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Übersetzung aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner

 

© Moose Publishing SA

Titel der französichen Originalausgabe:

»Les derniers jours de nos pères«, Éditions de Fallois 2010

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Rothfos & Gabler

Coverabbildung: Jesús Acevedo González

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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Meiner lieben Maminou

und meinem lieben Jean,

 

im Gedenken an Vladimir Dimitrijević.

 

»Aber denke niemals, der Krieg, egal wie erforderlich
oder wie begründet er ist, sei kein Verbrechen.
Frag die Infanteristen und frag die Toten.«

 

ERNEST HEMINGWAY

Einleitung zu Treasury for the Free World

ERSTER TEIL

1

Mögen alle Väter der Welt, die uns bald verlassen,
wissen, in welcher Gefahr wir uns ohne sie befinden.

Sie haben uns das Laufen gelehrt,
wir werden nicht mehr laufen.

Sie haben uns das Sprechen gelehrt,
wir werden nicht mehr sprechen.

Sie haben uns zu leben gelehrt,
wir werden nicht mehr leben.

Sie haben uns gelehrt, wie man ein Mensch wird,
wir werden nicht einmal mehr Menschen sein.
Wir werden nichts mehr sein.

 

Sie saßen im Morgengrauen auf dem Hügel und rauchten, sahen den Wolken im schwarzen Himmel über England beim Tanzen zu. Und Pal sprach sein Gedicht. Von der Nacht verborgen, dachte er an seinen Vater.

In der Dunkelheit glühten die Kippen auf. Sie hatten sich angewöhnt, sich dort in den ersten Morgenstunden zum Rauchen zu treffen. Sie rauchten, um einander Gesellschaft zu leisten, sie rauchten, um nicht zu verzweifeln, sie rauchten, um nicht zu vergessen, dass sie noch Menschen waren.

Gros, der Dicke, fiepte wie ein streunender Köter im Gebüsch, kläffte, dass es die Feldmäuse im feuchten Gras aufscheuchte, und Pal schnauzte den falschen Hund an:

»Hör auf, Gros! Heute müssen wir traurig sein!«

Nach drei Aufforderungen gab Gros schließlich klein bei, trottete wie ein schmollendes Kind um den Halbkreis, den die etwa zehn Gestalten bildeten, und setzte sich dann zu den Schweigsamen, zwischen Grenouille, den Depressiven, und Prunier, den unglücklichen Stotterer, der insgeheim die Worte liebte.

»Woran denkst du, Pal?«, fragte Gros.

»An alles Mögliche …«

»Denk an nichts Schlechtes, denk nur an schöne Sachen.«

Seine schwere, pummelige Hand suchte die Schulter des Kameraden.

Von der Freitreppe des großen Herrenhauses, das vor ihnen aufragte, wurde nach ihnen gerufen. Gleich sollte das Training beginnen. Und schon sputeten sich alle; Pal blieb noch einen Augenblick sitzen und lauschte in den raunenden Nebel. Er dachte wieder an den Moment seiner Abreise aus Paris. Er dachte ständig daran, jeden Abend, jeden Morgen. Aber vor allem morgens. Es war jetzt genau zwei Monate her, dass er aufgebrochen war.

Es war Anfang September gewesen, noch ehe der Herbst kam. Er hatte nicht mehr untätig bleiben können: Man musste die Menschheit, die Väter verteidigen. Er musste seinen Vater verteidigen, obwohl er sich vor Jahren, als das Schicksal ihnen die Mutter entriss, geschworen hatte, ihn niemals allein zu lassen. Der gute Sohn und der einsame Witwer. Doch dann hatte der Krieg sie eingeholt, und die Entscheidung für den bewaffneten Kampf bedeutete zugleich, dass er den Vater im Stich lassen musste. Im August schon hatte er gewusst, dass er losziehen würde, es ihm aber nicht sagen können. Erst am Vorabend seiner Abreise, nach dem Abendessen, fand er den Mut, sich von ihm zu verabschieden.

»Warum du?«, fragte der Vater sehr leise.

»Einer muss es doch tun. Deshalb.«

Liebe und Schmerz standen ihm ins Gesicht geschrieben, als er seinen Sohn umarmte, um ihm Mut zu machen.

Die ganze Nacht lang weinte der Vater hinter seiner Schlafzimmertür. Er weinte vor Trauer, und doch fand er, dass sein zweiundzwanzigjähriger Sohn ungeheuer mutig war. Pal stand vor dieser Tür und lauschte den Schluchzern. Und hasste sich plötzlich so sehr dafür, dass sein Vater seinetwegen weinen musste, dass er sich mit seinem Taschenmesser in die Brust schnitt, bis es blutete. In einem Spiegel betrachtete er seinen gemarterten Leib, beschimpfte sich und bohrte das Messer auf Höhe des Herzens noch tiefer ins Fleisch, um sicherzugehen, dass eine Narbe zurückblieb, die nie verschwinden würde.

Am nächsten Morgen kochte ihm sein verzweifelter Vater, während er im Morgenrock durchs Zimmer tigerte, einen starken Kaffee. Pal setzte sich an den Küchentisch, mit Schuhen an den Füßen und dem Hut auf dem Kopf, und trank langsam seinen Kaffee, um den Abschied noch hinauszuzögern. Es war der beste Kaffee, den er jemals trinken würde.

»Hast du gute Kleidung mitgenommen?«, fragte der Vater mit einem Blick auf die Tasche, die neben dem Sohn bereitstand.

