Über das Buch:
Als erfolgsverwöhnter Pastor einer New Yorker Gemeinde baut Scazzero über Jahre hinweg die Fassade eines Superhelden auf, die nicht einmal seine Frau durchschauen kann. Erst als er physisch und psychisch am Ende ist und seine Ehe vor dem Aus steht, fängt Gott neu mit ihm an. Und wie!

In diesem Buch packt Scazzero aus, nimmt seine Leser an die Hand und führt sie ehrlich durch den eigenen Zerbruch. Hin zu den unbezahlbaren Erfahrungen, die allen Menschen in Leitungsfunktionen, allen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Gemeinde helfen können, ihren Dienst für Gott dynamisch und authentisch zu tun. Gehen auch Sie diese ebenso entscheidenden wie erlösenden sieben Schritte mit ihm!

Über den Autor:
Peter Scazzero (M.A. in Theologie) erhielt viel Anerkennung für den Aufbau einer großen Gemeinde, in der über 55 Nationen vertreten sind. Sie befindet sich im ethnisch vielfältigsten Stadtviertel von New York. Peter und seine Frau Geri gründeten 1987 New Life Fellowship.

2. Eine schwerwiegende Schieflage

In den meisten Gemeinden herrscht heute eine schwerwiegende Schieflage. Wir haben viele Menschen, die voller Leidenschaft für Gott und sein Werk sind, die aber keine Verbindung zu ihren eigenen Gefühlen oder den Menschen in ihrer Umgebung haben. Diese Kombination ist tödlich, sowohl für die Gemeinde als auch für das persönliche Leben des Leiters.

Unser Pastorenteam saß in einem Café in der Nähe eines Kinos. Wir waren aufgewühlt. Es gab nicht viel zu sagen. Gerade hatten wir den Film Apostel! gesehen. Jeder von uns hatte das ungute Gefühl, dass der Film hervorragend einen Scheinwerfer auf unsere eigene christliche Vergangenheit gerichtet hatte. Ebenso wichtig war, dass dieser Film die schmerzlichen Auswirkungen einer engen, unzulänglichen christlichen Jüngerschaft bildlich dargestellt hatte.

Etwa zur gleichen Zeit, als der Film in die Kinos kam, hatte Gott uns gezeigt, welche Folgen es hatte, die seelische Gesundheit von unserem geistlichen Leben abzuspalten. Apostel! hatte dieses Problem geradeheraus angesprochen. Die Wunden aus unserer eigenen Vergangenheit waren noch offen.

Apostel! aus dem Jahr 1997 ist ein beeindruckender Film über einen christlichen Leiter – Reverend Eulis „Sonny“ Dewey, gespielt von Robert Duvall. Er spielt in den 1980er-Jahren im ländlichen Texas. Der Film beginnt damit, dass Sonny und seine Mutter den Highway entlangfahren, als sie plötzlich auf einen Unfall mit mehreren Fahrzeugen stoßen.

Sonny schlüpft an der Polizei vorbei und nähert sich einem zertrümmerten Wagen. Dort findet er einen blutenden, halb bewusstlosen jungen Mann auf dem Fahrersitz; neben ihm liegt seine tote Freundin. Sonny, dessen Herz für Jesus brennt, flüstert dem jungen Mann ins Ohr, dass Gott ihm seine Sünden vergibt, wenn er Jesus hier und jetzt in sein Herz einlädt, und dass er dann in den Himmel kommen kann. Der Polizist versucht, Sonny von dem Autowrack wegzuziehen, aber der Prediger schiebt ihn mit dem Arm beiseite, um diesen sterbenden jungen Mann zu Jesus zu führen. Er geht zu seinem Auto zurück und berichtet seiner Mutter das Gute, das Gott gerade getan hat.

Sonny verbringt die meiste Zeit auf Tour bei Erweckungsveranstaltungen, die er leitet. Geistliche Leidenschaft durchdringt sein Leben. Er liebt seine Kinder. In der Zwischenzeit wird seine wunderschöne, aber schwer geprüfte Frau Jessie seinen wiederholten Ehebruch und ihre Einsamkeit leid. Sie will die Scheidung.

Es stellt sich heraus, dass auch sie eine Affäre hat, mit dem Jugendpastor ihrer Gemeinde. Bald entreißen sie und der Jugendpastor Sonny seine Gemeinde per Gemeindestatut.

In einem Augenblick eifersüchtigen Zorns betrinkt sich Sonny und greift den Jugendpastor mit einem Baseballschläger an, während dieser als Trainer bei einem Spiel seines Sohnes ist. Am Ende stirbt der Jugendpastor.

Unterdessen verlässt Sonny die Stadt, lässt seine alte Identität zurück und macht sich auf die Suche nach einem neuen Leben. Er hält sein Auto mitten auf einer Kreuzung an, geht auf der Straße auf die Knie und fragt: „Wohin, Gott? Wohin?“

Bald taucht er in einer kleinen Gemeinde in Louisiana wieder auf. Nachdem er Gott ernsthaft durch Gebet und Fasten gesucht hat, erhält er eine neue Berufung und Wegweisung. Ab sofort trägt er den Namen und Titel: „Der Apostel E. F.“ Mit faszinierender Ernsthaftigkeit tauft er sich selbst in einem nahe gelegenen See, um so seinen Neuanfang zu feiern.

Mit der Hilfe eines angesehenen örtlichen afroamerikanischen Pastors gründet er eine neue Gemeinde. Er nimmt mehrere Jobs an, um die Wiedereröffnung einer heruntergekommenen kirchlichen Einrichtung zu finanzieren. Er gründet eine Radio-
arbeit, richtet einen gebrauchten Bus wieder her und fängt an, damit Leute zum Gemeindebesuch abzuholen.

Seine Beziehung zu Gott ist ansteckend. Die Gemeinde blüht auf und gedeiht. Er gibt den Hungrigen zu essen. Sein Dienst hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die kleine Gemeinde mit Mitgliedern aus verschiedenen ethnischen Hintergründen liebt seinen Eifer und seine Verkündigung.

Unter der Oberfläche seines beeindruckenden Glaubens bleiben jedoch hässliche Risse, die in seiner geistlichen Entwicklung durchbrechen. Während er die neue Gemeinde gründet, lernt er Toosie kennen, eine Frau, die im Radiosender arbeitet. Sie erweckt in ihm romantische Gefühle. Außerdem gerät Sonny in eine Prügelei mit einem Störenfried, der seine Rechtschaffenheit infrage stellt.

