter Chusa zählte dazu.

In Rom allerdings verlor er dagegen alles: Agrippa, gut befreundet mit dem Kaiser, verleumdete ihn mit allem nötigen Geschick, um selbst Galiläa zu erhalten, und Caligula tat ihm den Gefallen. Der Tetrarch wurde abgesetzt und ins ferne Gallien verbannt, und Chusa erlitt das gleiche Schicksal. Der neue Herrscher aber hatte auch neue Männer um sich: Als vom Kaiser Verbannter galt Chusa für ihn als enteignet, schließlich mußte Agrippa seine Getreuen nicht nur mit einträglichen Posten, sondern auch mit angemessenen Häusern ausstatten, und da kam der Besitz in Magdala mit seiner ansehnlichen Villa gerade recht. Johanna und ihre Tochter wurden nicht nur von Haus und Hof vertrieben, sondern zugleich aus dem Herrschaftsbereich des Königs ausgewiesen, mittellos verließen sie die Stadt und das Land.

Weder die Freundinnen noch die Gemeinde in Kapernaum konnten deshalb etwas für die beiden tun, allerdings sammelten sie dafür, daß sie unterwegs keine Not leiden sollten. Denn Maria empfahl ihnen dringend, nach Antiochia am Orontes zu gehen, dorthin hätten sich damals die Anhänger des Stephanus geflüchtet, als sie in Jerusalem verfolgt wurden, und seitdem wäre dort eine große Gemeinde entstanden. Der Gemeindeleiter von Kapernaum gab den beiden ein Empfehlungsschreiben an die Brüder in Antiochia mit, sie würden sicherlich für sie sorgen und sie herzlich aufnehmen. So machten sich Johanna und Junia auf den Weg ins Ungewisse. Mit nichts als dem, was sie tragen konnten, wanderten sie von Kapernaum über die galiläischen Berge ins syrophönizische Land, das zur römischen Provinz Syrien gehörte. In Ptolemais gab es eine kleine Gemeinde, die sie für eine Weile beherbergte und ihnen eine Schiffspassage bis Sidon besorgte.

Es war Johannas Ruf als Auferstehungszeugin, die die Christen dort beeindruckte. Gerne hätten sie die beiden Frauen auch auf Dauer in ihrer Mitte gesehen, aber die Nähe zu Galiläa und die Anfeindungen der jüdischen Gemeinde dort ließen es ratsam erscheinen, sie nach Antiochia weiterzuschicken. Junia war nun zwölf Jahre alt und damit im heiratsfähigen Alter, und sicher würde sie unter den zahlreichen Brüdern in der Großstadt Antiochia eher einen Mann finden, der sie trotz ihrer Armut heiraten und damit auch versorgen könnte. Ihre Mutter dagegen wurde nun als Witwe angesehen, wie in allen Gemeinden galt diesen Frauen deren besondere Fürsorge.

Von Sidon aus fanden die beiden ein Schiff, das trotz der drohenden Herbststürme die Fahrt bis Seleucia Pieria noch wagen würde. So trafen sie denn rechtzeitig vor den Wintermonaten in Antiochia ein. Einer der Gemeindelehrer, Lucius von Kyrene, nahm die beiden Frauen bei sich auf. Er war verwitwet und hatte eine zehnjährige Tochter, so hoffte er, Johanna könnte sich um das Mädchen kümmern und Junia würde ihr eine große Schwester sein. Auch hier wurde Johanna gebeten, ihre Erlebnisse vom Ostermorgen zu berichten, und bald war sie in der Hausgemeinde des Lucius auch in der Armenfürsorge tätig. Ihr eigenes Schicksal half ihr, die Not anderer zu verstehen und ihnen nicht nur mit den Liebesgaben der Gemeinde, sondern auch mit tröstenden Worten zur Seite zu stehen.

