© 2022 by Ulla Kugler
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt oder verbreitet werden. Unter dieses Verbot fällt insbesondere auch die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, die Aufnahme in elektronische Datenbanken und die Vervielfältigung auf CD-ROM.
Fotografie und Grafik: Ulla Kugler
Umschlagdesign: Achim Steinebach
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7562-6056-0
Kann ein Motorrad eine Seele haben? Kann überhaupt ein technisches Gerät beseelt sein? Man könnte es vermuten, redet man doch bisweilen mit den angeblich „toten“ Sachen. Ich zumindest. Mein Göttergatte ebenso. Da hört man schon mal aus dem Arbeitszimmer in dröhnender Lautstärke:
„Also, jetzt ist aber gut! Nimm endlich das blöde Passwort! Was bildest du dir ein, mich immer rauszuschmeißen?“
Das belegt doch wohl: Ein Computer kann hören und darf ausgeschimpft werden. Oder aber:
„Nun komm schon, du doofes Ding!“, wenn sich der Staubsauger mal wieder weigert mitzuziehen.
Aber ein Motorrad? Eine Seele? Ich glaube schon. Zumindest könnte ein wenig von meiner eigenen Seele auf das treue Gefährt übergehen. So ähnlich wie bei einer Mutter-Kind-Beziehung.
Meine These ist: Wenn ich selber mit meinem Bike unterwegs bin, ist ein bisschen Seele von mir in meiner Maschine. Wir sind sozusagen verbunden. Eine Einheit. Angepasst. Meist harmonisch. Und wenn es doch mal haken sollte, dann bin letztlich ich es, der es haken lässt. Und mein Moto reagiert entsprechend.
Daher streiche ich vor und nach einer Ausfahrt gerne über den glänzenden Tank, so wie man es bei einem Pferd am Hals macht. Alte Reitergewohnheit eben. Sich des Wohlwollens versichern. Man kann ja nicht wissen!
Und weil mein Bike also beseelt ist, trägt es auch einen Namen: „Happy“. Nach mehreren Maschinen fand ich mein ideales Gefährt, eine funkelnagelneue Yamaha MT 07, und fühlte mich sofort glücklich. Happy eben. Und nun, lieber Leser, gib ruhig zu, dass du auch einen Namen für dein Fahrzeug hast, vielleicht nur heimlich. Gut so!
Als Happy bei uns einzog, machte die Maschine zunächst einmal Bekanntschaft mit Kolleginnen und Kollegen im Zweiradschlafzimmer, sprich der Garage. Als da waren:
„Oldie“, eine wunderschöne, zweifarbig lackierte BMW C, sozusagen das Ausstellungs- und Liebhaberstück, versehen mit einem zweifarbigen Choppersitz passend zur Lackfarbe. Oldie wurde nur ab und zu bei schönem Wetter bewegt und diente eigentlich zur attraktiven Raumdekoration.
Daneben, ebenfalls ein Nostalgie-Gefährt, ein silberner BMW C1-Roller, namens „Haube“. Auch dieser verließ die Garage eher selten, taugte aber durchaus als Einkaufsroller, zumal sogar ein Kasten Gerstensaft ins Topcase passte. Oft wird dieses nur vier Jahre produzierte BMW-Modell bisweilen wegen seines eher futuristischen Aussehens belächelt. Ein unglaublich tolles Gefühl ist es jedoch, dieses ungewöhnliche Fahrzeug über die Straßen zu steuern und die ungläubigen und erstaunten Blicke der Passanten wahrzunehmen. Das Ding taugt als Hingucker!
Und noch ein Altertümchen begrüßte Happy: das mintgrüne „Schwälbchen“, eine Simson Schwalbe Baujahr 1979. Dieses Knatterteil diente als alternatives Fortbewegungsmittel, um mal gerade in den vier Kilometer entfernten Ort zu fahren und etwas zu erledigen. Auch Schwälbchen zog so manchen Blick auf sich – Kult eben. Und dieses putzige Ding hatte durchaus schon etwas erlebt!
Daneben der ganze Stolz der Flotte: „Goldie“, eine bildschöne rote Goldwing 1800. Sie diente vier Jahre lang als super bequeme und zuverlässige Reisemaschine durch ganz Europa. Ob am Polarkreis, vor Gibraltar oder in der Türkei, sie ließ uns nie im Stich und war mit ihrem changierenden Rot Blickfang unserer Reisefotos. Auf keiner Maschine saß ich als Sozia angenehmer. (Ab und zu ließ ich mich nämlich gerne mal selber kutschieren.)
Aber das war noch lange nicht alles. Im Laufe der Jahre hatten sich etliche Zubehörteile und Utensilien angesammelt von Motorrädern, die schon lange nicht mehr in der Garage standen. Meistens wurden die Maschinen gegen Bikes mit neuerer, modernerer Technik oder aber ausgefallene Liebhaberstücke eingetauscht. Dennoch war die Erinnerung an sie nie ganz verblasst, hatte man doch auch hiermit wundervolle Erlebnisse bewältigt. Zum Andenken daran blieb das ein oder andere Teil im Regal zurück. So gab es einen besonderen Talisman, nämlich ein Bärchen, das an eine weinrote Harley Davidson erinnerte. Eine kleine Sardinienflagge war Mitbringsel von einer Inseltour, die eine anthrazitfarbene BMW RT erlebt hatte. Und ein verblichenes Foto in der Ecke zeigte ein uraltes Motorrad: eine Standard 500 aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Happy hatte also viel Gesellschaft und wer abends an der Garage vorbei ging, konnte schon mal, wenn er die Ohren sehr gut spitzte, Gemurmel, Gekicher, Gegluckse und Geschniefe hören, das natürlich von den Maschinen, Maschinchen und Erinnerungsstücken herrührte, die sich als Gute-Nacht-Geschichten Erlebnisse ihres Zweirad-Lebens erzählten.
Eine Auswahl dieser mal heiteren, mal spannenden und emotionalen Storys der zweirädrigen Community will ich Euch, liebe Leserinnen und Leser, nicht vorenthalten.
