Ralf Wider
Der Auftrag
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1 - Die Nachricht
Kapitel 2 - Das Raumschiff
Kapitel 3 - Der Auftrag
Kapitel 4 - Aufbruch
Kapitel 5 - Die fremde Welt
Kapitel 6 - Atlantis
Kapitel 7 - Der Besuch
Kapitel 8 - Die Höhle
Kapitel 9 - Das Geheimnis
Kapitel 10 - Der Ausweg
Kapitel 11 - Gewissensbisse
Kapitel 12 - Unterwegs
Kapitel 13 - Der Maulbeerbaum
Kapitel 14 - Der Stein
Kapitel 15 - Der Feind
Impressum neobooks
Ferry brauchte eine Toilette. Dringend.
Er schaute sich um, die Stirn in Falten gelegt und schüttelte langsam den Kopf. Nein, hier gab es nichts Passendes.
Wäre er doch nur nach Hause gegangen! Die Toilette in seiner kleinen Wohnung war perfekt: etwas altmodisch zwar, nicht sehr gross, aber gemütlich und vertraut. Alles lag an dem Platz, wo es hingehörte, alles war aufgefüllt… Ausserdem roch seine Toilette gut, dank einem Duftständer mit Amber-Essenz.
Noch einmal drehte er sich im Kreis und musterte die umliegenden Gebäude mit skeptischem Blick: Kaufhäuser, Schnellimbiss, Juweliere, Designerboutiquen… Die Lippen zusammengepresst, schnaubte er frustriert durch die Nase.
Er kannte die Art Toiletten, die er hier finden würde: winzige Kabuffe, miese Hygiene, schlecht schliessende Türen, kaputte Schlösser. Und kein Handwaschbecken in der Kabine… Wieso hatte er unbedingt einen Spaziergang in der Stadt machen müssen?
Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er war spazierengegangen, weil es ein prachtvoller Frühlingstag war. Weil er frische Luft brauchte. Und vor allem, weil er sonst nichts zu tun hatte… Er hatte ja nicht wissen können, dass er gerade heute eine Nachricht aus dem Hauptquartier bekommen würde. Wie auch? Nach drei Jahren der Funkstille!
Das änderte jedoch nichts an seiner Situation: er brauchte eine Toilette! So schnell wie möglich!
Er blickte nachdenklich die Zürcher Bahnhofstrasse hinunter, in Richtung des Zürichsees. Sollte er diesen Weg wählen? Er stand an der Pestalozzianlage, also schon recht nahe am Bahnhof. Er könnte das Tram nehmen und wäre im Nu am Paradeplatz… von dort wären es nur ein paar Schritte bis zur Nationalbank… Nein. Das Hauptquartier wäre natürlich die naheliegende Idee, doch… Nein! Er hatte keine Lust, dorthin zu gehen. Auch wenn sie ihn angepiepst hatten. Er fühlte sich dazu noch nicht bereit. Erst musste erst Klarheit haben, worum es überhaupt ging, und wie er dazu stand.
Ferry drehte sich langsam um und schaute an dem grossen Kaufhaus vorbei. Dahinter lag der Löwenplatz und nochmals dahinter die Gessnerbrücke. Dahinter begann der Kreis 4, wo sich sein Bistro befand. Er nickte, um seine Entscheidung zu untermauern. Ja, diese Toilette würde genügen. Er setzte sich in Bewegung.
Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Central Command - das Hauptquartier - hatte ihn angepiepst. Was sollte das? Er war nicht mehr im Corps! Er war Reservist. Nein, nicht Reservist, korrigierte er seine Gedanken und wich einer Gruppe von asiatischen Touristen aus. Er war rausgeschmissen worden. Er war Alteisen. In der Truppe von heute war er vermutlich nicht mehr als ein Mythos, eine verblassende Legende… Er beschleunigte seinen Schritt auf infanteristische Marschgeschwindigkeit. Im Kopf überschlug er, wie lange er bis zu seinem Bistro brauchen würde. Sieben bis acht Minuten, kalkulierte er. Maximum zehn, das kam auf die Ampeln an.
Ferry gehörte nicht zu den Leuten, die bei Rot über die Strasse liefen. Das widerstrebte ihm. Es gab in dieser Stadt genug Idioten, fand er, die rote Ampeln ignorierten und wie kopflose Hühner und Gockel gackernd über die Strasse rannten, das Mobiltelefon am Ohr oder vor der Nase, den Rest der Welt ausblendend. Welch egoistische Ignoranz.
Ein Fahrrad schoss dicht an ihm vorbei, mitten auf dem Gehsteig, kam scheinbar aus dem Nichts, und verschwand sofort wieder im dichten Verkehr, vom Trottoir runter, ein Stück die Strasse hinab, quer über die Kreuzung… Haken schlagend zwischen Fussgängern und Autos wie ein Hase auf der Flucht. Nur Zentimeter hatten gefehlt, und der Radfahrer hätte ihn umgefahren! Ferry starrte dem Verkehrssünder wütend hinterher: ja, DIE hasste er ganz besonders…! Die Radfahrer in der Stadt Zürich setzten sich bewusst über jegliche Verkehrsordnung hinweg, sie gefährdeten dabei sich und andere, jegliche soziale Norm bewusst beiseite stossend.
"Arschloch!", knurrte Ferry zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er löste den Blick von dem Punkt im Gewusel der Strasse, wo der Radfahrer verschwunden war und liess ihn hinunter zum Wasser gleiten: er war am Schanzengraben angekommen, einem kleinen Kanal entlang der ehemaligen Stadtgrenze.
Er stellte sich ans Geländer der kleinen Brücke die darüber führte, legte schwer die Hände darauf und atmete zweimal tief durch. Er spürte den Stadtstaub und die Pollen auf dem Geländer unter seinen Händen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seinen Blick unter sich aufs Wasser lenkte und einen Punkt im Nirgendwo fixierte. Zwischen den Brauen entstand eine senkrechte, hohe Falte.
Irgendwie bewunderte er diese irren Radfahrer auch… vor allem die Fahrrad-Kuriere. Sie erinnerten ihn an sich selbst. Wenn er in seiner Flugkapsel sass, war er genauso wie sie… Dann kannte er auch keine Geschwindigkeitsgrenzen, keine Regeln, keine Konventionen. Er flog immer am Limit, erlaubt war, was technisch möglich war…
Also war er wohl auch ein Arschloch… schloss er konsequenterweise. Für einen Moment trat ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht, doch es verflüchtigte sich schnell wieder. Der Vergleich hinkte: wo Ferry flog, da gab es keine Zivilisten, keine anderen Verkehrsteilnehmer. Dort gab es nur ein paar Menschen, die einmal seine Freunde gewesen waren… und Graue…
Er hob den Blick und schaute hinüber zur nahegelegenen Gessnerbrücke. Kurz dahinter lag das Bistro mit der Toilette… Plötzlich war sich der ehemalige Commander nicht mehr sicher, ob er so dringend eine Toilette brauchte… Was er brauchte, war Klarheit. Zuerst musste er seine Gedanken ordnen, dann erst würde er bereit sein für den nächsten Schritt.