Schließlich bekommen die Behörden Wind von dem tragischen Fehler in Sonnys Vergangenheit. Die Polizei verhaftet ihn und er kommt ins Gefängnis. Aber sogar im Gefängnis sehen wir Sonny begeistert dabei, wie er eine Gruppe von aneinandergeketteten Gefangenen bei der Arbeit ein christliches Lied singen lässt, damit auch diese Menschen bald den mächtigen Herrn Jesus kennenlernen, der Leben verändert.

Sonny hat ein aufbrausendes Temperament. Er ist ein Weiberheld. Er trinkt. Er tötet einen Mann in einem Augenblick der Wut. Gleichzeitig kann der Zuschauer nicht leugnen, dass Sonny wahrhaftig an Jesus Christus glaubt. Er predigt die Neugeburt und liefert sich der Kraft des Heiligen Geistes aus, um ein übernatürliches Leben zu führen.

Sonny ist, wie die meisten von uns, eine komplexe Person. Er ist ein eifriger, engagierter Christ, den wir bewundern, und doch ist er auch schrecklich widersprüchlich. Am schmerzlichsten ist vielleicht sein Mangel an Erkenntnis, wie viel Schaden er damit anrichtet, dass er versucht, mehr darzustellen, als er in Wirklichkeit ist. In mancherlei Hinsicht ist er ein Schwindler. Er trennt bequem seinen Glauben und sein geistliches Leben von seinem Menschsein als Ganzes ab. Die meisten von uns in christlichen Leitungspositionen und in der Gemeinde können sich mehr mit ihm identifizieren, als wir zugeben wollen.

Die Risse in Sonnys Leben als Christ unterhöhlen seinen Predigtdienst und seine Leiterschaft. Ich wünschte, das wäre nur in Hollywood so. Doch leider ist das wirkliche Leben voll von ähnlichen Beispielen.

Bob Pierce und World Vision

Im Jahr 1950 gründete Bob Pierce die Arbeit, aus der World Vision (www.worldvision.de) geworden ist, das größte christliche Entwicklungshilfewerk der Welt. Heute arbeitet diese Organisation bei über hundert Millionen Menschen pro Jahr in beinahe hundert Ländern. Voller Leidenschaft für Jesus und für eine Welt ohne Hunger und Krankheit begann Bob Pierce sehr bescheiden mit der Hilfe für Kinder, die durch den Koreakrieg zu Waisen geworden waren. Jede Hilfsaktion, die er ins Leben rief, wuchs gigantisch. Mit unaufhaltsamem Weitblick und Energie träumte er das Unmögliche und tat dann alles Erdenkliche, um es zu realisieren.

Über ihn wurden Bücher und Titelstorys in Zeitschriften geschrieben. Seine Freunde sagten: „Er ist ein Mann, der nicht ruht, damit er Seelen gewinnt. Er ist ein wahrer christlicher Samariter, der buchstäblich sein Leben für die notleidenden‚ ,kleinen‘ Leute der Welt geopfert hat.“

Bob betete oft: „Ich wünsche mir, dass mein Herz für die Dinge schlägt, die Gott das Herz brechen.“ Dieser Eifer trieb ihn bis an die Enden der Erde und war gekennzeichnet von einer scheinbar unerschöpflichen Leidenschaft, geistliche und menschliche Not zu lindern, wo er sie sah.

Leider hatte seine Haltung verhängnisvolle Folgen für seine Familie. Ein Freund der Familie erklärte höflich, dass Lorraine, Bobs Frau, ganz andere Entbehrungen kannte als die, um die sich ihr Mann bemühte.

Die krasse Realität ist, dass er seine eigene Familie praktisch im Stich ließ. Er ließ keine Gelegenheit aus, sein Werk zu erweitern und ihm zu größerem Einfluss zu verhelfen, und vernachlässigte darüber seine Frau und seine Kinder. Als zum Beispiel eine seiner Töchter ihn auf einer Dienstreise anrief und ihn anflehte, bald nach Hause zu kommen, hatte er kein Verständnis für ihre Not. Seine Frau, die mit ihm unterwegs war, bat ihn darum, nach Hause zu fliegen. Aber stattdessen bestieg er den Flieger nach Vietnam. Als seine Frau zu Hause ankam, musste sie entsetzt feststellen, dass ihre Tochter sich von einem Selbstmordversuch erholte. „Ich wollte nur spüren, wie Papa seine Arme um mich legt“, erklärte sie später. Und dann fügte sie hinzu: „Ich wusste, dass er nicht nach Hause kommen würde.“

Die Eltern waren alarmiert und geschockt von den emotionalen Kämpfen ihrer Tochter. Sie bemühten sich um Hilfsangebote. Aber ihre Hilfe kam zu spät. Zwei Jahre später nahm die Tochter sich das Leben.

Bobs Beziehung zu seiner Frau verschlechterte sich mit der Zeit ebenfalls. Es gab Zeiten, in denen sie jahrelang nicht miteinander sprachen. Die Beziehung zu seinen beiden anderen Kindern war ebenso spannungsreich. Obwohl Gott der Familie kurz vor dem Tod von Bob Pierce eine Nacht der Versöhnung schenkte, lebte er in den letzten Jahren seines Lebens ganz von seiner Familie entfremdet.

Die Achtzehnstundentage, unhygienisches Essen und ständiger Jet-Lag zehrten nach und nach Bobs seelische Reserven auf und machten ihn anfällig für alle möglichen körperlichen Probleme. Ein Biograf schrieb: „Das aufbrausende Temperament, gegen das er sein ganzes Leben lang gekämpft hatte, gewann immer öfter die Oberhand, und das Gehirn, das einst mit computerartiger Präzision funktioniert hatte, bekam nun ab und zu Kurzschlüsse, die zu einer zunehmenden Sprunghaftigkeit in seinem Verhalten führten.“

Bobs oft zitierte Bitte: „Ich will einfach für Gott ausbrennen“, erfüllte sich leider.