Oldie machte den Anfang mit einem Erlebnis aus ihren Jugendtagen:
D er Fotograf schwang sich elegant auf seinen wunderschönen, beige-mokka farbigen BMW Chopper, drehte den Zündschlüssel um, drückte mit dem Daumen den Starterknopf und zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Sollte er es machen? - Ja, es spülte schließlich ein paar Euros in seine enorm reduzierte Kasse. Die Zeiten waren nun mal nicht einfach.
Dann zog er beherzt die Kupplung, trat auf das Schaltpedal, der erste Gang klongte ins Getriebe und die Voraussetzung zur Erfüllung seines seltsamen Auftrags waren gegeben. Kurzer Blick in den Spiegel und über die Schulter, dann brauste der bebrillte Fachmann des knipsenden Gewerbes los und war innerhalb von Sekunden um die Hausecke verschwunden. Felix blickte verstört hoch, bevor er sich wieder der Körperpflege widmete. Felix war der grau gestromte, alte Revierkater, der sich vorwiegend im Hof des Fotografen tummelte.
Der steuerte seinen Chopper über die heute menschenleere Dorfstraße, vorbei an der alten romanischen Kirche und dem gegenüberliegenden Fachwerk-Rathaus. Ein Stückchen weiter schüttelte Lisa, das Mädchen für alles – wirklich alles – gerade auf dem Balkon des Gasthauses das Federbett eines einsamen Gastes aus. Als sie Uwe erblickte, huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr herzförmiges Gesicht. Sie hatte den Fotografen sofort an seinem einmaligen Motorrad erkannt, insbesondere an der „49“, die auf dem kleinen Windschild prangte.
Weil Uwe in Alltagsdingen etwas vergesslich war, fungierte sein Motorrad nämlich als Merkzettel. Die „49“ sollte ihn daran erinnern, einmal pro Woche seiner Leidenschaft zu frönen, dem Lottospiel, und pünktlich den Lottoschein abzugeben. Denn beim Lotto hatte Uwe schon ein paarmal Glück gehabt: Er hatte fünfmal drei Richtige und einmal vier Richtige erspielt! In zehn Jahren! Nun wartete er nach dem Gesetz der Serie auf den ganz großen Gewinn.
Lisa wollte gerade einen Arm zum Gruß heben, aber da war das Objekt ihrer Augen und Sinne auch schon vorbei. Schade, dachte sie verträumt, stellte sie sich doch gerade Uwes Astralkörper ohne Motorradklamotten vor. Besonders angetan war sie von der Frisur des Fotografen. Diese hätte sie gerne an einem wettermäßig so tristen Tag wie heute mit ihren flinken, sinnlichen Fingerchen bearbeitet. Denn nichts machte sie bei Männern mehr an als eine Kojak-Frisur. Was Uwe auf dem Kopf fehlte, trug er im Gesicht: Ein nicht unbeträchtliches Ziegenbärtchen garnierte sein Kinn und die buschigen Augenbrauen versprachen, gepaart mit lustigen, kleinen Augenfältchen, einen ordentlichen Schuss Humor.
Und ohne denselben hätte er diesen schlüpfrigen Auftrag auch gar nicht angenommen. Es ging dieses Mal nicht darum, diverse Motorräder gekonnt in Szene zu setzen. Darauf war er nämlich spezialisiert. Das konnte er gut, sehr gut sogar. Er bekam Aufträge aus dem ganzen Land von Bikern, die sich mit ihren Lieblingen, ihren Bikes, in allen möglichen Positionen ablichten lassen wollten. Meistens als Fahraufnahmen. Aber auch Standpositionen hatte er routiniert im Repertoire: Motorrad und Fahrer von der Seite, von vorne, aus der Diagonalen, von hinten, von oben, von unten und natürlich im Detail. Der Fotograf scheute keine Mühen. So legte er sich auch mal in einen Straßengraben, um eine sensationelle Aufnahme möglichst in einer Kurve zu tätigen. Uwe hatte es einfach drauf! Das war ein einigermaßen einträgliches Geschäft. Nur dieses Jahr nicht. Die Aufträge fehlten. Im Winter lief gar nichts, das Frühjahr war zu kalt und im Sommer jagte ein Regentief das nächste. Die Kunden waren für ein Fotoshooting einfach nicht in Stimmung. So kam abends schon mal nur Butter statt Wurst aufs Brot. Die Zeiten waren eben hart!
Da kam der Auftrag von Waltraud gerade recht. Waltraud, genannt Wally, war eine Wucht, sogar eine Wuchtbrumme! Und Hausfrau. Eine wuchtige Hausfrau sozusagen. Uwe kannte die dralle Brünette mit dem Schlafzimmerblick aus der Schulzeit. Die Entwicklung der beiden ging allerdings auseinander. Bei Uwe ging sie in die Höhe, bei Waltraud in die Breite. Besonders vorne herum. Sie trug inzwischen Körbchengröße Doppel-D. Beim Gehen schwankten ihre stattlichen Hüften monumental von der einen zur anderen Seite. Ihre Oberarme standen in Sachen Umfang denen eines Ringers in nichts nach. Wally fühlte sich wohl in ihrer Haut. Sie verabscheute den Schlankheitswahn ihrer Mitschwestern und dachte nicht im Entferntesten daran, nachmittags auf ihre Sahnetorte, am besten zwei Stücke, und abends auf ihre Pralinen zu verzichten. Dazwischen gerne ein paar Likörchen oder auch ein Gläschen oder mehr süßen Wein.
Waltraud fühlte sich schön. Und dieses Gefühl spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. Sie strahlte etwas Positives, Glückliches aus. In der Tat hatte sie ein hübsches Gesicht mit wachen, strahlend blauen Augen, die sie mit einem dezenten Makeup in Szene setzte. Besonders verführerisch wirkten diese, wenn sie die Lider halb schloss. Ihre Nase hatte eine harmonische Form und den schön geschwungenen Mund betonte sie gerne mit einem kräftig roten Lippenstift.
