Marguerite Spycher
Ein Papst zu viel
Für Adrian
Marguerite Spycher
Ein Papst zu viel
Wie ich als Graphologin die Päpstin Johanna entdeckte
© 2022 Marguerite Spycher
Lektorat: Achim Gralke
Umschlaggestaltung: Marguerite Spycher
Umschlagfoto: Adobe Stock
Umschlaghintergrund: Shutterstock
Layout und Satz: Marguerite Spycher mit Adobe InDesign
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-54854-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-54855-8
ISBN E-Book: 978-3-347-54856-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
PROLOG Eine Statue an der Petersbasilika
TEIL I DIE BOTSCHAFT DER MONOGRAMME
Kapitel 1 Eine ungewöhnliche Anfrage
Kapitel 2 Die Sensationsstory
Kapitel 3 Komplexe Botschaften
Kapitel 4 Überraschender Befund
Kapitel 5 Der doppelte Johannes
TEIL II AUF SPURENSUCHE
Kapitel 6 Einfach unmöglich
Kapitel 7 Zivilisationen und Kulturen in Europa
Kapitel 8 Das Christentum, eine neue Religion
Kapitel 9 Angefochtene Autorität
Kapitel 10 Vorsicht und Skepsis
TEIL III DAS FEHLENDE PUZZLETEIL
Kapitel 11 Persona non grata
Kapitel 12 Eine Reihe von Ungereimtheiten
EPILOG Vicus Papissa
Ein Dank zum Schluss
Abbildungsverzeichnis
Benutzte Literatur
Über die Autorin
PROLOG
Eine Statue
an der Petersbasilika
Hat es einmal einen weiblichen Papst gegeben? Seit Jahrhunderten ist die Geschichte von einer Frau, die im 9. Jahrhundert Papst geworden sein soll, so präsent wie umstritten. Viele Wissenschaftler und Kirchenvertreter sind überzeugt, dass es die »Päpstin Johanna«, die in Erzählungen, Theaterstücken, Romanen und Filmen seit langem populär ist, nie gegeben hat. Aber es gibt auch Stimmen, die an die Existenz der Päpstin glauben und davon ausgehen, dass ihre Spuren bewusst und systematisch getilgt worden sind.
Tatsächlich gibt es nahezu keine Spuren der möglichen Existenz der Päpstin. Dabei ist die persönliche Anschauung für uns alle oft entscheidend bei der Frage, ob wir etwas glauben oder nicht. Wenn wir sagen; »Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!« betonen wir, dass wir von der Richtigkeit einer Sache überzeugt sind. Interesse, Neugier, Wissensdurst stehen am Anfang aller Entdeckungen. Was wir mit eigenen Augen gesehen haben, das bleibt uns besser in Erinnerung. Wir vertrauen unserer eigenen Wahrnehmung, sie erweitert unseren Horizont im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Persönliche Eindrücke gewinnen, das ist auch ein wesentlicher Impuls fürs Reisen.
Ich lade Sie ein zu einer imaginären Reise nach Rom. Zuerst begeben wir uns zu einer der bedeutendsten Kirchen der Christenheit. Sie ist dem Apostel Petrus geweiht, ihr Altar soll über seinem Grab stehen. In der deutschen Sprache wird sie meist «Petersdom» genannt, doch korrekt wäre »Petersbasilika«.