Junia dagegen nahm alles auf, was die Propheten und Lehrer in dieser großen Gemeinde sagten; und bald begann sie, selbst Fragen zu stellen und auch mitzureden, wenn über den Glauben an den Christus Jesus geredet und manchmal auch gestritten wurde. Es war besonders Barnabas, der vor einiger Zeit aus Jerusalem nach Antiochia gekommen war und als Abgesandter der ersten Gemeinde auch hier großes Ansehen genoß, dessen Ausführungen sie beeindruckten. Trotz ihrer Jugend ging Barnabas gerne auf ihre Fragen ein, hatte sie doch den Herrn selbst noch kennengelernt. Jetzt, aus dem Abstand heraus und im Gespräch mit den Lehrern der Gemeinde, kam ihr manches wieder ins Gedächtnis zurück, was damals im Hause des Vaters oder auch der Maria geredet wurde. Sie verstand nicht nur den Meister immer besser, sie wusste auch dieses Wissen einzubringen in die Versammlungen der Gemeinde. Barnabas und Lucius und die anderen Leiter staunten über ihre klugen Beiträge, und bald erteilten sie ihr auch das Wort, wenn Fremde zu den Versammlungen kamen und hören wollten, was es mit diesem neuen Glauben auf sich hat.

Eines Tages stellte Barnabas den antiochenischen Schwestern und Brüdern einen Mann vor, den er vor längerer Zeit in Jerusalem kennengelernt hatte und der nun aus seiner Heimat Tarsus hierher gekommen war. Er hieß Saul, oder, wie er sich für die griechisch Sprechenden lieber nannte, Paulus. Dieser Saul war ein gelehrter Mann, aus jüdischem Geschlecht und bei einem bekannten pharisäischen Lehrer einst in Jerusalem ausgebildet. Etwas anderes aber beeindruckte die Gemeinde weit mehr: Er hatte die Anhänger des Christus Jesus einst wütend verfolgt, weil er ihre Botschaft für eine Irrlehre hielt, aber dann war ihm in einer Vision der Herr selbst erschienen und hatte ihn in den Dienst gerufen. Und nun predigte er mit großer Vollmacht und klugen Argumenten, daß dieser Jesus der von Gott verheißene Messias sei.

Vor allem eines bewegte Junia sehr: Paulus trat offen dafür ein, daß nicht nur die Menschen aus dem erwählten Volk Gottes, aus Israel, zur Gemeinde des Herrn gehörten, sondern daß allen, aus welchem Volk sie immer kommen mochten, die Botschaft galt, ohne daß sie nun erst Juden werden und sich dem Gesetz unterwerfen müssten. Nicht das Gesetz, sondern allein die Barmherzigkeit Gottes würde den Menschen retten, wenn er sich ihr anvertraue. Hatte der Meister nicht selber ähnliches verkündet? Und hatte nicht Maria damals in Magdala ihr davon erzählt? Ja, das war die Wahrheit, und für diese Wahrheit wollte auch sie eintreten. Der Meister hatte sie einst gesegnet, als sie noch ein Kind war, aber dieser Segen war doch auch ein Auftrag für sie. Es war wie eine Erleuchtung, alles, was sie bisher verstanden und gelernt hatte, es hatte nur diesen einen Zweck: Sie sollte selber diese Botschaft weitersagen. Auch wenn sie noch nicht wusste, wann und wie das geschehen sollte.

4

Andronikus war noch ein junger Mann, vielleicht vier Jahre älter als Junia. Er war hochgewachsen, mit langem, nur leicht gewelltem Haar, sein Bart war kurz gehalten, und da er sich auch nach Art der Griechen kleidete, wirkte er keinesfalls wie ein Jude, obwohl er einst beschnitten worden war und aus dem Stamm Benjamin stammte.

Andronikus hatte sich vor Jahren von den Predigten des Stephanus überzeugen lassen, und der hatte ihn auch getauft, kurz bevor er verhaftet wurde. Als nach dem Tod des Stephanus die meisten seiner Anhänger vor der Verfolgung durch den Hohen Rat aus Jerusalem flüchteten, war er zunächst untergetaucht. Er war damals ja noch ein Jüngling, kaum bekannt in der Gemeinde und wohl auch bei ihren Gegnern, und seine Eltern waren biedere Jerusalemer Bürger. Sie hatten ihn bei einem der vielen Schreiber in die Lehre gegeben, der für die Ungeschickten – und das waren die meisten – Verträge oder auch Gesuche an die Behörden aufsetzte. Letzteres geschah oft auch auf Griechisch, und so lernte Andronikus bald diese Sprache genauer.

