Strozzi lag auf seinem Bett und fühlte sich gut. Zum ersten Mal seit Tagen regnete es, und durch das weit geöffnete Dachfenster strömte die feuchte Luft herein, kühlte die Hitze im Zimmer aus und trocknete den Schweiß auf seinem Oberkörper. Strozzi lag ruhig da und genoss den Blick in den sanftgrauen Himmel und das Gefühl, am Leben zu sein, und dann kam Hilde aus dem Bad und patschte mit ihren nassen Füßen über seinen neuen Teppich und zündete sich eine ihrer Mentholzigaretten an und setzte sich ans Bettende und blies Rauch auf Strozzi und sagte: »Du liebst mich nicht.«
Strozzi schloss die Augen. Sie kriegt wieder ihre Tage, dachte er. Ob noch ein Weißbier im Eisschrank ist? Sonst geh ich runter in die Eckkneipe. Wenn sie diese Stimmung hat, halt ich sie nicht aus. Könnte auch was essen. Cevapcici mit viel Zwiebeln. Zwiebeln sind gesund. Hilde sollte auch mehr Zwiebeln essen, bei ihrem Blutdruck.
»Du solltest mehr Zwiebeln essen«, sagte Strozzi und machte die Augen auf. Hilde hatte sich ein Handtuch um den Kopf gebunden. Wenn man ihre Haare nicht sieht, überlegte Strozzi, sieht sie fünf Jahre älter aus. Falten am Hals. Und an ihrem Gesicht könnte sie auch mal was machen, Gurken drauftun, die Brauen zupfen, Frauen müssten das doch wissen, wozu haben sie ihre Mütter, ihre Journale, ihre Freundinnen, die Glucken.
Hilde stand abrupt auf und machte das Fenster zu. »Du liebst mich nicht mehr«, sagte sie mit einem Tremolo, das Strozzi gut kannte, »ich merk es schon an deinen Augen.«
Ihre Beine sind allerdings immer noch einsame Klasse, dachte Strozzi, vor allem, wenn sie ihre fleischfarbenen Strümpfe anhat. »Was ist mit meinen Augen?«, fragte er. Sein Zigarillo brannte nicht mehr. Hilde hatte sein Feuerzeug zuletzt gehabt, aber er wollte sie jetzt nicht darum bitten.
»Früher war ein Licht in deinen Augen, wenn wir zusammen waren«, sagte Hilde, »und jetzt sind sie völlig stumpf.«
»Das ist doch Unsinn. Mach das Fenster wieder auf, so schnell ist die Hitze nicht weg.«
Hilde saß am Tisch und tat so, als studiere sie das Kinoprogramm.
»Gehst du mit mir ins Kino?«
»Du weißt doch, dass ich nicht gern ins Kino geh.«
»Siehst du, du liebst mich nicht mehr. Früher sind wir fast jeden Tag ins Kino gegangen.«
»Du übertreibst, Hilde. Mach das Fenster wieder auf, ich muss abkühlen.«
»Du bist doch längst abgekühlt. Du gehst nur noch mit mir ins Bett, weil du zu bequem bist, dir eine neue Freundin zu suchen. Oder weil du Angst hast, dass du keine mehr findest.«
Sie drückte ihre Zigarette aus, aber nicht richtig. Ein Stück Glut qualmte noch. In letzter Zeit machte sie das dauernd.
»Mach dir keine Sorgen um meine Zukunft, Hilde. Mach lieber das Fenster auf, es stinkt.«
»Siehst du, du reagierst nur noch negativ. Du musst doch zugeben, dass es früher anders war.«
»Alles war früher anders.«
»Vielleicht hast du mich überhaupt nie geliebt.«
»Ich bitte dich zum letzten Mal, mach das Fenster auf.«
»Wahrscheinlich weißt du gar nicht mehr, was Liebe ist.«
Strozzi stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. Er atmete tief ein und aus. Dann warf er das kalte Zigarillo in den Hof und sah Hilde an. »Wie alt bist du eigentlich, Hilde?«
Sie antwortete nicht. Die Kippe qualmte immer noch. Strozzi zog sein Hemd über, schlüpfte in die Stiefel, nahm die Lederjacke vom Haken und schnappte sich das Feuerzeug.
»Jedenfalls bist du alt genug, um zu wissen, dass du jedes Mal Streit suchst, wenn du deine Tage kriegst. Und ich hab es satt, mich mit dir zu streiten!«
»Du brauchst nicht so zu schreien. Ich weiß, dass du mich nicht mehr liebst.«
Sie saß da und wartete, bis er weg war, dann würde sie in aller Ruhe ein heißes Bad nehmen. Sie nahm drei heiße Bäder am Tag, vier, wenn sie ihre Tage hatte. Strozzi steckte Geld ein, dann war er an der Tür.
»Hilde?«
»Ja?«
»Heb dir deine Tränen für die Zwiebeln auf.«
Er knallte die Tür zu. Es gab Tage, an denen ein Mann nicht einmal in seinen eigenen vier Wänden auf dem Bett liegen und dem Regen zuhören konnte, es gab Tage, an denen ein Mann nichts mit Frauen zu tun haben sollte.
Auf dem letzten Treppenabsatz blieb Strozzi stehen. Er hörte orientalische Musik, Schalmeien und Zimbeln, Flöten und Rebabs. Es hörte sich besser an als Hildes Gezänk, aber noch nicht gut genug. Zwei Perser, die unten wohnten, schleppten gerade einen Sack in den Hof. Sie keuchten vor Anstrengung. Aus der offenen Wohnungstür drangen heisere Stimmen. Vielleicht hatten sie einen unwillkommenen Besuch beseitigt und warfen ihn jetzt in den Fluss. Oder sie verluden einen Zentner Stoff. Strozzi wartete, bis sie verschwunden waren. Heiße Gegend. An der Mauer neben der Hofeinfahrt stand das Callgirl vom dritten Stock und wartete auf ein Taxi.
»Na, Ines, gibst du Hausbewohnern immer noch keinen Rabatt?«
»Vielleicht hab ich’s in zehn Jahren nötig, Strozzi.«
»Dann sind wir alle schon tot.«
»Du vielleicht. Ich hab gelesen, Frauen werden heutzutage acht Jahre älter als ihr.«
»Von mir aus gern, Ines.«
Er lachte und ging weiter. Er fühlte sich schon wieder besser. Über die Kreuzung rasten Feuerwehrautos. Die Sirenen heulten. Der Bürgersteig war übersät mit Glasscherben, und ein Blinder tastete sich über die Straße und sang: »Brüder zur Sonne zur Freiheit«. Es regnete.