Im nördlichen Vestibül, am Ende des Atriums, fällt uns die nebenstehende Statue auf. Betrachten wir sie zunächst mit den Augen des interessierten Touristen: Die Gestalt ist in wallende Gewänder gehüllt. Das Unterkleid wird hoch über der Taille von einer Kordel zusammengehalten. Die Kordel ist unter der Brust mit einer Schlaufe verschlossen. Der Mantel ist sehr lang und weit. Eine breite, reichgeschmückte Borte schmückt ihn an den Vorderkanten. Er wird über der Brust zusammengehalten. Zwischen Unterkleid und Mantel erkennen wir auf der linken Seite der Gestalt eine ebenfalls geschmückte Stola mit Fransen. Auf dem Kopf trägt die Figur eine eigenartige Haube, die sich über einem verzierten Kranz oder Reif erhebt. Von der Rückseite dieser Kopfbedeckung fallen zwei breite Bänder über die Schultern. Das Gesicht ist jung und wird von langen Haaren umrahmt. Die linke Hand der Figur ist gegen die Betrachter ausgestreckt. In ihrer Rechten hält sie ein Buch und einen doppelten Schlüssel. Diese Gestalt trägt keine Schuhe, sie steht baren Fußes auf einem unebenen Untergrund.
Die Kunstgeschichte gibt uns zusätzliche Informationen: Die leicht abgedrehte und S-förmige Haltung ist typisch für die Entstehungszeit Anfang des 18. Jahrhunderts. Den Dokumenten der Bauhütte von St. Peter ist zu entnehmen, dass die Figur vom römischen Bildhauer Giuseppe Frascari in den Jahren 1729 bis 1732 geschaffen wurde.
Wie in Kunstwerken aus früheren Zeiten üblich, ist auch in dieser Statue eine ganze Reihe von Hinweisen und Botschaften enthalten:
Die feinen Gesichtszüge und die langen Haare zeigen, dass hier eine weibliche Gestalt dargestellt ist.
Die seltsame Kopfbedeckung ist einer phrygischen Mütze nachgebildet, die von einem verzierten Stirnreif gehalten wird. Zwei Bänder, die sogenannten Infuln, hängen auf die Schultern herab.
So sah im frühen Mittelalter die Papstkrone aus, eines der päpstlichen Insignien.
Das stoffreiche Unterkleid ist hoch gegürtet, wie dies bei Frauen üblich war. Der Mantel darüber ist ein Pluviale, ein liturgisches Gewand, das zu feierlichen Anlässen getragen wird. Es wird über der Brust zusammengehalten.
Die reiche Verzierung an den Mantelborten zeichnet die Figur als Papst aus.
Zudem trägt sie eine Stola mit geknüpften Fransen – ein weiteres päpstliches Kennzeichen.
Eine Schließe in Vogelgestalt hält das stoffreiche und prächtige Pluviale über der Brust zusammen. Es ist eine Taube, ein uraltes Symbol. Im christlichen Kontext repräsentiert die Taube Inspiration, sie ist – vor allem, wenn sie weiß ist – Friedensbringerin und zudem Sinnbild für den Heiligen Geist.
Die vom Bildhauer über dem Herzen angebrachte Taube blickt von der Trägerin weg und scheint uns mit den Augen zu fixieren.
Die Linke der Figur nimmt diese Geste auf, bietet uns Betrachtenden die Hand zur Kontaktaufnahme.
In der rechten Hand hält sie zwei Gegenstände: Wir erkennen ein Buch; im Kontext kann auf die Bibel geschlossen werden.
Unübersehbar ist ein doppelter Schlüssel. Ein Schlüssel zum Himmel und einer für die Erde.
Dieser Doppelschlüssel gilt als Attribut des Apostels Petrus. Er soll der erste Papst gewesen sein.
Auf Petrus verweist auch die Tatsache, dass die Figur auf einem Felsen steht, wobei ein Fuß leicht erhöht ist.
Diese Statue ist Teil eines Ensembles von insgesamt acht Skulpturen, die an der Hauptfront südlich und nördlich der Vorhalle in Nischen angebracht sind. Sie stellen sogenannte Allegorien dar, Veranschaulichungen von abstrakten Begriffen. Im südlichen Atrium stehen die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Im nördlichen Atrium können wir die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung erkennen. In der vierten Nische blickt diese Figur auf uns. Sie soll die Ecclesia (Kirche) darstellen. Halten wir uns vor Augen: Gut 200 Jahre nach der Reformation wird die Kirche (Ecclesia) als eine weibliche Figur in mit den Attributen eines Papstes dargestellt. Was mögen die Gründe dafür gewesen sein?
