Als ich im Januar 1966 an der Universität Basel mein Germanistikstudium abgeschlossen hatte, wusste ich nicht, was ich weiterhin tun sollte. Ich wollte Schriftsteller werden, hatte indessen keine Ahnung, wie man so etwas macht.
Ich war dann ein halbes Jahr Deutschlehrer an der Kantonsschule Chur und arbeitete anschließend auf der Redaktion der Basler Nachrichten. Das hat mir gut gefallen, das viele Papier, das Schnipseln, das Tickern der Fernschreiber. Immer hat es pressiert, und jeden Tag haben wir ein Morgen- und ein Abendblatt herausgegeben.
Später bin ich Lokalreporter bei der Basler National Zeitung geworden. Ich habe das so gemacht: Ich bin mit dem Velo um 20 Uhr an eine Jahresversammlung oder zu einem Vortrag gefahren und gleich danach in die Redaktion gespurtet, um meinen Bericht zu schreiben. Ich habe schnell geschrieben, da ich vor Mitternacht noch ein Bier in der Rio Bar bestellen wollte. Das ist mir meistens gelungen.
Damals habe ich gelernt zu arbeiten, das heißt zu schreiben. Möglichst klar, möglichst knapp, damit es die Leute auch lasen.
1968 bin ich Spezialist für Studentenfragen geworden. Ich habe die Diskussionen besucht, die Sit-ins, die Demonstrationen. Ich bin nach Paris ins besetzte Quartier Latin gefahren, ins Herz der Studentenrevolte. Es war eine unerhört spannende Zeit. Das Wort, vor allem das gedruckte Wort in der Zeitung, so dachten wir, verändert die Welt.
Ich habe angefangen, fürs Feuilleton der National Zeitung Glossen zu schreiben. Erst unter Pseudonym, ich hatte noch nicht den Mut, in aller Öffentlichkeit mit meinem Namen zu meinen persönlichen Texten zu stehen. Aber immerhin wagte ich es, sie zu publizieren. In jener Spalte habe ich meine ersten Gedichte veröffentlicht und meine ersten Geschichten. Ich habe zum ersten Mal das, was ich heimlich meinem Schreibheft anvertraut hatte, gedruckt gesehen. Ein Schock war das, aber auch eine Befreiung. Und bald fand ich den Mut, meinen richtigen Namen darunterzusetzen. So bin ich Schriftsteller geworden.
Ich lese noch heute Zeitungen, mindestens zwei pro Tag. Eine einzige würde mir nicht genügen, ich will eine Gegendarstellung haben, eine zweite Meinung.
Eine Zeitung ist sinnlich. Sie raschelt verführerisch am Morgen im Café, wenn es aus der Tasse duftet. Eine Zeitung ist wunderbar altmodisch, im Vergleich zu Radio, Fernsehen und Internet immer zu spät, im Format viel zu groß, so dass man sie kaum ganz ausbreiten kann. Eine Zeitung ist jeden Morgen frisch und neu. Man kann schimpfen über sie, man kann fluchen, aber man liest sie doch.
Ich schreibe noch heute gern für Zeitungen. Ich mache das mit gleicher Sorgfalt und Leidenschaft wie für ein Buch. Mich freut’s, wenn in den Briefkästen eine Zeitung steckt, in die ich geschrieben habe. Ich schreibe gern für den Tag. Ich komme mir dann als Handwerker vor, als Lohnschreiber. Ich fühle mich solidarisch mit der Frau, die morgens um fünf das Blatt austrägt.
Großartig ist es, wenn man eine ganze Seite zur Verfügung hat und man weiß, dass der Redakteur einen schönen, gepflegten Umbruch macht.
Gut ist es auch, wenn man regelmäßig eine Kolumne schreiben darf, immer an der gleichen Stelle abgedruckt, immer gleich lang. Man gewöhnt sich an diese Länge, man entwickelt eine spezielle Technik, einen eigenen Stil. Ich habe Kolumnen geschrieben für verschiedene Zeitungen, Reisereportagen, Essays, Geschichten.