»Ja.«

»Lass mich nachschauen. Du brauchst warme Sachen, der Winter wird kalt werden.«

Und der Vater steckte noch mehr Kleidungsstücke in die Tasche, Wurst und etwas Käse und ein wenig Geld. Drei Mal leerte er die Tasche wieder aus, drei Mal legte er alles wieder hinein. »Ich werde es dir besser einpacken«, sagte er jedes Mal in dem Versuch, das unausweichliche Schicksal hinauszuzögern. Und als es nichts mehr gab, was er hätte tun können, gab er sich der Angst und Verzweiflung hin.

»Was soll nun aus mir werden?«, fragte er.

»Ich bin bald wieder zurück.«

»Ich werde eine solche Angst um dich haben!«

»Das darfst du nicht …«

»Ich werde jeden Tag Angst haben!«

Ja, bis sein Sohn wieder bei ihm war, könnte er weder essen noch schlafen. Er wäre von nun an der unglücklichste aller Menschen.

»Wirst du mir schreiben?«

»Sicher, Papa.«

»Und ich werde immer auf dich warten.« Er drückte seinen Sohn an sich.

»Du musst weiter etwas lernen«, setzte er hinzu. »Bildung ist wichtig. Wären die Menschen nicht so dumm, gäbe es keinen Krieg.«

Pal nickte.

»Wären die Menschen nicht so dumm, wären wir nicht an diesem Punkt angelangt.«

»Ja, Papa.«

»Ich habe dir Bücher mitgegeben …«

»Ich weiß.«

»Bücher sind wichtig.«

Da packte der Vater in einem Ausbruch wütender Verzweiflung seinen Sohn bei den Schultern. »Versprich mir, dass du nicht sterben wirst!«

»Das verspreche ich dir.«

Pal nahm die Tasche und umarmte seinen Vater. Ein letztes Mal.

Im Flur hielt der Vater ihn noch einmal zurück: »Warte! Du vergisst den Schlüssel! Wie sollst du zurückkommen, wenn du keinen Schlüssel hast!«

Pal wollte keinen. Wer nicht zurückkommt, nimmt auch keinen Schlüssel mit. Um seinem Vater nicht noch mehr zu ängstigen, murmelte er nur: »Ich will nicht riskieren, ihn zu verlieren.«

Der Vater zitterte. »Natürlich! Das wäre ärgerlich … Wie solltest du dann reinkommen … Also, schau her, ich lege ihn hier unter die Fußmatte. Da wird dieser Schlüssel immer liegen, für den Fall, dass du zurückkommst.« Er überlegte einen Augenblick. »Aber wenn ihn irgendwer stiehlt? Hm … Ich werde der Concierge Bescheid geben, sie hat ja einen Zweitschlüssel. Ich werde ihr sagen, dass du verreist bist, dass sie in ihrer Loge bleiben muss, wenn ich nicht da bin, genauso wie ich nicht ausgehen darf, wenn sie nicht in ihrer Loge ist. Ja, ich werde ihr sagen, dass sie gut aufpassen soll und dass sie an Neujahr das doppelte Trinkgeld bekommt.«

»Sag der Concierge nichts.«

»Nichts sagen, einverstanden. Dann werde ich die Tür nicht mehr abschließen, weder tags noch nachts noch überhaupt. So besteht keine Gefahr, dass du nicht mehr hereinkommst.«

Dem folgte ein langes Schweigen.

»Auf Wiedersehen, mein Sohn«, sagte der Vater.

»Auf Wiedersehen, Papa«, sagte der Sohn.

Pal flüsterte noch »ich liebe dich, Papa«, aber sein Vater hatte es nicht gehört.

2

In schlaflosen Nächten schlich Pal sich aus dem Saal, in dem seine Kameraden, erschöpft von der Ausbildung, ratzten wie die Murmeltiere. Er wanderte durch das eiskalte Landhaus, durch das der Wind pfiff, als gäbe es weder Türen noch Fenster. Er fühlte sich wie das schottische Gespenst aus dem Chanson von Lily Fayol, er war der »Wandernde Franzose«. Er ging an den Küchen vorbei, an der Messe, durchquerte die große Bibliothek. Er sah auf seine Uhr, dann auf die Wanduhren, und rechnete nach, wie lange es noch dauerte, bevor er mit den anderen rauchen gehen konnte.

Um die trüben Gedanken zu verscheuchen und sich die Zeit zu vertreiben, dachte er sich manchmal eine lustige Geschichte aus, und wenn er sie gut fand, schrieb er sie auf, damit er sie am nächsten Tag den anderen Rekruten erzählen konnte. Wenn er nicht mehr wusste, was er sonst noch tun sollte, ließ er Wasser über seine schmerzenden Muskeln oder Wunden laufen und flüsterte seinen Namen in den Siphon des Waschbeckens, Paul-Émile, Pal, wie man ihn hier nannte, denn fast jeder hatte einen Spitznamen bekommen. Neues Leben, neuer Name.

Alles hatte Monate zuvor in Paris begonnen, als er mit Marchaux, einem seiner Freunde, Lothringerkreuze auf eine Wand gemalt hatte. Beim ersten Mal war alles gut gegangen. Also hatten sie es noch einmal versucht. Das zweite Mal fand an einem späten Nachmittag in einer Gasse statt. Marchaux stand Wache, Pal schwang den Pinsel. Als er gerade ganz vertieft war, spürte er, wie eine Hand ihn am Arm packte, und eine Stimme rief »Gestapo!«. Ihm blieb das Herz stehen, und er drehte sich um.