Mit dieser Frage begann für mich eine faszinierende Spurensuche, die mich vom Frühmittelalter bis ins 21. Jahrhundert führte. Begleiten Sie mich dabei, lassen Sie sich erzählen von Lebensumständen, Sitten und Gebräuchen jener Zeit. Natürlich spielt die Geschichte der Mächtigen eine wichtige Rolle, ihre Leistungen, ihre Ansprüche, ihre Politik und ihre Einflüsse auf die Kultur – wir sind Erben von all dem, auch wenn es uns kaum bewusst ist. Ach ja, Rivalitäten und Intrigen gab’s natürlich auch, das wird Sie wenig überraschen. Dass zum Erreichen der angestrebten Ziele auch Dokumente gefälscht wurden, und zwar im ganz großen Stil, damit haben Sie vermutlich eher nicht gerechnet. Aber Fake-News und alternative Wahrheiten sind nichts Neues. Und manche dieser Fakes wirken bis ins 21. Jahrhundert.
Entdeckt habe ich auch vieles, das sich mit dem allgemein verbreiteten Wissen nur bedingt vereinbaren lässt. Rolle und Stellung der Frauen, beispielsweise. Ob in Religion, Politik oder Gesellschaft, die Behauptung, dass das weibliche Geschlecht »schon von Alters her« und durchgehend benachteiligt worden sei, die trifft nicht zu. Dafür wurde ersichtlich, woher diese Zuschreibung stammt, welche Geisteshaltung dahintersteckte und weshalb gewisse Kreise sich noch immer daran festkrallen.
Dieses Buch kann nur einen kleinen Überblick geben, immer auf diese eine Frage fokussiert: Hat es einmal einen weiblichen Papst gegeben? Drei Thesen habe ich formuliert und schließlich die Antwort gefunden. Viele Versuche gab und gibt es, die historische Tatsache zu leugnen. Manche Einwände sind erkennbar fadenscheinig, manche hilflos, manche auch einfach plump, nur ganz wenige wirklich raffiniert, wenigstens im ersten Moment. Nachdem ich viele – noch längst nicht alle – Elemente zusammengetragen hatte, war für mich klar: In der Mitte des neunten Jahrhunderts gab es einen Papst mit Namen Johannes; er war der Achte mit diesem Namen; und er war eine Frau.
TEIL I
DIE BOTSCHAFT
DER MONOGRAMME
KAPITEL 1
Eine
ungewöhnliche Anfrage
Es ist ein strahlender Wintertag. Obwohl ich in den Ferien bin, schnuppere ich abends kurz im Alltag und rufe meine E-Mails ab. In der Mailbox finde ich eine besondere Nachricht:
Sehr geehrte Frau Spycher
Ich wende mich an Sie mit einer sehr speziellen, wissenschaftlichen Frage. (…)
Ich und meine Mitforscher befassen uns in multidisziplinären Forschungsansätzen mit dem Leben von historischen Persönlichkeiten. Dabei werden Schriftquellen, (Historische Berichte, Briefe, Unterschriften), Portraits und – sofern zugänglich und erhalten – auch die sterblichen Überreste untersucht. (…)
Im Zusammenhang mit Forschungen zu Dokumenten aus dem Mittelalter bin ich auf eine für meine Forschungen sehr interessante Frage gestoßen: Lassen sich aus Monogrammen von Königen und
Kirchenleuten auf Dokumenten aus dem Mittelalter allenfalls Aussagen zum Charakter und Wesensart ableiten? (…)
Im Speziellen spiele ich auf Monogramme aus dem Frühmittelalter an, wie das berühmte Monogramm von Karl dem Großen. Ich bin mir bewusst, dass solche Monogramme ehr, sehr kurz sind. Doch die Texte wurden damals von Schreibern verfasst und die historischen Persönlichkeiten haben nur die Unterschrift geleistet. (…)
Die Gestaltung der Namensmonogramme ist jedoch authentisch, da sie auch auf Münzen aus dieser Zeit abgebildet sind. (…)
Daher möchte ich Sie anfragen, ob aus graphologischer Sicht mit solchen Monogrammen etwas ausgesagt werden kann. (…)
Um die Analyse nicht mit Vorwissen zu verfälschen, würde ich Ihnen nur die Monogramme als Umzeichnung sowie allgemeine Informationen zusenden und die Auflösung erst nachher mitteilen. Wären Sie an einem solchen Experiment interessiert? (…)«.