Uwe mochte seine ehemalige Mitschülerin recht gerne, wenngleich sie sich selten sahen; höchstens mal bei Klassentreffen wie neulich zum 25jährigen Schulabschluss. Umso erstaunter war er, als vor zwei Tagen Wally anrief, um ihm einen Auftrag zu erteilen. Erst dachte er an ein Motorrad-Fotoshooting und fragte:
„Wow, ich wusste gar nicht, dass du einen Motorrad-Führerschein hast. Welche Maschine fährst du denn?“
„Nein, nein, um so etwas geht es nicht, Uwe. Du sollst mich anders fotografieren.“
„Wie anders? Was fährst du dann?“
„Nein, ohne was.“
„Äh, wie meinst du?“, fragte Uwe verunsichert.
Dann rückte Wally mit der Sprache heraus. Sie wolle von Uwe erotische Fotos haben, also von sich natürlich, ohne Klamotten und so. Reizvoll, eher aufreizend. Und es solle ein Geschenk werden. Und ihr fiel kein anderer Fotograf ein. Weil ihr Mitschüler früher ja immer sehr seriös und brav war und sich zu benehmen gewusst habe.
Bei dieser Argumentation musste Uwe erst einmal schlucken. So ist er also damals in den Schülertagen bei den Mädels rübergekommen! Das war ihm neu. Er hatte sich früher doch eher als Draufgänger gefühlt! Kein Wunder, dass er deshalb zur Schulzeit kaum Mädchen hatte abschleppen können. Er war zu brav! Für seinen aktuellen Auftrag schien das allerdings genau das Richtige zu sein.
Inzwischen war Uwe am Zielort angekommen. Er lenkte seine BMW sicher in die kleine Einfahrt des hübschen Fachwerkhäuschens am Ortsrand der Nachbargemeinde und stellte sie vor dem Hauseingang über den Seitenständer ab. Seinen cremefarbenen Chopperhelm hängte er mit dem Kinnriemen am Lenker auf und holte dann seine Fotoausrüstung aus der gut gepolsterten Satteltasche.
Wuchtbrumme Wally hatte das satte Motorengeräusch wohl schon vernommen, da sich die schwarze Eingangstür oberhalb einer kleinen Steintreppe sogleich öffnete. Dort stand die Herrin des Hauses nun im Eingang, gehüllt in einem weiten, bronzefarbigen Hausmantel aus Satin mit aufgesticktem Pfau. Sie strahlte den Fotografen erfreut an.
„Mensch Uwe, prima, dass du es machst! Komm rein! Ich hab schon alles vorbereitet.“
Wally führte Uwe durch den dunkelgrün gestrichenen Flur ins heimische Wohnzimmer. Dabei rutschte ihr der Hausmantel über die rechte Schulter nach unten und legte den Träger eines knallroten Spitzen-BHs frei. Der Fotokünstler wunderte sich, hatte er seine Mitschülerin doch eher als schüchtern, wenn nicht sogar verklemmt und als graues Mäuschen in Erinnerung. Aber von sich selber wusste er, dass es für alles Entwicklungspotential gab.
Waltraud bot ihm in der gemütlichen Stube, die recht geschmackvoll in Weiß-Grautönen gehalten war, einen Platz auf dem bequemen und mit weinroten Samtkissen dekorierten Kuschelsofa an. Auf dem Wohnzimmertisch und auch auf einem glänzend weißen Sideboard flackerten ein paar rote Stumpenkerzen.
Zunächst sollte es eine Vorbesprechung geben, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Dazu öffnete die Walküre mit flinken Fingern eine Flasche Schampus und füllte die edle Brause in zwei Sektgläser. Eins davon reichte sie ihrem verdutzten Mitschüler, den Inhalt des zweiten kippte sie gleich schon mal selber hinunter und rückte auf der Couch etwas näher an ihren Gast heran.
„Ups“, dachte sich Uwe, „was will sie von mir? Da wird doch keine zweideutige Absicht dahinterstecken? Wally ist ja lieb und nett, aber überhaupt nicht mein Typ.“ Laut hingegen sagte er: „Auf unser Wiedersehen! Du siehst fantastisch aus!“ und stieß mit seinem Glas an das ihre, das bereits wieder gut gefüllt war.
„Ja, auf uns, lieber Uwe! Und toll, dass du es so kurzfristig einrichten konntest. Uih, bin ich aufgeregt! So etwas hab ich nämlich noch nie gemacht, musst du wissen.“ Und damit leerte die dralle Hausfrau sogleich das zweite Glas.
„Ich auch nicht“, dachte sich Uwe und begann ein wenig zu zweifeln, ob es richtig war, diesen heiklen Auftrag anzunehmen. Nicht dass er auf einmal als Opfer dastand! Als Lustopfer! Doch dann siegte der Profi in ihm und er kam zur eigentlichen Sache.
„Ich soll dich also fotografieren, Wally, stimmt’s? Du sprachst von einem Geschenk?“
„Ja, ja. Hubsi und ich sind im nächsten Monat seit zehn Jahren zusammen. Hubsi, also Hubert, du kennst ihn sicher noch aus der Schule. Er war eine Klasse über uns.“
„Ach Herrjeh“, erinnerte sich Uwe im Stillen, „Hubert, der Bär! Groß, gewaltig, mächtig, braunbehaart und furchteinflößend! Ich bin ihm immer aus dem Weg gegangen. Er hätte mich sonst ohne Skrupel platt gemacht, war er doch äußerst jähzornig und unberechenbar. Und der hat die Wally abgekriegt?“ Uwe zog die Stirn in Falten.
Während seiner Gedanken erläuterte Waltraud weiter: „Nun ja, weil wir uns ja soooo lieben, dachte ich an ein besonderes, ein besonders persönliches Geschenk. Daher die Idee mit den Fotos. Den besonderen Fotos. Was meinst du?“
„Ähm, ja klar. Gute Idee“, antwortete Uwe und fügte in Gedanken hinzu: „Besonders für meine Brieftasche.“ Laut sagte er zu seiner Auftraggeberin: „Wir werden schon etwas Schönes hinbekommen. Keine Sorge. Was echt Erotisches.“
„Prima! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und heute ist dafür ein günstiger Tag, weil Hubsi bis morgen auf Tour ist. Er fährt nämlich für eine Transportfirma Spezialtransporte. Da muss er heute noch nach Hamburg. Er ist erst morgen wieder zurück.“
„Okay, welche Location hast du dir denn vorgestellt?“, wollte Uwe wissen.
