Eine Stadt der Hoffnung

EINE STADT DER HOFFNUNG

NACHKRIEGSROMAN ZUR ZEIT DER BERLINER LUFTBRÜCKE

MARION KUMMEROW

Übersetzt von TORA VON COLLANI

Marion Kummerow

INHALT

Newsletter

1. Bruni

2. Victor

3. Bruni

4. Wladi

5. Victor

6. Dean

7. Bruni

8. Victor

9. Bruni

10. Dean

11. Wladi

12. Bruni

13. Wladi

14. Dean

15. Bruni

16. Dean

17. Victor

18. Bruni

19. Victor

20. Bruni

21. Victor

22. Wladi

23. Victor

24. Bruni

25. Victor

26. Bruni

27. Victor

28. Bruni

29. Wladi

30. Bruni

31. Victor

32. Bruni

33. Victor

34. Bruni

35. Victor

36. Wladi

37. Victor

Anmerkungen der Autorin

Bücher von Marion Kummerow

Kontaktinformationen

NEWSLETTER

Wenn Sie Hintergrundinformationen über meine Bücher haben wollen, oder wissen möchten, wann das nächste erscheint, tragen Sie sich hier in meinen Newsletter ein:

https://marionkummerow.de

1

BRUNI

Berlin, Januar 1948

Die Sängerin und Unterhaltungskünstlerin Brunhilde von Sinnen trat aus dem Badezimmer, ein Handtuch um ihren Körper gewickelt und ein zweites wie einen Turban um ihren Kopf. Ihr Blick fiel auf den attraktiven Mann, der sich auf ihrem Bett ausstreckte. Für Anfang vierzig sah er jung aus, obwohl sein kurz geschnittenes dunkles Haar und sein Schnurrbart bereits ergrauten. Seine braunen Augen jedoch waren lebhaft, sein Verstand scharf und sein Körper durchtrainiert.

Sie liebte ihn zwar nicht, denn Liebe war ein antiquiertes Konzept, das nur dazu diente, Frauen zu versklaven und von Männern abhängig zu machen, doch sie hing sehr an ihm. Immerhin ermöglichte er ihr einen extravaganten Lebensstil in einem Berlin, das nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch in Trümmern lag. Im Gegensatz zu ihr mangelte es den anderen Einwohnern an allem: Nahrung, einer Unterkunft, Kleidung und Kohle zum Heizen.

Brigadegeneral Dean Harris war der Kommandant des amerikanischen Sektors und damit der mächtigste Mann in Berlin – vielleicht mit Ausnahme des russischen Kommandanten General Sokolow.

Sie erschauderte beim Gedanken an Sokolow, der nicht nur mächtig war, sondern auch einer der unangenehmsten Menschen, denen sie je begegnet war. Er hatte pechschwarzes Haar, eine stämmige Statur und eine ständig gerötete Nase. Doch es war sein Jähzorn, verstärkt durch seine Magengeschwüre, welcher Freund und Feind gleichermaßen erzittern ließ. Sie hatte gewiss nicht vor, mit ihm das Bett zu teilen.

Nein, Dean war ein hervorragender Fang und sie lebte nun schon seit über einem Jahr ein sehr komfortables Leben als seine Geliebte. Beide profitierten von diesem Arrangement: Sie erfüllte seine Bedürfnisse nach sexueller Entspannung, während er ihr einen Luxus bot, den sich nicht viele Deutsche leisten konnten.

„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte sie mit ihrer rauchigen Stimme. Dabei legte sie das Badetuch auf den Schminktisch und griff nach dem seidenen rosafarbenen Morgenmantel, den Dean ihr vor einigen Monaten geschenkt hatte. Der glatte Stoff schmiegte sich sanft an ihre nackte Haut.

„Was das angeht ...“, antwortete er ausweichend, erhob sich vom Bett und ging völlig unbekümmert splitternackt in Richtung Badezimmer.

Beunruhigt kam ihm Bruni auf halbem Weg entgegen und streichelte mit einer Hand seine haarige Brust. Sie trat einen Schritt näher, um sich an ihn zu schmiegen und ihn zurück ins Bett zu locken, doch er legte seine Hände auf ihre Schultern und schob sie von sich.

Schmollend blickte sie zu ihm auf. Nach ihrem ausgedehnten Liebesspiel hatte sie ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up aufgefrischt sowie ihr platinblondes Haar gebürstet.

Die meisten Menschen, selbst ihre besten Freundinnen, hielten Bruni für eitel – aber was blieb ihr anderes übrig? Ihre Schönheit war ihr Kapital. Nur deswegen hatte sie es geschafft, sowohl Dean zu verführen als auch sich das Engagement als Solosängerin im berühmten Café de Paris zu sichern, dem angesagtesten Nachtklub der Stadt im französischen Sektor.