Auch Bobs Beziehung zum Vorstand von World Vision fand ein unglückliches, spannungsgeladenes Ende. Im Jahr 1963 überstimmte ihn der Vorstand zum ersten Mal und entschied, seine wöchentlichen Radiosendungen einzustellen. Als Grund dafür gab man finanzielle Faktoren an. Später im gleichen Jahr schickte ihn der Vorstand in den Krankenstand. Wie üblich war er in Übersee und beschloss, zu seiner Genesung dortzubleiben – von seiner Familie getrennt. Schließlich ging es ihm besser, aber die Spannungen bei World Vision verschwanden nicht.

1967 trat Bob Pierce in einer explosiven Vorstandssitzung zurück. Die entsprechenden juristischen Dokumente wurden ihm am nächsten Tag zugestellt und Bob unterschrieb den Austritt aus seinem Lebenswerk.

1978 starb Bob Pierce an Leukämie. Schon nach wenigen Wochen begann seine Tochter, Marilee Pierce Dunker, ein Buch zu schreiben: Man of Vision, Woman of Prayer. Darin erzählt sie sowohl von den Wundern in Übersee als auch von der „dunklen Seite“ ihres schmerzvollen Familienlebens.

Sind Geschichten wie diese von zerbrochenen Beziehungen und gelegentlicher Versöhnung die Ausnahme und auf ungewöhnlich begabte Menschen beschränkt? Leider nicht. Ich könnte Dutzende solcher Geschichten erzählen. Sie wahrscheinlich auch.

Roger und seine Gaben

Wenn es so etwas wie ein „Vorzeigekind der Gemeinde“ gibt, war es Roger. Sein Vater, Schwiegervater und zwölf weitere Familienmitglieder sind Geistliche. Roger besuchte zweimal ein christliches College und ein theologisches Seminar – einmal als Kind, als sein Vater studierte, und dann achtzehn Jahre später, als er an genau die gleichen Ausbildungsstätten ging.

„In gewissem Sinn waren die Karten gemischt“, sagt Roger heute. „Alles, was ich von Geburt an kannte, waren die Gemeinde und der Dienst. Ich hatte eine tiefe Leidenschaft dafür, aber wie ich später herausfinden sollte, wurde daraus nicht notwendigerweise eine Leidenschaft für Christus – und ganz sicher keine vertraute Beziehung zu ihm.“

Schon früh in seinem Dienst wusste Roger, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass er sich in der Umgebung seines kleinen, traditionellen Pfarrbezirks nicht ausgefüllt fühlte; er litt auch wieder unter Depressionen, wie schon während seiner Ausbildung. Man riet ihm, den Dienst als Geistlicher aufzugeben, da er ein schwaches Selbstwertgefühl, keine emotionalen Grenzen und einen starken Unternehmergeist hatte, der nicht gut in die etablierte Kirche passte. Er ignorierte den Rat. Stattdessen übernahm er eine traditionelle, theologisch breit gefächerte Kirche in Queens, wohin er sich als „Erneuerer“ gerufen fühlte.

Es war von Anfang an schwer. Roger begann, Veränderungen im Gottesdienst einzuführen, neue Kreise ins Leben zu rufen und die Prioritäten des Kirchenvorstandes neu zu ordnen, um der Kirche zu Wachstum zu verhelfen. Mehrere Mitglieder nahmen während einer Evangelisation mit Billy Graham Christus an und Neubekehrte traten in die Kirche ein. Bald erhielten Roger und seine Frau gemeine Briefe und waren in der Kirche der Gegenstand von Auseinandersetzungen und Gerede.

Die Zahl der Besucher verdoppelte sich. Die Spenden stiegen drastisch an. Das Budget verdreifachte sich. Und der Pastor stürzte ab.

„Ich wusste das damals nicht, aber ich lebte nur von meinen Gaben und nicht aus der Gnade“, gesteht Roger ein. „Ich war blind für meine eigene Leere und emotionalen Abgründe.“ Nach jeder Kirchenvorstandssitzung weinte Roger und zitterte am ganzen Leib.

Nach fünf Jahren spürte Roger, dass er die Grenze der Belastbarkeit erreicht hatte. Er nahm sich in absoluter Verzweiflung sogar den ganzen Sommer unbezahlten Urlaub, aber es nützte nichts. „Es war ein verschwendeter Sommer. Ich suchte nicht den Herrn. Ich suchte keine Hilfe. Ich wusste nicht einmal, wohin ich mich wenden sollte“, sagt er heute.

Für Roger setzte sich der Abstieg fort. Die Gemeinde wuchs weiter und viele Menschen standen jetzt hinter ihm, aber die finanziellen Mittel waren knapp und die Beziehungen zum Kirchenvorstand verschlechterten sich. „Jede Kritik und jedes Missverständnis mit dem Kirchenvorstand war wie ein schlimmer Schlag gegen mich persönlich“, sagt er.

Rogers Problem laugte ihn schließlich völlig aus. Der Druck führte dazu, dass er seine Kündigung einreichte, ohne absehbares Einkommen, Abfindung, Übergangszeit, Beratung und völlig ausgelaugt. Er fühlte sich wie ein Versager, ein Schandfleck.

Was war schiefgelaufen? Roger war emotional unreif. Durch die häufigen Umzüge seiner Familie hatte er gelernt, wie man auf Menschen zugeht, aber nicht, wie man eine Verbindung zu ihnen aufbauen konnte. Immer, wenn er sich um eine intensivere Jüngerschaft bemühte, fühlte er sich – mit nur wenigen Ausnahmen – abgewiesen und man sagte ihm: „Du solltest dein Leben inzwischen im Griff haben.“ Also ließ er zu, dass die geheime Kammer in seinem Herzen immer größer, dunkler und gut vor allen anderen gesichert wurde, am Ende sogar vor seiner Frau.

„Ich lernte, meine Probleme noch tiefer zu vergraben“, gesteht er. „Ich war seelisch nicht gesund. Für mich war die Gemeinde immer ein Ort, wo ich das Gefühl hatte, ich müsste bezüglich meiner tiefsten, dunkelsten Seiten auf der Hut sein. Sie war nie ein sicherer Ort.“ Die traurige Wirklichkeit war: Weder sein Leben noch die Kirche, der er diente, noch seine familiären Beziehungen waren gesund.

Roger wird, daran glaube ich, eines Tages wieder bedeutende Leitungsaufgaben übernehmen, aber vorläufig macht er das Richtige: Er bittet Gott, sein Haus in Ordnung zu bringen – persönlich, in der Familie und in der Beziehung zu anderen.