Im Alltag als Graphologin habe ich mit den Handschriften von aktuell lebenden Menschen zu tun. Die Informationen über sie sind jeweils knapp: Alter und Geschlecht? Schreibhand rechts oder links? Weitere Angaben sind hilfreich: In welchem Land wurde schreiben gelernt? Welches sind die wichtigen Stationen im Berufsleben? Dank diesen zusätzlichen Informationen kann ich bei Bedarf beobachtete Besonderheiten in einer Handschrift besser verstehen und einordnen. Gelegentlich bearbeite ich auch Handschriften von historischen Persönlichkeiten. Dies ist ein anderer Zugang zu deren individuellen Wesenszügen, die von den Biografen häufig nicht oder zu wenig berücksichtigt werden. Oft finden auf diese Weise Besonderheiten eine Erklärung. Aber Frühmittelalter? Monogramme? Könige und Kirchenleute? Nein, das ist definitiv nicht alltäglich für mich. Diese Anfrage ist sehr ungewöhnlich. Sie hat mich überrascht in ihrem Anliegen, das fernab von allem bisher an mich Herangetragenen lag.
Gleichzeitig waren mein Interesse und auch meine Neugier geweckt. Ein Experiment, ja, das wäre es fraglos. Wie könnte ich dabei vorgehen? Wo sind Anhaltspunkte? Welche Arbeitsmittel aus meinem graphologischen Werkzeugkasten wären für diese Aufgabe tauglich? Immerhin ist eine wichtige Voraussetzung erfüllt: Die Informationen über die jeweiligen Personen wären rudimentär. Neutrale und unvoreingenommene Analysen wären somit möglich. In dem Schreiben wurde auch eine Reihe von zusätzlichen Fragen gestellt, bei denen es völlig klar war, dass es außerhalb meiner Möglichkeiten liegt, Antworten darauf zu geben.
Mit der Angelegenheit habe ich mich in den folgenden Tagen und Wochen intensiver befasst. Ich habe mögliche Ansatzpunkte geprüft, einige verworfen, andere weiterverfolgt. Und selbstverständlich tauchten auch zahlreiche Fragen aus meiner Sicht auf. Um Näheres zu erfahren, vereinbarte ich ein Treffen mit Dr. Michael Habicht, der diese Anfrage an mich gerichtet hatte.
Die Objekte der Untersuchung
Es geht, wie erwähnt, um Monogramme aus dem Frühmittelalter, also aus der Zeit nach dem Untergang des Weströmischen Reiches. Dieser wird üblicherweise auf das Jahr 476 n. Chr. festgelegt. Das Frühmittelalter umfasst die Zeitspanne von Ende des 5. Jahrhunderts bis Mitte des 11. Jahrhunderts. (Zur Ergänzung: Das Oströmische Reich existierte noch bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts. Es wurde nach seiner Hauptstadt Byzanz als Byzantinisches Reich bezeichnet.)