Dort wollte schließlich niemand eine hässliche Frau singen sehen. Nein, die nach Sex hungernden alliierten Soldaten sehnten sich nach einer Frau mit weiblichen Kurven, deren Schönheit ihr Verlangen schürte, während ihre sinnliche Stimme sie umschmeichelte. Und genau das konnte Bruni bieten.

„Was ist los, Liebster?“ Sie neigte den Kopf zur Seite und versuchte, den ernsten Blick auf Deans Gesicht zu ergründen.

Für einen langen Augenblick betrachtete er sie, bevor er einen Schritt zurücktrat. Doch statt seinen Weg ins Badezimmer fortzusetzen, umrundete er das Bett und zog erst seine Unterhose und dann die Uniformhose an. Als er nach seinem Unterhemd griff, wurde Bruni klar, dass er nicht vorhatte, sich Zeit für eine Zugabe zu nehmen.

„Du gehst schon?“

„Ja, meine Familie kommt heute Nachmittag in Berlin an.“

„Deine Frau? Und deine Söhne auch? Was wollen die hier?“ Bruni war plötzlich schwindlig. Natürlich wusste sie, dass Dean verheiratet war, aber seine Familie wohnte weit weg in Amerika.

„Sie sind hergekommen, um hier bei mir zu leben.“

Es war offensichtlich, dass ihm die Situation unangenehm war. Sie hütete sich davor, ihm Beleidigungen an den Kopf zu werfen, obwohl er sie verdient hätte, weil er sie auf diese schändliche Weise abservierte. Auch wenn ihre Affäre rein geschäftlich war, hatte sie ihn doch lieb gewonnen.

Bruni atmete tief durch und sagte so nonchalant wie möglich: „Ich nehme an, das heißt, wir werden uns ab sofort nicht mehr sehen.“

„Ja, das tut es. Du und ich ...“ Seine Stimme geriet ins Stocken. „Das ist nichts Persönliches, denn ich mag dich wirklich, aber es wäre mir lieber, wenn wir uns auch in der Öffentlichkeit nicht mehr treffen. Ich liebe meine Frau.“

Ich bin mir sicher, dass du das tust. Bruni machte einen Schmollmund, aber aus jahrelanger Erfahrung wusste sie, dass die Sache zwischen ihnen vorbei war. Dean war schließlich nicht der erste Mann, den sie zu ihrem Vorteil benutzt hatte. Gleichzeitig war ihr jedoch bewusst, dass man sich den mächtigsten Mann Berlins besser nicht zum Feind machte. „Wenn du es wünschst, dann vergesse ich, dass es jemals etwas zwischen uns gab.“

„Ich habe nichts anderes von dir erwartet.“ Er sah erleichtert aus und sagte nach einem kurzen Blick durch die kleine Wohnung: „Du kannst natürlich weiterhin hier wohnen und alles behalten.“

Die Wut kroch ihr den Rücken hinauf. Wie konnte er es wagen, auch nur anzudeuten, dass er sie aus ihrer Wohnung rausschmeißen könnte? Sollte sie etwa in einem dieser abscheulichen Löcher leben, mit denen sich der Rest der Bevölkerung zufriedengeben musste?

Sie war immerhin Brunhilde von Sinnen und kein beliebiges deutsches Fräulein, das er einfach abservieren konnte. Trotzdem gelang es ihr, ihre Stimme kehlig und sinnlich zu halten, als sie antwortete: „Es war schön, solange es gedauert hat. Ich wünsche dir eine glückliche Zeit mit deiner Familie.“

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand im Badezimmer. Sie war sich sicher, wenn sie wieder herauskäme, wäre er bereits weg.

Dieser egoistische Trottel hat mich einfach abserviert! Männern kann man wahrhaftig nicht trauen!

Sorgfältig ordnete sie ihre Locken, die sie schon lange im Stil von Ginger Rogers trug. Während sie ihrem Äußeren den letzten Schliff verpasste, schwelgte Bruni in Selbstmitleid.

Diese Trennung war so viel schlimmer als das, was ihr sowjetischer Liebhaber Fjodor Orlowski ihr angetan hatte. Nach den gescheiterten Wahlen im Oktober 1946 war er sang- und klanglos verschwunden und niemand hatte je wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.

Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, kam sie aus dem Badezimmer und wechselte sofort die Bettwäsche, denn sie wollte nicht durch Deans Geruch an ihn erinnert werden. Auch wenn sie sich bestimmt nicht mit gebrochenem Herzen nach ihm verzehrte, würde sie sein Geld und die Annehmlichkeiten schmerzlich vermissen. Es brachte Vorteile, die Geliebte eines amerikanischen Generals zu sein.

„Du verdammter Mistkerl!“, schrie sie die Wand an.

Seine Unverfrorenheit, ihr einfach den Laufpass zu geben, empörte sie zutiefst und sie fluchte und schimpfte über Dean, bis sie urplötzlich damit aufhörte. Das Gezeter würde nur Falten in ihr ansonsten makelloses Gesicht ziehen. Um ihren verletzten Stolz zu besänftigen und ihren extravaganten Lebensstil zu sichern, musste sie schleunigst einen anderen alliierten Offizier bezirzen, vorzugsweise einen Amerikaner. Aber dieses Vorhaben musste bis zum späten Nachmittag warten, wenn sie im Café de Paris zur Arbeit ging.