Im vorliegenden Band habe ich einige dieser Texte zusammengestellt, der geneigten Leserin, dem geneigten Leser, wie ich hoffe, zur Kurzweil.
H. S.
Die Meisen sind weg, sagt sie, weggeflogen in den Wald. Es ist ihnen zu kalt geworden in der Stadt.
Sie steht jenseits des Gitters, das die beiden Hinterhöfe trennt, als ob sie auf mich gewartet hätte.
Im Sommer gibt es Kohlmeisen hier, sagt sie, und Blaumeisen. Haben Sie das gewusst?
Ich nicke.
Meisen fressen nicht gern auf dem Boden, erklärt sie, sie wollen sich an einen Zweig hängen und picken. Im Sommer schaukeln sie an der Birke, aber jetzt sind sie weg.
Ich schaue zur Birke hinüber, die in der Kälte steht, und ich spüre, wie ich friere.
Die Frau hat ein Gesicht wie ein sechzigjähriges Mädchen. Keinen Moment nimmt sie die Augen von mir weg. In den Händen hat sie einen halbleeren Sack mit Vogelfutter, ihre Füße stecken in gefütterten Filzpantoffeln.
Das dort am Haselbusch, sagt sie, das ist der Wassernapf meines toten Wellensittichs. Ich fülle ihn jeden Tag mit heißem Wasser, aber niemand will trinken. Es gefriert zu schnell.
Ich betrachte den Plastikbehälter, der an einen armdicken Stamm gebunden ist. Eigentlich habe ich nur den Schnee von der Kellertreppe räumen wollen, aber das Mädchengesicht hält mich fest.
Der Hof ist wie ein Stück Waldrand. Die Büsche stehen gebeugt unter dem Schnee. Auf der Birke lärmen Vögel.
Die kommen aus Sibirien, sagt sie, es steht in der Zeitung. Sie kommen hierher, weil es in Sibirien noch kälter ist. Sie haben rote Bäuche. Ich habe ihnen Futter gestreut, aber sie sind scheu.
Ihr Haar ist grau, ihr Blick reglos. Warum habe ich sie noch nie gesehen? Bestimmt sitzt sie den ganzen Tag am Fenster und schaut hinaus, ob jemand zu ihr kommen will.
Ich kenne Sie, sagt sie, Sie wohnen in diesem Haus da im obersten Stock, und Sie gehen jeden Morgen in die Wirtschaft, um Zeitung zu lesen. Stimmt’s?
Ich nicke wieder und bin plötzlich verlegen. Sie strahlt fast ein bisschen, ihre Augen sind einen Moment lang in Bewegung.
Schauen Sie, sagt sie und zeigt zum Gartentisch hinüber, der unter der Birke steht, sie kommen.
Auf der Lehne der Gartenbank sitzen tatsächlich zwei Vögel mit roten Bäuchen. Sie drehen die Schnäbel nach links und nach rechts, und einer hüpft mit kurzem Flattern auf den Tisch hinüber. Dort liegt Futter, und wir schauen zusammen zu, wie er drauflospickt.
Als ich gestern Abend mein Büro verließ, schneite es. Fingerbeergroße Flocken wirbelten herunter, nasse Fetzen. »Leintücher« haben wir sie früher genannt, wenn wir auf der Straße standen mit aufgesperrtem Mund und warteten, bis uns eine Flocke in den Mund tanzte. Meist fiel sie daneben, auf die Wange oder auf ein Auge, und erschrocken wischten wir den kalten Fleck weg. Aber sogleich schauten wir wieder hinauf ins kompakte Flockengeschiebe, der Himmel war verschlossen mit einer tiefen Flaumdecke, und das war schön.
Ich ging unter den dunklen Kastanienbäumen durch das Schneetreiben heimzu. Die Baumrinden glänzten. Der Boden war nass, Straße und Trottoir waren noch zu warm, als dass der Schnee hätte Fuß fassen können. Auf der Kreuzung vorn standen die Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern, die Scheibenwischer drehten, die Motoren entließen dünnes Gas.