Die Monogramme sind auf Silberdenaren zu finden. Diese Münzen wurden vermutlich zu besonderen Anlässen geprägt, denn sie tragen sowohl die Signatur eines Karolingischen Kaisers als auch jene des zeitgleich amtierenden Papstes. Solche Geldstücke werden deshalb als Kombinationsmünzen bezeichnet. Konkret geht es in dieser Anfrage um Münzen aus dem Zeitraum zwischen 800 und etwa 880, wobei die Monogramme der Päpste im Zentrum des Interesses stehen. Zur näheren Information erhalte ich diese Illustration, die mir vorerst ein wenig Klarheit bringt. Im Gespräch erfahre ich zudem die Namen der Kirchenoberhäupter:
Einige typische Merkmale von Monogrammen werden schon aus diesen Abbildungen ersichtlich: Die Buchstaben sind kunstvoll angeordnet, sodass sie eine in sich geschlossene Grafik bilden. Nicht immer werden alle Buchstaben des Namens verwendet. Nur die Monogramme der beiden LEO sowie das von NICOLAUS zeigen die vollständigen Namen. Die Signaturen in der oberen Reihe enthalten neben dem Namen noch die Bezeichnung für die Position: P oder PA für PAPA, Papst.
Von den uns vertrauten Schriftzeichen weichen in den Monogrammen einige ab. So werden H und N nicht immer eindeutig unterschieden – gut zu erkennen ist das bei BENED PA. Besonders aus unserer Sicht ist auch, dass U und V gleich geformt sind, nämlich immer in der unten spitzen Variante, die im Deutschen als V gelesen wird. Es kommt auch vor, dass VV steht, was im Deutschen das uns vertraute W ist. Im Französischen und im Englischen wird dieser Buchstabe als »double v« bzw. als »double u« bezeichnet, womit die direkte Herkunftslinie von der Antike bis in unsere Zeit ersichtlich wird.
Mehr Informationen und neue Fragen
Wie erhofft erhalte ich beim Treffen zusätzliche Informationen. Im Verlaufe des Gespräches werden diverse Fragen geklärt, auf andere erhalte ich zumindest weitere Auskünfte und Anhaltspunkte. Meinerseits mache ich klar, dass vor allem die in den Monogrammen enthaltene Symbolik zur Aufschlüsselung beitragen kann. Dr. Michael Habicht schlägt vor, dass er für meine Arbeit sogenannte ideale Stempelschnitte, auch Umzeichnungen genannt, erstellt. Als Historiker und Archäologe ist er auch bewandert in der Münzkunde, was eine sogenannte historische Hilfswissenschaft ist. Münzfunde aus allen Zeiten sind relativ häufig, und um diese zu sichten, sind Numismatiker gefragt. Es ist üblich, dass zu Forschungszwecken Zeichnungen angefertigt werden, vor allem, wenn Fundstücke teilweise schlecht erhalten sind. Dazu werden gewissermaßen mehrere »Schichten« von Zeichnungen übereinandergelegt: Was bei der einen Münze undeutlich ist, ist auf einer anderen gut erkennbar, die Zeichnung vom ersten Geldstück kann entsprechend ergänzt werden. Aus mehreren Geldstücken mit partiellen Unklarheiten kann so eine mehr oder weniger vollständige Rekonstruktion entstehen.
Am Schluss unseres Gespräches ist mein Wissensstand der folgende: Die Münzen sind nicht datiert. Dieser Brauch kam erst viel später auf. Genauere zeitliche Einordnungen sind demnach nur über die Signaturen und die weiteren Inschriften auf den Geldstücken möglich. Auf der einen Seite ist jeweils der Name des Kaisers vermerkt. Die Signaturen auf der anderen Seite gehören zu verschiedenen Päpsten. Sie verfügten über eine gute Bildung
Unser Dialog ist entspannt und konstruktiv. Ich verspüre Lust, mich auf das Experiment einzulassen. Schließlich einigen wir uns darauf, dass ich zunächst überprüfe, was ich mit diesen Monogrammen anfangen kann. Mein Vorbehalt: Wenn sich das Ganze als zu wenig zielführend erweisen sollte, werde ich die Sache vorzeitig wieder abbrechen. Für das weitere Vorgehen schlage ich vor, dass ich ein erstes Monogramm bearbeite und die Resultate meiner Untersuchungen an den Auftraggeber schicke. Seinerseits steht es ihm frei, sich darüber ein Bild zu machen und dann zu entscheiden, ob meine Arbeit fortgesetzt werden soll.