Die Eckkneipe war wie immer, trüb und öd. Ranziges Fett, fauliges Fleisch, abgestandenes Bier und Pisse verpesteten die Luft. In der Nähe wurde die neue U-Bahn-Strecke durch die Erde getrieben, und manchmal bebten die Wände nach unterirdischen Detonationen, und Verputz rieselte ins Bier. Ferner Donner vermischte sich mit dem Gejaul der Pressluftbohrer und übertönte das Radiogedudel. Aber echte Eckkneipentrinker, dachte Strozzi immer wieder mit Befriedigung, kann nichts erschüttern, sie halten ihr Glas mit beiden Händen und behaupten inmitten des Chaos die Hopfenruhe, die beständiger als aller Fortschritt ist.
Die Wirtin, eine verblühte Balkanesin mit den Manieren einer kleinstädtischen K.-u.-K.-Puffmutter, brachte Strozzi sein Weißbier. »Mit Zitrone, bitte«, sagte Strozzi und hielt ihr das Glas wieder hin.
»Ich weiß, trinken Sie immer mit Zitrone!«, sagte sie mit ihrem vergoldeten Lächeln.
»Es ist aber keine Zitrone drin.«
»Was, keine Zitrone drin?« Sie untersuchte das Glas. »Oh entschuldigen Sie vielmal, ist tatsächlich keine Zitrone drin, wissen Sie, ist das Licht hier, müssen sparen Energie, ja? Entschuldigen nochmal vielmals!«
Sie brachte ihm das Glas zurück. Diesmal waren zwei Stück Zitrone drin. Sie meinte es gut mit Strozzi. Seine Cevapcici waren immer besonders fett. Strozzi bedankte sich, wartete, bis sie ihm den Rücken zukehrte, und fischte eine Zitronenscheibe raus. Er ließ sie hinter der Heizung verschwinden, wo schon viele Zitronen verschimmelten. Brave Leute, dachte er, während er sein Weißbier trank und die wenigen Gäste betrachtete. Vom Leben um die Schönheit betrogen, machen sie aus der Öde und der Hässlichkeit das Beste, sie trinken. Strozzi fühlte sich wieder gut. Ein Mann brauchte so wenig, um sich gut zu fühlen, den vertrauten Geruch von Bier und Schnaps, den Anblick anderer Trinker, die in allergrößter Seelenruhe alle Explosionen ertrugen, den säuerlichen Geschmack des Weißbiers auf der Zunge. Frauen wollten immer Musik und Liebe und Abwechslung, Kino und Tanz und Reisen, Cafés und Zärtlichkeit und wieder Musik. Natürlich, es war nicht zu leugnen, auch viele Männer, unter ihnen Strozzi, brauchten mehr als Weißbier, um das Leben zu ertragen, aber wenn er sich auf das Allernotwendigste konzentrierte, auf seine Seelenruhe, konnte ein Mann in seiner Stadt überleben wie ein einsamer Wolf in den Abruzzen, und er brauchte dabei nicht mal zu heulen: Die Sirenen besorgten das für ihn.
Eine Gestalt mit blondem Haar unterbrach Strozzi in seinen Betrachtungen, sie setzte sich, obwohl noch etliche Tische frei waren, an seinen. Es war eine junge Frau von vielleicht 25, mit langen Haaren, in denen Regentropfen glitzerten, einem weichen, verhuschten Gesicht mit zartgeschnittenem Mund und einem Grübchen am Kinn. Die Augen waren das Auffallendste, lange, flatternde Wimpern über grauen Perlen, in denen die Iris seltsam flackerte. Sie packte einen großen Korb, der mit Zeitungen, Pappkartons und anderem Plunder gefüllt war, auf den freien Stuhl.
Die Wirtin kam. »Möchten Sie Cevapcici jetzt, ganz frisch mit viele Zwiebeln?«
Strozzi schüttelte den Kopf. Das fettige Fleisch, die Fritten und Zwiebeln konnte er nicht zu sich nehmen, solange diese zarte Schönheit an seinem Tisch saß. Sie bestellte Tee.
»Gute Idee«, sagte Strozzi, »ich nehm auch einen.«
Allerdings stand er dann auf, als wolle er austreten, ging zum Tresen und bat die Wirtin, ihm einen doppelten Rum in den Tee zu tun. Sie strahlte vor Vergnügen. Strozzi nahm wieder Platz. Die junge Frau trug einen alten Regenmantel, darunter einen grauen Kittel, und viel billigen Hippie-Schmuck. Ihre kräftigen Finger waren nicht sehr sauber. Sieht aus, wie die Mädels vor zehn Jahren aussahen, als sie noch Janis Joplin hörten und »Revolution« skandierten. Heiliger Strohsack, ist das wirklich zehn Jahre her?
Das Mädchen trank einen Schluck Tee, dann sah sie Strozzi an und sagte mit ihrer zarten, etwas heiseren Stimme: »Du siehst aus, als würdest du seit zwanzig Jahren darüber nachdenken, wie das mit der Liebe ist.«
»Mit der Liebe?« Vorsicht, Strozzi, dachte Strozzi, die hat einen gewaltigen Wischer. »Wie ist es denn mit der Liebe?«
Sie lächelte. Auch ihre Augen lächelten.
»Das musst du schon selbst herausfinden. Oder bist du schon zu alt dafür?«
»Na hör mal …«
Sie lächelte nicht mehr. Auch ihre Augen lächelten nicht mehr.
»Du hast sicher viel mit dem Tod zu tun.«
»Mit dem Tod?« Strozzi schnupperte an seinem Glas. Die Brave hatte es fast ganz mit Rum gefüllt. »Wir leben doch alle, um zu sterben.«
»Oh nein!«
Strozzi trank. Leider hatte sie wieder die billige Sorte genommen. Und was war mit dieser Fee an seinem Tisch? Total bescheuert. Er mochte das. Manchmal.
»Was schleppst du da mit dir rum?«
»Ich sammle lauter tote Dinge und mach sie wieder lebendig.«
Na bitte, dachte Strozzi.
»Wie machst du das denn?«
»Wenn du magst, zeig ich es dir.«
»Schön. Ich trink nur noch den Tee aus.«
Er trank. Sie blickte ihn unverwandt an. Ein sanfter, perlgrauer Blick von weit, weit her. Strozzi wurde es heiß. Er fühlte sich weder gut noch schlecht. Es gab Tage, an denen ein Mann nicht mal wusste, wie er sich fühlte; Tage, an denen man sich den Frauen ausliefern und auf die Nacht warten musste.