Wally nahm noch schnell ein weiteres Schlückchen aus ihrem dritten Glas Schampus und erläuterte ihre Vorstellungen: „Also ich hab mir überlegt, dass einige Orte, die für uns eine besondere Bedeutung haben – ich glaube, du verstehst, wie ich das meine -,“ sie schmunzelte ein bisschen, „mit auf die Bilder sollen. Entsprechend müsste hier das Sofa mit aufs Bild, ebenso der Teppich vor dem Couchtisch, das Bett im Schlafzimmer natürlich und auch der Spiegel am Kleiderschrank, nett wäre auch was mit dem Küchentresen und hinten im Flur an der Garderobe, am besten mit dem Schirmständer dazu.“
Uwe konnte sich noch so gerade beherrschen, sonst wäre ihm die Kinnlade runtergefallen. Er schluckte. Sein Kopfkino hatte volles Programm. Ausgerechnet Wally und Hubert!
„Sei Profi!“, sagte sich der Fotograf. „Der Kunde ist König!“
„Geht in Ordnung, Wally. Machen wir“, wandte er sich an seine Auftraggeberin.
„Soll ich mich denn jetzt ganz ausziehen? Was meinst du?“
Kleine Schweißperlen setzten sich auf Uwes Stirn. Mit so einer geballten Ladung Erotik hatte er nicht gerechnet. Blitzschnell schaltete er und entgegnete in seinen Augen äußerst fachmännisch: „Hmmh, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, Wally, dann behalte lieber ein bisschen deiner tollen Wäsche an. Das wirkt echt viel erotischer als ganz ohne. Glaub mir, ich weiß, wie Männer ticken! Bin ja schließlich selber einer. Das Verlangen, ein hübsch verpacktes Geschenk auszupacken, ist immer größer als wenn das Geschenk offen daliegt. Ich werde dich schon sehr aufreizend in Szene setzen.“
„Aha, ja, du bist der Fachmann. Dann machen wir es so. Wo willst du mich haben? Ich mache alles, was du willst!“
Uwe musste wegen der Formulierung ein wenig lächeln, waren ja jetzt die Dinge klar definiert. Er stand auf und holte seine Kamera mit einem passenden Objektiv aus der Fototasche. Er checkte kurz das Wohnzimmer bezüglich der Lichtverhältnisse, zog die Vorhänge etwas mehr zu und stellte die Stehlampe in einen günstigen Winkel. Den Schein der Kerzen wollte er für eine romantische Atmosphäre nutzen.
„Dann geh doch erst mal aufs Sofa, Wally! Stell dich mit einem Bein auf die Sitzfläche, lass den Morgenmantel über die vordere Schulter gleiten und schau mich ein wenig aufreizend an!“
Uwe hatte null Erfahrung mit erotischer Fotografie. Aber er hatte ein Konzept. Sein Motorradkonzept. Er machte es wie bei den Bike-Bildern. Erst mal eine Aufnahme von der Seite.
Wally war nach den drei Gläsern Sekt schon recht locker und hatte ihre anfänglichen Hemmungen abgelegt. Mit ihrem berühmten Schlafzimmerblick schaute sie lasziv über ihre linke Schulter in die Kamera. Ihr roter BH-Träger kam gut zur Geltung, da der Hausmantel ordentlich verrutscht war. Ihr rechtes Bein stand auf dem Sofa, so dass ihr Mantel den Blick auf ihren üppigen Schenkel frei ließ. An der Innenseite des Oberschenkels war sogar ein kleines Tattoo zu erkennen. Ein Pfeil. Nach oben! Sozusagen als Navigationshilfe! Ihre dunkelbraunen Locken schüttelte sie kurz nach hinten in den Nacken. Mit dem linken Zeigefinger berührte sie ihre roten Lippen und sie beschloss sogar, weil ja ungehemmt, daran zu lutschen.
Uwe wurde es ziemlich warm. Aber er lobte Wally für ihre tollen Ideen und schoss eine kleine Serie unter dem Motto „Seitlich, Totale.“ Danach zog er sich erst mal seinen Pullover aus.
„Okay Wally, jetzt machen wirs von vorne. Setz dich doch mal auf die Couch, ziemlich breitbeinig, und beuge den Oberkörper etwas nach unten. Ja, so, aber schieb den Mantel zur Seite, so dass man die schöne Wäsche sehen kann! Noch mehr nach vorne! Zeig dein tolles Dekolleté! Und mach mir den Kussmund! Ja, toll machst du das!“
Langsam kam Uwe in Fahrt und Wally war ein gefügiges Modell. Fast so gefügig wie ein Motorrad.
„Prima, zweite Szene, Motiv von vorne, gelungen“, dachte sich der Bikeknipser. „Gut gemacht!“, rief er Wuchtbrumme Waltraud zu. „Für die nächste Einstellung würde sich die Garderobe eignen.“
Also ging’s in den Flur, wo sich Wally mit verrutschtem Hausmantel an die Kleiderstange mit rechts stützen sollte, den Schirm aus dem Schirmständer in der linken Hand ähnlich einer Lenkstange und den Blick, soweit es möglich war, nach hinten links gerichtet. Das war nicht einfach. Sah vielleicht auch nicht so sexy aus, eher etwas verkrampft, aber die Garderobe sollte ja laut Auftrag mit auf die Platte und Uwes Konzept war klar, nämlich Szene drei: „Von hinten mit Blick über die Schulter.“ Diese Bilder kamen bei seinen Bike-Kunden immer sehr gut an, sah es doch so aus, als wolle man gerade losfahren und schaue sich deshalb nach dem fließenden Verkehr um. Uwe war mit dem Ergebnis zufrieden.