Er überquerte die Strasse bei Grün und gelangte zur Sihl, dem kleineren Fluss der Stadt, der parallel zum Kanal lief. Gleich neben der Brücke, die darüber führte, hatte man mit grossen Steinquadern eine Art Riesentreppe gebaut. Sie sollte wohl den Hang befestigen, diente aber den meisten Leuten einfach als prima Terrasse um sich hinzusetzen, auf den Fluss zu schauen, die Nase in die Sonne zu halten und mitten in der Stadt kurz durchzuatmen. Bei schönem Wetter waren die Stufen um die Mittagszeit voll mit Leuten, die ihren Salat, ihr Müsli, einen Döner oder ein überteuertes und unterkühltes Sandwich assen und die Sonne anbeteten.
Ferry sprang einige Treppenstufen hinunter und setzte sich. Aus der linken Tasche seiner schwarzen Windjacke holte er ein Päckchen "Parisienne" heraus, der traditionellen Schweizer Zigarettenmarke. Es waren die orangefarbenen, mittelstark. Aus der rechten Tasche seiner Jeans grub er sein Zippo-Feuerzeug hervor. Er fischte sich eine Zigarette aus der Box und zündete sie an. Er musste zweimal am Rad des Feuerzeugs drehen, bis die Flamme entstand. Er musste bald Benzin nachfüllen, machte er sich eine geistige Notiz.
Langsam sog er den Rauch in seine Lungen, um ihn dann mit einem langen Seufzer wieder auszuatmen. Der erste Zug roch immer nach Benzin. Wahrscheinlich war das noch schädlicher, als rauchen sowieso schon war. Doch das störte ihn nicht. Das Zippo gehörte dazu, es war Ritual, es war eine kleine, persönliche Kostbarkeit. An den Schweisspunkten am Rücken des Feuerzeugs konnte man sehen, dass es mehrmals repariert hatte werden müssen. Aber dafür gab es ja die lebenslange Garantie von Zippo.
Das Sturmfeuerzeug war aus poliertem Chromstahl und trug den eingravierten Schriftzug "San Francisco" unter dem Bild einer stilisierten Golden Gate Bridge. Die Kratzer auf der glatten Oberfläche und die vielen, kleinen Dellen an den gerundeten Kanten zeugten davon, dass er es schon viele Jahre bei sich trug. Er hatte es an der Fisherman's Wharf gekauft, in einem kleinen Souvenirladen unweit des berühmten Pier 39. Ferry liebte diese Stadt. Er war in San Francisco stationiert gewesen, als Jungpilot, an der Flugakademie. Meist waren sie zwar im Hinterland gewesen, in der Wüste von Nevada oder südlich von Death Valley, auf dem Stützpunkt der Navy in Searles Valley. Doch wenn Sie Freigang hatten, waren Ferry und seine Kameraden immer in die Stadt gefahren. Das war lange her…
Er drehte das Zippo gedankenverloren zwischen den Fingern, wog es in der Hand. Es war kühl und schwer und vertraut. Er steckte es zurück in seine Jeans. Er inhalierte lang und langsam, dabei verengten sich seine Augen immer zu Schlitzen. Er klopfte die Asche ab. Zog noch einmal. Seine Gedanken wanderten zurück zu der kryptischen Nachricht, die er vor einigen Minuten erhalten hatte…
In seinem Innenohr hatte es gepiepst und Ferry war erschrocken. Seit er nicht mehr bei der Truppe war, hatte der Funksender in seinem Ohr geschwiegen und er hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu hören. Das ehemals vertraute Signal bedeutete, dass jemand von der Kommandozentrale ihn zu erreichen versuchte.
Wäre er ein x-beliebiges Mitglied des Corps gewesen, hätte er die Nachricht sofort gehört. Die Stimme wäre direkt in seinem Kopf gewesen und hätte zu ihm gesprochen. Doch Ferry hatte mit Hilfe einer eigenen kleinen Erfindung einen Weg gefunden, die direkte Sprechkommunikation zu blockieren: schon vor langer Zeit hatte er sich einen Empfangs-Blocker aus µ-Metall gebaut, sehr zum Leidwesen seiner Vorgesetzten.
µ-Metall, auch Permalloy genannt, ist eine Nickel-Eisen-Legierung und dient zur Abschirmung niederfrequenter Magnetfelder. Ferry hatte sich einen Ohrring daraus gebaut, den er am linken Ohr trug. Da er Rechtshänder war, befand sich sein Wernicke-Zentrum, das sensorische Sprachzentrum im Hirn, ebenfalls links. Das implantierte Kommunikations-Modul des Corps sass im Wernicke-Zentrum und war damit so nahe am Ohrring, dass es abgeschirmt werden konnte. Wollte Ferry uneingeschränkte Kommunikation, so brauchte er nur den im quadratischen µ-Metall eingefassten Diamanten zu drücken. Dieser löste einen winzigen Hebel-Vorgang aus, der mechanischen Druck auf das umliegende Metall ausübte und es im Nanometerbereich stauchte. Die Permeabilität des Permalloys verringerte sich damit so drastisch, dass die Abschirmung zusammenbrach. Löste er den Druck durch erneutes Drücken des Diamanten, so erhöhte sich die Permeabilität sofort wieder und schirmte das Signal ab. Die Stärke des Abschirmungsfeldes war so berechnet, dass sie genau reichte, um den Funkspruch zu unterdrücken, jedoch registrierte das Modul im Sprachzentrum ein kaum wahrnehmbares Signal - wie eine winzige Amplitude im analogen Radio - und wandelte es in einen digitalen Piepston um. Und nun hatte es gepiepst.
Master Paris hatte Ferry persönlich angefunkt, und das kam nur selten vor. Nein, eigentlich kam es gar nie vor.
Wenn der Leiter der Parallel 1 Armed Forces ihn anrief, bedeutete das nichts Gutes. Sicherlich keine Einladung zu Kaffee und Kuchen, um über die alten Zeiten zu plaudern. Paris musste verzweifelt sein, wenn er gerade ihn anfunkte. Nur deshalb hatte Ferry den Anruf abgehört.
Paris hatte eine Voicemail hinterlassen - noch etwas, das nie vorkam. Normalerweise liess er das Schichtpersonal in der Zentrale eine Text-Message schicken. Seine Stimme hatte geklungen wie immer… tief, sachlich, scheinbar emotionslos und extrem autoritär, ohne dabei diesen militärischen Brüll-Klang einzunehmen:
"Commander Black, Sie fliegen einen Solo-Einsatz. Search and Rescue. Squad Leader MIA. Full Armour. Startfreigabe sofort. Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File. Das ist SL-1."
Das war alles gewesen. Und deshalb brauchte Ferry jetzt eine Toilette.
Er schloss die Augen und liess den Kopf nach links und nach rechts fallen, um die Gelenkkapseln der Halswirbel knacken zu lassen. Das entspannte ihn und half ihm, nachzudenken.