»Wie heißt du?«
»Bernadette.«
»Wunderbar. Dann zeig mir mal, wie du tote Dinge wieder lebendig machst.«
Sie wohnte einige Blocks weiter in einem völlig verwahrlosten Haus. Im Hof quoll der Abfall über verrostete Autowracks. Viele Fenster waren zugenagelt, eine lila Parole an der Hofmauer, die alle Macht der Phantasie zusprach, war verrußt und mit Gras bewachsen. Strozzi hatte vier Flaschen Pils im Arm. Im Treppenhaus war es dunkel. Er stolperte und ließ eine Flasche fallen. Sie rollte die Stufen herab und zerbrach.
»Was war das?«, fragte Bernadette.
»’ne Bierflasche«, sagte Strozzi und presste die anderen drei an seine Jacke.
»Das Haus spricht nämlich«, sagte Bernadette. »Es soll bald abgerissen werden, und nachts klagen die Steine ihr Leid.«
Sie öffnete eine Wohnungstür und machte Licht. Sofort roch Strozzi die Katzen. Sie hockten in einem Halbkreis im Korridor und starrten ihn misstrauisch an.
»Du magst Katzen doch?«
»Hauptsache, sie mögen mich«, sagte Strozzi. Er sah sich in der Küche um. Überall stand schmutziges Geschirr. Der Ausguss schien verstopft zu sein, und eine Brühe setzte Schimmel an.
»Vielleicht solltest du mal abwaschen.«
»Wozu? Wenn das Haus abgerissen wird, nehm ich meine Katzen und meine Sammlungen und zieh einfach ins nächste Haus. Küchen sind nicht wichtig.«
Strozzi sah in den Eisschrank. Es gab nur Katzenfutter und auf einem Teller etwas, das aussah wie gefrorene Scheiße. Strozzi machte den Eisschrank zu.
»Was ist das?«
»Ein Symbol. Der Eisschrank ist ein Symbol für die sterbende Zivilisation.«
»Ist gut, Bernadette, ich trink das Bier auch warm.«
»Komm, ich zeig dir meine Sammlung.«
Sie führte ihn in ein Zimmer. Eine gelbe Glühbirne verbreitete mattes Licht. Der Boden war mit schwarzen Matratzen ausgelegt. Es roch nach Staub, Katzenpisse und Moschus. An den Wänden hingen riesige Leinwände, Holzbretter und Styroporplatten, auf die, schien es Strozzi, eine ganze Müllhalde geklebt und genagelt war, Autoteile, Stoffe, Rosshaarfüllungen, Büstenhalter, Flaschenhälse, Puppenglieder, Zigarrenstummel, Radiogehäuse, halbe Fernseher, Blumentöpfe, Reifen, Drähte, Suppendosen, Bierbüchsen, zerfetzte Strümpfe, Strapse, Kleider, Pappteller, an denen noch das verkrustete Ketchup klebte, ein Regenschirm in Fragmenten, Bücher, blutige Schlüpfer, aus Zeitschriften herausgerissene Photos von Leichen und Tierkadavern, alles mit Farben bekleckert, eine monströse Müllkippenschau: der alltägliche Horror.
Strozzi fühlte sich unbehaglich. Sollte er hier etwa sein Bier trinken und herausfinden, was es mit der Liebe auf sich hatte?
Bernadette ging von Wand zu Wand und knipste Lichter an, und nun begannen die Collagen, wenn man sie so nennen konnte, zu glühen und zu funkeln, gelbe, rote, blaue Lichter, grüne, weiße, violette Lichter, und der ganze Plunder bekam Augen und schien tatsächlich eine Art Leben zu haben … solange die Stadtwerke den Strom nicht abstellten.
»Siehst du, wie alles lebt?«
»Ich sehe, was du meinst. Du bist eine Künstlerin.«
»Oh nein«, sagte Bernadette, »mit Kunst hat das nichts zu tun. Kunst ist etwas Totes. Ich sammle das Tote und mach es lebendig.«
Strozzi fühlte sich benommen. Im Zimmer war es noch heißer als bei ihm.
»Bitte, mach die Lichter aus.«
Sie sah ihn traurig an.
»Siehst du, du erträgst das Leben nicht.«
Er versuchte zu lächeln.
»Nicht, wenn es an der Wand hängt, mit Ketchup verschmiert ist und ein rotes Auge hat.«
Sie löschte die Lichter bis auf die Glühbirne, dann setzte sie sich und zündete ein Räucherstäbchen an. Strozzi setzte sich zu ihr und öffnete eine Bierflasche.
»Alkohol ist Tod«, sagte Bernadette.
»Hör mal, ich bin Barkeeper.«
»Dann verkaufst du den Tod. Ich hab’s ja gleich gewusst.«
»Na ja, alles stirbt mal, nicht? Mit Alkohol schmeckt es wenigstens.«
»Es stirbt nur, wenn man es sterben lässt.«
»Gegen das Sterben hat noch keiner was erfunden. Alles, was lebt, stirbt. Naturgesetz Nr. I.«
»Nein, es stirbt nicht, es verändert sich nur.«
»Also, vielleicht ist das mit dem Plunder, ich meine, mit deiner Sammlung so. Aber wenn wir tot sind, wandern wir in die Grube oder auf den Rost, dann ist es vorbei mit dem Verändern. Wie soll aus dem Nichts wieder was werden?«
»Durch die Liebe.«
Oh Gott, dachte Strozzi. Warum lieg ich nicht auf meinem Bett und höre Hilde zu, da weiß ich doch wenigstens, was los ist. Aber beim Gedanken an Hilde verzerrte sich etwas in ihm. Jede Frau hatte einen Wischer, so wie jeder Mann ein einsamer Wolf sein wollte. Aber jede neue Frau war ein Sieg über die eigene Trägheit. Über die Trägheit, an der man eines Tages stirbt. Und diese hier hatte Format, sie war komplett verrückt, aber sie hatte Format, sie hatte Stil. Und dieser zarte Mund, das Grübchen, die schönen Augen …
Strozzi stellte die Bierflasche weg, packte Bernadette und küsste sie auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl und blieben geschlossen. Sein Schwanz wurde hart. Sein Hemd klebte an seiner Haut. Er presste sein Gesicht in das Haar, eine blonde Wiese. Es roch leicht säuerlich. Jetzt spürte er, wie sie ihre Hände auf seine Arme legte. Seinen Mund auf ihrem Mund, drückte er sie langsam auf die Matratze. Ein Knurren schreckte ihn hoch. Die Katzen saßen mit aufgerichteten Schwänzen an der Wand. Ihre Augen funkelten im Halbdunkel. Strozzi fluchte: »Schleicht euch!« Bernadette öffnete ihren Mund und sagte: »Du liebst mich nicht.«
»Red keinen Unsinn, Bernadette. Ich bin doch grad dabei.«
»Ich spüre, dass du keine Liebe in dir hast. Die Katzen spüren es auch.«
Er griff nach dem Bier. Die Flasche war umgekippt, und das Pils glänzte auf der schwarzen Matratze.