Ein großer Kerl hielt mit einer Hand ihn fest, Marchaux mit der anderen. »Ihr Idioten«, schimpfte der Mann, »wollt ihr wegen ein bisschen Farbe ins Gras beißen? Wände beschmieren, das bringt doch nichts!« Der Kerl war nicht von der Gestapo. Ganz im Gegenteil. Marchaux und Pal hatten ihn danach noch zwei Mal gesehen. Das dritte Treffen hatte dann im Hinterzimmer eines Cafés im Quartier des Batignolles stattgefunden, zusammen mit einem Fremden, offensichtlich einem Engländer. Der Fremde hatte ihnen erklärt, er sei auf der Suche nach mutigen Franzosen, die bereit seien, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen.

Und so waren sie aufgebrochen. Pal und Marchaux. Ein Schleusernetz brachte sie über die Freie Zone und die Pyrenäen nach Spanien. Dort beschloss Marchaux, sich nach Algerien durchzuschlagen. Paul wollte weiter nach London. Es hieß, dort spiele die Musik. Er schaffte es bis nach Portugal, und von dort flog er nach England.

Bei seiner Ankunft in London musste er das Verhörzentrum von Wandsworth durchlaufen – eine Pflicht für alle Franzosen, die in Großbritannien landeten –, und so defilierte er in der großen Menge von Feiglingen, Tapferen, Patrioten, Kommunisten, Raufbolden, Veteranen, Verzweifelten und Idealisten am Rekrutierungsdienst der britischen Armee vorbei. Das brüderliche Europa ging unter wie ein Schiff, bei dessen Bau man geschludert hatte. Seit zwei Jahren herrschte Krieg auf den Straßen und in den Herzen, und von jedem forderte er seinen Teil.

Er war nicht lange in Wandsworth geblieben. Man hatte ihn schnell nach Northumberland House gebracht, ein ehemaliges Hotel neben dem Trafalgar Square, das vom Verteidigungsministerium beschlagnahmt worden war. Dort führte er in einem kahlen, eiskalten Raum Gespräche mit Roger Calland, selbst ein Franzose.

Die Unterredungen zogen sich über mehrere Tage hin: Calland, ursprünglich Psychiater von Beruf, agierte als Anwerber der SOE – Special Operations Executive –, einer geheimen Einsatztruppe des britischen Secret Service. Man interessierte sich für Pal. Der junge Mann hatte – ahnungslos, welches Schicksal ihn erwartete – voller Elan die Fragen und Formulare beantwortet, froh, seinen kleinen Beitrag zum Krieg leisten zu können. Sollte man ihn als MG-Schütze gebrauchen können, dann würde er MG-Schütze werden, und wie er schießen würde von seinem Geschützturm! Wenn sie Mechaniker brauchten, dann würde er eben Mechaniker werden und die Schrauben und Muttern anziehen wie kein Zweiter. Und wenn die Engländer ihm die Rolle eines kleinen Gehilfen in einer Propagandadruckerei zuweisen würden, dann würde er mit Begeisterung die Farbbehälter schleppen.

Aber Calland war schnell der Meinung, dass Pal alles besaß, was einen guten Agenten im Außeneinsatz der SOE ausmachte. Er war ein ruhiger und zurückhaltender junger Mann mit sanftem, ziemlich hübschem Gesicht und kräftigem Körperbau. Und er war ein leidenschaftlicher Patriot, aber keiner dieser Hitzköpfe, die eine ganze Kompanie ins Verderben stürzen konnten, auch keiner, der aus Liebeskummer in den Krieg ziehen wollte, um dort zu sterben. Er konnte sich gut ausdrücken, vernünftig und eindringlich, und es hatte Calland sehr amüsiert, als Pal ihm gesagt hatte, er würde zwar liebend gern in einer Druckerei arbeiten, aber das müsse man ihm schon ein wenig beibringen, denn mit dem Drucken kenne er sich nicht so gut aus. Er schreibe allerdings Gedichte und werde sich alle nur erdenkliche Mühe geben, schöne Flugblätter zu machen, herrliche Flugblätter, die die Bomber mit großem Tamtam abwerfen und die Piloten voller Gefühl im Cockpit deklamieren würden, denn schließlich war das Produzieren von Flugblättern auch eine Art, Krieg zu führen.

Also hatte Calland in seinen Notizen vermerkt, der junge Pal sei einer dieser wertvollen Menschen, die ihren Wert nicht kannten, sodass zu all seinen Qualitäten noch die Bescheidenheit hinzukam.

Die SOE war am Tag nach der englischen Niederlage in Dünkirchen von Churchill ins Leben gerufen worden. In dem Bewusstsein, dass er den Deutschen nicht mit einer regulären Armee entgegentreten konnte, hatte er beschlossen, sich von den Guerillabewegungen inspirieren zu lassen und hinter den feindlichen Linien zu kämpfen. Sein Konzept war bemerkenswert: Der unter britischer Leitung stehende Dienst rekrutierte Leute aus dem besetzten Europa, die man in Großbritannien trainierte und ausbildete, dann schickte er sie zielgerichtet zurück in ihr Herkunftsland, wo sie natürlich nicht auffielen. Dort sollten sie geheime Operationen ausführen – Spionage, Sabotage, Attentate, Propaganda und Aufbau von Netzwerken.