"Startfreigabe sofort", hatte Paris gesagt. Das bedeutete, dass es eilig war… Ein ungutes Gefühl breitete sich in Ferrys Magengegend aus.
"Sofort" hiess für die "Squad on duty", die diensthabende Flugrotte, in weniger als drei Minuten in den Flugmaschinen…. Er würde länger brauchen, aber das war in Ordnung, fand er, schliesslich war er nicht "on duty"… Wieso also dieses Drängen zur Eile?
Der Ex-Commander der P1AF atmete tief durch. Ja, er war so was von "off duty" wie es nur möglich war… Man hatte ihn rausgeworfen, vor über drei Jahren… Nach dem Vorfall, über den er nicht sprach… Oder anders gesagt: was vorgefallen war, hatte ihn dazu bewogen, sich so saublöd zu benehmen, dass sie ihn hatten rausschmeissen müssen… "Insubordination. Zwanghafter Einzelgänger. Eine Gefahr für sich und andere. Unkontrollierbar. Unzuverlässig. Für das Corps nicht länger tragbar..." All das tauchte in dem über fünfzig Seiten langen psychologischen Profil auf, das die Kurz-Schwestern, die Psychologinnen des Corps, erstellt hatten und das zu seiner Entlassung geführt hatte. Trotz der heftigen Verfehlungen hatte der Ältestenrat ihn jedoch nicht unehrenhaft entlassen, was durchaus angebracht gewesen wäre, sondern ihn zum Reservisten gemacht. Damit hatte er sogar Anrecht auf eine kleine Rente.
Konnte es sein, dass Paris ihn aus der Reserve zurückholen wollte in den aktiven Dienst? Ferry schüttelte ungläubig den Kopf. Unfokussiert wanderte sein Blick den Fluss hoch.
Er war in den vergangenen Jahren ab und zu hiergewesen mit seinem IFO, dem individuellen Flug-Objekt. War am grasbewachsenen Flussufer eine kurze Runde flussaufwärts geflogen und wieder zurück. Einfach, um in Übung zu bleiben. Auch, um sich selbst zu vergewissern, dass er es noch konnte. Und er konnte es noch. Es war wie immer gewesen. Lediglich den Funk und die Navigationsgeräte hatte er ausgeschaltet, flog quasi im Blindflug, auf Sicht. Aber das reichte völlig für die paar hundert Meter den Fluss hoch, Kehrtwende und wieder zurück.
Natürlich war er nicht HIER geflogen, vor all den Menschen, die hier herumwuselten. Das wäre gar nicht möglich gewesen. Auf der Erde, im Fachjargon des Corps "Parallelwelt 0", oder kurz P0, genannt, gab es zu wenig Energie, um ein IFO entstehen zu lassen oder damit zu fliegen. Er war an diesem Ort geflogen in der Parallelwelt 1, kurz P1.
Die Sihl gab es in P1 genauso. Das Gras am Flussufer war nicht so schön grün, doch ansonsten war die Landschaft identisch. Nur dass hinter dem Fluss kein Zürich lag. Es gab keine Stadt in P1. Es gab gar nichts Menschgemachtes in P1, nur eine Art Platzhalter für Dinge, die es in P0, unserer Welt, gab. Wo auf der Erde ein Haus stand, fand sich in P1 nur ein grauer Quader. Ähnlich einem klotzartigen Rohbau, innen hohl und komplett ohne Leben, aussen glatte, strukturlose Wände. Reine Fassade.
In der Parallelwelt P1 sah Zürich aus, wie ein nicht fertig programmiertes Computerspiel, das auf einem veralteten Computer mit ungenügender Grafikkarte gespielt wurde.
Ferry hatte aufgeraucht, drehte die Zigarette auf dem feuchten Boden aus, vergewisserte sich mit den Fingerspitzen von Zeigefinger und Daumen, dass sie nicht mehr glomm und steckte sie in eine kleine Blechbox, die er zu diesem Zweck immer bei sich trug.
Er schüttelte sich, um die Gedanken an das Früher zu vertreiben. Er musste fokussieren, auf das Hier und Jetzt. Er musste die Nachricht noch einmal abhören, denn er konnte noch immer nicht fassen, was Paris ihm mitgeteilt hatte.
Um die Nachricht abzuhören, brauchte Ferry nur ein einfaches Hilfsgerät. Grundsätzlich funktionierte fast jedes elektronische Gerät oder auch ein mechanisches Gerät mit einem Quarz für die Kommunikation mit der Zentrale. Ferry hatte sich vor langer Zeit für die Quarz-Variante entschieden. Seine Armbanduhr war sein Funkempfänger, sozusagen. Seine Certina DS Chronograph Titanium war schon ziemlich zerschlissen, und um die Zeit abzulesen, brauchte Ferry sie schon lange nicht mehr. Die Batterie war leer. Doch die brauchte es gar nicht, um Kontakt aufzunehmen. Die trigonale kristalline Struktur des Quarzes wurde durch die Frequenzschwingung des Senders angeregt und mit genügend Energie geladen, um eine gesprochene oder getextete Nachricht zu speichern. Da seine Certina ein Saphirglas hatte, welches ebenfalls eine trigonale Struktur aufweist, verhielt sich das Uhrenglas wie ein LCD-Display mit Touchscreen-Funktion.
Er schaute auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. Warum trug er sie eigentlich noch? Hatte er nicht längst abgeschlossen mit dieser Etappe in seinem Leben? Hatte er unterbewusst gehofft, dass man ihn kontaktieren würde, dass man ihn aus seinem tristen Reservisten-Dasein zurückholen würde?
Als man Ferry vor langer Zeit erklärt hatte, worum es sich bei dieser Truppe handelte, hatte er sich dem P1-Corps sofort angeschlossen, und davon war er nicht wegzubringen gewesen. Bis zu dem Tag, als sich vieles änderte, der Tag, an den er nicht denken wollte…
Trotzdem fühlte er sich noch immer als ein Teil des Corps. Es dämmerte ihm, dass er wohl noch immer nicht ganz mit seinem früheren Leben als Kampfpilot abgeschlossen hatte. Ja, er musste es sich selbst eingestehen, mit einem wehmütigen Blick auf seine Certina, er war immer noch neugierig, hungrig auf Informationen aus dem Corps. Er hatte diese Spezialeinheit immer als eine Art Familie angeschaut, die Mitglieder der Truppe waren Gleichgesinnte, Verbündete, sie verstanden ihn mit seinen speziellen Begabungen und er verstand sie. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war immer sehr gross gewesen. Sie waren eine eingeschworene Gruppe von Spezialisten gewesen, die etwas gemeinsam hatten, was andere Menschen nicht hatten. Und war es denn nicht völlig natürlich, sich um seine Familie zu kümmern, sich um sie zu sorgen, wissen zu wollen, wie es seinen Nächsten und Liebsten ging? Seine Nächsten und Liebsten… bei diesem Gedanken bohrte sich ein Dolch aus eiskaltem Stahl in sein Herz. Seine Liebste…
Ex-Commander Ferry Black schloss die Augen in Agonie. Er zwang sich, den Gedanken aus seinem Bewusstsein zu vertreiben, diesen Gedanken, der in den tiefen, dunklen Windungen seines Unterbewusstseins lauerte, jederzeit bereit, aufzutauchen und ihn zu peinigen. Der Gedanke an… Er drückte sich die Handballen an die Schläfen und stiess die angehaltene Luft stossartig aus. Nein! Fokussieren… die Nachricht!