»Katzen wissen doch gar nicht, was Liebe ist.«
»Und die Dinge an der Wand wissen es auch.«
»Dieser Abfall? Du bist ja verrückt.«
»Was heißt das, verrückt?«
»Überhaupt nichts.«
»Warum sagst du es dann?«
»Hör mal, was heißt Liebe?«
»In deiner Sprache vielleicht verrückt sein.«
Er richtete sich auf. Jetzt fühlte er sich richtig schlecht. »Muss ich denn verrückt sein, um mit dir zu schlafen?«
Sie antwortete nicht. Sie sah ihn an wie ein Forscher ein Tier, von dem er schon weiß, dass er es nicht fürs Laboratorium brauchen kann. Und die Katzen starrten ihn an, als sei er ein besonders widerlicher Köter, den man am besten demütigte, indem man ihm seine hasserfüllten Augen zeigte und sonst gar nichts.
Strozzi nahm die beiden restlichen Flaschen Pils, stand auf und stiefelte zur Tür.
»Ich glaub nicht an Liebe«, sagte er und sah sie noch mal an. Die Katzen lagen in ihrem ausgebreiteten Haar. Der Abfall an den Wänden vibrierte. Bernadette lag da und lächelte sanft.
»An was glaubst du denn, Strozzi?«
»Ich glaub ans Ficken, ans Trinken und an den Tod.«
Verdammt guter Abgang, dachte Strozzi im Treppenhaus. Aber eigentlich wäre ich lieber bei ihr geblieben.
Draußen war es auch Nacht. Es regnete nicht mehr. Strozzi stand eine Weile vor der Haustür und leerte eine Flasche Pils. Die andere gab er einem Penner, der in den Mülltonnen stöberte.
»Danke, Chef, ich kann’s gebrauchen.«
»Wenn du was findest, was lebt, bring’s in den vierten Stock, da gibt es eine Frau, die interessiert sich dafür.«
Der Penner nickte und sah Strozzi mitfühlend an: »Is klar, Chef, wenn ich das Wort Frau hör, weiß ich schon Bescheid.«
Strozzi ging einen Schnaps trinken.
Strozzi war in Fahrt. Er marschierte um eine Ecke. Bäume rauschten. Ein Flugzeug donnerte nach Rio. Die Sirenen heulten. Er war in den Abruzzen.
»Hast du mal Feuer, Kumpel?«
Ein Typ stand vor Strozzi. Strozzi griff schon zum Feuerzeug, als er aus den Augenwinkeln einen zweiten sah, der von der Seite hinzuschlich. Er packte den ersten, rammte ihm ein Knie in den Bauch und warf ihn gegen den zweiten. Dann schlug er zu.
»Bei mir müsst ihr schon ’n Tag früher aufstehn, Jungs«, sagte er, als die beiden am Boden lagen.
»Du Faschist, wir wollten doch nur Feuer«, stöhnte einer. Strozzi trat ihn in die Magengrube und ging rasch weiter. Er fühlte sich sehr schlecht und sehr gut zugleich. Jetzt war er erst recht in Fahrt. Die Stadt funkelte. Liebe, Jungs, es ist alles nur Liebe.
Vor ihm lag der Mathäser. Ein paar Ausländer lungerten am Eingang. Er grinste ihnen zu. Sie grinsten zurück. Seine Knöchel waren verschrammt. Er steckte die Hand in die Hose und marschierte die Treppe hoch. Die Musik dröhnte. Die Besoffenen brüllten. Der Saal kochte. Er passierte die Wachhunde und schaute sich nach einem freien Platz um. An einem Tisch hatten zwei besoffene Weiber mit gefärbten Haaren einen kleinen Fetten mit Tirolerhut untergefasst. Strozzi setzte sich auf den freien Stuhl. Ein Kellner erschien. Strozzi bestellte ein Weißbier und Schnaps für alle. Der fette Mann sang ein Liedchen:
»Ich küsste eine Wanda
immer in Uganda
und später in Kalkutta
da küsste ich ’ne Jutta!«
Die Weiber kreischten. Eine vernaschte den Fetten. Die andere sah Strozzi an. Ihre Lippen glänzten lila. Schweiß strömte über ihr Gesicht.
»Und du, Kerle, willst du kein Kuss?«
»Ich trink jetzt erst mal.«
Sie blinzelte mit ihren falschen Wimpern: »Gesteh, du liebst mich nicht!«
Irgendetwas in Strozzi gab nach, knirschte, riss.
»Ich liebe dich!«, schrie er und drückte seinen Mund auf die lila Lippen.
Carl kaufte nur noch im Supermarkt ein. Wie viele Männer, die alleine leben, litt er unaussprechliche Qualen, wollte er sich, eingeklemmt zwischen Verkäuferinnen und Hausfrauen mit ihrer offen getragenen Verachtung für den Selbstversorger, beim Fleischer, beim Bäcker oder, Qual aller Qualen, in der Drogerie verständlich machen, seine Einkäufe, die ihm als Ansprüche ausgelegt wurden, unter den höhnischen Blicken der Lebenshaltungs-Profis tätigen. Er hatte sogar den Getränkemarkt aufgegeben, konnte den Mann nicht mehr ertragen, der schon mit breitem Grinsen nach dem Gin griff, wenn er Carl über die Straße kommen sah, und seit es in den Supermärkten auch Zeitungen gab, erledigte Carl sämtliche Besorgungen in einem präzise vorbereiteten und konzentriert durchgeführten Geschwindmarsch durch den Supermarkt, von dem er sich in einem Stehausschank oder, war im Sommer das Wetter entsprechend, im nächsten Biergarten erholte. Bücher kaufte er bei Karstadt, die Haare ließ er sich von den Frauen schneiden, die ihn gelegentlich besuchten, und seine Hemden wusch er selbst, wenn er sie nicht nach zwei Wochen wegwarf; im Supermarkt gab es Hemden schon für einen Heiermann. Carl gehörte nicht zu denen, die sich über die Wegwerf-Kultur beklagten, er trank auch sein Bier gern aus Büchsen; wenn die Wegwerf-Kultur ihm einen Alltag ohne Umgang mit Krämern ermöglichte, konnte sie mit Carl als einem entschiedenen Befürworter rechnen.