In der Zwischenzeit wollte sie ihrer Freundin Marlene, die sie noch aus der Schulzeit kannte, einen Besuch abstatten. Vielleicht bekäme sie dort etwas Mitleid, wenn Dean schon so kaltherzig war.

Sie erwischte Marlene in der Mittagspause an der Universität, als diese inmitten einer Gruppe von Jurastudenten aus dem Gebäude trat.

„Hallo, Marlene“, rief Bruni.

Marlene, eine große, schlanke Brünette mit sanft gewelltem Haar und großen blauen Augen, lächelte, als sie Bruni sah. Sie kam herüber und umarmte sie herzlich. „Was für eine Überraschung, Bruni. Was führt dich hierher? Hast du dich etwa dazu entschlossen, dich zu immatrikulieren?“

„Ich soll mich an der Uni einschreiben? Nie im Leben.“ Trotz ihrer schlechten Laune musste Bruni lachen. Allein beim Gedanken, ihre Nase in langweilige Lehrbücher zu stecken, bekam sie eine Gänsehaut. „Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?“

Zum Mittagessen auszugehen war ein Luxus, den sich Marlene normalerweise nicht leisten konnte, also ergriff sie die Gelegenheit sofort. „Immer. Wohin gehen wir?“

„Irgendwo in der Nähe.“ Aus Gewohnheit steuerte Bruni auf ein kleines Restaurant zu, wo hauptsächlich amerikanische Offiziere verkehrten. Doch dann änderte sie ihre Meinung und ging stattdessen zu einem viel bescheideneren Lokal.

Beim Anblick des schäbigen Gasthauses warf Marlene ihr einen kritischen Blick zu und fragte: „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Das erzähle ich dir drinnen.“ Nachdem beide ein Gericht von der Speisekarte bestellt hatten, das mit Devisen bezahlt werden musste, kam Bruni ohne Umschweife zur Sache. „Dean hat mich abserviert.“

„Er hat was?“

„Er hat mich eiskalt abserviert. Seine Familie ist hier.“

„Wie? Hier in Berlin?“

Bruni nickte. „Heute Nachmittag kommen sie an.“

„Oh! Das ist ja ziemlich überraschend. Aber du wusstest, dass das irgendwann passieren würde, oder?“

„Wie kann dich das nur so kalt lassen? Er hat mir das Herz gebrochen!“

„Na ja, es ist ja nicht so, als ob du ihn geliebt hättest.“

Bruni öffnete den Mund, um zu widersprechen, entschied dann aber, dass es der Mühe nicht wert war. Marlene kannte sie einfach zu gut. „Also gut, ich habe ihn nicht geliebt.“

Marlene schmunzelte. „Was du in Wahrheit geliebt hast, waren Deans Geschenke und die anderen Annehmlichkeiten, die diese Liaison mit sich gebracht hat.“

„Ich behaupte ja gar nicht, dass ich schöne Dinge nicht mag.“ Bruni schüttelte ihre blonden Locken. In der Hinsicht war sie einer Meinung mit Lorelei Lee im Roman Blondinen bevorzugt: Brillanten waren die besten Freunde einer Frau.

„Du bist einfach furchtbar verwöhnt und Dean hat dir im Gegenzug für deine Gesellschaft alles gekauft, was dein Herz begehrt. Im Prinzip wart ihr Partner in einem gleichberechtigten Handelsabkommen.”

„Lass mich raten: Du studierst dieses Semester Wirtschaftsrecht?“, erwiderte Bruni mit kaum verhohlenem Sarkasmus in der Stimme.

„Spiel jetzt nicht die beleidigte Leberwurst. Du bist doch nur aus verletzter Eitelkeit eingeschnappt. Normalerweise bist du diejenige, die erst richtig abräumt und dann den Abgang macht. Diesmal ist dir dein Liebhaber eben zuvorgekommen.“

Bruni stieß den Atem aus. So viel zum Thema Mitgefühl. Offenbar hatte Marlene beschlossen, stattdessen Salz in Brunis Wunden zu streuen. „Warts nur ab, Dean wird es noch leidtun, dass er seine Familie hergeholt hat.“

Marlene lachte über die Drohung. „Wieso, was denkst du denn, was passieren wird? Erwartest du etwa, dass Sokolow ihn zum Duell herausfordert für das Leid, das Dean dir zugefügt hat?“

Brunis Versuche, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten, scheiterten, und sie begann herzhaft zu lachen. „Also, ich fände es gut. Aber nicht, dass du denkst, ich fühle mich zu Sokolow hingezogen.“

„Ihh ... Wer tut das schon? Er sieht ja nicht nur aus wie eine Bestie, seine beleidigenden Schimpftiraden und seine gehässige Propaganda sind unerträglich. Es ist schwer vorstellbar, dass er diese ganzen Lügen selbst glaubt, die er uns tagtäglich auftischt.“

In Gedanken vertieft aßen sie einige Minuten schweigend. Das Essen entsprach nicht der Qualität, die Bruni gewohnt war, aber ihre Freundin schien es nicht zu stören.