Nachdem er den jungen Mann gründlich überprüft hatte, hatte Calland schließlich das Thema SOE angeschnitten. Das war am Ende des dritten Tages in Northumberland House gewesen.

»Wärst du bereit, in Frankreich Geheimoperationen durchzuführen?«, fragte Calland ihn.

Pals Herz begann heftig zu schlagen. »Operationen welcher Art?«

»Kriegsoperationen.«

»Gefährliche?«

»Sehr.« Dann erläuterte Calland in väterlichem Ton kurz und knapp die SOE, zumindest das, was er in dem Geheimnisnebel, der die Spezialeinheit umgab, enthüllen durfte, schließlich musste der junge Mann begreifen, was sein Vorschlag beinhaltete.

Pal verstand zwar nicht alles, aber er verstand. »Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage bin«, sagte er.

Er war blass geworden, hatte er sich doch schon als pfeifenden Mechaniker gesehen, als singenden Schriftsetzer, und jetzt schlug man ihm andeutungsweise vor, er solle zum Geheimdienst gehen.

»Ich gebe dir Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Calland.

»Ja, sicher, Zeit …«

Nichts hinderte Pal daran, Nein zu sagen, nach Frankreich zurückzukehren, sein geruhsames Pariser Leben wieder aufzunehmen, seinen Vater in die Arme zu schließen und ihn nie mehr allein zu lassen. Aber im Grunde seiner aufgewühlten Seele wusste er bereits, dass er nicht ablehnen würde. Viel zu viel stand auf dem Spiel. Er hatte einen langen Weg auf sich genommen, um sich dem Kampf anzuschließen, und jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Mit Magenschmerzen und zitternden Händen war Pal wieder auf das Zimmer gegangen, in dem man ihn untergebracht hatte. Man hatte ihm zwei Tage Bedenkzeit gegeben.

Am übernächsten Tag saß Pal im Northumberland House Calland gegenüber. Zum letzten Mal. Dieses Mal führte man ihn nicht in den düsteren Verhörraum, sondern in ein angenehmes, gut geheiztes Zimmer, dessen Fenster zur Straße hinausging. Auf einem Tisch standen Kekse und Tee, und als Calland einen Augenblick nach draußen ging, stürzte Pal sich darauf. Er hatte Hunger, seit fast zwei Tagen hatte er nichts mehr gegessen, weil ihm so mulmig gewesen war. Er stopfte sich die Kekse in den Mund und schlang sie ohne zu kauen herunter. Plötzlich ließ Callands Stimme ihn hochschrecken.

»Seit wann hast du nichts mehr gegessen, Junge?«

Pal antwortete nicht. Calland musterte ihn lange. Er fand den jungen Mann attraktiv, höflich, intelligent, wahrscheinlich war er der ganze Stolz seiner Eltern. Aber er hatte Eigenschaften, die einen guten Agenten ausmachten, und das würde ihn sicher ins Verderben stürzen. Er fragte sich, warum zum Teufel dieser Unglücksjunge bloß hergekommen und nicht in Paris geblieben war. Und wie um das Schicksal abzuwenden, nahm er ihn mit in ein nahe gelegenes Café und lud ihn auf ein Sandwich ein.

Sie saßen am Tresen und aßen schweigend. Anschließend gingen sie, anstatt direkt zum Northumberland House zurückzukehren, durch die Straßen der Londoner Innenstadt. Berauscht von seinen eigenen Schritten in dieser schönen Stadt mit ihren strebsamen Bewohnern, deklamierte Pal unversehens ein von ihm verfasstes Gedicht auf seinen Vater. Da blieb Calland mitten auf der Straße stehen und legte ihm die Hände auf die Schultern:

»Geh, Junge«, sagte er. »Lauf zu deinem Vater zurück. Was dich erwartet, das hat kein Mensch verdient.«

»Ein aufrechter Mensch haut nicht einfach so ab.«

»Geh, um Himmels willen! Geh und komm nie wieder!«

»Das kann ich nicht … Ich nehme Ihren Vorschlag an!«

»Denk noch einmal darüber nach!«

»Ich habe mich entschieden. Sie müssen allerdings wissen, dass ich noch nie im Krieg war.«

»Das bringen wir dir schon bei … Hast du auch nur die geringste Ahnung, was du da vorhast?«, seufzte Calland.

»Ich glaube schon, Monsieur.«

»Nein, nichts weißt du!«

Da sah Pal ihn fest an. In seinen Augen blitzte Mut, dieser Mut der Söhne, an dem die Väter verzweifeln.

Und so dachte Pal nachts in dem Herrenhaus oft daran, wie er auf Empfehlung von Doktor Calland zur Sektion F der SOE gekommen war. Die unter englischem Kommando stehende SOE war in verschiedene Abteilungen gegliedert, die in den besetzten Ländern operierten. Aufgrund politischer Verwerfungen gab es in Frankreich mehrere davon, und Pal war in die Sektion F aufgenommen worden, die weder de Gaulle anhing – Sektion DF – noch den Kommunisten – Sektion RF – noch Gott oder sonst wem. Zur Tarnung hatte er einen militärischen Rang und eine Stammrollennummer bei der britischen Armee erhalten. Sollte man ihm Fragen stellen, musste er nur sagen, er arbeite für das Verteidigungsministerium, was in Zeiten wie diesen nichts Außergewöhnliches war.