Mangelhafte Vorbilder

Ich erinnere mich, dass ich in meiner ersten Zeit bei InterVarsity, als ich Mitarbeiter auf einem Uni-Campus war, und später, als ich im Land umherreiste und auf Konferenzen über Gemeindewachstum Vorträge hielt, verblüfft über das „Innenleben“ von vielen Leitern und Pastoren unserer Gemeinden war. Nur allzu verbreitet waren Verleugnung, Stolz, Abwehrhaltungen, wahnsinnig vollgestopfte Terminpläne, Arbeitssucht, Begehrlichkeiten nach einflussreicheren Gemeinden (was Götzendienst ist, siehe Kolosser 3,5) und im Kielwasser von alldem eine lange Spur einsamer Ehepartner. Anfangs dachte ich noch, dass das die Ausnahmen waren. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar: Das war die Norm.

Ich beschloss, anders zu sein. Das einzige Problem bestand darin, dass ich nicht wusste, wie!

Die emotionale Stabilität amerikanischer Familien ist auf einem Rekordtief. Jetzt, wenn ich dieses Buch schreibe, wird etwa jede zweite Ehe geschieden. Am schockierendsten daran ist vielleicht, dass die Scheidungsrate in einigen Bundesstaaten, die traditionell als der Bible Belt („Bibelgürtel“, eine Reihe konservativer Bundesstaaten im Süden der USA) bekannt sind, zu den höchsten im ganzen Land zählt.

Selbst bei christlichen Leitern zerbrechen erschreckend viele Familien. Noch mehr überrascht, wie häufig christliche Leiter sich in eine Affäre oder in Pornografiesucht und Ähnliches verstricken. Zu viele machen danach weiter, als wäre nichts geschehen.

Um zu verstehen, was in solchen Situationen schiefgelaufen sein könnte, betrachten wir einmal das Beispiel von jemandem, der beschlossen hat, ehrlich über sein Innenleben zu reden. Im Januar 2002 reichte der Mann, der weithin als Vater der christlichen Eheberatung angesehen wird – Ray Mossholder von Marriage Plus Ministries – die Scheidung ein. Er war 42 Jahre lang mit seiner Frau verheiratet gewesen und verkündete nun seine Pläne, wieder zu heiraten. Diesen weithin angesehenen christlichen Leiter, der mehr als elftausend Ehepaare vor der Scheidung gerettet haben soll, kannten Millionen von seinen Radio- und Fernsehsendungen.

Er verkündete die Nachricht vom Scheitern seiner Ehe in einem Brief an seine Unterstützer und nahm Bezug auf die Geschichte vom Schuster, der so beschäftigt war, dass seine eigene Frau ohne Schuhe gehen musste. Er fügte hinzu: „Ich war dieser Schuhmacher. Ich habe keine Entschuldigung dafür.“

Nichtsdestotrotz konnten ihn weder seine Frau noch seine Kinder davon abhalten, nach der Scheidung eine andere Frau zu heiraten. Er beharrte darauf, dass er sich nicht von Gott abwendete; er verließ nur seine gläubige Frau, mit der er 42 Jahre lang verheiratet gewesen war.

Die traurigste Aussage von allen traf er ebenfalls in diesem Brief an seine Spender. Er räumte ein: „Ich habe oft geheuchelt, wenn ich davon sprach, wie großartig unsere Ehe ist. Was ich andere gelehrt habe, war die Wahrheit. Allerdings sieht es so aus, als wären wir nie in der Lage gewesen, diese Wahrheit in unserer eigenen Ehe anzuwenden.“

Woran liegt das? Ich glaube, dass alle genannten Personen einem falschen Modell christlicher Jüngerschaft auf den Leim gegangen sind.

Die „liebevolle“ Kleingruppe, die abstürzte

Als wir im September 1987 die New Life Fellowship gründeten, war unser Anliegen, als wesentlichen Bestandteil unserer Strategie für Jüngerschaft und Gemeinschaftsbildung Kleingruppen aufzubauen. Wir investierten viel Energie, um Menschen für Aufgaben wie die Leitung einer Bibellesegruppe, Lobpreis, Gemeinschaftsbildung, Kontakt mit Nachbarn und Gebetskreise auszubilden. Ebenso sollten sie lernen, wie man delegiert und die „Jahreszeiten“ einer Kleingruppe durchschaut. Wir entwickelten ein Materialhandbuch für „Kleingruppenleiter“ und ein Handbuch für die Trainer (Supervisoren) dieser Gruppen. Wenn ich heute zurückschaue, waren diese Fähigkeiten alle recht „oberflächlich“. Wir achteten zu wenig auf eine klare, direkte, ehrliche und respektvolle Kommunikation und darauf, dem anderen ohne Vorurteile zuzuhören und Konflikte angemessen zu lösen. Die folgende Geschichte veranschaulicht die Grenzen unserer Herangehensweise.

Anfang der 1990er-Jahre leiteten Bob und Carol, ein Ehepaar mit einer stark ausgeprägten Gabe des Gastgebens, eine unserer Kleingruppen. Ihre Kleingruppe blühte auf und gedieh; jeden Freitagabend kamen durchschnittlich fünfzehn Besucher. Die Teilnehmer beteten Gott an. Sie beteten füreinander. Sie lasen die Bibel. Sie verbrachten auch außerhalb der Gruppentreffen Zeit miteinander. Jede Woche trafen sie sich zu einem gemeinsamen Essen. „Am Anfang“, bemerkte Bob, „hätte ich diese Gruppe als sehr liebevoll beschrieben.“

Die ersten Risse zeigten sich, als Millie, ein Mitglied der Gruppe, eines Abends zwei andere Frauen über eine „mutmaßliche“ Affäre zwischen zwei Leuten in einer anderen Kleingruppe von New Life informierte. Sie waren natürlich besorgt und unruhig und wollten helfen. Diese Frauen sagten es dann ihren Ehemännern, die schließlich Bob informierten. Er war verwundert, dass dieses Gerücht genau zu der Zeit im Umlauf war, als ihre Gruppe sich mit Jakobus 3 beschäftigte, wo es um die Macht der Zunge geht.