„Nun machen wir Detailaufnahmen“, erklärte er und dachte dabei an seine Motorrad-Einstellungen von den Felgen, den Scheinwerfern, dem Tank, dem Sitz und so weiter. Er beschloss, seine Detail-Einstellung vom hinteren Kotflügel heute nicht einzubauen. Zunächst lichtete er Wallys Füße mit den knallrot lackierten Nägeln auf dem weißen Wohnzimmerteppich ab, dekoriert mit einer roten Rose zwischen den Zehen. Sehr sexy! Danach ihre beachtliche Oberweite, ohne Hausmantel versteht sich, dafür aber auf dem Küchentresen. Dort auch eine Nahaufnahme ihrer himmelblauen Augen, in denen sich die Küchenlampe spiegelte, und schließlich, nochmal auf dem Teppich im Wohnzimmer, eine Detailaufnahme ihrer unteren Körpermitte in rotem Spitzentanga. Knüller war natürlich ihr kleines Pfeil-Tattoo an ihrer Schenkelinnenseite, ähnlich einem Modell-Emblem bei einem Bike in Großaufnahme.
Nun sollte es an die Kurvenbilder gehen. Dazu, so fand Uwe, eignete sich der Spiegel im Schlafzimmer am besten.
*
Hubert war stinksauer. Seit gut sieben Stunden stand er nun mit seinem LKW nutzlos vor dem Auslieferungslager seiner Firma und drehte Däumchen. Erst hatte ihn sein Chef bald auf Knien beknetet, seinen freien Tag zu opfern. Er sollte einen dringenden Transport wichtiger medizinischer Maschinenbauteile nach Hamburg durchführen. Dort wurden sie bei der Entwicklung einer neuartigen Herz-Lungen-Maschine benötigt.
Der Haken an der Sache war nur, die begehrten Teile wurden seitens des örtlichen Herstellers nicht ausgeliefert. Probleme in der Produktionsstätte, hieß es. Diese Information erreichte Huberts Chef allerdings erst mit enormer Verspätung, so dass die geplante Tour heute hinfällig geworden war.
„Das ist eine Riesensauerei!“, wetterte Hubert seinem Chef gegenüber. „Mein freier Tag ist hin!“ Er steigerte sich mal wieder bei seiner Schimpftirade voll ins Große und Ganze bis hin zur Politik, der Jugend und der Wildschweinvermehrung.
Sein Chef kannte das schon, doch weil Hubert ansonsten ein verlässlicher und guter Fahrer war, nahm er dessen Temperamentsausbrüche in Kauf.
„Lass gut sein, Hubert, das wird heute nichts mehr. Vor morgen früh können wir nicht mit der Auslieferung rechnen. Fahr jetzt nach Hause und mach dir mit deiner Holden einen schönen Abend!“
„Mmmh“, grummelte der Braunbär, „dann Tschö! Bis morgen!“
Er ging zum Firmenparkplatz und schloss die Fahrertür seines alten Passats auf. Ob er Wally und sich eine Pizza mitbringen sollte? Sie rechnete ja nicht mit ihm und hatte sicher nichts Tolles gekocht.
„Wäre nicht schlecht“, sinnierte er, „für mich eine Quattro-Stagioni-Maxi und Wally mag gerne eine Thunfischpizza. Vielleicht noch einen Salat mit Sahnesoße und auf jeden Fall eine Flasche Rotwein. Dann wird es bestimmt gemütlich. Sie wird überrascht sein! Doch nicht so schlecht, ein unverhoffter freier Abend!“ Hubert startete den Wagen und fuhr los.
*
Derweil standen Waltraud, inzwischen mantellos, und Uwe im Schlafzimmer vor dem Schrankspiegel.
„Also, Wally, für das schräge Kurvenbild schaust du dich im Spiegel an, stellst dich auf das linke Bein, hebst das rechte seitlich schön hoch, neigst den Körper nach links, die Arme machen alles parallel mit und dann nimmst du die Blickführung nach links vorne. So kann ich dich und dein Spiegelbild aus der hinteren Diagonalen optimal ablichten“, lauteten Uwes Regieanweisungen. Der erste Versuch scheiterte kläglich. Wally fiel um.
„Kein Problem, Wally, fass mit rechts einfach an den Griff der Schanktür. Das fällt aus dieser Perspektive nicht auf. Und mach mit der linken Hand das Victory-Zeichen. Das kommt immer gut!“
Das mollige Modell wunderte sich ein wenig, führte aber brav Uwes Anweisungen aus, denn dieser musste es ja schließlich wissen. Tat er ja auch. Denn aufgrund seiner langjährigen Erfahrung waren einhändige Kurvenbilder mit Viktory-Zeichen des freien Arms bei seinen Bike-Kunden der Knüller! Okay, mancher sah nach der Kurve und einer anschließenden Landung im Graben nicht mehr so gut aus. Aber Hauptsache, das Bild war im Kasten!
Da inzwischen die Sache mental und körperlich ganz schön anstrengend wurde, gönnte sich Wally noch schnell ein weiteres Gläschen Schampus. Uwe lehnte dankend ab; er musste ja noch fahren.
Dort im Schlafzimmer sollte es weitergehen, nämlich auf der Schlafstatt, dem mit schwarzer Satin-Bettwäsche frisch bezogenen Ehebett. Darauf lagen ein paar Zebrakissen und eine flauschige, rote Kuscheldecke. Das Sektglas, inzwischen natürlich wieder gefüllt, stand auf einem kleinen Tablett und auf dem Nachttisch flackerten ein paar blutrote Kerzen. Eine herrliche Komposition!
Bei der Motorrad-Fotografie hatte Uwe eine neue Technik erprobt: das Knipsen mit einer Drohne. So konnte er tolle Bilder aus der Vogelperspektive schießen. Das sollte doch hier auch irgendwie möglich sein, so sein Gedanke.
„Wally, hast du eine Stehleiter im Haus?“, wollte der Künstler wissen. „Dann können wir noch was Besonderes machen.“
„Ja, schau mal hinten in der Wäschekammer. Da müsste eine stehen. Ich leg mich schon mal aufs Bett und probiere ein paar Positionen!“ Wally war kaum noch zu bremsen. Sie hatte sozusagen Modell-Blut geleckt.