Er hatte der Truppe ewige Treue geschworen als er in die Fliegerakademie eingetreten war, und ewig hiess für immer. Langsam öffnete er die Augen und blinzelte. Dann zündete er sich noch eine Zigarette an und tippte mit dem Zeigefinger das Saphirglas seiner Uhr an.
Das Symbol der Einheit leuchtete auf: zwei waagerechte, parallele Linien, von denen die obere in der Mitte eine Delle nach unten aufwies und die untere Linie berührte: das Symbol für die zwei parallelen Welten, in der sich das Corps bewegte. Die obere Linie war silbergrau, die untere azurblau. Unter den Linien lagen, halbtransparent wie ein Wasserzeichen, die zwei gekreuzten goldenen Schwerter der Armed Forces.
Er schob das Logo mit der Fingerspitze weg und tippte das Symbol für Sprachnachrichten an. "1 gespeicherte Nachricht, Dauer 12,22 Sekunden". Er tippte die Nachricht an, die Uhr koppelte sich mit dem Empfänger in seinem Kopf und er hörte Paris' Stimme, klar und deutlich.
Irgend etwas beunruhigte ihn, verursachte ein Flirren in seinem Kopf und einen mulmigen Knoten in seinen Eingeweiden. Er konnte noch nicht den Finger drauflegen, wusste nicht, was es war, das ihn irritierte. Er hörte die Nachricht noch einmal ab.
Master Paris, sein ehemaliger Vorgesetzter, sprach ihn mit "Commander Black" an. Allein diese Anrede sprach Bände. So hatte ihn seit Jahren niemand mehr genannt. Er war offiziell in der Reserve. Commander war er gewesen, als er aus dem aktiven Dienst im Corps ausgetreten war. Commander hatte ihn Paris früher nur genannt, wenn es hochoffiziell war oder wenn Paris - was häufiger der Fall war - total angepisst war, weil Ferry wieder mal Schrott gebaut hatte.
Dass Paris ihn jetzt mit seinem formellen Titel ansprach, bewies, dass er ihn genau in dieser Funktion brauchte. Als aktiven Commander der P1AF, der Parallel 1 Armed Forces.
Diese Anrede besagte eigentlich, dass er ab sofort wieder den aktiven Dienstgrad bekleidete, seine Kompetenzen zurückhatte, die man ihm genommen hatte. Ferry glaubte, auch einen gewissen Respekt in Paris Stimme mitschwingen zu hören, Respekt, den man sich als verdienter Offizier erarbeitet hatte, aber vielleicht bildete er sich das nur ein?
Er musste sich eingestehen, dass es gut tat, seinen ehemaligen Titel wieder zu hören. Commander Black… Als Jungpilot war er der schwarzen Staffel zugeteilt worden. Später war er Squad Leader geworden, Staffelführer. Er hätte wechseln können, irgendeine Staffel übernehmen, doch er wählte die schwarze Staffel. Als er zum Commander befördert worden war, hätte er automatisch die silberweisse Uniform mit den goldenen Abzeichen bekommen, doch er behielt die schwarze Uniform an, genau wie auch sein schwarzes Halstuch. Da niemand die Leitung der schwarzen Staffel übernehmen wollte, flog er weiterhin Einsätze als Squad Leader, obwohl er das im Rang eines Commanders nicht mehr gemusst hätte. Als Commander unterstanden ihm vier Staffeln, die er aus der Zentrale hätte anweisen können, doch Ferry zog es vor, mit seinen Leuten zu fliegen, Seite an Seite. Die lange Tradition bei der Black Squad, seine Verbissenheit, mit der er die Truppe immer wieder aufbaute und neu formierte, nachdem sie so viele Male zerschlagen worden war, hatte ihm den Beinamen Black ganz natürlich beigebracht.
Ein ulkiger Nebeneffekt war, dass er eigentlich Ferdinand Schwarz hiess. Da es sich beim Corps um eine sehr internationale Truppe handelte, hatte man sich auf die Einheitssprache Englisch geeinigt. Englisch konnten alle, mehr oder weniger, doch es war verständlich im Funkverkehr, jahrzehntelang erprobt in der zivilen Luftfahrt. Schwarz als Name war hingegen gänzlich ungeeignet für den Funkverkehr: die Amis sprachen es aus wie "Schworrzz", die Franzosen wie "Schwaachz", die Spanier "E-swarss", die Deutschen wie "Schwaatz". Alles in allem klang es immer wie ein Rauschen im Radio, eine Frequenzstörung. Es war naheliegend gewesen, Black als Name anzunehmen und das Schwarz zu begraben.
So ganz im Kontrast zur offiziellen Anrede war die nächste Aussage der Nachricht gewesen: "… Sie fliegen einen Solo-Einsatz…" Ein Solo-Einsatz? Für einen Commander? Ein Commander flog generell nie allein, das verboten die Regeln. Die Sicherheit eines Commanders war immer durch die Anwesenheit mindestens einer Flugstaffel zu gewährleisten. Auch für die Kampfpiloten der Staffeln galt, dass sie in aller Regel mindestens in Zweiertrupps unterwegs sein mussten, sei es auf Patrouille oder im Gefecht. Keine Flugbewegung ohne Wingman! Ausnahmen gab es nur selten, bei unbedeutenden Aufklärungsflügen und… geheimen Missionen. Aufklärung fiel weg, demnach war klar, dass es sich um eine geheime Mission handeln musste... Aber wieso er? Ferry verstand das nicht, das ging irgendwie nicht auf. Wieso kurbelte Paris die ganze bürokratische Maschinerie an, die es mit sich brachte, wenn er Ferry wieder in den aktiven Dienst des Corps aufnahm? Es musste mehr dahinter stecken. Das miese Gefühl in seinem Inneren verdichtete sich.
Er würde die Zielkoordinaten abwarten müssen. Vielleicht würden diese ihm mehr Hinweise auf die Art des Einsatzes liefern…
"… Search and Rescue. Squad Leader MIA…". Das war typischer Militärjargon, geprägt von den Amerikanern im Corps. Sie hatten beim Entstehen des internationalen Corps darauf bestanden, die uneingeschränkte Leitung zu übernehmen. Sie hatten weitreichende militärische Erfahrung, hatten die Mittel - woher auch immer - und die geheimen Einrichtungen. Doch die Gegenwehr der Abgeordneten aus anderen Ländern und Kontinenten war massiv gewesen. Nach wochenlangen, zähen Verhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, Englisch als Einheitssprache zu definieren, doch die Führung sollte nicht einer Nation vorbehalten sein, sondern aus den Besten ihres Fachs bestehen, unabhängig davon, woher sie stammten. Die Führungszentrale, Central Command, hatte man bewusst in neutrales Gebiet legen wollen, um nicht alte Ost-West-Streitigkeiten aufkommen zu lassen.