Bob sprach mit Millie und den anderen und nahm an, dass das Gerede dann aufhören würde. In Wirklichkeit wurde es einfach unter den Teppich gekehrt und niemand sprach jemals direkt und ehrlich über die vermeintliche moralische Ungehörigkeit.

Der Riss wurde größer und alles brach zusammen, als Millie Bob mitteilte, ein weiteres Mitglied der Gruppe sei überzeugt, dass Bobs Frau eine Affäre habe. Man habe ihr das im Vertrauen mitgeteilt und mache sich Sorgen um Bob.

Inzwischen hatten sich eine Reihe immer größer werdender Konflikte zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern aufgebaut. Konflikte verbreiten sich wie Krebs, wenn sie unbehandelt bleiben. Der Krebs dieser Gruppe verbreitete sich schnell und tödlich.

Bob, entsetzt über die Anschuldigungen und darüber, dass mit ihnen so unbiblisch umgegangen wurde, war bis in sein tiefstes Inneres erschüttert. Diese Situation offenbarte nicht nur den Mangel an Reife in dieser Gruppe, sondern Risse in seiner eigenen Ehe und seinem Leben, mit denen er sich befassen musste. Bob erkannte zum Beispiel, dass er sich übernommen hatte und für seine eigene Familie emotional unerreichbar geworden war. Es dauerte beinahe zwei Jahre, bis seine Ehe wieder intakt war.

„Ich hatte geglaubt, dass ich Menschen im Wort Gottes aufbaue“, sagte Bob. „Schließlich erkannte ich, dass ich nichts aufgebaut hatte. Die Leute baten um Vergebung und verschwanden dann. Wir redeten über die Bibel, aber wir wussten nicht, wie wir das anwenden sollten, was wir lernten.“

Innerhalb von drei kurzen Monaten wurde diese „liebevolle“ Gruppe durch all die unbewältigten Verletzungen stark geschwächt. Die Teilnehmer zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Millie und ihr Ehemann verließen die Gemeinde und zogen bald in einen anderen Bundesstaat.

Auch Bob und Carol kehrten der Gemeinde den Rücken. Es sollte vier Jahre dauern, bis sie wieder Vertrauen zu anderen Christen gefasst hatten. Als Bob später noch einmal über alles nachdachte, kam er zu dem Schluss: „Wir wussten wahrscheinlich gar nicht, was wir da taten.“

Damit hatte er recht. Alle Beteiligten, auch wir Leiter verfügten damals nicht über die emotionale und geistliche Reife, um die Probleme an der Wurzel zu packen und der Kleingruppe zu helfen.

Die emotionalen Komponenten geistlicher Reife erkennen

Obwohl wir so großes Gewicht auf die Ausbildung von Kleingruppenleitern gelegt und so viel Energie in sie investiert hatten, begriffen wir nicht, welchen unverzichtbaren Stellenwert emotionale Komponenten einnahmen, um geistliche Reife zu fördern. Unser Jüngerschaftsmodell beinhaltete nicht, von einer emotionalen „Säuglings“- oder „Pubertätsstufe“ in emotionales Erwachsensein hineinzuwachsen. Konflikte zu lösen heißt beispielsweise nicht, ein paar einfache Schritte zu gehen. Das in einer biblischen Weise zu tun erfordert nicht nur, dass man Matthäus 18,15-18 kennt. Erst später erkannten wir, dass man eine Reihe anderer biblischer Wahrheiten anwenden musste, um Konflikte professionell und reif zu lösen.

Dazu gehört auch, dass man sich klarmacht, wie in der eigenen Herkunftsfamilie mit Konflikten umgegangen wurde. Wurden sie eher vermieden, oder kam es zum offenen Angriff oder zum Ablenkungsmanöver. Es geht darum, sich der eigenen Zerbrochenheit bewusst zu sein und andere mit den Augen Jesu anzusehen.

Damals wussten wir, dass etwas mit unserer Ausbildung von Kleingruppenleitern und dem Aufbau von gesunden Gemeinden nicht stimmte. Wie ich in Kapitel 1 schon andeutete: Wie die Leiter, so die Gemeinde. Wir können keine seelisch gesunde Gemeinde aufbauen, wenn wir selbst nicht die Probleme unter der Oberfläche unseres Lebens angehen.

Teil 2 dieses Buches legt eine biblische Basis für dieses neue, dringend notwendige Modell von Jüngerschaft vor.

Teil 2
DIE BIBLISCHE BASIS FÜR EIN NEUES MODELL VON JÜNGERSCHAFT

3. Das Neuland der Jüngerschaft – emotionale Gesundheit

Mit einem Atemstoß machte uns Gott zu Menschen. Dennoch schneiden wir heute irgendwie den emotionalen Teil unserer Persönlichkeit aus uns heraus, weil wir ihn für suspekt, belanglos oder zweitrangig halten. Heutige Jüngerschaftsmodelle stellen oft die geistlichen über die körperlichen, emotionalen, sozialen und intellektuellen Komponenten unseres Wesens. Allerdings gestattet gute biblische Theologie nirgendwo eine solche Trennung.

Die heute benötigte kopernikanische Wende

Mindestens 1400 Jahre lang war es allgemein anerkannt und „mathematisch bewiesen“, dass die Erde das Zentrum des Universums ist. Hatte das Ptolemäus, der große antike griechische Astronom, nicht nachgewiesen? Jeder akzeptierte als Gegebenheit, dass die Sonne und das Universum sich um die Erde drehten. Dann hinterfragte Kopernikus, ein polnischer Wissenschaftler, diese Annahme im 16. Jahrhundert, später gefolgt von Galileo. Sie sahen die Probleme und Ungereimtheiten in dieser althergebrachten Weltsicht und präsentierten ein fundamental neues Modell. Ihrer Analyse zufolge war die Erde nur einer von vielen Planeten, die die Sonne in einem unermesslichen Universum umkreisten. Galileo ging sogar noch weiter und sagte, dass selbst die Sonne nur eine kleine Spielfigur in einer unzählbaren Menge von Galaxien ist.