Der Fotograf holte die Aluleiter und platzierte sie am Fußende des Bettes. Er stieg hinauf und machte seine Kamera startklar. Dann schoss er als menschliche Drohne die sich verführerisch räkelnde Hausfrau in verschiedenen Stellungen von oben.
„Super! Das ist es! Tolle Perspektive von hier!“, rief er begeistert hinunter. Ein bedrohliches Kippeln des Unterbaus konnte er gerade so abfangen. Glück gehabt! Das wäre was gewesen, bei einem Abflug voll im Bett auf seiner Auftraggeberin zu landen! Wie peinlich! Nach dieser Fast-Drohnenaufnahme fiel ihm eine letzte Einstellung ein, die er immer sehr gerne zum Abschluss bei seinen Bike-Kunden umsetzte. Er räumte die Leiter beiseite und erklärte:
„So, Wally, jetzt stell dich mal vor das Bett. Ich lege mich vor dich auf den Boden und nehme dich von unten. Diese Perspektive wird bestimmt der Knüller!“ Mit dieser Einstellung bei einer Harley hatte er zuletzt bei einem Wettbewerb sogar einen Preis bekommen.
Waltraud, immer noch mantellos, folgte willig Uwes Anweisungen. Sie spreizte die Beine und stellte sich über Uwes Oberschenkel.
*
Hubert lenkte seinen Passat in die Hauseinfahrt. Er wunderte sich.
„Was macht das Motorrad da?“, fragte er sich und kam spontan nur auf Gasmann und Schornsteinfeger. „Egal, ist sicher gleich weg, dann können wir schön essen und es uns danach gemütlich machen.“ Ein Lächeln huschte über sein vollbärtiges Gesicht.
Er stieg aus, stapelte die Pizzen sowie den Salat aufeinander und klemmte sich die Flasche Barolo unter den Arm. In der anderen Hand hielt er den Hausschlüssel und steuerte auf die Eingangstür zu. Er freute sich!
Derweil ging es innen ganz schön zur Sache. Uwe hatte schon ein paar Bilder der Position „Motiv von vorne unten“ geschossen, wollte aber noch mehr.
„Beug dich ruhig noch etwas vor, Wally. Die Bilder werden der Hammer! Hubert wird begeistert sein!“
Dieser schloss inzwischen die Haustür auf. Er betrat gut gelaunt die Diele – und erstarrte.
„Tiefer, Wally, tiefer! Gut, sooo gut!“
„Mach ich es richtig?“
„Ja, ja, jaaaa! Oh mein Gott! Ist das gut! Hör bloß nicht auf!“
Hubert ließ alles fallen. Die Flasche zersprang und ließ dem roten Inhalt freien Lauf auf die Bodenfliesen. Die Quattro Stagioni hüpfte aus dem Karton. Der Salat verteilte sich auf Garderobe und Schirmständer. Der Hausherr stürmte zum Zimmer, aus dem er die Stimmen vernahm und riss die angelehnte Schlafzimmertür auf.
Rücklings auf dem Boden lag der Fotograf, die Kamera professionell in der Hand nach oben gerichtet, über ihm stand Waltraud in rotem Spitzentanga und beugte sich über Uwes Körper. Der Doppel-D hielt, was er vermochte, doch das reichte nicht aus. Der Inhalt war ein wenig verrutscht.
Hubert war starr vor Schreck. Wally ebenso, als sie ihren Göttergatten so unverhofft in der Tür erblickte. Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund stand auf. Auch sie war sprachlos. Und Uwe, der inzwischen merkte, dass etwas nicht stimmte, drehte seinen Kopf und sah den Schreck seiner Schulzeit mit verzerrtem Gesicht im Türrahmen stehen.
Wally löste sich als erste aus der Schockstarre und versuchte äußerst einfallsreich zu erklären:
„Es ist nicht so, wie es aussieht!“
Hubert stieß einen Urlaut aus. Irgendetwas zwischen Paarungsruf eines Mammuts und Todesschrei eines Urzeitaffens. Die Schrankwand vibrierte.
Uwe schwante nichts Gutes und er wickelte sich schnell aus der Unter-dem-Motiv-Stellung heraus. Dazu und um aufzustehen, musste er seine Kamera ablegen. Dann kam er auf die Beine.
„Was machst du kleine Ratte mit meiner Frau?“, schrie der vermeintlich Gehörnte. „Dich kenn ich doch! Du bist doch die Pflaume aus der Schule! Jetzt zeig ich dir, wie ich mit Lustmolchen umgehe!“
Daraufhin stürzte sich Hubert auf seinen vermuteten Konkurrenten. Dieser schaffte es gerade noch unter dessen Ringerarmen durchzutauchen, riss beim Aufrichten die angelehnte Stehleiter um, die sich gekonnt den Weg auf Hubsis Bärenhaupt suchte, und hechtete auf die Schlafzimmertür zu. Für ihn, obwohl völlig unschuldig, wurde es offenbar lebensgefährlich! Da half nur noch die Flucht!
„Hubsi, bitte lass mich das erklären! Es war doch alles nur für Dich!“, kreischte Wally mit hoher Stimme. Sie hatte aber geistesgegenwärtig noch schnell Uwes Kamera gerettet, bevor diese im Gefecht etwas abbekam. Schließlich waren in derselben die Schätze ihres Shootings. Nicht dass die ganze Mühe umsonst war!
Uwe hatte den Flur erreicht und wollte sich schon nach draußen retten, da fiel ihm seine Fotoausrüstung ein. Nein, ohne diese konnte er die Stätte der fotografischen Künste nicht verlassen. Er bog ab in die Küche und verschanzte sich hinter dem Küchentisch. Hubert, der den Kampf mit der Leiter schließlich zu seinen Gunsten entschieden hatte, war ihm dicht auf den Fersen.