„Das war köstlich, danke für die Einladung“, sagte Marlene, nachdem sie alles ratzeputz aufgegessen hatte. Da dämmerte es Bruni, dass sie baldmöglichst einen neuen Gönner finden musste, wenn sie nicht den Gürtel enger schnallen und im selben Elend wie der Rest der Berliner Bevölkerung versinken wollte.

Die Aussicht war ernüchternd.

Sie brauchte dringend einen neuen Liebhaber; einen Offizier, denn darunter machte sie es nicht. Einfache Soldaten hatten weder den Sold noch die nötigen Verbindungen, um ihr den Lebensstil zu ermöglichen, den sie gewohnt war.

„Versinkst du immer noch in Selbstmitleid?“, unterbrach Marlene Brunis Gedanken.

„Im Gegenteil.“ Bruni grinste. „Ich plane schon meinen nächsten Zug.“

„Ach? Und wer ist der Glückspilz?“

„Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Es gibt da einige Voraussetzungen, die er erfüllen muss.“ An ihren Fingern zählte sie ab: „Es muss ein Alliierter sein, vorzugsweise ein Amerikaner. Ein Offizier, mindestens im Rang eines Hauptmanns. Er muss länger als nur ein paar Wochen in Berlin stationiert sein. Bevorzugt ohne Frau, die zuhause auf ihn wartet. Und er darf nicht hässlich wie die Nacht sein.“

„Na, dann viel Glück.“

„Meine Liebe, Glück brauche ich dazu nicht. Ich verlasse mich lieber auf meine Reize.“ Sie schenkte Marlene ein anmutiges Lächeln und warf ihr eine Kusshand zu. „Bei diesem Augenaufschlag kann keiner widerstehen.“

Marlene brach in einen Kicheranfall aus. „Da bin ich mir ganz sicher. Mir tut dein nächstes Opfer jetzt schon leid. Der arme Mann wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht.“

2

VICTOR

Berlin, 20. März 1948

Sergeant Victor Richards stieg aus dem Zug, der in den Bahnhof Zoologischer Garten eingefahren war. Auch drei Jahre nach Kriegsende war dieser immer noch von Trümmern und ausgebombten Häusern umgeben. Eigentlich sollte Victor mit dem Flugzeug anreisen, aber er hasste das Fliegen – ein seltsamer Widerspruch zu seinem Beruf als Flughafeningenieur.

Die Präsenz der Ruinen kannte er bereits vom Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt, wo er für die Instandhaltung der Flughafengebäude zuständig war. Eigentlich war Instandhaltung nicht das richtige Wort, denn was er tat, glich eher dem Versuch, das ganze verdammte Ding aus Schutt wieder aufzubauen. Er hatte die Kameraden auf dem viel schöneren und weniger beschädigten Wiesbadener Flughafen immer beneidet. Doch als er nun in Berlin aus dem Bahnhof trat, gelobte er, sich nie wieder über die desolaten Zustände in Frankfurt zu beschweren.

Wenn es dort schlimm war, gab es keine Worte für den Anblick, der sich ihm hier bot. Doch er hatte kaum Gelegenheit, um über die entsetzlichen Zustände in dieser Stadt nachzudenken, denn schon hielt ein Jeep vor ihm und ein junger Soldat sprang heraus. „Sind Sie Sergeant Richards?“

„Ja.“

„Steigen Sie ein. Ich bringe Sie zum Alliierten Kontrollrat in Schöneberg.“

„Danke.“ Mit Schwung warf Victor seinen Seesack auf die Ladefläche und kletterte in das türlose Gefährt. Während der Fahrt hing er seinen Gedanken nach. General Clay hatte einen Fachmann für die Instandhaltung von Flughäfen angefordert, um an dem bevorstehenden Treffen der vier Besatzungsmächte teilzunehmen. Da Victors unfähiger befehlshabender Offizier nichts vom Thema verstand, hatte er stattdessen ihn geschickt.

Normalerweise machte es ihn nicht nervös, vor Publikum über seinen Arbeitsbereich zu reden, doch er hatte viele unschöne Geschichten über die Russen gehört, die offenbar in der Kommandantur, der regierenden Behörde von Berlin, und im Alliierten Kontrollrat, der ganz Deutschland regierte, mit Beschimpfungen um sich warfen.

Würde Marschall Kapralow, der Leiter der SMAD, der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, ihn genauso mit Beleidigungen überschütten, wie er es schon so oft mit seinen Gesprächspartnern getan hatte? Und wie würde General Clay reagieren, wenn Victor nicht alle Fragen zur Zufriedenheit des Russen beantworten konnte? Ein leichtes Unbehagen erfasste ihn. Wie sollte sich ein einfacher Sergeant gegen einen Marschall behaupten?