Dieses neue Modell oder diese neue Sicht der Realität erschütterte die Fundamente dessen, wie Gesellschaft und Kirche sich selbst sahen. Es war zutiefst beunruhigend zuzugeben, dass die Menschen nur ein kleiner Fleck in einer riesigen Galaxie sind. Für solch eine frevelhafte Sicht auf das Universum und deren Folgen für den Glauben der Menschen wurde Galileo nach Rom zitiert, als „dringend der Ketzerei verdächtig“ befunden und schließlich zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Ihm wurde auch verboten, Schriften zu veröffentlichen. (Gemessen an dem, was zu seiner Zeit üblich war, kam er noch ziemlich glimpflich davon!)

Der Wandel vom ptolemäischen Weltbild zum kopernikanischen vollzog sich als Ergebnis von Beweisen dafür, dass die alte Sichtweise nicht mehr schlüssig war. Je mehr Galileo die Bewegung der Sterne und Planeten im Licht des ptolemäischen Systems studierte, desto klarer wurde, dass dieses System falsch war. Von diesem Punkt an begann jeder, das Universum durch eine neue Brille zu sehen. Alle möglichen früheren Informationen und Daten konnten nun auf neue Art und Weise betrachtet und analysiert werden. Einen Wandel wie diesen, hin zu einem neuen Modell oder Paradigma, kann man als eine Art von Bekehrung betrachten.

Ich benutze den Begriff Paradigma mit Absicht. Er wurde durch Thomas Kuhns Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bekannt gemacht. Er definiert ein Paradigma als die Art, wie die Realität gesehen und über sie nachgedacht wird. Es ist die Linse, der Filter, durch den wir die Daten und Informationen unseres Lebens interpretieren. Für Kuhn können sich Revolutionen im wissenschaftlichen Denken nur ereignen, wenn Menschen in der Lage sind, ein altes Sicht- und Denkmuster zu durchbrechen und zu etwas Neuem zu gelangen.

Heute benutzen wir immer noch den Ausdruck kopernikanische Wende, um eine völlig neue Sichtweise auf das Leben zu beschreiben, eine Sichtweise, die die Fundamente von dem erschüttert, wie wir fühlen, denken oder etwas sehen. Ich glaube, dass die These dieses Buches – emotionale Gesundheit und geistliche Gesundheit sind untrennbar miteinander verbunden – für viele in der christlichen Gesellschaft einer kopernikanischen Wende gleichkommen wird.2 Es ist für einen Christen nicht möglich, geistlich reif zu sein, während er emotional unreif bleibt.

Aus irgendeinem Grund lebt die überwiegende Mehrheit von Christen heute jedoch so, als ob diese beiden Bereiche keine Schnittstelle haben. Unser Maßstab von dem, was es heißt, „geistlich“ zu sein, geht völlig an vielen krassen Ungereimtheiten vorbei. Wir haben gelernt zu akzeptieren, dass

Plato in der Gemeinde

Woher haben wir den Gedanken, dass wir geistliche Reife erlangen können, ohne die emotionalen Aspekte unseres Wesens einzubeziehen? Woher kommt die hintergründige Voreingenommenheit, die die geistlichen über die körperlichen, emotionalen, sozialen und intellektuellen Komponenten unseres Wesens stellt?

Die Antwort ist vielschichtig, aber sie kann auf den Einfluss des griechischen Philosophen Plato zurückgeführt werden, der einige Jahrhunderte vor Christus lebte. Sein Einfluss auf eine Reihe von Persönlichkeiten in der Kirchengeschichte wie
z. B. Augustin wirkt sich auch heute noch auf uns aus.

Die unausgesprochene Botschaft in vielen Gemeinden ist: „Der Körper ist schlecht. Der Geist ist gut.“ Irgendwie hat sich in unsere Gemeinden die hintergründige Botschaft eingeschlichen, dass menschlich zu sein, emotional zu sein, irgendwie sündig ist – oder zumindest weniger wert ist, als geistlich zu sein. Das stammt viel mehr aus dem Platonismus und der Gnostik als aus der Heiligen Schrift.3

Die meisten Menschen konzentrieren sich nur auf die geistlichen Aspekte, wenn es darum geht, in das Bild Gottes geformt zu werden (1. Mose 1,26f.; 5,1; 9,6; Psalm 8,5; Römer 8,29; 1. Korinther 11,7; 15,49; Epheser 4,24; Kolosser 1,15; 3,11; 1. Johannes 3,2). Wir denken daran, unser Leben in Bereichen wie Gebet, Bibellese, Nächstenliebe, Spenden und Anbetung jesusgemäß zu gestalten.

Das einzige Problem ist, dass wir mehr als nur geistliche Wesen sind. Gott hat uns als ganzen Menschen geschaffen, wir sind sein Ebenbild (1. Mose 1,27). Dazu gehört die physische, geistliche, emotionale, intellektuelle und soziale Dimension, wie es in der folgenden Illustration abgebildet ist:

Kreis2.jpg

Auch nur einen einzigen Aspekt dessen zu verleugnen, was es heißt, ein vollkommen menschliches, nach dem Bild Gottes erschaffenes Wesen zu sein, hat katastrophale langfristige Folgen – in der Beziehung zu Gott, zu anderen und zu uns selbst. Ungesunde Entwicklungen sind unvermeidbar, wenn wir uns nicht als ganze Menschen verstehen, die im Bild unseres Schöpfergottes erschaffen sind. Aus irgendeinem Grund wird jedoch unser Geist über die anderen entscheidenden Aspekte erhoben, die uns zu Menschen machen. Wir ignorieren:

Mit der Zeit hat dieses unbiblische Paradigma zu einer Haltung geführt, die Gefühle und Emotionen als dem Heiligen Geist gegenläufig betrachtet (besonders Wut, die zu einer der sieben Todsünden zählt, obwohl die Schrift lehrt: „Sündigt nicht, wenn ihr zornig seid“ und „Lasst euch Zeit, ehe ihr ... zornig werdet“). Nach Ansicht vieler Menschen heute ist das Unterdrücken von Gefühlen und Emotionen in einen Status der Geistlichkeit oder Tugend erhoben worden. Wut zu leugnen, Schmerz zu ignorieren, Depressionen zu übergehen, vor Einsamkeit davonzulaufen, verwirrende Gedanken zu vermeiden und unsere Sexualität abzuschalten ist eine Art geistlichen Lebens geworden.

In The Cry of the Soul beschreiben Dan Allender und Tremper Longman, warum es so wichtig ist, auf unsere Gefühle zu hören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen:

Jesus – Gott und Mensch zugleich

Seitdem ich Christ bin, habe ich immer wieder die Betonung auf den Gott gelegt, der Jesus heißt. Nur habe ich mich nie wirklich für die menschliche Seite von Jesus interessiert und auch nicht für meine eigene.