Rechts in der Einbahnstraße, die nur zum Parken benutzt wird, sah ich drei Mädchen mit Schulranzen am Rücken. Sie hatten ihr Gesicht gegen den Himmel erhoben, die Arme hielten sie ausgestreckt wie Vogelscheuchen im Schneefall, ihre Münder standen offen.
Plötzlich schrie eine auf und griff sich mit der Hand an die Stirn. Offensichtlich war dort eine fingerbeergroße Flocke gelandet, und lachend putzte sie den nassen Fleck weg. Sofort gaben auch die beiden andern ihre andächtige Stellung auf. Sie lachten zu dritt, sie tanzten herum, dann stellten sie sich wieder hin, das Gesicht nach oben gewendet, die Arme ausgestreckt, wartend auf ein kaltes Leintuch.
Ich blieb stehen und hielt die linke Hand waagrecht vor mich hin, die Außenseite nach oben. Es ging ziemlich lang, aber plötzlich fiel eine luftige, aus mehreren Teilen zusammengesetzte Flocke auf meine Hand. Ich schaute ihr zu, wie sie in sich zusammenschmolz. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann lag ein kleiner Tropfen auf meiner Hand. Ich leckte ihn auf, er schmeckte nach nichts. Ich ging weiter bis zum Zebrastreifen und wartete mit den anderen auf eine Lücke in der Autokolonne, die im Schritttempo vorbeiglitt.
Weiter vorn, als ich schon vor dem Haus stand, in dem ich wohne, kam mir die Schneeflocke in den Sinn, die auf meiner Hand geschmolzen war. Sie war weiß, weiß wie Schnee. Und mit einer plötzlichen Freude öffnete ich die Haustür.
Ein Mann geht über Land, mit weitausholenden Armen, den Rumpf gebeugt. Er achtet auf den Boden, wohin er die Füße setzt. An einigen Stellen liegt Rauhreif, Eis bedeckt die Löcher im Weg. Es knistert beim Auftreten, es knackt. Anderswo scheint die Sonne hin. Dort ist es matschig, und der Fuß findet keinen Halt.
Rechts liegt ein gepflügter Acker. Das Erdreich ist aufgerissen, armlange Erdschollen sind übereinandergeschichtet. Kiesel leuchten daraus hervor, wenn die Sonne sie trifft. Im Sommer steht hier der Mais mannshoch. Im Herbst glänzen die Kolben aus den braunen Blättern. Jetzt ist der Acker leer. Keine Krähe hockt darauf, keine Amsel, kein Spatz.
Drüben am Horizont rollt ein roter Traktor, er pflügt. Die eine Seite der Pflugschar fährt durch den Boden, die andere glänzt in der Luft. Der Fahrer sitzt in einer Kabine. Er schaut geradeaus der Furche entlang.
Der Mann erreicht den Wald. Er watet durch dürres Laub. Einige Blätter sind am Boden festgefroren. Sie brechen entzwei, wenn der Schuh sie trifft. In den Spuren, die die Traktorräder in den Boden gedreht haben, liegt das Eis fingerdick. Beim Aufsetzen des Absatzes zersplittert es in handgroße Schollen.
Der Mann keucht. Sein Atem dringt wie Nebel aus dem Mund. Er folgt der Traktorspur, er geht an den dicken Buchen vorbei, deren Rinde grau schimmert. Einmal knackt es im Unterholz. Er hält an und wartet. Als sich nichts rührt, kein Hase, kein Reh, geht er weiter. Er hört seine Schritte auf dem harten Boden.
Später betritt er das Dorf. Er riecht den Duft vom silierten Mais, der in den Tennen lagert. Die Tiere liegen in den Ställen mit weißen Eutern, wiederkäuend, rasselnd mit den Ketten. Ein Bauer steht inmitten von Brennholz, das er zu handlichen Scheiten spaltet. Er legt das Beil hin und ruft etwas herüber. Zu verstehen ist es nicht.
Der Mann betritt ein Haus. Er geht durch den Gang in die Stube und schiebt zwei Scheite in den Ofen. Dann stellt er sich ans Fenster.