„Wir sind da“, riss der Fahrer Victor aus seinen Gedanken.

Er war noch nie zuvor im Alliierten Kontrollrat gewesen und war sehr überrascht von der Schönheit des imposanten fünfstöckigen Gebäudes. Die neobarocke Fassade des früheren Kammergerichts wies kaum Kriegsschäden auf und der Risalit, der markante zentrale Vorsprung, war immer noch mit Säulen, Pilastern und Figuren verziert. Über den großen Eingangstüren wehten die Flaggen der vier Besatzungsmächte.

„Ziemlich beeindruckend, was?“, sagte der Fahrer und gab dann eine Erläuterung des Gebäudes. „Es hat insgesamt fünfhundert Räume, achtunddreißig Gänge und sieben Innenhöfe, aber wir nutzen nur den mittleren Teil für den AKR und den nördlichen Gang für das Berliner Flugsicherheitszentrum.“

„Danke“, antwortete Victor und sprang aus dem Jeep. Nach den üblichen Sicherheitskontrollen wurde er in einen Besprechungsraum geführt, wo bereits einige Teilnehmer Platz genommen hatten.

Er ließ sich bei der amerikanischen Delegation nieder, nahm seine Unterlagen heraus und ordnete sie akribisch vor sich auf dem Tisch. Egal, was der Kontrollrat ihn fragen würde, er war gewappnet.

Wie üblich hatte er Antworten auf alles vorbereitet, was auch nur im Entferntesten mit dem Thema zu tun hatte, auch wenn er sicher war, dass die hohen Tiere wahrscheinlich nicht einmal zehn Prozent davon wissen wollten. Aber es schadete nicht, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Während des Vormarschs durch Frankreich hatte diese Denkweise viele Menschenleben gerettet.

Die Anspannung im Raum war beinahe greifbar und Victor fragte sich, was wohl am Vormittag geschehen war. Auf eine Antwort brauchte er nicht lange zu warten.

Marschall Kapralow eröffnete die Nachmittagssitzung mit der Forderung nach voller Transparenz über die geheimen Beschlüsse, die auf der illegalen Londoner Konferenz gefasst worden waren.

Victors Kopf begann zu schmerzen. Geheime Beschlüsse? Die Beschlüsse waren doch für jedermann öffentlich zugänglich. Und wieso illegale Konferenz? Die Sowjets hatten die erhaltene Einladung abgelehnt. Hatte er etwas verpasst?

Nervös blätterte er in den Unterlagen auf dem Tisch, doch darin stand nichts über illegale Treffen oder geheime Entscheidungen.

Kapralow wandte sich nun direkt an General Clay und forderte ihn auf, alle in London getroffenen Entscheidungen auf der Stelle zu annullieren, da sämtliche Deutschland betreffenden Fragen in die Zuständigkeit des Alliierten Kontrollrates fielen.

General Clay jedoch lehnte Kapralows Forderung höflich ab, und Victor wurde Zeuge, wie das Gesicht des sowjetischen Marschalls hochrot anlief, bevor er eine Flut von Beleidigungen ausstieß. Obwohl Victor außer njet und nastrovje kein Wort Russisch sprach, brauchte er keine Übersetzung, um den Inhalt zu erahnen.

Als der Dolmetscher schließlich sprach, fielen Victor fast die Augen aus dem Kopf.

„Dies ist eine schwere Verletzung der alliierten Verpflichtungen, die im Potsdamer Abkommen und in den darauffolgenden Viermächteabkommen festgehalten wurden. Wenn die USA, Großbritannien und Frankreich nicht bereit sind, sich an schriftliche Verträge zu halten, dann sind sie um keinen Deut besser als die gewöhnlichen Verbrecher auf den Straßen Berlins. Die abscheulichen Londoner Entscheidungen sind ein Angriff auf Frieden und Demokratie in Deutschland.“

Victor unterdrückte ein Schnauben und sah nach links und rechts, bevor sein Blick auf General Clay fiel, der nicht mit der Wimper zuckte. Victor konnte nicht glauben, dass Clay bei solch einer ungeheuerlichen Beleidigung durch den Russen einfach stumm blieb. Doch der General sprach kein Wort, ja er rollte nicht einmal mit den Augen. Noch nie hatte Victor eine derart abstruse Situation erlebt.