Uwe startete einen unbeholfenen Versuch: „Mensch Hubert, lass mich doch erklären…!“
Von-Sinnen-Hubsi brüllte außer sich: „Halt die Schnauze! Was ich gesehen habe, ist eindeutig! Na warte, du Hund! Dich mach ich fertig!“ Er versuchte, sich über den Küchentisch beugend, Uwe eine zu verpassen, was aber aus möbeltechnischen Gründen nicht möglich war.
Wally versuchte es vom Flur aus noch einmal: „Hubsi, Liebling, ich liebe nur dich! Glaub mir doch bloß!“ Aber Hubsi-Liebling reagierte nicht auf die Beteuerungen seiner Angetrauten.
Er schaute sich in der Küche um. Auf der Arbeitsplatte entdeckte er den Messerblock und zögerte kurz.
Uwe folgte dem Blick des aufgebrachten Gatten und erbleichte! Mit einem Messerangriff hatte er nicht gerechnet.
Hubert hatte sich entschieden. Er zog aus dem Messerblock das sündhaft scharfe japanische Santoku-Messer heraus. Besonders gut geeignet, um Fleisch zu zerteilen!
Langsam drehte er sich zu Uwe um und fixierte ihn mit einem stierenden Blick. Sein Gesicht mutierte zu einer Horrormaske. Sein rechter Arm hob sich ganz langsam empor. Das Santoku-Messer in seiner Hand blitzte auf.
Die Augen des Fotografen weiteten sich bis zum Anschlag. Er selber war bewegungslos wie eine Wachsfigur.
„Jetzt bringt er mich um!“, dachte er in Panik. Er wusste keinen Ausweg mehr, der einzige Fluchtweg war versperrt. Jeden Moment rechnete er mit einem fliegenden Messer, das ihn ins Herz traf.
Auch Hubert war kurzzeitig zu einer Salzsäule erstarrt. Wally, in der rechten Hand Uwes Kamera, stand in der Küchentür. Erst schlug sie die freie Hand kurz vor den Mund. Dann schrie sie in Panik: „Neeeeiin!“
Ihr Ehebär löste sich aus der Starre und drehte sich im Zeitlupentempo zur Türe um.
„Oh mein Gott! Jetzt will er seine Frau umbringen!“, dachte Uwe geschockt. „Mach es nicht, Hubert! Man kann doch über alles reden! Wally ist dir treu, glaub es mir!“
„Du kannst mich mal!“, schrie dieser zurück und setzte sich in Richtung Tür in Bewegung, das Messer stichbereit in seiner Hand.
Panisch ging Wally in die Hocke, machte die Augen zu und nahm den freien Arm über den Kopf! Dabei fiel sie um. Im Sportunterricht war sie früher schon eine Niete. Uwes Kamera sicherte sie allerdings noch reflexartig durch ihren weichen Körper vor einem Aufprall. Hubert spurtete los.
„Jetzt passiert’s“, dachte Uwe geschockt und schloss ebenfalls die Augen.
Hubert setzte zum Sprung an. Trotz seiner massigen Figur war er gar nicht so ungelenk. Und wenn das Adrenalin nur hoch genug ist, kann der Körper Berge versetzen beziehungsweise überspringen.
Er sprang über seine Holde und rannte durch den Flur zur Haustür. Wally, neugierig wie sie war, öffnete dann doch die Augen und sah vom Boden aus Huberts Aktion. Ihr schwante Böses.
„Er will sich umbringen! Neeeiiin! Mein Liebling! Mein Schatz! Mein Braunbär! Uwe, mach doch was!“
Uwe öffnete ebenfalls die Augen, bemerkte seine Chance, lebend aus dem Haus zu entkommen und steuerte den Flur an.
„Ach Wally, das macht er bestimmt nicht! Warte doch erst mal ab! Er will sicher nur an die frische Luft.“
„Doch, doch“, rief diese zurück, „er ist manchmal so komisch. Dann weiß er nicht, was er tut!“
„Okay! Nichts wie hinterher, Wally. Gib mir meine Knipse, dann hast du die Arme frei und kannst besser aufstehen.“
Uwe sicherte seine Kamera und rannte schnell noch mal ins Wohnzimmer, um die Fototasche zu holen. Im Laufen verstaute er den Fotoapparat in die Tasche. Dann folgte er Wally, die inzwischen auf die Beine gekommen war, durch den Flur in Richtung Ausgang. Die Glasscherben der Weinflasche knirschten unter seinen Füßen, auf dem Rebensaft rutschte er beinahe aus, fand aber sein Gleichgewicht wieder und trat kurz vor der Tür in die Quattro Stagioni.
Auf der Eingangstreppe hatte Wuchtbrumme Wally angehalten. Ihr leuchtend roter Stringtanga glitzerte in der Abendsonne. Uwe trat neben sie – und war entsetzt! Das, was er sah, schnürte ihm die Kehle zu! Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Knie wurden weich. Er musste sich auf die Stufen setzen. Ein Bild des Grauens offenbarte sich ihm.
Derweil kreischte Wally in Richtung ihres Ehegespinst: „Hör auf! Lass es! Du bist ja wahnsinnig!“
Hubert nahm Wallys Äußerungen nicht zur Kenntnis und machte weiter. Immer und immer wieder hob er das Santoku-Messer, stach zu und zog durch. Die Masse quoll ungehindert ins Freie und verteilte sich auf dem Boden. Der Sitz der BMW war nicht mehr wiederzuerkennen. Das schwarze Leder war zerfetzt, die Füllmasse herausgedrungen.
Dann war der Spuk plötzlich vorbei. Mitten in der Bewegung hielt Hubert inne, schüttelte sich und brach in Tränen aus. Sein stolzer Körper sackte in sich zusammen und mühsam schleppte sich der Braunbär zur Gartenbank neben dem Blumenbeet mit den Tagetes und dem Rittersporn. Er ließ das Messer fallen, nahm die Hände vors Gesicht und heulte hemmungslos.
Das war Uwes zweite Chance. Er riss sich zusammen, hechtete zu seinem verunstalteten Chopper, hing sich die Fototasche um – für ein ordnungsgemäßes Verpacken war keine Zeit - , startete die BMW und zirkelte diese um den Passat herum in Richtung Straße. Seinen Helm ließ er am Lenker. Dem Messertod zu entkommen war jetzt wichtiger als das Einhalten der Straßenverkehrsordnung.