Er verbrachte ein paar einsame Wochen in London, wo er auf den Beginn der Agentenausbildung wartete. Eingesperrt in sein kleines Zimmer, ging ihm seine Entscheidung immer wieder im Kopf herum: Er hatte seinen Vater allein gelassen, hatte ihm den Krieg vorgezogen. Wen hast du mehr geliebt?, fragte ihn sein Gewissen. Den Krieg. Unweigerlich stellte sich ihm die Frage, ob er diesen Vater, den er so liebte, je wiedersehen würde.

Anfang November war es dann in der Nähe von Guildford, in der Grafschaft Surrey, richtig losgegangen. In dem Herrenhaus. Das war jetzt bald zwei Wochen her. Wanborough Manor und sein Raucherhügel im Morgengrauen. Die erste Etappe in der Rekrutenausbildung der SOE.

3

Wanborough war ein kleiner Weiler wenige Kilometer außerhalb von Guildford, einer Stadt im Süden Londons. Es führte nur eine einzige Straße dorthin, die sich um Hügel herum zu den wenigen, teilweise mehrere Jahrhunderte alten Steinhäusern schlängelte, ehemals erbaut für das Dienstpersonal von Wanborough Manor, einem Familiensitz aus dem Jahr 1000, der im Laufe der Epochen erst Lehen, dann Abtei und dann Bauernhof gewesen war, bevor er unter größter Geheimhaltung in ein spezielles Schulungszentrum der SOE verwandelt wurde.

Während der Ausbildung, die man den Rekruten der SOE angedeihen ließ, durchliefen sie innerhalb von vier Monaten vier über ganz Großbritannien verstreute Einrichtungen, in denen die angehenden Agenten das Kriegshandwerk lernen sollten. Die erste, in der sie ungefähr vier Wochen blieben, war eine vorbereitende Schule – preliminary school –, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, die für den Beitritt zum Geheimdienst am wenigsten geeigneten Kandidaten auszusieben. Diese Schulen waren in mehreren entlegenen Herrenhäusern im Süden des Landes und in den Midlands untergebracht.

Wanborough Manor nahm vor allem die Kandidaten der Sektion F auf. Offiziell, und um die Neugier der Bewohner von Guildford zu stillen, handelte es sich um ein Trainingslager der britischen Armee. Es war ein schöner Ort, ein herrschaftliches, von Baumgruppen und Hügeln durchzogenes, direkt neben einem Wald gelegenes Anwesen. Das Hauptgebäude ragte zwischen hohen Pappeln auf, und rundum gab es noch ein paar Nebengebäude: eine große Scheune und sogar eine Steinkapelle. Pal und die anderen Rekruten gewöhnten sich schnell ein.

Aber die Selektion war erbarmungslos: einundzwanzig Mann waren sie gewesen, als sie in der Novemberkälte hier angekommen waren, inzwischen waren sie, Pal eingeschlossen, nur noch sechzehn.

Da gab es Stanislas, den englischen Anwalt, mit fünfundvierzig Jahren der Älteste der Truppe, frankofon und frankophil, zudem ehemaliger Kampfpilot.

Und Aimé, siebenunddreißig Jahre alt, einen Marseiller mit singendem Akzent, stets freundlich zu allen.

Es gab Dentiste, sechsunddreißig Jahre alt, einen Zahnarzt aus Rouen, der beim Laufen immer hechelte wie ein Hund.

Und Frank, dreiunddreißig Jahre alt, einen athletisch gebauten ehemaligen Turnlehrer aus Lyon.

Da gab es Grenouille, den Frosch – wegen seiner großen, hervortretenden Augen im hageren Gesicht –, vierundzwanzig Jahre alt, der unter Anfällen von Depression litt, die allerdings nicht verhindert hatten, dass man ihn rekrutierte.

Und Gros, siebenundzwanzig Jahre alt, der eigentlich Alain hieß, aber Gros genannt wurde, weil er so dick war. Er behauptete, das liege an einer Krankheit, doch diese Krankheit bestand einfach darin, dass er zu viel aß.

Dann war da noch Key, vierundzwanzig, aus Bordeaux, ein charismatischer Rotschopf, der sowohl die französische als auch die britische Staatsbürgerschaft besaß.

Und Faron, der Furcht einflößende Hüne, ein gewaltiger, wie für den Kampf geschaffener Muskelberg, der zudem in der französischen Armee gedient hatte.

Es gab Slaz-das-Schwein, vierundzwanzig Jahre alt, ein Nordfranzose polnischer Abstammung, untersetzt und wendig. Sein Blick war schelmisch, er hatte einen ungewöhnlich dunklen Teint, und seine Nase sah aus wie ein dicker Rüssel.

Dann gab es Prunier, den Stotterer, vierundzwanzig Jahre alt, der nie sprach, weil er sich immer verhaspelte.

Es gab Chou-Fleur, dreiundzwanzig Jahre alt, der seinen Spitznamen »Blumenkohl« den riesigen abstehenden Ohren und der viel zu großen Stirn verdankte.

Es gab Laura, zweiundzwanzig Jahre alt, blond, liebenswürdig und mit strahlenden Augen, die aus den Reichenvierteln von London stammte.

Es gab Grand Didier und Max, beide einundzwanzig Jahre alt und nicht besonders kriegstauglich, die gemeinsam aus Aix-en-Provence gekommen waren.