Allerdings vermisste er die Gemeinschaft der Stephanusgemeinde, denn die Männer, die sich um Petrus und Johannes sammelten, forderten von allen, sich auch weiterhin den Gesetzen Israels zu unterwerfen. Eine Weile hielt er sich dennoch zu ihnen, schließlich war er in jüdischer Tradition aufgewachsen, und die Gebete im Tempel waren ihm seit seiner Kindheit vertraut. Aber Stephanus hatte ihn doch einen weiteren Blick gelehrt, das alles machte ihn unsicher.

Da kam ihm ein günstiges Geschick zu Hilfe: Als er für seinen Lehrmeister gerade einen Vertrag anfertigte, betrat ein Mann das Ladenlokal, dem man seinen Reichtum auf den ersten Blick ansah: Er trug nicht nur mehrere Ringe, sein lederner Gürtel war mit Silberplättchen beschlagen, ein großes Siegel hing ihm an einer Goldkette um den Hals. Der Fremde schaute dem jungen Mann neugierig über die Schulter, dann sagte er: „Du hast eine schöne Handschrift, mein Junge!“ Andronikus sah verwundert auf, Lob bekam er nur selten. Doch der Mann fuhr fort: „Kopierst du diesen Text, oder hast du ihn selbst entworfen?“ „Ich schreibe nur, was der Auftraggeber verlangt,“ sagte der Junge vorsichtig, doch dann ergänzte er: „Aber ich bemühe mich, es so zu formulieren, daß es zu seinen Gunsten ist.“

Inzwischen war der Schreiber selbst hinzugetreten, und Andronikus wandte sich wieder seiner Arbeit zu, während der Fremde mit dem Meister verhandelte. Doch dann rief er den Jungen und sagte: „Dieser Herr hier wünscht, daß du seine Verträge niederschreibst. Du sollst ihm in sein Haus folgen, dort liegt alles Material und auch Pergament und Feder. Zeig also, was du bei mir gelernt hast, und beschäme deinen Meister nicht!“

So kam Andronikus in das Haus eines Getreidehändlers. Er hatte mehrere Güter in Samaria und Galiläa unter Vertrag, die ihm die gesamte Weizenernte abgetreten hatten, und er belieferte damit drei oder vier römischen Garnisonen im Land – ein einträgliches Geschäft, wie der Junge rasch bemerkte, denn es ging dem Händler nicht nur um ein paar Verträge, sondern bald vertraute er Andronikus seinen gesamten Schriftverkehr an. Er hatte gesehen, daß der junge Mann verschwiegen und ehrlich war und niemals versuchte, für sich selbst etwas zu erreichen. So wurde er mit dem Lehrmeister des Jungen handelseinig und zahlte ihm eine entsprechende Summe, damit er ihm seinen Gesellen ganz überließ.

Andronikus wohnte jetzt im Hause seines Herrn, aber er diente ihm als freier Mann, erhielt auch einen guten Lohn. Der Getreidehändler merkte, daß sein neuer Sekretär nicht nur schön und geschickt zu schreiben verstand, sondern auch durchaus redegewandt war. So übertrug er ihm ab und an eine Verhandlung mit einem Kunden, wenn er selber unabkömmlich war und das Gespräch irgendwo in der Provinz stattfinden sollte. Es mochten etwa sechs Jahre vergangen sein, seitdem Andronikus für ihn arbeitete, da rief der Herr ihn in sein Arbeitszimmer.