Meine Tagebucheinträge und aufgeschriebenen Gebete bestätigten, dass der Jesus, den ich anbetete und dem ich die ersten siebzehn Jahre meines Lebens als Christ folgte, nicht sehr menschlich war. Und ich auch nicht.

Eine der frühen Irrlehren in der Kirche war der Doketismus, der Glaube, dass Christus aufgrund des unüberwindbaren Unterschieds zwischen der göttlichen und der menschlichen Welt nicht wirklich Mensch geworden sei. Manche glaubten daher, dass Jesus nur Mensch zu sein schien, aber nie seine göttliche Natur oder sein göttliches Wesen aufgegeben hatte. Während ich intellektuell nicht an solch eine unbiblische Vorstellung glaubte, untermauerte mein Leben mit Gott nicht das, was ich verkündete. Ich ignorierte meine menschlichen Grenzen und riss mir ein Bein aus, um immer mehr für Gott zu tun. Negative Gefühle wie Wut oder Depression betrachtete ich als gegen Gott gerichtet und vermied sie. Ich tappte in die Falle und dachte wirklich, den ganzen Tag zu beten und Bibel zu lesen sei geistlicher, als zu putzen, zu waschen und nach den Kindern zu sehen.

Auf dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 n. Chr. erklärten die Kirchenführer, dass Jesus ganz Gott und ganz Mensch war – eine weitverbreitete, historische Interpretation der Bibel, der auch ich zustimme. Das Konzil bestätigte, dass Gott unseren Planeten als das fleischgewordene Wort besucht und unter uns gewohnt hat (Johannes 1,14). Es definierte die Beziehung der zwei Naturen von Christus als miteinander verbunden, aber unverwechselbar und untrennbar.

Der Jesus, den ich anbetete, war im Gegensatz dazu sehr viel Gott und weniger Mensch. Ich verstand zum Beispiel nie den Bericht über Jesus in Gethsemane. Hier sehen wir einen ganz und gar menschlichen Jesus – emotional niedergeschlagen, psychisch verwirrt und geistlich überfordert. Er wird an den Rand seiner menschlichen Grenzen getrieben. Wir sehen, wie er zu Boden fällt. „Er war von Angst erfüllt und betete noch heftiger und kämpfte so sehr, dass sein Schweiß wie Blut auf die Erde tropfte“ (Lukas 22,44). Ich hatte nie in Erwägung gezogen, dass Jesus unter solcher Art von emotionalem Stress stand. Kein Wunder, dass manche Menschen diesen fleischlichen, menschlichen, kämpfenden Jesus ablehnen, der sich nicht 100-prozentig sicher ist, was Gottes Wille ist.

Was mir Kummer macht, sind die vielen christlichen Leiter, die emotional wie betäubt sind. Sie sind sich ihrer Gefühle gar nicht bewusst. Wenn man sie fragt, wie sie sich fühlen, kann es sein, dass sie tatsächlich den Ausdruck „ich fühle“ benutzen, aber in Wirklichkeit treffen sie nur eine Aussage über eine Tatsache oder über das, was sie denken. Ihre Gefühle sind tiefgefroren. Ihre Körpersprache, ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck zeigen an, dass Gefühle da sind, aber sie sind sich dieser nicht so bewusst, dass sie sie identifizieren könnten. Selbst als die eher emotionalen Typen sind wir uns der Tiefe, die hinter unseren Gefühlen steckt, oft nicht bewusst.

Unsere äußerliche und innerliche Welt

Ich war ein Schwindler und wusste es nicht. Wie die meisten christlichen Leiter arbeitete ich hart daran, ein engagierter und liebevoller Christ zu sein. Ich mühte mich ab, Menschen zu dienen, zu vergeben, mich zu demütigen und voller Freude zu sein. Das Problem war, dass ich mich einen Großteil der Zeit über elend fühlte und dies keinem eingestehen konnte, auch nicht mir selbst.

Ich konnte mich einfach nicht dazu bewegen, es zu glauben. Meine innerliche Welt war nicht im Einklang mit meinem äußerlichen Verhalten. Die Bibel kennt ein Wort für diese Kluft, ein Wort, das Jesus wiederholt für die religiösen Führer gebrauchte: Heuchler (siehe Matthäus 23). Wörtlich bedeutet das dort gebrauchte Wort „Schauspielerei“. Besonders beängstigend ist, dass diese „Schauspielerei“ in unseren Gemeinden oft gelehrt und erwartet wird. Das Ergebnis ist, dass zahllose Menschen den Zwiespalt zwischen ihrer äußerlichen und innerlichen Welt absolut nicht wahrnehmen.

Mit „äußerlicher Welt“ meine ich die Menschen, zu denen wir in Beziehung stehen, und die Dinge, die um uns herum vorgehen. Unsere „innerliche Welt“ ist das, was wir fühlen, wertschätzen, ehren, hoch achten, lieben, hassen, fürchten und woran wir glauben.

Gott wahrhaftig mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und all unserer Kraft zu lieben erfordert, dass wir nicht nur Gott, sondern auch unser Inneres kennen – das Wesen unseres eigenen Herzens, unserer Seele und unseres Verstandes. Diese Welt der Gefühle, Gedanken, Wünsche und Hoffnungen in all ihrer Fülle und Vielschichtigkeit zu verstehen ist Schwerstarbeit. Es erfordert auch Zeit – und zwar eine ganze Menge.

Mein Dilemma – das unser aller Dilemma ist – bestand jahrelang darin, dass ich zu beschäftigt damit war, eine größere Gemeinde aufzubauen und nach Wegen zu suchen, mehr Einfluss zu bekommen. Wer hatte schon Zeit für diese Art düstere Selbstprüfung? Würde Zeit zum Nachdenken nicht das Werk Gottes ausbremsen? Was konnte schon Gutes für Gott und andere dabei herauskommen, wenn ich in meine unbewussten oder unbekannten Wünsche, Ängste und Hoffnungen hineinblickte?