Die Wiese draußen liegt im Sonnenlicht. Er sieht den Birnbaum, in dessen Schatten sich der Rauhreif hält, den Zwetschgenbaum und den Holzhaufen, den er im Frühjahr anzünden wird. Der Garten ist lichtdurchflutet, das Haus hält die Bise fern. Es ist warm dort draußen, und neben dem Holzhaufen, er sieht es genau, tanzen Mücken im Licht.
Ich kenne ihn seit Jahren. Immer in den Wintermonaten hockt er im Geäst der Stechpalme vor dem Haus nebenan, schwarz mit gelbem Schnabel, ein Amselmann. Man sieht ihn kaum, aber man hört ihn. Er singt den ganzen Tag leise vor sich hin, ob’s regnet oder schneit, er versucht zu flöten.
Als ich ihn zum ersten Mal hörte, habe ich meinen Ohren nicht getraut. Was sollte das Gezwitscher, tief im Winter?
Warum so leise, fast nebenbei, als ob es gar kein richtiger Gesang sein sollte?
Ich stand auf dem Trottoir, vor mir der Eisenhag, dahinter die Stechpalme, darin der Vogel. Er hielt sich offenbar für unentdeckbar, geschützt durch die immergrünen Blätter. Er hat gesungen, als ob ich geträumt hätte.
Er hockt immer dort zur kalten Zeit, wenn ich vorbeigehe, meist übertönt von den Autos, die vorbeirollen. Es ist ein guter Platz, an dem er überwintert. Der Busch ist voller roter Beeren. Die frisst er alle auf, eine nach der andern, im Frühjahr ist keine mehr da.
Ich frage mich, warum er überhaupt zu singen versucht. Ich würde ihm raten, sich still zu verhalten, er muss zu dieser Jahreszeit kein Revier verteidigen, und zu jubeln gibt es auch nichts. Sein Flöten verbraucht nur Energie. Er ist wohl verhaltensgestört.
Ich höre ihn jeden Morgen, wenn ich meine Wohnung verlasse, ich achte auf seine Töne. Manchmal pfeife ich zurück, dann hört er sogleich auf. Vermutlich bin ich der einzige Mensch, der ihn kennt.
Im Frühjahr, wenn die Tage wieder länger werden und die Stechpalme leergefressen ist, ist er nicht mehr zu sehen. Ich weiß nicht, wohin er dann fliegt, vielleicht auf ein Dach der Mietshäuser ringsum. Dort hockt er auf einer Fernsehantenne, wenn die Sonne aufgeht, und jubiliert in den Himmel hinein. Ich höre ihn, wenn ich aus einem Morgentraum erwache.
Er war in einem dunkelgrauen, kaum erkennbaren Fischgratmuster gewoben. Er war zweireihig und in der Taille eingenommen. Hinten hing ein Gürtel, dessen braungefaserte Knöpfe man aufknöpfen konnte, ohne dass das irgendetwas geändert hätte. Das Stolze daran waren die beiden Kragenenden. So mussten die Ohren einsamer Elche im finnischen Winter aussehen: überdimensioniert, kalte Luft schaufelnd, elegant. Meine Mutter hatte an das eine Ende einen Knopf und ans andere die dazugehörende Öse genäht, und so konnte ich bei allzu steifem Gegenwind den Kragen zuknöpfen.
Natürlich war er absolut unzeitgemäß. Aber es war mein erster Mantel, und ich war 18. Mein Vater hatte ihn getragen, als ich ein kleines Kind gewesen war. Danach hatte er jahrelang im Elternschrank gehangen, bis ich ihn entdeckt und aus der dichtgedrängten Reihe herausgerissen habe. Ich probierte ihn sogleich vor dem Spiegel an. Er war mir nur ein bisschen zu groß.
Es lachte mich niemand aus, als ich am anderen Morgen in ihm zur Schule ging. Der Ernst, mit dem ich ihn trug, erdrückte jeden Spott.
Es ist die graue Zeit zwischen Winter und Frühjahr: eine gute Zeit, wenn man unter verschneiten Tannen spazieren geht. Eine Niemandszeit, wenn man in einer Stadt sitzt wie dieser, durch die die Autokolonnen schleichen. Außer diesen Maschinen ist nichts zu sehen, was sich bewegt, kein Bein, kein Arm, kein Elch. Und oben hängt der Nebel.