Der Dolmetscher fuhr fort: „Sie haben eine Situation erschaffen, in der allein die sowjetische Seite Rechenschaft ablegen soll, während die westlichen Verbündeten sich weigern, dasselbe zu tun. Mit diesen schändlichen Aktionen beweisen Sie, dass Sie die Viermächteherrschaft über Deutschland nicht respektieren, und haben damit den Alliierten Kontrollrat zu einer Farce gemacht.“

Das konnte der Marschall nicht wirklich gesagt haben – oder etwa doch? Victor war so verblüfft, dass er sich zu dem Mann, der rechts von ihm saß, hinüberbeugte und fragte: „Waren das wirklich seine Worte?“

Der andere Mann schien an diese Art von Faktenverdrehung gewöhnt zu sein und flüsterte: „Sie erleben diesen Zirkus wohl zum ersten Mal. Keine Sorge, wenn Kapralow damit fertig ist, uns aller nur denkbaren Verbrechen zu beschuldigen, wird er sich beruhigen und irgendeine lächerliche Forderung stellen, die wir unmöglich erfüllen können, nur um zu beweisen, dass er recht hat. Mehrere Stunden später wird er dann in seiner Rolle als amtierender Vorsitzender die Sitzung ohne Ergebnisse beenden.“

Bestürzt blickte Victor auf den Papierstapel, der vor ihm lag, und dachte an die vielen Stunden Arbeit, die er in die Vorbereitung gesteckt hatte. So nervös er zuvor gewesen war, so niederschmetternd war nun der Gedanke, dass er womöglich gar nichts vortragen würde.

Im nächsten Moment ergriff Marschall Kapralow wieder das Wort. Ein Raunen ging durch die Reihen der russisch sprechenden Anwesenden. Mit Verblüffung beobachtete Victor, wie Kapralow den Raum verließ, noch während der Dolmetscher übersetzte. Auch die sechzehnköpfige sowjetische Delegation erhob sich geschlossen und folgte Kapralow aus dem Saal.

„Der Alliierte Kontrollrat existiert nicht mehr länger als Regierungsorgan“, sagte der Dolmetscher.

Die Tür schloss sich.

Die Generale Clay, Robertson und König schauten etwas überrascht, aber nicht übermäßig schockiert. Victor jedoch war erschüttert. Hatte er gerade das Ende der Viermächteherrschaft über Deutschland miterlebt?

„Eine bewusste Unhöflichkeit“, kommentierte Clay trocken.

„Das wars dann wohl“, sagte der Mann zu Victors Linken leise und ein anderer ergänzte: „Das hatte sich schon seit einer Weile angekündigt. Um die Russen ist es nicht schade, finde ich.“

Eine Zeit lang schien unklar, was nun zu tun war, da gemäß Protokoll der Vorsitzende, also Kapralow, das Treffen offiziell schließen musste.

„Ich schätze, die Sitzung ist beendet“, sagte General Clay schließlich und machte sich daran, den Saal zu verlassen. Alle anderen folgten ihm. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre. Victor nahm gleichzeitig Anspannung, Ungläubigkeit und Erleichterung wahr. Er schnappte sich seine Unterlagen und folgte der amerikanischen Delegation nach draußen.

Mit einem Mal hatte er jede Menge freie Zeit und so nahm er den angebotenen Transport zur Garnison gerne an. Dort angekommen fragte er einige der jüngeren Männer: „Hey, wo kann man sich heute Abend gut amüsieren?“

„Bist du neu hier? Ich bin John.“

„Ich bleibe nur für ein paar Tage. Ich bin am Rhein-Main-Flughafen stationiert.“

„Na dann, willkommen in der Hauptstadt!“ John grinste. „Wenn du willst, nehm ich dich heute Abend mit ins Café de Paris. Ist der angesagteste Laden der Stadt. Und der Star der Show? Eine blonde Sexbombe. Die kann es locker mit Marlene Dietrich aufnehmen.“ John leckte sich mit einem verträumten Ausdruck über die Lippen.

„Klingt gut“, sagte Victor, obwohl er normalerweise nicht auf Blondinen stand. Seiner Erfahrung nach gab es nur wenige echte und den Rest hielt er für oberflächlich.

3

BRUNI

„He, Puppe, du bist als Nächstes dran“, rief Gabi, als sie die Garderobe hinter der Bühne betrat.

Bruni blickte von dem kleinen Schminktisch auf, wo sie ihr Bühnen-Make-up auftrug. „Gutes Publikum heute Abend?“

„Klaro. Jede Menge hübsche Soldaten. Einer sieht aus wie Cary Grant, als er jung und fesch war.“ Gabi wackelte mit den Augenbrauen und die anderen Mädchen im Raum kicherten.

Bruni verdrehte die Augen. „Du bist verlobt, schon vergessen?“

„Ich kann doch wohl trotzdem schauen, oder nicht?“

„Solange dein schnuckeliger Soldat es nicht mitbekommt“, rief eine der Frauen von hinten.

Bruni nickte. „Pass besser auf. Wenn dein Sam sieht, wie du mit einem anderen Mann schäkerst, wird er nicht erfreut sein.“

„Und was ist mit dir? Wirst du heute Abend mit jemandem anbändeln?“, fragte Gabi und setzte sich auf einen Stuhl neben Bruni.