Zur Auswahl hatten Auckland und Zürich gestanden. Doch am Ende gab die Nähe zum CERN in Genf den Ausschlag zugunsten von Zürich. Die Top-Physiker der Welt waren dort vereinigt und forschten mehrheitlich in genau dem Bereich, der für das Parallel Corps wichtig war: Dunkle Energie und Dunkle Materie. Eine geheime Zweigstelle des CERN arbeitete ausschliesslich für das Corps, sie unterstanden dem P1ST, dem Parallel 1 Science & Technology Departement. Man hatte erwogen, einen zweiten Teilchenbeschleuniger in Auckland zu bauen, doch die überaus aktive Tektonik am Pacific Ring of Fire und die daraus resultierende vulkanische Tätigkeit in Neuseeland waren einfach zu unberechenbar, respektive ein zu grosses Sicherheitsrisiko.
Search and Rescue - Suchen und Retten. Squad Leader MIA - Staffelführer Missing in Action, also bei einem Einsatz verschollen... Das war nicht gut. Abschüsse kamen vor, manchmal konnten sich die Piloten dabei retten, manchmal nicht. Opfer gab es leider immer wieder. Vermisstmeldungen waren hingegen selten. Wenn man in der Gruppe flog, hatte man die Kameraden immer auf dem Schirm, auch wenn sie abgeschossen wurden und manövrierunfähig waren. In diesem Fall versuchte die Staffel um jeden Preis, den Absturzort zu sichern und zu halten, bis der Kamerad gerettet oder geborgen war. Wenn jemand verlorenging, musste er oder sie sich von der Gruppe entfernt haben. Auch das konnte vorkommen, dass ein IFO abgedrängt wurde, jedoch in der Regel nicht so weit, dass es von den Bildschirmen der Staffel verschwand. Selbst in unebenem Gelände, wie den Bergen, reichte die Erfassung problemlos auf drei bis fünf Kilometer.
Ferry schüttelte den Kopf, er verstand es nicht, das ärgerte ihn. Er dachte nach… ein Solo-Einsatz… das wäre natürlich eine Möglichkeit… der Squad Leader war allein unterwegs gewesen! Doch wozu? Wozu so ein Risiko? Ferry wusste, dass die Sicherheitsvorschriften in den letzten Jahren massiv strenger geworden waren. Paddy Ram, sein bester Freund und langjähriger Wingman, mittlerweile Squad Leader Maroon, hatte ihm davon erzählt, als sie sich vor einiger Zeit im Kennedy's Pub auf ein Bier getroffen hatten. Deshalb schien es umso unbegreiflicher, wieso Paris einen Squad Leader allein losgeschickt hatte. Konnte es sein, dass sie so knapp an Personal waren? Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum er aus der Reserve geholt wurde… Er neigte nochmals den Kopf nach links und nach rechts und liess es knacken. Was ging bloss vor in der Parallelwelt? Er hatte keine Ahnung, er war zu lange nicht dort gewesen, nicht da draussen, wo der Feind sass, jedenfalls.
Ferry erhob sich langsam und nachdenklich. Das Puzzle hatte sich noch immer nicht für ihn zusammengefügt, doch er sah mittlerweile viele bunte Teilchen und schob sie vor seinem inneren Auge umher. Er kletterte die Stufen hinauf und ging langsam über die Brücke in Richtung des berüchtigten Kreis 4. Wenn jemand abtauchen wollte in dieser Stadt, dann hier. Das war die schrägste Ecke der Stadt, voller Drogen, Prostitution und Gewalt. Hier lebte das Stadtleben fast rund um die Uhr. Es war ein Auffangbecken für alle Gestrandeten, egal welcher Herkunft. Hierher hatte auch er sich verkrochen, nach seinem Rausschmiss.
Während er voranschritt, seinen Blick unscharf auf den Asphalt gerichtet, ging er in Gedanken den Rest der Nachricht durch.
"Full Armour", das hiess volle Bewaffnung. Nicht, dass er irgendein zusätzliches Waffensystem gebraucht hätte. Sein Gefechts-IFO war immer voll bestückt und bereit für jeden Einsatz. Mehr als die Waffen, die er immer an Bord hatte, brauchte er nicht. Es gab eine Abteilung in der Forschungsbrigade von Central Command, die neue Waffen entwickelte, doch Ferry fragte sich, wozu überhaupt. Wenn man sich eine Waffe nicht vorstellen konnte, war sie auch nicht im IFO… Das IFO entstand allein im Kopf des Piloten, deshalb auch der Titel "individuell". Jeder Pilot hatte eine eigene Vorstellung seines Flugapparates, der komplett einzigartig war, und diese Vorstellung konnten Aussenstehende auch nicht beeinflussen. Klar, sie konnten neue Waffensysteme erfinden, und wenn sich der Pilot damit auseinandersetzte und sie in sein Konzept aufnahm, dann konnte er sie auch verwenden. Doch Ferrys Erfahrung zeigte, dass jeder Pilot instinktiv die für ihn oder sie richtigen Waffen dabeihatte.
Full Armour bedeute also lediglich, dass Paris davon ausging, dass es zu Feindkontakt kommen würde. Damit musste man immer rechnen in P1. Doch der Gedanke daran löste ein bedrückendes Gefühl in Ferry aus.
"Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File". Er war gespannt darauf, was der Einsatzplan an weiteren Fakten hergeben würde.
"Das ist SL-1". Security Level 1 - höchste Vertraulichkeitsstufe. Also eine Ansage nur zwischen dem Vorgesetzten und dem Piloten. Es war also wichtig. Doch das hatte Ferry schon gewusst, als er Paris' Stimme gehört hatte.
Er war bei seinem kleinen Quartier-Restaurant angekommen und schloss die Haustüre mit dem passenden Schlüssel auf. Als man ihn in den Zwangsruhestand geschickt hatte, war Ferry mit einer ganz neuen Situation konfrontiert worden: er hatte keine Aufgabe mehr. Ohne Job hatte er auch keinen geregelten Tagesablauf mehr und schon nach wenigen Tagen war ihm klargeworden, dass er seinem Leben wenigstens einen Hauch von Sinn einhauchen musste, wenn er nicht durchdrehen wollte. Von der Rente, die er bekam, konnte er leben, er brauchte nicht zu arbeiten für seinen Lebensunterhalt. Es war die Langeweile, die dem Ex-Commander zusetzte und die ihn dazu bewegte, einen Job zu suchen. In dem Stadtkreis, in dem er wohnte, gab es wöchentlich Wechsel bei kleinen Lokalen, Kiosks und Krämerläden. Das erste Objekt, das zur Übernahme freigeworden war, war ein Restaurant gewesen. Also hatte Ferry seine Ersparnisse hineingesteckt, um es einigermassen flott zu machen und ein kleines Bistro daraus gemacht.