„Ruf mich an Wally, wenn du Gelegenheit hast!“, rief er noch seiner Auftraggeberin zu, die mit ihrer roten Reizwäsche auf der Eingangstreppe etwas deplatziert wirkte.
Fünf Straßen weiter löste sich ein wenig die Verkrampfung des Fotofachmannes. Er schaute sich sicherheitshalber um, stellte fest, dass er nicht verfolgt wurde und hielt an. Nachdem er seine Ausrüstung korrekt verstaut und den Helm angelegt hatte, fuhr er etwas entspannter, aber immer noch geschockt in Richtung Heimat. Das Sitzen auf dem zerfetzten Sattel war mühsam, aber er war schließlich froh, dass er mit dem Leben davon gekommen war.
„Arme Wally“, dachte er, „sie wollte doch nur was Gutes für ihren Mann und der ist völlig ausgerastet. Hoffentlich bekommt sie die Sache in den Griff!“
Aber seine Sorge war unbegründet. Noch auf der Gartenbank bei Tagetes und Rittersporn tröstete sie ihren Hubsi und beteuerte überzeugend ihre Liebe zu ihm. Sie wusste ja aus Erfahrung, dass Huberts Temperamentsausbrüche nur von kurzer Dauer waren. Als Erklärung für ihren seltsamen Aufzug und die Situation im Schlafzimmer deutete sie nur an, dass er ein tolles Geschenk zu erwarten habe, wollte aber die Überraschung noch nicht vollends preisgeben.
Hubert hatte sich wieder im Griff und schaute mit Dackelaugen seine Holde an. Dabei bemerkte er das reizvolle Aussehen seines „Mäuschens“ und beschloss, sich mit ihr zu versöhnen. Das geschah allerdings ohne Abendessen und Wein.
Uwes Puls war immer noch überhöht, als er zuhause angekommen in die Hofeinfahrt einbog. Er hatte gar nicht wahrgenommen, dass Lisa ihm vom Seiteneingang des Gasthauses zugewunken hatte. „Was hat er bloß heute?“, wunderte sie sich und nahm bei ihrer Raucherpause einen Zug aus der Zigarette.
Vor seinem Haus erwartete ihn schon Felix, der Revierkater. Er hoffte auf ein leckeres Abendmenü. Uwe stieg ab und sah sich die Bescherung erst mal genauer an.
„Mist, der Sitz ist nicht zu retten. Das sind mindestens zwanzig Schnitte. Da ist ein neuer Sattel fällig. Na warte, Hubert! Den bezahlst du!“
Er schob die BMW in die Garage, packte die Fotoausrüstung aus und ging mit Felix ins Haus. Der Kater schnurrte und strich um Uwes Beine herum. Dann ließ sich der Chef der maunzenden Nachbarschaft das angebotene Katzenfutter schmecken. Uwe kam langsam zur Ruhe.
Am nächsten Tag meldete sich Wally und erzählte, dass alles wieder im Lot sei. Sie habe letztlich vernünftig mit ihrem Gemahl reden können. Hubert tue es sehr leid, was er angerichtet hat und er wolle natürlich für den Schaden aufkommen. Wally habe bei dieser Aktion gemerkt, wie sehr ihr Mann sie liebt. Bis zum Wahnsinn sozusagen.
„Was machen unsere Bilder, Uwe? Hast du schon einen Blick drauf geworfen?“
„Das hab ich in der Nacht tatsächlich noch gemacht. Ich wollte doch schließlich wissen, was den Ärger ausgelöst hat. Die Fotos sind der Knüller! Du kommst so was von gut rüber! Hubert wird entzückt sein! Ich schicke sie dir morgen über E-mail.“
Bei sich dachte er: „Guck an, eine Frau zu fotografieren ist wie bei einem Motorrad. Man braucht nur den richtigen Blickwinkel!“
Sein Bike brachte er zum Sattler. Um sich für seinen Stress zu belohnen, bestellte er einen farblich sensationell passenden Komfortsattel und schickte die Rechnung später an Hubert, den Bär. Dieser zahlte brav, denn das schlechte Gewissen nagte an ihm.
„Na, dann hat sich dieser schlüpfrige Auftrag ja doch noch gelohnt!“, sagte sich der Fotograf in der Garage beim Anblick des neuen BMW-Outfits, streichelte sanft über die neue Sitzfläche und ließ das sinnliche und zugleich lebensgefährliche Fotoshooting Revue passieren.
Die kleine Simson Schwalbe hatte eine besondere Geschichte zu erzählen:
L uigi war ein Original. Original italienisch. Original sizilianisch. Original filio einer stolzen mamma. Und dazu eben ein Original. Er konnte alles: Olivenöl herstellen, Pizza backen, Felder umpflügen, Trecker reparieren, ein Haus bauen, Gäste bewirten, Geschichten erzählen, ein lustiges Liedchen pfeifen – und vor allem: improvisieren.
Luigi war ein glücklicher Mann. Er liebte seinen Beruf, er liebte seine Heimat im Süden Siziliens, er liebte seine um etliche Jahre jüngere Frau Maria – und seine beiden Kinder natürlich, den einjährigen Emilio und die dreijährige Magdalena. Immer wenn er seine junge Frau erblickte, war er mächtig stolz. Maria sah mit ihren 39 Jahren aus wie ein Topmodel: Sie war rank und schlank mit einer super Figur, die sie sich mit regelmäßigem Joggen am Abend, wenn die Kinder im Bett waren, antrainiert hatte. Ihre langen blonden Haare umspielten ihr hübsches Gesicht und mit ihrem kirschroten Mund warf sie ihrem Gemahl ab und zu bei der Arbeit einen Luftkuss zu. Dann ging Luigi das Herz auf. Außerdem bewunderte er die Intelligenz und Sprachgewandtheit von Maria, konnte sie sich doch mit den Gästen aus dem Ausland ohne Weiteres unterhalten.