Wird es möglich sein, einige brauchbare Informationen über einen Papst herauszufinden, allein aufgrund der Gestaltung des Monogrammes? Eine schwierige Aufgabe! Gewiss, es sind ja auch noch Symbole enthalten, die an sich sehr inhaltsreich sein können. Wird das genügen? Immerhin, so sage ich mir, könnte eine unzutreffende Interpretation für den jeweiligen Papst keinerlei Nachteile mit sich bringen. Und so wage ich den Schritt und lasse mich auf das Experiment ein.
Ein Versuchsballon
Zunächst stellte sich die Frage: Mit welchem der Papstmonogramme beginne ich? Meine Wahl fiel auf das Monogramm von Benedikt. Es hat einen klaren Aufbau und ist gut lesbar. Zu erkennen sind die Buchstaben B, N, E und D, ganz unten die Buchstabenkombination PA, in welcher die Elemente teilweise miteinander verschmolzen sind. Der zur Verfügung stehende Raum im Innenkreis der Münze (hier nicht sichtbar) wird gut ausgenützt, lässt jedoch auch ausreichend freie Flächen. Die einzelnen Zeichen sind klar geformt, die Enden an den geraden Linien sind deutlich verbreitert. Diese »Füßchen« werden Serifen genannt. Sie begegnen uns auch heute, werden doch die meisten Zeitungen und auch Bücher in Schriften mit Serifen gedruckt. Sie sind ein Überbleibsel aus dem frühen Buchdruck und erleichtern zudem das Lesen.
Der Name Benedikt ist relativ lang, das Monogramm zeigt nur die ersten fünf Buchstaben BENED. Das ist durchaus möglich bei der Gestaltung einer individuellen Signatur. Und wir erkennen gleich eine weitere Besonderheit: Ein Zeichen kann auch mehrmals gelesen werden. Sehen wir uns an, wie die Signatur gelesen werden muss: BE von oben nach unten. Die zweite Reihe der Buchstaben wird in der gewohnten Leserichtung von links nach rechts gelesen: NED. Zuunterst kommt der Zusatz PA. Wir haben auch gleich ein verstecktes Symbol entdeckt. In der Anordnung der Elemente ist ein Kreuz enthalten. Auf diese Weise tastete ich mich an die Entschlüsselung des ersten Monogrammes heran. Schließlich formulierte ich das Resultat meiner Analyse wie folgt:
Ausgangssituation
Es standen nur schlecht erhaltene Stücke zur Verfügung, sodass manche Formen unklar bleiben. Dies gilt in erster Linie für die Umschriften auf der Vorder- und auf der Rückseite. Das Monogramm jedoch ist deutlich.
Gestaltung des Monogramms
Auffallend ist der Wille, den zur Verfügung stehenden Raum zu gestalten: Die Buchstaben sind in Kreuzform angeordnet, in den vier freien Feldern außerhalb dieses Kreuzes sind kleine Kugeln angebracht. Das E im Zentrum des Kreuzes kann zweimal gelesen werden, sodass das Monogramm BENED PA lauten würde. Aufgrund des erwähnten Gestaltungswillens bin ich geneigt, diese Lesart als die beabsichtigte anzusehen.