Er betrieb das Lokal als One-Man-Show. Meist kochte er ein einziges Gericht unter dem Motto "frische Marktküche" und daneben gab es ein paar einfache Tapas und Häppchen. In seinem Restaurant galt: es hat, was es hat, und was es nicht hat, braucht es nicht…
Ohne das Licht einzuschalten, durchmass er mit schnellem Schritt die Gaststube, zog ein Schild aus einem Einschub neben der Eingangstür und hängte es an einen Nagel, der über der eingesetzten Glasscheibe im Holzrahmen angebracht war: auf dem Schild stand "Betriebsferien". Das hängte Ferry immer dann an die Tür, wenn er keine Lust hatte, zu arbeiten. Seine Gäste waren sich das gewohnt und Reservationen nahm er sowieso keine entgegen. Das Bistro war geöffnet, wenn er da war und sonst halt nicht. Falls Ferry die Mission wirklich annahm, dann würden seine potentiellen Gäste wohl zwei oder drei Tage ohne ihn auskommen müssen, hatte er sich ausgerechnet.
Mit geübtem Blick kontrollierte er im Vorbeigehen, ob in der Küche alle Geräte abgeschaltet waren, dann betrat er die Stille des Treppenhauses mit den steinernen Treppenstufen und stieg hinunter ins Untergeschoss. Er öffnete eine weitere Türe mit einem weiteren Schlüssel, ging am Umkleideraum vorbei und stand nun endlich vor der Personaltoilette. Er war angekommen. Es konnte losgehen.
Man schrieb das Jahr 1979 und Ferdi war acht Jahre alt. Er war, wie Kinder in diesem Alter sind. Er hatte langes, hellbraunes Haar, zerzaust und meist sowieso ungekämmt. Das Haar schrie nach einem Friseur, doch Ferdi hasste es, zum Friseur zu gehen. Ausserdem war das nicht so schlimm, es waren schliesslich die Siebziger. Ferdis Eltern waren liberal und antiautoritär und liessen ihm weitestgehend seinen Willen. Er konnte tun und lassen was er wollte und aussehen, wie er aussah. Ihnen gefiel, wie er war und wie er aussah und ihm auch. Meist trug er schmutzige Jeans und ein schmutziges T-Shirt. Dazu hatte er schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln, dazu meistens auch noch Überreste des Frühstücks im Gesicht. Ferdinand war ein glücklicher Achtjähriger.
Er ging gerne zur Schule, war wissbegierig, aufmerksam und clever. Er hatte gute Noten, nette Freunde und wurde bei Gruppenspielen zwar häufig als Zweitletzter in eine Mannschaft gewählt, aber nicht als Letzter. Das war wichtig. Er war keine Sportskanone, aber er liebte Spiele, egal ob Fussball, Völkerball oder was auch immer und er brachte immer vollen Einsatz. Er mochte Mannschaftsspiele. Ferdi war nicht athletisch, aber auch nicht dick. Vielleicht ein bisschen pummelig, aber nicht dick. Auch das war wichtig, damit man nicht ausgelacht wurde.
Sie wohnten zu viert in einem kleinen Haus mit Garten in einer kleinen Stadt, die wohl als Schlafstadt bezeichnet werden konnte und in der nicht viel los war, doch ihm gefiel diese Ruhe. Man konnte auf der Strasse spielen, mit dem Fahrrad durch die Quartiere strampeln - Ferdi hatte zum Geburtstag ein tolles BMX-Rad geschenkt bekommen -, sich in einer der vielen Grünanlagen mit Freunden treffen und Räuber und Gendarm spielen. Oder Cowboy und Indianer, je nach Lust und Laune.
Alles in Allem war Ferdi ein Durchschnittskind aus einer Durchschnittsfamilie, lebte in einem Durchschnittshaus in einem Durchschnittsort. Und doch war Ferdi anders. Ferdinand Schwarz konnte fliegen. Und er konnte in eine andere Welt gehen.
Für einen Achtjährigen erschliesst sich nicht sofort, dass er anders ist als seine Freunde und als seine Familie. Alles ist neu, alles ist Spiel und die Welt ist jeden Tag ein bisschen anders. Als Ferdi entdeckte, dass er an einer bestimmten Stelle des Gartens fliegen konnte, wenn er sich sehr konzentrierte und sehr bemühte, schien es nichts Besonderes zu sein. Erst als er am Tisch beim Nachtessen davon berichtete, merkte er, dass weder seine Eltern noch seine Schwester das zu können schienen. Seine Eltern fanden, er hätte eine tolle Fantasie und es sei super, wenn er sich allein zu beschäftigen wisse… Seine grosse Schwester machte später klar, dass er NICHT fliegen konnte, NICHTS Besonderes sei, und dass er gefälligst NICHT lügen und solchen Mist erzählen solle! Ferdi wunderte sich zwar über die Heftigkeit dieser Reaktion, doch es störte ihn nicht weiter. Er wusste ja, dass er fliegen konnte! Wenn auch nur ein paar Zentimeter über dem Boden und nur um die eine Hausecke herum, aber es war klar, dass er fliegen konnte. Seine Schwester hatte doch keine Ahnung! Aber das war normal. So viel hatte er bereits verstanden, auch wenn er zwei Jahre jünger war.
Als er wenig später den Trick mit der Toilette herausfand, war er bereits ein bisschen vorsichtiger. Er fragte beim familiären Nachtessen ganz beiläufig, ob die anderen auch schon den Trick mit den Kacheln in der Toilette bemerkt hätten, und dass da ganz viele Knöpfe erschienen, wenn man auf die Kacheln drückte. Sein Vater sah ihn nachdenklich über den Rand seiner Brille an und ass weiter. Er schien erstaunt zu sein, aber nicht zu begreifen, was Ferdi erzählte. Seine grosse Schwester presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen (ein untrügerisches Zeichen, dass sie sauer war) und versuchte, unter dem Tisch nach seinem Schienbein zu treten. Ihr Blick verriet nichts Gutes. Seine Mutter meinte strahlend, er hätte eine grosse Vorstellungskraft und dass er sich alles vorstellen könne, was er wolle. Aus ihm würde sicher einmal etwas Grosses. Doch sie schien auch nicht wirklich zu wissen, wovon er sprach.
Das beschäftigte Ferdi einige Tage lang und jedes Mal, wenn er zur Toilette ging, prüfte er, ob die Knöpfe und die Displays noch da waren - und ja, sie waren jedes Mal da! Für ihn war klar, dass er sich nichts einbildete, was es nicht gab, da die Sachen ja da waren: er konnte die Knöpfe sehen und anfassen und damit spielen… Sie waren echt!