„Mal sehen. Jetzt, wo Dean weg ist, brauche ich einen Neuen, aber ich bin wählerisch.“

„Nein, verwöhnt bist du.“

Bruni rümpfte die Nase. „Das ist heute schon das zweite Mal, dass eine meiner Freundinnen so was von mir behauptet. Denkst du wirklich, da ist was Wahres dran?“

Schallendes Gelächter erfüllte den Raum und Bruni blickte von einem Mädel zum anderen. „Und wisst ihr was? Ihr könnt eure süßen Popöchen drauf verwetten. Was bringt es denn, um einen Mann herumzuscharwenzeln, wenn er nicht in der Lage ist, mir den Lebensstil zu bieten, den ich gewohnt bin?“

Gabi schüttelte den Kopf und ging zu ihrem eigenen Schminktisch. „Ich überlasse dir den jungen Cary Grant.“

„Danke, das weiß ich zu schätzen, aber du brauchst mir keinen Gefallen zu tun.“ Bruni warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild, bewunderte ihre perfekt gelegten platinblonden Locken und das kunstvoll aufgetragene Make-up, das ihre blauen Augen zur Geltung brachte.

Kurz schürzte sie ihre rubinrot geschminkten Lippen und hoffte, dass sie heute Abend im Publikum jemanden fand, der ihrer Aufmerksamkeit würdig war. Sie hatte es satt, allein und bald pleite zu sein, jetzt da Dean sie nicht mehr großzügig mit allem versorgte, wonach ihr Herz begehrte.

„Bruni, du bist dran.“

„So, Mädels. Zeit, die Jungs vom Hocker zu hauen“, rief sie den anderen zu und ging zum Bühnenvorhang. Von der Seite spähte sie in den Zuschauerraum und ließ den Blick umherschweifen auf der Suche nach den neuen Gesichtern, die Gabi erwähnt hatte. Wegen der Lichtverhältnisse konnte sie jedoch nur die Tische sehen, die der Bühne am nächsten standen. Der Rest war in Dunkelheit gehüllt.

Als der Bühnenmeister ihr zunickte, nahm sie das Mikrofon und trat unter tosendem Beifall heraus. Sie schenkte den Männern, die so begeistert klatschten, ein kokettes Lächeln und schritt in die Mitte der Bühne. Auf ein Zeichen spielte der Pianist die ersten Töne ihres Lieds und Lampenfieber kribbelte in ihren Gliedern. Das Publikum verstummte, sobald ihre sinnliche Stimme das Kabarett erfüllte. Sie sang von verlorener Liebe und dem Ende der Einsamkeit, während sie gekonnt mit Körper und Gesichtsausdruck flirtete.

Schließlich erhaschte sie einen Blick auf den Mann, von dem Gabi so geschwärmt hatte, und musste zugeben, dass ihre Kollegin einen ausgezeichneten Geschmack besaß. Der Mann war mehr als nur attraktiv – er war eine wahre Augenweide. Sie machte ihm schöne Augen, denn sie wollte sich seiner Aufmerksamkeit gewiss sein für den Fall, dass er auf der Suche nach Gesellschaft war.

Hochgewachsen und muskulös saß er mit breiten Schultern in einer amerikanischen Uniform da, doch aus der Entfernung konnte Bruni die Rangabzeichen nicht erkennen. Sein aschblondes Haar wirkte trotz der Kürze zerzaust. Auch wenn das Aussehen auf ihrer Liste der Anforderungen an letzter Stelle stand, entsprach er optisch genau ihrem Geschmack.

Sie konnte sehen, wie er sie mit Argusaugen beobachtete, und gab ihm mit verführerischen Blicken zu verstehen, dass sie dieses Lied nur für ihn sang. Sally, eine der Kellnerinnen, blieb an seinem Tisch stehen, und genau wie Bruni gehofft hatte, sagte er etwas zu ihr, während er in Richtung Bühne gestikulierte.

Nicht umsonst sagte man von Bruni, dass sie dieses Spiel aus dem Effeff beherrschte. Schon früh hatte sie lernen müssen, sich ihres Aussehens zu bedienen, um zu überleben. Sie wusste, wie man Männer um den kleinen Finger wickelte, und bot Gefälligkeiten im Tausch gegen Nahrung, Unterkunft und Zuneigung an – doch niemals ihre Liebe. Denn Liebe war lediglich eine Illusion; etwas, von dem man sich besser fernhielt.

Als Sally nach dem Auftritt an den Bühnenrand trat, verbarg Bruni gekonnt ihre Genugtuung und täuschte stattdessen Überraschung vor.

„Der Herr an Tisch Nummer 6 fragt, ob du mit ihm etwas trinken möchtest.“

Bruni warf einen Blick in seine Richtung und stellte zufrieden fest, dass er sie immer noch beobachtete. Sie tat so, als würde sie über sein Angebot nachdenken, und nickte dann. „Sag ihm, dass ich mich in ein paar Minuten zu ihm geselle.“

Während Sally die Nachricht überbrachte, warf Bruni ihm ein charmantes Lächeln zu, bevor sie hinter den Bühnenvorhang schlüpfte. Unter dem Gejohle der anderen Mädchen betrat sie die Garderobe.