„Ich habe inzwischen mancherlei Kontakte nach Syrien, wie du ja weißt,“ begann er. „Jerusalem ist schließlich nicht der Nabel der Welt, Antiochia ist da eine ganz andere Klasse. Aber die Stadt am Orontes ist weit, es braucht Tage, bis ein Schreiben dort eintrifft. Doch die Konkurrenz vor Ort ist groß, wenn ich in Antiochia Fuß fassen will, brauche ich einen Agenten, der in der Stadt lebt und dem ich vertrauen kann.“ Er machte eine Pause, dann fragte er ganz direkt: „Würdest du dir zutrauen, mich in Antiochia zu vertreten? Ich weiß, daß du mich nicht betrügen wirst, sondern redlich bist. Ich werde dir einen guten Lohn zahlen, damit du dort auch angemessen wohnen und dich kleiden kannst.“

Andronikus mußte wohl recht erstaunt und auch unsicher ausgesehen haben, deshalb legte der Patron ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihn offen an: „Du musst jetzt nicht antworten, ein solcher Schritt will schließlich wohl bedacht sein. Laß dir also Zeit, und wenn du dich entschieden hast, dann sag es mir.“ Aber Andronikus hatte sich bereits entschieden. Waren nicht die meisten aus der Gemeinde des Stephanus nach Syrien geflohen; gab es nicht eine große Gemeinde gerade in Antiochia, dieser Metropole des Ostens? Was er kaum zu träumen gewagt hatte, jetzt könnte es Wirklichkeit werden: Er würde die Geschwister von einst dort wiedertreffen, er könnte wieder das Mahl mit ihnen feiern und endlich auch den Lehrern lauschen, die er solange vermisst hatte. Dennoch ließ er sich einen Tag Zeit, ehe er seinem Herrn zusagte.

Bald darauf schon kam der junge Jude Andronikus nach Antochia und nahm in einer Herberge Quartier. Noch ehe er sich eine Wohnung suchte, forschte er nach den Stephanusjüngern, die man hier in der Stadt allgemein „die Christen“ nannte. Barnabas und Lucius kannte er noch von früher, sie waren jetzt die Leiter der Gemeinde. So fragte er sich nach Lucius durch, der inzwischen auch im Rat des Stadtteils saß. Als er dessen Haus betrat, sah er zum ersten Mal jene junge Frau mit Namen Junia, ohne zu wissen, daß sie für viele Jahre miteinander leben und arbeiten würden. Junia war hoch aufgeschossen, fast noch größer als Andronikus, sie hatte ein schmales Gesicht, auch ihre Gestalt war schlank, fast konnte man sie mager nennen. Ihr dunkles Haar war unter einem Schleier verborgen.

Erst glaubte er, eine Sklavin vor sich zu haben, und bat sie, ihn ihrem Herrn zu melden. Sie lächelte ihn an: „Melden will ich dich gerne, Fremder, aber wenn du Lucius meinst – er ist nicht mein Herr und auch nicht mein Patron.“ Sie führte ihn in einen kleinen Raum, das Haus des Lucius besaß zwar ein Peristyl, doch der Hof war eng und ohne Säulen, nur zum Triclinium hin wurde die Öffnung von einer schmalen Säule geteilt. „Warte hier, bitte,“ sagte die junge Frau und zeigte auf eine Kline an der Wand. „Sagst du mir auch deinen Namen, damit ich dich Bruder Lucius melden kann?“ Andronicus blickte sie an: „Du nennst ihn Bruder? Dann bist du eine Schwester, nicht wahr, getauft auf den Namen unseres Herrn?“

Junia nickte, dann antwortete sie mit einem Anflug von Ironie: „Wenn du mir schon deinen verschweigst, will ich dir doch meinen Namen nennen: Ja, ich bin getauft. Ich heiße Junia, und ich bin die Tochter des Chusa und der Johanna aus Magdala.“ Andronikus errötete ein wenig. „Entschuldige, ich war nur so froh, endlich wieder Brüder und Schwestern zu treffen. Ich bin Andronikus, und ich komme aus Jerusalem. Allerdings nicht von den Brüdern um Petrus und den Söhnen des Zebedäus geschickt, sondern in einer geschäftlichen Angelegenheit für meinen Patron. Aber ich werde wohl einige Zeit hier in Antiochia bleiben, und ich freue mich, die Geschwister wieder zu treffen, die damals Jerusalem verlassen mussten. Denn auch ich bin getauft – von Stephanus, der für den Herrn gestorben ist.“