Wenn seine Eltern sie nicht sehen konnten, war das ihr Problem, beschloss er. Vielleicht brauchten sie ja auch nichts zum Spielen? Sie waren ja schon alt, aus seiner Sicht, und wenn er es sich recht überlegte, sah er sie fast nie spielen. Vielleicht war das ein Problem mit dem Alt-sein? Sie arbeiteten, statt zu spielen. Das verstand er nicht so ganz, aber es schien auch etwas mit dem Erwachsensein zu tun zu haben…
Was seine Schwester betraf, so war ihm schon lange klar, dass sie ihn nicht verstand. Sie wollte immer nur ihre Spiele spielen, und manchmal gefiel ihm das auch, aber manchmal auch nicht, und dann machte sie ein riesiges Tamtam deswegen. Aber sie war auch ein Mädchen und Mädchen waren irgendwie anders, das hatte er schon gemerkt. Sie waren viel komplizierter und wollten immer komplizierte Spiele spielen. Dabei war es so schön, sich einfach treiben zu lassen und mit den Playmobil irgendeinen Krieg zu spielen. Ferdi mochte das. Die Guten und die Bösen - das war doch ganz einfach?
Also erkundete Ferdi die Toilette weiter auf eigene Faust. Er hatte schon herausgefunden, dass die Kacheln an der Wand zu seiner Rechten - wenn er auf dem WC sass - sich antippen liessen und sich dann in die Mauer zurückzogen und eine Tafel mit Knöpfen hervorkam. Manchmal waren die Tafeln eben mit der Kachelwand, manchmal standen sie auch heraus. Unter der Kachel, die ihm am nächsten war, die vierte von unten auf der Höhe seiner Füsse, verbarg sich ein Joystick. Ferdi wusste, was ein Joystick war, denn er wünschte sich eine Spielkonsole mit Joystick. Er hatte sie schon hundertmal im Laden angeschaut. Doch er durfte keine haben. Der Joystick im WC war klein, aus Metall, schwarz, knubbelig und hatte unten eine Gummimuffe. Oben wurde der Joystick abgeschlossen von einem kugeligen, leicht abgeflachten Kopf mit einem roten und einem weissen Knopf. Er sah viel, viel besser und echter aus als der Joystick der Spielkonsole.
Ferdi hatte natürlich damit herumgespielt und auf die Knöpfe gedrückt, doch es war nichts passiert. Eine Kachel darüber war ein Tastenfeld mit Zahlen und einige Knöpfe mit seltsamen Symbolen drauf und nochmals darüber war ein kleines Anzeigefeld wie bei einem Taschenrechner, welches in einem moosigen grün leuchtete und zu pulsieren schien. Er hatte natürlich auch darauf herumgedrückt, doch nach kurzer Zeit leuchtete meist ein kleines, rotes Lämpchen auf und auf dem Bildschirm erschien die Meldung "ERROR". Ferdi wusste nicht, was das bedeutete, aber er stellte sich vor, dass er wohl etwas falsch machte.
Faszinierend war, dass der Spiegel über dem Handwaschbecken zu einem Fernseher wurde! Doch es lief nichts Spannendes in diesem Fernseher, er zeigte nur den Sternenhimmel, der sich langsam bewegte und Ferdi fand nicht heraus, wie man den Sender wechseln konnte. Als er jedoch das Wasser aufdrehte, um sich die Hände zu waschen, wurde der Fernseher dunkelgrau und ein farbiger, senkrechter Balken erschien, der grösser wurde, wenn Ferdi den Wasserhahn stärker aufdrehte und kleiner, wenn er ihn wieder zudrehte. Das funktionierte mit beiden Knöpfen. Drehte er am Kaltwasserknopf, erschien ein blauer Balken, und ein roter für den Warmwasserknopf. Unter dem roten Balken stand Haupttriebwerk und unter dem Blauen Hilfstriebwerk.
Ferdi wusste, was ein Triebwerk war, sein Vater war Ingenieur in einer grossen Fabrik. Dort gab es auch Triebwerke und Turbinen und Generatoren und solche Sachen. Sie hatten auch einen Riesencomputer und Ferdi hatte ihn anschauen dürfen. Er war fasziniert gewesen von all den Knöpfen, runden und halbrunden Anzeigen mit feinen Zeigern und den vielen Kabeln hinter dem Computer, der einen ganzen Raum füllte. Jetzt hatte er auch einen Riesencomputer, ganz für sich allein, dachte er. Nur Kabel gab es hier keine.
Neben der Toilette war die Badewanne. Es war ein kleines Badezimmer, kombiniert mit Toilette und einem kleinen Waschbecken, und es gab nur dieses eine Bad im Haus.
Als Ferdi in die Badewanne stieg, um die Kacheln auf dieser Seite auszuprobieren, öffnete sich am Abflussende eine Luke und eine dünne, mausgraue Matte rollte sich über die ganze Länge der Wanne aus. Er erschrak zuerst und flüchtete sich auf den Badewannenrand. Als sich die Matte ausgerollt hatte, stieg er wieder hinein und merkte, dass sie warm und sehr weich war, zugleich aber auch fester, als er angenommen hatte bei der geringen Dicke. Sie war nicht viel dicker als eine Wolldecke. Er legte sich hin und stellte fest, dass es sehr angenehm war, so zu liegen. Er schaute jetzt zum Ende des Bads hin, dort wo links die Toilette war und darüber das Fenster. Das Fenster war weg! Dafür war dort jetzt auch ein Fernseher! Das Bild war leider dasselbe wie auf dem Spiegel: ein langsam rotierender Sternenhimmel. Vorsichtig drehte Ferdi am Kaltwasserknopf der Badewanne. Es erstaunte ihn nicht weiter, dass kein Wasser herauskam, das wäre ja auch blöd gewesen, weil die Wanne jetzt schliesslich ein Bett war. Es schien ihm eigentlich ziemlich logisch zu sein. Als er weiter drehte, erschien auf dem Fenster-Fernseher wiederum ein Balken, wiederum in blau. Darunter stand Hilfsgenerator. Wie er es erwartet hatte, erschien ein roter Balken, als er am Warmwasserknopf drehte. Darunter stand Hauptgenerator.
Am Fussende der Wanne, unter dem Fenster-Fernseher, öffnete sich ein kleiner Schrank, zwei Kacheln breit und fünf Kacheln hoch, als er auf eine der grünen Fliesen drückte. Der Schrank schien recht tief zu sein und Ferdi wunderte sich, weil es doch die Aussenwand des Hauses war, und er das Gefühl hatte, dass die Mauer nicht so dick war, wie der Schrank tief. Doch die Verwunderung darüber war schnell verflogen, als er hineinschaute und Kleider und Schuhe darin fand. Vorsichtig nahm er das Kleidungsstück heraus, das dort an einer Stange hing. Es war eine Art Overall, so einen wie ihn sein Vater manchmal bei der Arbeit trug. Der seines Vaters war blau und sehr weit geschnitten. Dieser Overall war jedoch grau, mit einem silbrigen Schimmer. Und er schien sehr eng zu sein. Ferdi probierte ihn sofort an. Er zog ihn über seine Kleider und war erstaunt, wie elastisch der Anzug war. Er liess sich problemlos über die Kleider ziehen und sass danach wie angegossen. Er hatte genau seine Grösse. Der Anzug hatte Taschen auf beiden Brustseiten, auf beiden Oberarmen und an beiden Beinen. Er griff überall in die Taschen, aber sie waren alle leer.