Es wäre gut, in einem fischgratgrauen Mantel zu stecken, der links und rechts Taschen hat fast bis zu den Knien hinunter. Man füllt sie mit Baumnüssen als Notzehrung und steigt hinunter in die verschmierte Straße. Wenn von der Kreuzung vorn ein kalter Wind bläst, nimmt man die Hände aus den Taschen, stellt sich kurz in einen Hauseingang, klappt den Kragen hoch und knöpft ihn zusammen. So geschützt und eingeelcht kann man getrost weiterziehen die Straße hinunter zur Stadt hin.
Für meinen Sohn Samuel
Der Raum ist überheizt. Die beiden Männer jenseits der kugelsicheren Scheibe arbeiten im bloßen Hemd. Der jüngere trägt den Kragen offen, die Krawatte baumelt lose über der Brust. Die Kunden haben dafür Verständnis, schließlich sind es gut und gern 24 Grad hier drin.
Wir stehen in zwei Schlangen vor den beiden horizontalen Öffnungen, die im zweifingerdicken Glas ausgespart sind. Durch sie schieben die Beamten Quittungen und Geld heraus. Ich weiß, dass der ältere einen Wohnwagen in Kandersteg besitzt. Sein Gesicht ist braungebrannt.
Die Dame vor mir trägt einen beigen Übergangsmantel. Ich höre ihr zu, wie sie 700 Franken verlangt. Sie sagt es verschämt, kaum hörbar, als ob sie etwas Unanständiges haben möchte. Gern, sagt der Beamte und geht zum Computer, wo er die Kontonummer eintippt. Er tut das mit erstaunlicher Präzision, er lässt seine Finger auf die entsprechenden Tasten fallen, als ob es ein lustvolles Spiel wäre. Dann schaut er gelangweilt auf ein farbiges Kalenderblatt an der Wand, auf dem in leichtem Nebel das Schreckhorn zu sehen ist.
Draußen ist Aprilwetter, wir Kunden tragen alle Übergangskleidung. Die Hitze im Raum stört uns nicht. Wir werden nicht so lange warten müssen, dass wir zu schwitzen anfangen.
Jetzt brummt der Computer, er gibt ein Geheimnis preis. Die Dame darf ihr Geld beziehen. Der Beamte zählt sieben neue Hunderterscheine ins Kundenfach und ordnet sie mit gekonnter Bewegung zum einwandfrei geschichteten Bündel. Er schiebt es durch die Öffnung, unbestechlich, sachlich. Die Dame scheint sich nicht zu freuen über die Scheine, sie nimmt sie, ohne zu lachen. Niemand sagt ein Wort.
Plötzlich wird die Tür geöffnet. Ein fünfjähriger Knirps stemmt sich dagegen, damit sie nicht wieder zurückschwingt. Eine Frau mit hellen Haaren bemüht sich, einen Kinderwagen hereinzuschieben. Es gelingt ihr nicht, sie müsste zwei Stufen überwinden. Die Metalltür ist für den Fünfjährigen zu schwer, sie drückt gegen den Kinderwagen, der schräg auf den Stufen steht. Wir alle schauen zu, wie sich der Kleine bemüht, den Eingang für seine Mutter offen zu halten. Es ist klar, dass er es nicht schaffen kann. Warum lässt die Frau den Kinderwagen nicht draußen?
Ein Mädchen aus der Schlange nebenan geht zur Tür und hält sie mit der einen Hand auf. Mit der anderen hilft sie, den Kinderwagen hereinzuziehen. Die Mutter lächelt kurz, es ist eher ein Nicken. Offensichtlich geniert sie sich. Aber sie muss Geld abholen, und sie will ihr kleines Kind nicht draußen liegen lassen.
Endlich steht der Wagen im Kundenraum, die Tür schlägt zu. Unter einer handgestrickten Wolldecke liegt ein Säugling. Die Mütze bedeckt beinahe seine Augen. Aber er hält sie offen und starrt in die Welt. Was er sieht, sind ungläubige Gesichter, die sich jetzt wieder dem Panzerglas zuwenden.