Und dann noch Claude, den Pfarrer, sanft wie ein Mädchen und mit neunzehn Jahren der Jüngste von ihnen, der aufs Priesterseminar verzichtet hatte, um in den Kampf zu ziehen.

Die ersten Tage waren die schwierigsten gewesen, denn keiner der Kandidaten hatte erwartet, dass die Ausbildung so hart werden würde. Viel zu anstrengend, viel zu einsam. Die Rekruten wurden im Morgengrauen geweckt; mit Bauchschmerzen zogen sie sich in ihren eiskalten Zimmern hastig an und eilten zum morgendlichen Nahkampftraining. Später bekamen sie ein üppiges Frühstück, denn sie waren nicht auf die üblichen Rationen gesetzt. Danach gab es ein wenig Theorie im Morsen oder Funken, dann ging es erneut mit schweißtreibenden Leibesübungen weiter, Laufen, Gymnastik und dann wieder Nahkampf, brutale Kämpfe, bei denen die einzige Regel lautete, dass es keine gab, solange man den Feind niederstreckte.

Die Kandidaten fielen brüllend übereinander her, droschen schonungslos aufeinander ein. Manchmal bissen sie zu, um im Kampf Mann gegen Mann voneinander loszukommen. Es gab viele Verletzungen, wenn auch keine schweren. So verging der Tag, von einigen Pausen unterbrochen, und endete am späten Nachmittag mit etwas technischeren Übungen, in denen die Ausbilder den Rekruten beibrachten, einfache, aber gefürchtete Griffe anzuwenden oder mit bloßen Händen einen mit Messer oder Pistole bewaffneten Gegner zu überwältigen. Bevor sie dann früh zu Abend aßen, durften die erschöpften Rekruten duschen.

Zu Beginn hatten sie in der Messe (dem einstigen Speisesaal des Herrenhauses) stumm und ausgehungert das Essen in sich hineingestopft, hatten zusammen am Tisch gesessen, ohne aufeinander zu achten, ohne miteinander zu sprechen, kurz, sie hatten gefressen wie die Tiere. Anschließend waren sie allein, zerschunden und voller Sorge, nicht durchzuhalten, in den Stuben in ihre Betten gefallen.

Dort hatten sie nach und nach Bekanntschaft miteinander geschlossen, die ersten Wahlverwandtschaften hatten sich herauskristallisiert. Zur Schlafenszeit machten sie Späße, erzählten sich ein paar Anekdoten, durchlebten noch einmal den Tag, um ihm seine Dramatik zu nehmen. Manchmal redeten sie über ihre Ängste, über die Angst vor den Kämpfen des nächsten Tages, nur nicht zu oft, aus Schamgefühl. Und so hatte Pal sich schnell mit Key, Gros und Claude angefreundet, seinen Stubenkameraden. Gros teilte den Vorrat an Cookies und englischen Würsten, die er in seiner Tasche mitgeschleppt hatte, mit den anderen dreien, und dann plauderten sie, Kekse knabbernd und Wurst aufschneidend, miteinander, bis der Schlaf sie übermannte. Oder sie spielten nach dem Abendessen noch lange Karten.

Im Morgengrauen versammelten sie sich auf dem Hügel, um gemeinsam zu rauchen und sich Mut zu machen. Über all dem lernten sich die Rekruten gegenseitig kennen.

Key, der kräftig war und eine ausgeprägte Persönlichkeit besaß, war einer der Ersten, mit denen Pal in der Sektion F echte Freundschaft schloss. Er strahlte eine heitere, beruhigende Ruhe aus, und man fand bei ihm stets Rat.

Aimé aus Marseille, Erfinder eines Boulespiels mit runden Ersatzsteinen, suchte Pals Gesellschaft. Er sagte ihm oft, dass er sich durch ihn an seinen eigenen Sohn erinnert fühle. Er sagte es ihm auch fast jeden Morgen auf dem Hügel, als hätte er das Gedächtnis verloren.

»Junge, woher kommst du noch mal?«

»Aus Paris.«

»Stimmt … Paris. Schöne Stadt, Paris. Kennst du Marseille?«

»Nein. Ich hatte seit gestern noch keine Gelegenheit hinzufahren.«

Aimé musste lachen. »Ich wiederhole mich, was? Es ist nur so, wenn ich dich sehe, denk ich an meinen Sohn.«

Key behauptete, Aimés Sohn sei gestorben, aber keiner wagte nachzufragen.

Grenouille und Stanislas sonderten sich oft ab, um auf einem Holzbrett, das Stanislas in seinem Gepäck mitgeschleppt hatte, Schach zu spielen. Grenouille, der ein gefürchteter Spieler war, gewann fast jede Partie, und Stanislas regte sich dann auf, denn er war ein schlechter Verlierer.

»Scheißschachspiel!«, brüllte er und schleuderte die Bauern quer durch den Raum.

Das wurde stets mit Gelächter quittiert, und der freche Slaz hielt Stanislas entgegen, er sei eben schon zu alt und sein Verstand lasse nach, woraufhin Stanislas altväterlich drohte, es werde gleich ein paar Ohrfeigen setzen, die aber nie ausgeteilt wurden. Gros lief dann immer hinter Stanislas her und hob die Figuren wieder auf.

»Dein schönes Spiel darf man nicht kaputt machen, Stan«, sagte er, denn er sorgte sich um all seine Kameraden.