Es ist schmerzhaft, einen ersten tief gehenden, langen Blick ins Innere unseres Herzens zu werfen. Jeremia 17,9 bestätigt: „Nichts auf dieser Welt ist so hinterhältig und verschlagen wie das Herz des Menschen. Wer kann es durchschauen?“ Der Grund hierfür geht auf den Sündenfall im Garten Eden zurück. Seitdem sind wir getrennt von Gott, abgesondert voneinander und in uns selbst zerrissen. Scham, Einsamkeit, Verstecken, Selbstschutz, Lügen und andere emotionale Schmerzen kennzeichnen Adam und Eva in 1. Mose 3. Diese Reaktionen charakterisieren auch jeden von uns.

Aus diesem Grund sind Arbeit, Energie, Unannehmlichkeiten, Zeit, Mut, Zurückgezogenheit und ein solides Verständnis der Gnade Gottes im Evangelium notwendig, um Jesus immer ähnlicher werden zu können.

Eine zweite „Bekehrung“

Ursprünglich hatte ich geglaubt, dass meine Bekehrung zu Jesus Christus als Retter und Herr meine völlige Auslieferung sei. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das erst der Anfang war.

Ich war schon 17 Jahre lang Christ, als ich die Verbindung zwischen Spiritualität und seelischer Gesundheit entdeckte. Ich kam mir wie ein Baby vor, das wieder ganz neu das Krabbeln lernen musste. Ich benutzte Muskeln, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte, und ich erforschte innere Bereiche, die bis dahin unberührt geblieben waren.

Ich hatte die emotionale Komponente meines Strebens nach Gott außer Acht gelassen. Meinem Glauben fehlte es an Sprachfähigkeit und theologischer Tiefe. Es spielte keine Rolle, wie viele Bücher ich lesen oder Seminare ich besuchen würde, um mich fachlich weiterzubilden. Es spielte keine Rolle, wie viele Jahre verstreichen würden, ob 17 oder weitere 50. Ich würde so lange in seelischer Hinsicht ein Kleinkind bleiben, bis die emotionale Komponente von Gottes Ebenbildlichkeit in mir offengelegt und ich durch Jesus Christus verwandelt werden würde. Das geistliche Fundament, auf das ich mein Leben gebaut und das ich an andere weitergegeben hatte, war rissig. Das konnte ich vor den Menschen, die mir am nächsten standen, unmöglich verbergen.

Aufgrund meiner mangelnden Aufmerksamkeit Gott gegenüber und dem, was in meinem Innern vorging, verpasste ich so vieles, was Gott mir schenken wollte. Gott kam auf liebevolle Art und sprach zu mir durch meinen Schmerz. Er lud mich ein, mich zu verändern, aber ich hatte kein Ohr für ihn. Ich hätte nie erwartet, dass Gott mir durch Gefühle wie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Wut begegnen konnte.

Als ich dann schließlich die Verbindung zwischen seelischer und geistlicher Gesundheit entdeckte, bedeutete dies den Anfang einer kopernikanischen Wende – und das war für mich beängstigend. Ich kam mir so vor, als würde ich meine geistlichen Vorfahren verraten, die mich geprägt hatten. Das Schiff hatte den Hafen verlassen und ich wusste noch nicht, worauf es zusteuerte. Aber es gab kein Zurück mehr.

Dieses revolutionäre Paradigma – dass seelische Gesundheit und geistliche Reife untrennbar miteinander verbunden sind – war etwas völlig Neues für meine persönliche Entwicklung und für New Life Fellowship. Es wirkte sich auf jeden Bereich unseres Gemeindelebens aus, angefangen bei den Predigten und Leitertreffen bis hin zu Seminaren, Seelsorge, den Vorstandssitzungen und den Gottesdiensten am Sonntag. Die Dinge, die allzu oft als unbedeutend oder unvollkommen gesehen wurden, rückten nun in den Mittelpunkt und schoben das Große und Spektakuläre zur Seite. Die Frucht, die daraus erwuchs, war beeindruckend.

Ich entdeckte wieder ganz neu die Liebe und Gnade Gottes auf einer ganz anderen Ebene. Mein geistliches Leben mit Jesus blühte auf. Für Geri und mich war es nun oberste Priorität in unserer Nachfolge, in unsere Ehe zu investieren. Schon bald zog eine neu entdeckte Freude in unserer Beziehung ein. Wir schmeckten Gottes Herrlichkeit und nahmen uns vor, die Gemeinde aus der neu gewonnenen Kraft unserer Ehe heraus zu leiten. Die letzten 15 Jahre waren ein Traum, der sich erfüllt hatte. Unsere vier Töchter und auch die Gemeinde profitierten davon, dass ich als Vater und Gemeindeleiter authentischer und ehrlicher lebte. Und schließlich kehrte auch wieder die Freude am Leiten und am Dienst für Christus zurück. Ich erkannte, dass Jesu Joch keine Bürde und seine Last leicht ist – selbst wenn man Pastor und Leiter ist! Es gibt wirklich einen anderen Weg, Leiterschaft in der Gemeinde zu praktizieren.

Haben alle Christen den Mut, die Kraft des Evangeliums in die Seele unserer Person dringen zu lassen, um noch unberührte Teile unseres Eisbergs aufzudecken? Habe ich den Mut? Haben Sie den Mut? Blättern Sie die Seite um und entdecken Sie, wo Sie nach dem Maßstab der Bibel persönlich stehen. Dann werden Sie erkennen, ob Sie in seelischer und emotionaler Hinsicht ein Säugling, ein Kind, ein Jugendlicher oder ein Erwachsener sind.

2 Das ist eine komplizierte Frage, wenn man es mit geistig behinderten oder psychisch kranken Menschen zu tun hat, bei denen man für die Bewertung der emotionalen Reife neurobiologische Faktoren einbeziehen muss. Eine ausgezeichnete Einleitung zum besseren Verständnis der Grundstruktur und Chemie des Gehirns und wie es unsere Gefühle und unser Verhalten prägt, findet man in dem Buch von John Ratey, Das menschliche Gehirn: eine Gebrauchsanweisung. Düsseldorf; Zürich: Walter, 2001.

3 Richard Foster, Viele Quellen hat der Strom: aus dem Reichtum der Glaubensgeschichte schöpfen. Wuppertal: R. Brockhaus, 2006.

4 Dan Allender und Tremper Longman III., The Cry of the Soul: How our Emotions Reveal our Deepest Questions about God. Dallas: Word, 1994.