Im Café an der Ecke sind Hunde gern gesehen. Ein Napf mit Wasser steht am Boden. Daneben liegt Trockenfutter. Wer vierbeinig hereinkommt, geht hin, lappt ein bisschen, frisst ein bisschen, knurrt ein bisschen.
Die Tiere sind klein, nicht größer als ein Huhn. Einige sind geschoren. Andere haben von Natur aus kurzes Haar. Keines scheint gefährlich zu sein. Aber alle schauen übertrieben frech in die Welt.
Es sind die Lieblinge älterer Frauen. Diese finden sie herzig. Einige sind an die Leine gebunden. Sie schauen zu Wassernapf und Trockenfutter hinüber. Sie möchten hingehen, lappen und fressen. Sie bellen plötzlich und steigen auf die Hinterbeine, bis ein kräftiger Ruck an der Leine sie zur Ruhe bringt. Dann legen sie sich hin, man hört ein leises Winseln.
Auch die Frauen möchten gern essen. Sie schauen zu den Kuchen hinüber, die auf einem Tisch ausgestellt sind. Man sieht ihnen an, dass sie entschlossen sind, heute nichts Süßes zu sich zu nehmen. Man sieht auch, wie diese Entschlossenheit schwindet. Sie bestellen ein Stück Erdbeertorte. Erdbeeren sind gesund.
Fast alle sind dick. Sie haben nicht die schwere Massigkeit von Bäuerinnen, die den ganzen Tag arbeiten. Sie sind von einer weichen, unglücklichen Dicke, wie Frauen, die nichts weiter zu tun haben, als ihren Hund auszuführen.
Mich mögen die Köter nicht. Sie bellen, wenn ich hereinkomme, sie knurren und blecken die Zähne. Wenn ich zurückschimpfe, fällt ein Frauenchor über mich her.
Ich nehme meine Kaffeetasse und setze mich ans Tischchen draußen auf dem Trottoir. Autos gleiten vorbei. Drüben unter der Platane plätschert ein Brunnen, ruhig, kühl.
Vier Frauen kommen die Straße herauf in einer Reihe, sie haben sich eingehängt. Es sind Ausländerinnen, Bäuerinnen vielleicht aus dem Hochland Anatoliens. Die Großmutter trägt ein weißes Tuch um den Kopf. Die Tochter daneben stößt einen Kinderwagen, eine vierzigjährige starke Frau. Zu beiden Seiten gehen Töchter im Schulmädchenalter im gleichen geblümten Kleid. Ihre Blicke sind fest geradeaus gerichtet. Wer ihnen entgegenkommt, muss Platz machen. Sie selber weichen nicht. Sie gehen, als würde der Marsch tagelang dauern.
Beim Brunnen drüben bleiben sie stehen. Die Großmutter schiebt ihre Ärmel zurück, und die drei andern schauen zu, wie die alte Frau ihre Arme ins Wasser taucht.
Erst muss ich warten, bis die Ampel auf Grün umschaltet. Dann pedale ich los. Schwere Laster von der Mulden-Zentrale rollen an mir vorbei. Sie führen den Bauschutt der Stadt in die leeren Kiesgruben jenseits der Grenze. Ihr verrostetes Gusseisen drückt mich in den Rinnstein. Man muss aufpassen, dass man nicht überfahren wird hier.
Später in der Hegenheimerstraße lässt der Verkehr nach. Dies ist keine Ausfallstraße. Nur eine Straße ins Elsass.
Elsass kommt von Elend. Und das Elend meint ursprünglich die Fremde. Für die rechtsrheinischen Alemannen saßen die Fremden jenseits des Flusses. Das heißt im Elsass.
Der Schweizer Zoll ist bemannt, wie es sich gehört. Ein junger Mann in Uniform sitzt hinter dem Fenster. Er verzieht keine Miene, als ich vorbeifahre, er winkt mir nicht. Das französische Zollhäuschen ist leer. Also halte ich nicht an, ich habe nichts zu verzollen.