Gros war unter den Rekruten sicherlich der liebenswürdigste, immer um gute Stimmung bemüht, auch wenn er einem damit ganz schön auf die Nerven gehen konnte. So sang er, um seine Kameraden während der Aufwärmübungen am Morgen anzufeuern, aus voller Kehle ein peinliches, kindisches Lied: Erdbeerwoche, rote Lola. Er sprang in die Luft, längst schwitzend und außer Atem, klopfte den Rekruten, die noch nicht richtig wach waren, auf die Schulter und brüllte ihnen liebevoll in die Ohren: Erdbeerwoche, rote Lola, schubi schubi schubi-dua. Er bekam oft Püffe dafür, doch am Abend unter der Dusche ertappten sich die Kameraden selbst dabei, wie sie sein blödes Lied trällerten.

Faron, der Hüne, versicherte dagegen, die Übungen würden ihn überhaupt nicht anstrengen. Manchmal ging er sogar zusätzlich laufen, nur um seine Muskeln noch ein wenig zu fordern, und jeden Abend machte er an den Balken der Stube Klimmzüge und auf dem Boden Liegestütze. In einer schlaflosen Nacht überraschte Pal ihn in der Messe, wo er noch immer wie ein Besessener trainierte.

Der junge Claude, der Pfarrer hatte werden wollen, bevor er seine Meinung änderte und fast aus Zufall eine Karriere beim britischen Geheimdienst einschlug, war geradezu krankhaft freundlich, was den Gedanken nahelegte, er sei vielleicht nicht für den Krieg geschaffen. Jeden Abend kniete er vor seinem Bett und betete, ganz gleich, wie sehr er dafür gehänselt wurde. Er sagte, er bete für sich selbst, vor allem aber für sie, seine Kameraden. Manchmal wollte er sie zum Mitbeten veranlassen, aber da alle ablehnten, zog er sich in die kleine Steinkapelle zurück, wo er dem lieben Herrgott erklärte, seine Gefährten seien keine schlechten Menschen, und es gebe gewiss viele gute Gründe, warum sie nicht mehr beten wollten.

Claude war sehr jung, und sah noch jünger aus. Er war mittelgroß, sehr dünn, bartlos, trug die braunen Haare kurz geschnitten und hatte eine Stupsnase. Sein Blick war unstet und verriet einen sehr schüchternen Menschen, und wenn er im Speisesaal manchmal versuchte, sich einer Gruppe anzuschließen, die sich mitten im Gespräch befand, zog er unbeholfen den Kopf ein, wie um noch weniger aufzufallen. Pal hatte oft Mitleid mit ihm, und eines Abends begleitete er ihn in die Kapelle.

»Warum kommst du nie zum Beten?«, fragte Claude.

»Weil ich es nicht richtig kann«, antwortete er.

»Jeder, der gläubig ist, kann beten.«

»Ich bin nicht gläubig.«

»Warum nicht?

»Ich glaube nicht an Gott.«

Man sah Claude deutlich an, wie überrascht er war, und vor allem, wie peinlich ihm das vor dem Herrgott war.

»Und an wen glaubst du dann?«

»Ich glaube an uns, die wir hier sind. Ich glaube an das Gute im Menschen.«

»Ach was, gute Menschen gibt es nicht mehr. Deshalb bin ich hier.«

Dem folgte ein betretenes Schweigen, schließlich hatte jeder die Religion des anderen beleidigt, dann ließ Claude seiner Empörung freien Lauf: »Du kannst nicht nicht an Gott glauben!«

»Und du kannst nicht nicht mehr an gute Menschen glauben!«

Da kniete Pal aus Mitgefühl neben Claude nieder. Aus Mitgefühl, aber vor allem, weil er im Grunde seiner selbst fürchtete, Claude könnte recht haben. Und so betete er an jenem Abend für seinen Vater, der ihm so fehlte, dafür, dass ihm die Schrecken des Krieges und das Grauen, auf das sie sich vorbereiteten, erspart bleiben mochten, denn schließlich lernten sie das Handwerk des Tötens. Aber töten ist nicht so einfach: Gute Menschen töten keine anderen Menschen.

Die Gruppen der SOE-Anwärter wurden von Offizieren des britischen Geheimdienstes angeleitet, die nicht mehr im Einsatz waren und sich bereit erklärt hatten, die Kandidaten während der Ausbildung zu betreuen, ihre Fortschritte zu überwachen und ihnen später die Richtung zu weisen. Für Pals Gruppe war Leutnant Murphy Peter verantwortlich, ein ehemaliger Verbindungsmann des Secret Service in Bombay. Er war ein großer, hagerer Engländer von etwa fünfzig Jahren, intelligent, streng, aber mit guter Menschenkenntnis und seinen Rekruten sehr zugetan. Er war es, der sie am Morgen weckte, sich um sie kümmerte, auf sie aufpasste.

Während der Übungen sah man seine kantige Gestalt in den Nebelschwaden, wie er über die auszubildenden Kämpfer wachte. Er notierte sich ihre Leistungen, hielt ihre Stärken und Schwächen fest, und wenn er den Eindruck hatte, dass der eine oder andere nicht mehr lange durchhalten würde, musste er ihn zu seinem größten Kummer aus der Sektion entfernen.

Weil Leutnant Peter kein Französisch konnte und die meisten Rekruten die englische Sprache kaum beherrschten, wurde die Gruppe von einem Dolmetscher begleitet, einem kleinen Schotten, der sich schlicht David nannte und von dem man nur wusste, dass er ein Sprachgenie war.