Eines Tages hatte Carl in der Innenstadt zu tun. Sein Wagen war in der Reparaturwerkstatt, und er fuhr mit der Tram. Auf dem Heimweg von der Haltestelle entdeckte er einen Neubau, einen großen, abstoßend hässlichen Würfel mit einem Terrassencafé, einer Galerie mit Boutiquen und, im Erdgeschoß, einem Supermarkt, der zu einer Kette, einem Konzern gehörte, von dessen cleveren Marktmethoden Carl schon im Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung gelesen hatte. Es war Sommer. An den Eingängen standen Kübel mit leuchtend bunten Blumen. Zwei Mädchen in knallroten Satinhosen stöckelten lachend in den Supermarkt. Carl spürte, wie warm es war. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Ohne lang zu fackeln, folgte er den Mädchen. Innen war es angenehm kühl. Klimaanlage. Der Supermarkt, in dem er sonst kaufte, hatte keine Klimaanlage. Er sah sich um. Überall Blumen, und Kinder, die Eis schleckten. Die Lebensmittelabteilung war im Untergeschoß. Carl nahm die Rolltreppe.
Ich vergleiche kurz die Schnapspreise und geh dann sofort nach Haus, dachte Carl. Bei dieser Hitze solltest du mittags nicht unterwegs sein. Wahnsinn, der Flüssigkeitsverbrauch des Körpers. Die Rothaarige bei den Backwaren sieht nicht schlecht aus. Sicher gefärbt, man sieht die schwarzen Haarwurzeln, aber eine, die sich rot färbt, will es wissen. Hungriger Mund. Carl lächelte ihr zu. Sie lächelte nicht zurück. Auch gut, ich brauche keine Backwaren. Eigentlich brauche ich gar nichts, trotzdem schiebe ich diesen Drahtkarren durch die Angebote. Anscheinend alles Sonderangebote. Das Leben, ein Sonderangebot. Sicher, man muss nehmen, was kommt. Mit der überlegenen Miene eines Mannes, der genau weiß, was er tut, suchte Carl sich am Schnapsregal eine Flasche Ricard aus, denn in letzter Zeit war er vom Gin auf die grüne Tochter des Absinths umgestiegen, die sanfte Fee der Nacht, die Molke aus Anis, das klassische Gesöff der Legionäre und aller Traumtänzer, deren Namen Legion sind.
Der Supermarkt war geräumig, die Lebensmittelabteilung gut bestückt, das Angebot mit einem Sinn fürs Dekorative arrangiert. Die Musik, eine sonore Frauenstimme, die von der Südsee sang und von vielen Streichern untermalt wurde, traf genau die Stimmung der Männer, die einkauften. Für die Frauen gab es jede Menge Preisvergleiche, Spezialangebote und Probierschlückchen. Carl schob seinen Karren an den langen Regalen vorbei, längst war der Ricard nicht mehr allein. Eine Pyramide aus Honigmelonen erinnerte Carl an den Orient. Geeiste, mit Zitronensaft beträufelte Honigmelone war ihm damals gut bekommen. Zahnbürsten konnte man immer gebrauchen. Hatte ihm nicht neulich Hilde gesagt, er könne endlich mal sein Rasierwasser wechseln, seines erinnere sie penetrant an ihren Vater? Carl nahm ein Rasierwasser. Carls Vater hatte die Maxime vertreten, eine gute Suppe lasse einen Mann nie allein. Carl legte Suppendosen in den Karren. Dann kam er zum Bier …
Über Mittag waren nur zwei Kassen besetzt. Vor beiden standen Schlangen. Die Frauen waren entweder mit sich selbst zufrieden und plauderten mit den Substituten oder ratschten miteinander, oder sie waren in Eile, hatten, wonach sie gesucht, wieder nicht gefunden, wussten vielleicht, waren sie jung, noch nicht, was sie suchten, wollten, waren sie älter, es nicht mehr wissen, nörgelten jedenfalls an ihren Kindern herum, an den Preisen, an den Männern, die blöd in der Gegend rumstanden, anstatt sich gefälligst zu beeilen.
Die Männer hatten es viel eiliger als die Frauen, sie brauchten ein Bier, mussten zur Arbeit oder an den Kartentisch, aber sie gaben sich gelassen wie Geneppte, die gute Miene machen zum bösen Spiel. Carl starrte auf den Krempel in seinem Karren. Pastis, Rasierwasser, Zahnbürsten, Honigmelone, Dosensuppen, Plastikwurst, Tintenschreiber, Nähnadeln, Büchsenbier, Sahnejoghurt, Unterhosen, Kartoffelchips, Diätmargarine, was ergab das für einen Sinn? Waren das die cleveren Marktmethoden gewissenloser Supermarktmultis, oder welcher Warenhunger hatte diesen Karren gefüllt? Dieser Karren, dachte Carl, ist zehn Jahre Einsamkeit, und der Karren des Kahlkopfs vor dir mit seiner Sülze, seinen Scheuerlappen, seinen Weichspülern, seinem Magenbitter, seinen Käsestangen ist zwanzig Jahre Einsamkeit, und der Karren der Schlampe hinter dir mit seinem Fruchtlikör, seiner Fernsehzeitschrift, seinen Lockenwicklern, seinem Katzenfutter ist dreißig Jahre Einsamkeit, und der Karren des Türken mit seinen drei Kilo Mischbrot und seinen fünf Dosen Krautwickel und seinen acht Gläsern Vierfruchtmarmelade ist die Einsamkeit eines Kontinents im Exil, und all die Karren im Supermarkt und alle Supermärkte sind die Insignien und in Beton gemauerten Zeichen unserer Niederlagen. Löwen brauchten keine Supermärkte, Wölfe brauchten keine Supermärkte, Seesterne brauchten keine Supermärkte. Nur die Menschen, die nicht mehr wussten, was Gott mit ihnen vorgehabt hatte, schoben ihre Sonderangebote an Einsamkeit durch den Supermarkt ihrer Welt und stopften sich mit Diätmargarine und Kartoffelchips voll, indes sie in ihren Fernsehapparaten die Zerstörung der Erde vorgeführt bekamen, Bilder, deren Sinn sie nicht mehr verstehen konnten.