Die Formen sind ebenfalls klar gestaltet: gut lesbare Buchstaben mit markanten, im Verhältnis breiten Abstrichen. Die Serifen an den geraden Linien von B, N, E, D, P, A sind ausgeprägt, passen aber in das Gestaltungsbild. Eigengeprägt sind die Querstriche des E, welche als Dreiecke gestaltet sind. Hervorgehoben sind auch die Rundungen bei B, D und P. Die Größe der drei Buchstaben in der Waagrechten (N E D) nimmt in der Leserichtung ab.
Die technischen Möglichkeiten bei der Herstellung des Prägestempels und auch bei der Münzprägung ermöglichten es, klare Formen und Ränder anzufertigen.
Symbolik
Wesentliche Elemente der verwendeten Symbolik sind Kreuz, Kugel und Dreieck sowie die Zahl Vier.
Die Kreuzsymbolik ist einerseits naheliegend für einen Papst. Allerdings sind diesem Symbol nicht nur christliche, sondern auch wesentlich ältere Bedeutungen zuzuordnen, war es doch schon in deutlich älteren Kulturen aus ganz verschiedenen geografischen Gebieten verbreitet. Das Kreuz ist Sinnbild der Vereinigung von Extremen (beispielsweise von Himmel und Erde), es verweist auch auf die vier Himmelsrichtungen.
Mancherorts ist das Kreuz auch Symbol für den Lebensbaum und zuweilen nahm der Priester, Schamane, Geistliche für das Gebet eine aufrechte Haltung mit ausgebreiteten Armen ein. Dieser Gebetsgestus steht für die Überwindung der bedrohlichen Mächte, insbesondere für Finsternis und Tod.
Ganz allgemein ist das Kreuz auch aus dem Aspekt der Vier-Zahl zu verstehen: Diese Zahl symbolisiert die Ganzheit, steht für die vier Elemente, für die Jahreszeiten, für die Windrichtungen und die »Enden der Welt«. Solche Vorstellungen sind auch bei außereuropäischen Kulturen zu finden. Unter anderem waren sie bei den indigenen Völkern Nordamerikas verbreitet.
Doch im Zusammenhang mit einem Papstmonogramm ist es angezeigt, sich auf Näherliegendes zu konzentrieren, um eine sinnvolle Interpretation im Zusammenhang mit der Papstwürde zu finden: Im Paradies gab es gemäß Genesis vier Flüsse; im neuen Testament kommen vier Evangelisten zu Wort.
Die Zahl Vier wiederholt sich auch in den vier Kugeln in den Feldern außerhalb des Kreuzes. Die Kugel teilt und erweitert die Symbolik des Kreises. Sie steht für das (ideale) Universum, auch für die absolute Vollkommenheit, die Allgegenwart und Allwirksamkeit des christlichen Gottes. Auch dies sind naheliegende Werte, die von einem Papst repräsentiert und vertreten werden. Diese Symbole erhalten zusammen mit dem gewählten Namen »Benedict« einen besonderen Stellenwert und betonen den bereits erwähnten Gestaltungswillen. »Benedict« bedeutet »der Gesegnete« oder auch »der Segnende«. Sofern es sich nicht um seinen Taufnamen handelt, erfolgte die Wahl des frisch gewählten Papstes und Bishofs von Rom wohl nach dem Vorbild Benedikts von Nursia.
Mögliche Rückschlüsse auf die Persönlichkeit von Papst Benedikt
Gewiss kann davon ausgegangen werden, dass in jener Zeit der Umgang und die Bedeutung von Bildern und von Symbolen selbstverständlich waren und zum »kulturellen Grundwortschatz« gehörten, den wir heutzutage höchstens intuitiv verstehen.
Trotzdem fallen Verwendung und Anordnung in diesem Monogramm auf.
Der Gestaltungswille sowie die verwendeten Symbole sprechen für eine gebildete und bewusst agierende Persönlichkeit. Die Buchstaben sind sorgfältig geformt und gekonnt angeordnet. Die nach rechts zu erkennende Verjüngung der Buchstabengröße in der Waagrechten gleicht das »Übergewicht« im rechten unteren Quadranten aus, welches durch die Hinzufügung des A an den Buchstaben P in der Senkrechten entsteht. Das Ganze wirkt einerseits rational und strukturiert, zeigt aber auch Differenziertheit und ästhetischen Sinn.