Was die drei englischen Muttersprachler anging, Key, Laura und Stanislas, so war es ihnen offiziell verboten, Englisch miteinander zu reden, damit ihr Französisch so perfekt wurde, dass sie sich später auf keinen Fall verraten würden. Und so war David ständig im Einsatz: Er musste die Anweisungen übersetzen, die Fragen und die Gespräche, und zwar von früh bis spät, daher klangen seine Übersetzungen am Morgen noch recht verschlafen, untertags waren sie fehlerlos und am Abend ziemlich lakonisch.

Leutnant Peter gab abends Anweisungen für den folgenden Tag, läutete im Morgengrauen das Training ein und scheuchte die Nachzügler aus den Betten. Die Rekruten sollten ihre Körper stählen: Sie mussten laufen, allein, in der Gruppe, in Reih und Glied; über den Boden kriechen, durch den Schlamm, durchs Dornengestrüpp; sich in eiskalte Bäche stürzen; Seile rauf- und runterklettern, bis ihre Hände ganz verbrannt waren. Es gab auch Unterricht im Boxen, im Kampf Mann gegen Mann oder im Kampf mit bloßen Händen gegen Schusswaffen. Die Oberkörper überzogen sich mit Blutergüssen, die Arme und Beine mit tiefen Kratzwunden. Es war eine einzige Qual.

Nach dem letzten Training wurde geduscht. Nackt und zitternd, die Körper von Schnitten und Prellungen gezeichnet, drängten sich die Rekruten in viel zu kleinen Badezimmern und stöhnten unter dem lauwarmen Wasserstrahl, eingehüllt in dichten weißen Dampf, vor Erschöpfung. Pal genoss diesen Moment ganz bewusst: Er ließ das Wasser langsam über seinen geschundenen Körper laufen und reinigte ihn vom Schweiß, vom Dreck, vom Blut, vom Schorf. Er seifte sich genüsslich ein, massierte seine schmerzenden Schultern und fühlte sich danach wie ein neuer Mensch, etwas kaputter zwar, aber stärker, ausdauernder, er wurde ein anderer, wie eine sich häutende Schlange.

Anschließend blieb er noch ein wenig unterm Wasser stehen, hielt Kopf und Haare in den Strahl und ließ seine Gedanken schweifen; er dachte an seinen alten Vater und hoffte, dass dieser stolz auf ihn war. Sein Geist war zur Ruhe gekommen, und das berauschende Gefühl, etwas geleistet zu haben, würde bis zum Abendessen anhalten, bis Peter in die lärmende Messe kommen und das Programm des nächsten Tages verkünden würde. Dann hätte die Angst vor den Herausforderungen des Trainings sie alle wieder im Griff. Nur Faron vielleicht nicht.

Jeder nutzte die Dusche als Gelegenheit, seine nackten Kameraden zu beobachten und zu begutachten, wer die Stärksten unter ihnen waren und wem man bei den Nahkampfübungen besser aus dem Weg ging. Faron, der sehr groß war und beeindruckende Muskeln hatte, war sicher der Gefährlichste von allen; er sah zum Fürchten aus, und seine ausgeprägte Hässlichkeit betonte noch das Gewalttätige, das von seinen wie in Stein gehauenen breiten Schultern ausging. Sein Gesicht war eckig und unschön, der Schädel rasiert und voller Schürfwunden, als hätte er die Krätze, und er schlenkerte seine Arme wie ein Affe.

Aber fragte man sich, wer die Stärksten waren, stellte man auch fest, wer die Schwächsten waren, jene, die wahrscheinlich nicht mehr lange durchhalten würden, die am schlechtesten beieinander waren, ausgemergelt oder ernsthaft verletzt. Pal glaubte, dass Grenouille und wahrscheinlich Claude die nächsten sein würden. Claude, der Unglückliche, der sich seines neuen Schicksals noch nicht so recht bewusst war und Pal manchmal fragte: »Was machen wir eigentlich danach?«

»Danach gehen wir nach Frankreich.«

»Und wenn wir in Frankreich sind, was machen wir dann?«

Pal wusste nicht, was er antworten sollte. Zum einen, weil er selbst keine Ahnung hatte, und zum anderen wegen Callands Warnung: Sie würden nicht alle zurückkommen. Wie also sollte er Claude, der so fest auf Gott vertraute, sagen, dass sie vielleicht sterben würden?

Nach der zweiten Trainingswoche wurde Dentiste aussortiert. Am Abend seiner Abreise rauchten Pal und Key auf dem Hügel. Da fragte Pal seinen Kameraden, was denn mit den Ausgemusterten geschehen würde.

»Sie kehren nicht zurück«, sagte Key.

Pal begriff zunächst nicht, und Key setzte hinzu: »Man sperrt sie ein.«

»Wie das?«

»Wer hier scheitert, wird interniert. Damit er nichts ausplaudert.«

»Aber wir wissen doch gar nichts.«

Key zuckte pragmatisch mit den Schultern. Es nutzte nichts, sich zu fragen, was gerecht oder ungerecht war.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es halt.«

Key befahl ihm, nichts weiterzusagen, damit sie keinen Ärger bekamen, und Pal versprach es. Aber er war entrüstet: Man würde sie einsperren, Dentiste und die anderen, nur weil sie untauglich waren. Aber untauglich wofür? Für den Krieg? Sie wussten doch gar nicht, was Krieg überhaupt war! Und da fragte sich Pal, ob die Engländer wirklich besser als die Deutschen waren.