„Ja“, sagte Junia, „wir haben davon gehört. Es war eine schreckliche Nachricht für uns alle. Ich war damals noch ein Kind, da hatte ich kaum begriffen, was mit ihm geschehen war. Aber ich bin ihm ein oder zweimal in Jerusalem begegnet, daran erinnere ich mich noch gut. Und du hast Stephanus näher gekannt?“ Der junge Mann nickte zustimmend: „Er hat mir die Augen geöffnet für den Glauben,“ sagte er. „Aber auch ich war noch sehr jung damals und habe vieles nicht verstanden. Doch hier bei euch werde ich sicher gute Lehrer finden.“ „Bruder Lucius ist einer von ihnen,“ gab Junia zurück, um dann die Hand zu heben: „Entschuldige, Bruder... Andronikus, nicht wahr? Wir schwatzen hier miteinander, und dabei sollte ich ihm endlich deine Ankunft mitteilen.“ Sie wandte sich um und lief aus dem Raum, während der junge Mann sich auf der Kline niederließ.

Einen Augenblick später brachte ein Sklave – oder auch ein Freigelassener – ein Tischchen mit einem Becher Wein und einer Schale mit Früchten. „Der Herr wird gleich zu dir kommen,“ sagte er. „Junia bittet dich, du mögest dich erst einmal stärken. Du wirst hungrig und durstig sein.“

5

Im ersten Quartier, zwischen dem Orontes und der schnurgeraden Hauptstraße, fand Andronikus in einer Insula eine erste Wohnung: ein offenes Ladengeschäft an der Gasse, das er als Büro zu nutzen gedachte, und darüber zwei Räume, in denen er eine Liege aufstellte und im anderen auch ein Tischchen und zwei Sessel. Die ersten Wochen vergingen damit, einige Geschäftsfreunde seines Patrons aufzusuchen, sich vorzustellen und über Getreidelieferungen zu verhandeln. Bald handelte er auch mit anderen Waren – Feigen und Datteln, Oliven und getrockneten Weintrauben. Sein Auftraggeber in Jerusalem konnte zufrieden sein, die Geschäfte warfen guten Gewinn ab, und eines Tages ließ er Andronikus einen Beutel mit Denaren überbringen, als Lohn und Auszeichnung für seinen Dienst. Der junge Mann aber verwahrte den Beutel gut, sein bescheidener Lebensunterhalt war auch so gesichert. Er hatte gehört, daß Barnabas, als er noch in Jerusalem weilte, einen ererbten Acker dort verkauft und das Geld den Gemeindeältesten übergeben hatte, damit sie die Witwen und Waisen versorgen konnten. Noch wusste Andronikus nicht, wofür er die Gabe seines Patrons geben sollte, aber daß sie dem Christus Jesus geweiht war, das stand für ihn fest.

Lucius hatte im vergangenen Jahr seine Tochter verheiratet, Junias Aufgabe in seinem Hause war also fortgefallen, auch war sie ja älter als die Tochter. Er fühlte sich ein wenig als Vater für die junge Frau, hatte Johanna doch von Chusa seit langem keinerlei Nachricht erhalten. So hielt er eines abends Junia auf, als sie sich in ihre Kammer zurückziehen wollte, und bat sie, an seiner Seite Platz zu nehmen. „Du bist seit langem nun schon in einem Alter, in dem die Väter ihren Töchtern einen Ehemann suchen,“ begann er. „Ich bin nicht dein Vater, Junia, aber ich fühle mich doch für dich verantwortlich. Sag mir also ehrlich: Hast du dich für die Ehelosigkeit entschieden, wie es viele Schwestern tun, weil wir die Wiederkunft des Herrn in Kürze erwarten, oder würdest du eher heiraten wollen. Dann will ich dir gerne zur Seite stehen und für dich bei einem der Brüder bitten.“

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