Benedikt dürfte sich durch klaren Verstand ausgezeichnet haben. Es ist davon auszugehen, dass er mit Entschiedenheit aufgetreten ist. Er hat wohl entschlossen gehandelt, wobei er auch durchaus pragmatische Züge gezeigt haben dürfte. Sein Amt hat er wohl als umfassenden Auftrag, vielleicht auch als persönliche Mission verstanden.
Diese meine Ausführungen fanden beim Auftraggeber Anklang. Offenbar deckten sie sich zu einem ansehnlichen Teil mit den zugänglichen historischen Informationen über diesen Papst, von dem ich bis jetzt nichts kannte außer seinen Namen und dass er im neunten Jahrhundert Papst war. Dr. Michael Habicht fasste die zugänglichen Informationen wie folgt zusammen:
Es handelt sich um Benedikt III. Sein Pontifikat dürfte etwa 853 bis 855 anzusetzen sein. Es existieren Kombinationsmünzen mit den fränkischen Kaisern Lothar I. (bis 855) und Ludwig II. (ab 855).
Das Monogramm verwendet kaum Ligaturen, nur P und A sind zu einem einzigen Zeichen verschmolzen. Stattdessen ist der Name in Kreuzform dargestellt. Gestaltungsmäßig steht es dem Monogramm von Papst Sergius II. (844-847) nahe.
Von der Vita Benedikts III. ist wenig bekannt. Um 855 kam es zu einem Umsturzversuch, unternommen von Anastasius, der sich mit kaiserlicher Unterstützung zum Papst ausrufen ließ. Diese schillernde Persönlichkeit konnte sich jedoch nur wenige Tage im Amt halten. Das Volk von Rom befreite den populären Benedikt III. und sicherte so dessen Papsttum.
In der ältesten Abschrift des Liber Pontificalis, dessen Manuskript in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt wird, fehlt seine Biografie vollkommen. Dies führte zu Spekulationen, dass damit ein anderes Pontifikat verdeckt werden sollte.
Von besonderem Interesse sind die Privilegien für das Kloster Corbie in Nordfrankreich, welche sich heute in Amiens befinden. Papst Benedikt III. gewährte darin Abt Odo Sonderrechte und er rief Kaiser Lothar I. auf, diese zu respektieren. Die Urkunde datiert vom 7. Oktober 855. Dies ist speziell, da Kaiser Lothar am 19. September 855 abgedankt hatte und am 29. September im Kloster Prüm in der Eifel gestorben war.
Der letzte Abschnitt dieser Ausführungen enthält historische Angaben, die jedoch nichts mit meiner geplanten Arbeit zu tun hatten.
Für mich entscheidend war die Feststellung, dass mein Vorgehen zur Bearbeitung der Monogramme offensichtlich brauchbar ist. Mittels der von uns Graphologen eingesetzten Methoden auch gänzlich unbekannte Zeichenkombinationen zu untersuchen, das ist ein herausforderndes Experiment mit noch offenem Ausgang.
Solcherart ermutigt entschloss ich mich, weitere Monogramme in vergleichbarer Weise zu analysieren, stets im Wissen, dass das Vorgehen auch klare Grenzen hat. Es war mir klar: was für diesen Papst Benedikt gilt, das gilt auch für die anderen Persönlichkeiten: Es ist verantwortbar, dass ich mich auf das Experiment einlasse, denn ich kann es jederzeit abbrechen und auf alle Fälle wirken sich meine Feststellungen nicht aus auf die geistlichen Würdenträger, welchen diese Monogramme zuzuordnen sind. Das war der Auftakt zu einem spannenden Abenteuer!