„Der hat dir förmlich aus der Hand gefressen!“, rief Gabi mit ehrlicher Bewunderung.

Bruni zog strahlend ihren Lippenstift nach. „Er hat mich eingeladen, mit ihm etwas zu trinken.“

„Ich weiß gar nicht, wieso ich mir überhaupt Sorgen um dich gemacht habe.“

„Es ist nur ein Drink. Ich bin nicht mal sicher, welchen Rang er hat.“

„Und das ist natürlich wichtig.“ Gabi schüttelte den Kopf, während sie sich den Mantel anzog. „Sam ist nur ein Sergeant, aber er kümmert sich gut um mich.“

„Na, dann hoffen wir mal, dass er keine Frau und Kinder hat, die nur darauf warten herzufliegen, um bei ihm zu sein.“ Ein letztes Mal schüttelte sich Bruni die Haare auf, bevor sie in den Gästebereich ging und sich ihrem Auserkorenen auf leisen Sohlen näherte.

Ihr Puls beschleunigte sich, denn aus der Nähe sah er sogar noch fescher aus. Als er sie bemerkte, erhob er sich und bot ihr einen der freien Stühle an, indem er einen für sie unter dem Tisch hervorzog. Bruni schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln, was ihr jedoch auf den Lippen gefror, als sie seine Rangabzeichen erkannte. Die Enttäuschung war bodenlos. Wie kam es, dass die bestaussehenden Männer immer am unteren Ende der Rangordnung standen?

„Danke, dass Sie sich zu mir setzen“, sagte er mit einer tiefen, rauen Stimme, die ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte. Bruni blickte auf den Stuhl und dann wieder in seine graugrünen Augen.

„Bin ich von Nahem so hässlich, dass Sie es sich anders überlegt haben?“, fragte er mit leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln.

„Nein, natürlich nicht.“ Ihre Knie wurden weich. Unverständlicherweise sehnte sie sich plötzlich danach, seine Arme um sich zu spüren. Hier geht es ums Geschäft, nicht um peinliche Gefühlsduselei, ermahnte sie sich selbst.

Sie brauchte dringend einen neuen Gönner und durfte ihre Reize nicht an den erstbesten Kerl verschwenden. Er musste schon mindestens Hauptmann sein, sonst war er nicht geeignet; der Sold eines Sergeants würde niemals für den Luxus ausreichen, den sie gewohnt war. Schlimmer noch, wenn sie mit ihm ausging, würde es den Eindruck erwecken, sie sei leicht zu haben. Und dann würde sie bald mit unpassenden Angeboten von unpassenden Männern überschwemmt werden.

„Ich heiße Victor Richards“, sagte er, während seine wunderbaren Augen sie in ihrem Bann hielten.

„Brunhilde von Sinnen, aber meine Freunde nennen mich Bruni“, erwiderte sie automatisch.

„Nun, Bruni, würden Sie mir ein paar Minuten Gesellschaft leisten? Ihr Auftritt war phänomenal. Er hat mich tief berührt.“

„Ja, wirklich?“ Das war eine sehr dumme Antwort, aber aus irgendeinem Grund hatte sich ihr Gehirn zu Brei verwandelt und ihr fiel partout keine geistreiche Erwiderung ein.

Er deutete auf den Stuhl, den er ihr noch immer hinhielt, und sie ließ sich langsam auf die Kante sinken. Ihm so nahe zu sein, raubte ihr den Atem sowie die Fähigkeit, klar zu denken – was kein gutes Omen war. Sie sollte aufstehen und weggehen. Augenblicklich.

Doch ihre Beine verweigerten den Dienst und selbst ihr treuloses Gesicht verzog sich zu einem albernen Lächeln.

Er lächelte zurück und sie konnte nicht anders, als verzückt seine Grübchen zu betrachten. Als er sich setzte, kam Sally auch schon angelaufen. „Was kann ich Ihnen zu trinken bringen?“

Victor sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Bruni bebte innerlich. O Gott, was für ein umwerfender Mann.

„Für mich einen Martini,“ sagte Bruni mit einem Blick auf Sallys kaum verhohlenes Grinsen. Natürlich würde die Kellnerin sie genauestens beobachten und in der Küche brühwarm von Bruni und ihrem Bewunderer erzählen.

Victor bestellte ein Bier für sich, und als Sally in Richtung Bar verschwand, beugte er sich schmunzelnd vor. Seine Grübchen ließen Brunis Entschlossenheit, sich von ihm fernzuhalten, wie Eis in der Sonne dahinschmelzen. Ein Getränk mit ihm würde nicht schaden, aber danach wollte sie sich auf der Stelle verabschieden.

„Meine Kameraden haben mir gesagt, dass Sie wie Marlene Dietrich singen, aber sie lagen völlig falsch. Sie singen so viel besser.“