Der Kahlkopf verstaute sein Zeug in Plastiktüten, nahm mit dem Wechselgeld auch den Kassenzettel aus der Schale und prüfte ihn voller Misstrauen. Carl stellte seinen Krempel auf das Laufband. Die Kassiererin tippte die Preise ein. Sie hatte blonde Haare, ein rosiges Gesicht mit einer Stupsnase und vollen, roten Lippen, einen überaus weißen Hals und spitze Brüste unter einem roten Seidenhemd. Ihr Kittel stand offen. Carl gefielen ihre Hände, nicht ganz sauber, derbe Gelenke, fleischige Finger. Aber erst als alles eingetippt war und schon Unruhe aufkam, weil Carl immer noch an seinem leeren Karren stand und sich nicht rührte, entdeckte er ihre Augen. Sie waren ungewöhnlich groß, von langen schwarzen Wimpern beschattet, und das Weiße in ihnen schimmerte wie mit Wasser vermischter Pastis, in dem zwei blaue Rubine glänzten. Ich bin verrückt, dachte Carl. Die Hitze, die Einsamkeit, die Frauen. Grüne Fee der Nacht, herrje. Auf der Oberlippe der Kassiererin schmolz das Himbeerrot. Blonder Flaum glänzte. Carls Glied wurde hart.
Die Schlampe drückte ihm ihren Karren in den Rücken: »Glauben Sie, Sie sind hier im Ausflugslokal? Natürlich, ein Ausländer!« Sofort floss allen der Mund über. Keiner konnte so verstört sein, um nicht auch zu wissen, was es mit Ausflugslokalen, Ausländern, Asozialen auf sich hatte. In der Aufregung bediente sich eine Ladendiebin mit Pralinés. Die Substituten erklärten, wie gut der Supermarkt schon eingeführt sei, die Mitarbeiterinnen an den Kassen völlig überlastet, die Mittagspause aber tariflich festgesetzt. Was die Preise angehe, morgen würden sich die Herrschaften über neue Attraktionen in allen Bereichen freuen können, Wunder könne man nicht erwarten, aber es komme eben auf den Vergleich an, da zeige sich doch der Trend zur Wirtschaftlichkeit. Was machbar sei, werde gemacht. Carl lächelte der Kassiererin zu. Sie lächelte zurück. Ihr Lächeln war so üppig wie ihre hervorquellenden Augen, und ebenso tumb. Carl war entzückt. Er reichte ihr einen Hundertmarkschein und hätte fast gesagt, der Rest ist für Sie, Fräulein, für dich, Absintha, du Fee. Das Weiße in ihren Augen war wie ein feuchter Schimmer auf Schenkeln, komm zu mir. Carl verließ den Supermarkt in Trance, ein Mann, der wieder weiß, dass er noch jung ist, und er lief auf der sonnigen Seite der Straße nach Hause.
Am nächsten Tag war es noch heißer. Carl, zwischen zwei Jobs, wie meistens, fand es in seinem Apartment unerträglich und machte sich auf den Weg zum Biergarten. Plötzlich stand er vor dem neuen Supermarkt. Also auch wenn man zum Biergarten ging, kam man an ihm vorbei. Carl bewunderte die Cleverness der Manager. Übrigens war es viel zu heiß, um nicht einen Augenblick in der Kühle auszuruhen. Carl griff sich irgendwas aus den Regalen, eine Dose Fisch, eine Pampelmuse, eine Zeitschrift, und tatsächlich saß wieder die Blonde an Kasse 3. Carl war der einzige Kunde. Er lächelte das Mädchen an. Sie reagierte nicht. Das Weiße in ihren Augen war stumpf. Absinth mit Grieß. Über eine Wange zog sich eine rote Schramme. Sie tippte Dosenfisch, Pampelmuse, Zeitschrift ein, warf eine Tüte auf die Packfläche, ließ das Wechselgeld in die Schale klappern und betrachtete düster ihren Daumennagel. Na schön, dachte Carl, wir haben alle unsere Tage.
Er trank bis zum Abend im Biergarten, aß dazwischen einen Wurstsalat, las Zeitung, unterhielt sich mit einem alten Mann über den Russlandfeldzug und warum Strauß nicht Bundeskanzler wurde, sah den Mädchen nach und ging schließlich schläfrig nach Hause. Die Tüte aus dem Supermarkt ließ er liegen. Er zog Hemd und Hose aus und legte sich in einer seiner neuen Unterhosen aufs Bett. Das Stück Himmel über der Straße wurde langsam dunkel. Er hörte die Vögel. Irgendwo spielte jemand eine alte Elvis-Platte. Heartbreak Hotel. Carl dachte an die Blonde im Supermarkt, an das Weiße in ihren Augen. Alles, was lebte, war anders als alles andere. Das war es, was das Leben gerade noch erträglich machte, Augen, die in Absinth schwammen, halfen gegen Augen, die in Blut schwammen. Carl dachte an morgen. Wenn der Wagen fertig war, konnte er noch eine Woche irgendwohin fahren, bevor er sich nach einem Job umsah. Sicher, im Sommer war es bald besser, zu Hause zu bleiben, im Biergarten ertrug man den Sommer inzwischen eher als an den Küsten, an den verwüsteten Stränden. Aber es gab immer noch Gegenden, in denen man sich so zu Hause fühlen konnte, wie man sich früher überall zu Hause gefühlt hatte, wo man in Ruhe trinken, aufs Meer blicken, mit lachenden Frauen die Nächte verbringen konnte. Carl dachte an Frauen, dann an einige Tote, dann an Städte, in denen er gern gewesen war. Die Städte waren die besten Erinnerungen, die Städte und ihre Jahreszeiten, der Geruch der Straßen nach dem Regen, das Blau des Himmels. Die Augenblicke, in denen man sehr glücklich gewesen war, und die Augenblicke, in denen man sehr unglücklich gewesen war, blieben so lebendig wie nichts anderes, aber um sie zu erleben, musste man die vielen völlig leeren Jahre ertragen, die unendlich langen Tage, wenn man nichts fühlte außer dem erdrückenden Gewicht des Lebens beim Schnürsenkelknüpfen, beim Zahlenaddieren, beim Warten auf Grün, auf den Kometen, auf den Schlüpfer, der knisternd zu Boden fällt. Leben, das war die Gnade, nicht zu wissen, was morgen ist. Carl dachte wieder an die Kassiererin, versuchte herauszufinden, warum sie ihn erregte. Darüber geriet er in die Dunkelheit des Nichtdenkens. Es wurde Nacht. Carl schlief.
Die Türklingel weckte ihn. Er stolperte hinaus, schlug mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Wieder schrillte die Klingel, ein Mordinstrument. »Ruhe!«, brüllte Carl und presste die Hand auf den Kopf. Kein Blut. Er öffnete die Tür einen Spalt. Heidi stand auf der Matte. Ihre Bluse war bis zum Nabel geöffnet, und sie hielt ihm eine Flasche Champagner entgegen: »Hab ich dich geweckt, Carlo?« Er ließ sie herein.