Dann nahm er die Schuhe aus dem Schrank. Sie waren im gleichen Farbton gehalten wie der Overall, nur die Sohle war schwarz. Es waren Schlüpfschuhe, ohne Schnürsenkel, und sie sahen ein bisschen wie Turnschuhe aus, nur irgendwie kleiner und schmaler und sie waren ganz weich, wie der Stoff seines Overalls, und sie waren ein bisschen höher als Turnschuhe. Er streifte sie über und merkte, wie sie sich perfekt um seine Füsse schlossen, sich anschmiegten. Sie sassen wie eine zweite Haut. Er drehte sich in der Badewanne um, so dass er zum kleinen Spiegel über dem Lavabo schaute, um sich zu betrachten. Freundlicherweise war der Spiegel jetzt wieder ein Spiegel und kein Fernseher mehr.
Ferdi staunte. Er sah anders aus in diesem Kostüm… Älter. Es machte seine Schultern breiter und er bemerkte erst jetzt, dass der Anzug Epauletten hatte. Diese Schlaufen auf den Schultern, die er an Uniformen so mochte. Ferdi liebte Uniformen, er zeichnete und malte fast täglich Uniformen. Napoleon-Uniformen, Yankee-Uniformen, Tarnanzüge, Gala-Uniformen, alles Mögliche.
Die Ideen dazu hatte er aus seinen Bilderbüchern und von einem Militär-Büchlein, welches er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Und weil er immer so viel Wert auf die Hüte, den Schulterschmuck und die Orden legte, war meist am Schluss zu wenig Papier übrig für die Beine und die Schuhe. Also waren seine Uniformmännchen alle etwas kurzbeinig. Aber das störte ihn nicht. Er drehte sich und betrachte sich von allen Seiten. Die Uniform war toll. Er sah aus wie ein echter Soldat!
Die Kacheln auf der Längsseite der Badewanne entpuppten sich ebenfalls als sehr überraschend: die Kacheln in der Nähe der Mischbatterie waren genau gleich wie die bei der Toilette: Joystick, Tastenfeld, viele bunte Knöpfe. Aber die darüber liegenden Kacheln bargen ein Sammelsurium von spannenden Dingen: da gab es Seile, eine Taschenlampe, Werkzeug und sogar ein Schweizer Sackmesser! Taschenmesser, für Nicht-Schweizer, aber schliesslich hatte der Schweizer das Messer im Hosensack… Das bestaunte Ferdi hingegen nur von weitem, ohne es anzufassen. Er durfte noch kein Sackmesser haben, hatten seine Eltern gesagt...
Am Kopfende der Badewanne war ein Gestell, in dem sie normalerweise Seife, Toilettenpapier, Shampoo und solche Sachen aufbewahrten... Dort lagen jetzt Kekse, Schokolade, weisse Pillen in einer durchsichtigen Dose und ganz oben im Gestell - ein Helm! Der Helm war so eine Art Motorradhelm, kugelrund, silbrig, mit einem grossen, durchsichtigen Visier, welches man nach oben und nach unten schieben konnte. Ferdi setzte den Kopfschutz auf: er war leichter, als er gedacht hatte und er passte genau. Der Helm schien sich sogar seinem Kopf anzupassen. Zuerst drückte er etwas auf die Ohren, doch dann schien sich die Polsterung im Innern zurückzuziehen und der Druck war weg. Ferdi schob das Visier nach unten und sah sich wieder im Spiegel an. Er staunte nicht schlecht, als er merkte, dass er sein Gesicht im Spiegel nicht sehen konnte. Das Visier war dunkel geworden! Von innen betrachtet schien das Visier jedoch glasklar… Es war verblüffend!
Ferdi sah sich nochmals im Spiegel an und auch wenn er die Beine und die Füsse dabei nicht sehen konnte, so wusste er instinktiv, was er da sah: einen Piloten. Einen Raumschiff-Piloten!
Die Personaltoilette des Bistros war winzig: ein kleiner Schlauch von vielleicht eins Komma sechs Metern Tiefe und genauso breit wie die Tür, also zirka achtzig Zentimeter. Zuhinterst stand die WC-Schüssel, der "Rocket Stool", wie die Piloten ihn scherzhaft nannten. Auf der rechten Seite, wenn man auf dem Rocket Stool sass, war ein winziges Waschbecken. Es war so klein, dass es nicht viel Energie versprach, doch es genügte. Der Wasserdruck auf der Leitung war gut, und das war schliesslich ausschlaggebend für die Leistung der Triebwerke.
Die massive Holztüre schloss dafür satt und hatte einen Drehriegel zur Verriegelung, keinen Schlüssel. Ferry schätzte das sehr. Schlüssel waren immer ein wunder Punkt in der Aussensicherung. Ein Aluminium-Drehschloss mit einer Plastikauflage war ein von aussen nicht angreifbares Sicherungssystem, welches auch nicht Hitze- oder Stromschlag-gefährdet war und es war luft- und gasdicht. Die Abdeckplakette, die über dem Schloss lag, war ebenfalls aus Aluminium und mit vier Schrauben gesichert. Hinter diesen vermeintlichen Schrauben lagen vier Aussendetektoren verborgen, die alle Richtungen um die Raumkapsel nach Fremdeinwirkung absuchten. Mit Radar, Infrarot, Bewegungsmeldern und Sensoren für Dunkle Energie. Das hatte Ferry an der Akademie gelernt, bei seiner Ausbildung zum Navigator. War eine der Schrauben locker, war der Sensor defekt. Ein kurzer Routineblick auf das Schloss zeigte keine Anzeichen eines Defekts: alle Schrauben sassen tadellos.
Der Türgriff war ein Standard-Türgriff europäischer Bauart aus Aluminium, also ein L-förmiges Metallstück, welches in der Abdeckplakette steckte. Das war die Funkantenne der Kapsel. Aluminium war gut, es war kaum anfällig auf Störungen, insbesondere elektromagnetische. Dafür war die Reichweite begrenzt. Die amerikanischen Kugelgriff-Modelle hatten mit ihrer 360°-Rundum-Abstrahlung eine weit höhere Reichweite. Dafür waren sie viel störungsanfälliger, weil sie meist weniger massiv gebaut waren.
Ferry trat ein, drückte den Lichtschalter, zog die Türe zu und verriegelte sie. Die Stromsparbirne an der Decke erwachte zögernd zum Leben und begann träge, ein sanftes Licht zu verströmen. Eine schnelle Serie von kaum sichtbaren Blitzen flackerte durch den kleinen Raum und Ferry wusste, dass die Kapsel nun keimfrei war. Ein feiner Ozongeruch stieg in seine Nase.
Er drehte sich nach rechts und drückte auf eine Kachel in Kopfhöhe und sein Spind öffnete sich. Ferry zog erst seine Schuhe aus und stellte sie in den Wandschrank, dann seine Windjacke, das Polohemd und schliesslich die Jeans, um sie im Schrank zu verstauen. Er machte sich nicht die Mühe, alles sorgfältig auf einen Bügel zu hängen, sondern stopfte einfach alles hinter die Schuhe.