Carl legte sich wieder aufs Bett. Das Kopfkissen war nassgeschwitzt. Wovon hatte er geträumt? Heidi brachte zwei Gläser. »Ich stör dich doch nicht?«
»Nein«, sagte Carl.
»Soll ich das Licht anmachen?«
»Nein«, sagte Carl. Die Bogenlampe auf der Straße verbreitete einen milden Schimmer in dem Apartment.
»Ich hatte plötzlich Lust, dich zu sehn«, sagte Heidi.
»Setz dich zu mir«, sagte Carl und machte den Champagner auf.
Heidi sah gut aus. Kurze dunkle Haare, interessantes Gesicht, gute Figur, lange Beine. Sie trug einen an der Seite geschlitzten Rock und Sandaletten mit hohen Absätzen. Sie leerte das Glas mit einem Zug und goss nach. Heidi trank gern Champagner. Heidi war gern im Freien. Heidi schwamm schon im Mai in der Isar. Heidi ritt durch die Camargue und tanzte die ganze Nacht Rock ’n’ Roll. Heidi hatte geholfen, auf Hydra ein Haus zu bauen. Mit Heidi konnte man Pferde stehlen. Heidi spielte leidenschaftlich gern Backgammon und kannte jede Zeile von Rilke. Rilke, Rimbaud, Dylan, C.G. Jung, die asiatischen Philosophien. Tarock. Katzen. Der frühe Benn. Heidi liebte Theater, Segeln, Selbsterfahrung, Zirkus, gesundes Essen, Champagner, klassischen Jazz, Gras, Nacktbaden, Griechenland, Horoskope, Frankreich, die Filme von Woody Allen, Männer mit ausgefallenen Berufen, Menschen. Warum sie ihn hin und wieder besuchte, war Carl unklar. Er konnte ihre anderen Freunde unter den Tisch trinken, gewiss. War das ein ausgefallener Beruf?
Carl sah Heidis Bluse an. »Bist du die ganze Zeit so herumgelaufen?«
Sie lachte. Sie hatte eine schöne Stimme, ein nicht zu dunkler Alt.
»Weißt du, wie heiß es draußen ist?«
»Deswegen zieh ich mir doch eine Hose an.«
»Also Carl, Busen ist kein …«
»Und wie. Was glaubst du eigentlich, wie die Männer, die deine Titten sehen, reagieren? Was passiert mit ihnen? Hast du je an sie gedacht?«
»Ich mach ihnen eine Freude.«
»Freude? Bist du verrückt? Glaubst du, es macht Freude, von einem halbnackten Busen angemacht zu werden und nichts damit anfangen zu können, außer nach Hause zu schleichen und zu wichsen? Weißt du, wie weh das tut?«
Heidi lachte. »Das tun doch nur verklemmte alte Männer.«
»Die Welt besteht nicht nur aus Windsurfern und Grasrauchern und Nacktbademeistern, Heidi. Die Straßen sind nicht nur mit Wellenreitern und schwulen Kellertheaterregisseuren bevölkert, sondern mit der rohen Masse Mann. Mit dem Rentner, der seit 37 Jahren keine Frau mehr berührt hat, mit dem Hinterwäldler, der beim Anblick eines Busens in seine lange Unterhose spritzt und sich ein Jahr lang dafür schämt, mit dem Buchhalter, der davon träumt, Jack the Ripper zu sein. Mit den impotenten Säufern, die zur Sentimentalität verdammt sind. Mit all den Zukurzgekommenen und Verzweifelten, die dein Busen an alles erinnert, was sie nie bekommen haben und nie bekommen werden …«
Carl leerte sein Glas. Dann richtete er sich auf, umarmte Heidi ungeschickt, erhob sich vom Bett und holte den Ricard aus dem Eisschrank. Heidi sah ihm nachdenklich zu. Carl setzte sich in den anderen Polstersessel, schlug die Beine übereinander und mischte sich einen Pastis. Er konnte in Heidis braunem Gesicht das Weiße in ihren Augen erkennen. Sein Bauch juckte.
Heidi trank Champagner, dann sagte sie lächelnd: »Das klingt, als wärst du Mohammedaner geworden.«
»Der Schleier ist gar keine schlechte Erfindung. Man sieht die Augen und weiß schon genug.«
»Du bist sicher viel allein gewesen, Carl. Warum kommst du nicht öfter zu mir?«
»Fährst du bald wieder nach Griechenland?«
»Ich meine, du hockst zu viel auf deinen Gedanken, Carl. Auf deinen Depressionen.«
»Komm, Heidi, was soll das? Ich hab dich nur gefragt, ob du deine Bluse absichtlich so weit aufgelassen hast.«
Mit einer raschen Bewegung zog sich Heidi die Bluse über den Kopf und ließ sie zu Boden fallen.
»Ist es dir so lieber?« Sie lächelte. Ihre Zähne waren weißer als das Weiße in ihren Augen.
Carl nahm einen großen Schluck Pastis.
»Du solltest nicht so viel allein sein, Carl. Du hockst hier und trinkst und kommst auf deprimierende Gedanken. Dabei ist es draußen so schön.«
»Ich bin fast jeden Tag im Biergarten.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, draußen vor deinem Kopf. Draußen vor deinem Exil. Wenn du dich isolierst, machst du dich immer kleiner, bis dich keiner mehr sieht. Und wenn dich keiner mehr sieht, kannst du dich selbst auch nicht mehr sehen.«
Heidi trank ihren Champagner. Alles an ihr glänzte, war Frau und lockte. Carl stand auf und küsste ihre Schulter, ihren Hals. Heidis Haut war kühl und schmeckte nach Deodorant. Sie streichelte ihn. Carl küsste ihr Ohrläppchen und kehrte zu seinem Sessel und seinem Pastis zurück.
»Du siehst das ganz falsch, Heidi«, verkündete er dann. »Wenn ich mich an der Masse reibe, werde ich klein. Wenn ich mich von ihr fernhalte, bleibe ich groß. Je weniger ich von der Masse sehe, desto größer werde ich.«
»Größenwahnsinnig.«
»Die Feinheiten an den Menschen erkennt man nur, wenn man sie einzeln betrachtet. Gib mir einen Menschen, und ich entdecke womöglich ein Wunder. Gib mir die Masse, und ich erkenne den Irrtum. Ein Mensch allein – immer eine Möglichkeit. Eine Masse – immer eine Unmöglichkeit.«
»Wie viel Menschen sind für dich denn eine Masse?«
»Drei.«
»Du bist krank, Carl. Das sind kranke Gedanken.«
»Ich krank?« Er leerte sein Glas. »Wenn alle Kranken sich so wohl fühlen wie ich, können die Kurpfuscher ihren Laden dichtmachen.«
Carl ging ins Bad, pisste, trank einen Schluck Wasser, blinzelte seinem Spiegelbild zu. Als er ins Zimmer kam, saß Heidi auf dem Bett. Er setzte sich neben sie. Sie lächelte, strich über sein nasses Haar, führte seine Hände an den Reißverschluss ihres Rocks und ließ sich dann zurücksinken.
»Komm, Carlo.«
»Krank, wie ich bin?«
»Ich mach dich gesund.«
Aber als Carl das Weiße in Heidis Augen sah, konnte er nicht. Mochte Heidi noch so viel Pracht und Macht entfalten, Carl sah immer nur die blonde Kassiererin im Supermarkt, ihre unsauberen, fleischigen Finger, die spitzen Brüste unter dem roten Hemd, die Himbeerlippen, die Schramme auf ihrer Backe und, Wunder aller Wunder, die schimmernden, absinthgefüllten Muscheln ihrer Augen. Carl rollte zur Seite und griff nach dem Ricard. Er dachte, dass ihre Finger die Flasche berührt hatten, und stöhnte. Oh Wahnsinn, ich bin wirklich krank. Ich bin übergeschnappt. Die Hitze hat mich drangekriegt, der Suff, das Alleinsein, ich kann nur noch auf Basedow, der Irrsinn hat mich übern Tisch gezogen, ich sitze den Rest meiner Tage in der Klapsmühle ab und seh zu, wie die Spastis die Bettpfannen vollwichsen, ich bin auch einer, ein Spasti.
»Ich kann nicht, Heidi.«
»Ich merk’s.«
»Ich fühl mich beschissen.«
»Komm, küss mich.«
»Ich fühl mich zu beschissen, um dich zu küssen.«
»Was hast du denn auf einmal?«
»Kann ich dir nicht erzählen.«
»Du willst es nicht erzählen.«
»Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen.«
»Man muss sich nur öffnen.«
»Ach Scheiße.«
»Du bist betrunken.«
»Ich geb dir ja nicht die Schuld.«
»Du versuchst es.«
»Und erst recht nicht dem Trinken.«
»Allmählich macht’s dich eben doch fertig.«
Carl stöhnte.
»Warum fühlst du dich beschissen? Komm.«
»Heidi …«
Er richtete sich auf und starrte in ihre Augen. Es waren eher kleine Augen, ziemlich rund und flach, mit einem schmalen weißen Ring um die braune Iris. Es waren klare, wache, kühle Augen, und das Weiße in ihnen war glatt und spröde wie das Weiße eines Steins.
»Was ist denn?«
»Du hältst mich für krank, ja?«
»Carlo, du bist nur ein bisschen zu viel allein. Warum kommst du nicht mit uns nach Griechenland?«
»Mit uns?«
»Mit mir und meinen Freunden.«
»Heidi, vielen Dank, aber ich hab Griechenland nie wirklich gemocht. Der Retsina bekommt mir nicht, und dann dieses Alexis-Sorbas-Gehopse, also wirklich. Willst du noch Champagner?«
»Bitte.«
»Herrgott, er ist mir hingefallen. Ricard?«
»Nein.«
»Ouzo ist auch nicht besser.«
»Du bist dünner geworden, Carl.«
»Heidi, du wirst immer schöner, aber deine Augen …«
»Was ist mit meinen Augen?«
»Ach lass, ich bin blau, ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte …«
»Du weißt genau, was du sagen wolltest, und ich will es wissen.«
»Vergiss es.«
»Wie kann ich es vergessen, wenn ich es nicht weiß?«
»Vergiss es.«
»Du bist manchmal unerträglich.«
»Vergiss es.«
Heidi stand auf und zog sich an. Sie war sehr zornig.
»Tut mir leid, Heidi.«
»Dir tut gar nichts leid. Außer dir selbst. Aber mir tust du auch leid.«
Carl steckte sich eine Zigarette an. »Bleib doch noch, Heidi«, sagte er leise. Er wusste, dass er sie später vermissen würde, der Schmerz würde erbarmungslos sein, noch erbarmungsloser sein Ausbleiben.
»Weißt du, Griechenland hat ja auch seine Vorzüge …«
Sie glitt in ihre Sandaletten und nahm ihre Zigaretten.
»Gute Besserung, Carl.«
Sie war weg. Er lachte, hörte auf zu lachen, trank den Ricard aus der Flasche, bis er wieder einschlief. Einmal wachte er auf, als er in einem Traum immer wieder versuchte, Heidi davon zu überzeugen, dass das Weiße in ihren Augen Absinth sei, der Schnaps der Götter. »Du bist aber kein Gott, Carl!« – »Natürlich bin ich ein Gott! Sieh mich doch an! Ich bin ein Gott!« Carl wischte sich den Schweiß vom Gesicht, nahm einen Schluck Wasser und sah durchs Fenster. Der Himmel war noch, wo er immer war.
Am nächsten Morgen telefonierte Carl mit der Reparaturwerkstatt. Der Wagen war fertig. Carl rasierte sich, aß die Honigmelone, packte eine Reisetasche, sah nach, ob sein Ausweis noch gültig war, nahm die Rechnungen und die Reklame aus dem Briefkasten, verschloss die Wohnung und ging zur Straßenbahn. Es war unverändert heiß. Die Häuser flimmerten im brennenden Licht. Am Abend konnte er bequem in Genua sein. Er kam am Supermarkt vorbei. Besser, du nimmst was zum Trinken mit, dachte er. Er ließ sich in die Lebensmittelabteilung rollen. Er nahm drei Büchsen Tuborg aus der Kühltruhe und einen Scotch aus dem Regal und schob seinen Karren zur Kasse 1. Er sah, wie die Kassiererin, eine dicke Frau mit einer Trinkernase, die Kasse absperrte und die Kette vorlegte. Er schob seinen Karren zur Kasse 2. Kasse 2 war nicht besetzt. Dann sah er die Blonde. Sie tippte Waren ein und schenkte dem Kunden ihr tumbes Lächeln. Sie hatte eine neue Frisur, etwas Gelocktes, und die Schramme auf ihrer Backe war überpudert. Carl schob seinen Karren näher. Er spürte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzerrte. Der Kunde schob seinen leeren Karren an der Kasse vorbei, und sie sah Carl erwartungsvoll an. Carl lächelte. Die Kassiererin lächelte. Das Weiße in ihren Augen schien auch zu lächeln, lächelnde Perlen in Absinth.
»Ich hab noch was vergessen«, sagte Carl und schob seinen Karren zurück in den Supermarkt.