Der Anfang von morgen

Jens Liljestrand

Der Anfang von morgen

Roman

Aus dem Schwedischen von Thorsten Alms, Karoline Hippe, Franziska Hüther und Stefanie Werner

FISCHER E-Books

Unverkäufliches Leseexemplar zu

ISBN 978-3-10-397190-3, ca. 24,00 Euro (Hardcover)

ISBN 978-3-10-491637-8, ca. 19,99 Euro (E-Book)

Voraussichtlicher Erscheinungstermin: 27. Juli 2022

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Impressum

Zitatnachweise:

Hilary Mantel, »Falken«, DuMont 2013, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Tomas Tranströmer, aus dem Gedicht ›Romanische Bögen‹, in: »Sämtliche Gedichte«, Hanser 1997, aus dem Schwedischen von Hanns Grössel

Bruno K. Öijers, Auszug aus dem Gedicht ›Även om allt tar slut‹ (›Selbst wenn alles endet‹), in der Sammlung »Medan giftet verkar«, Wahlström & Widstrand 1990

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Även om allt tar slut« im Verlag Albert Bonniers, Stockholm

© Jens Liljestrand 2021

 

Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

Published by arrangement with Ahlander Agency, Stockholm

Redaktion: Volker Jarck

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491637-8

 

Hilary Mantel, Falken

Der erste Tag vom Rest deines Lebens

Als ich zum letzten Mal glücklich war, stand ich in einem Geschäft. Die Einschränkungen waren endlich aufgehoben, und wir fuhren mit den Kindern im Auto raus zum Einkaufszentrum. Am Kreisverkehr standen ein Ikea, ein Elektronikmarkt, noch ein Elektronikmarkt mit Haushaltsgeräten, ein großer Supermarkt und schließlich der Laden, den sie ausfindig gemacht hatte, die letzte physische Verkaufsstelle für solche Waren, nachdem sonst alles ins Internet abgewandert war. Wir wollten vor Ort sein, im Raum, uns berauschen lassen von der Sehnsucht nach unserem Kind.

Carola stand in der Ecke, wo die Kinderwagen ausgestellt waren, ihr Gesicht ausdruckslos vor Befremden wie bei einem Menschen, der zum ersten Mal das Heiligtum einer Religion betritt, die sie zwar kennt, aber der sie selbst niemals angehört hat, schaukelnd und schwer, während die Kinder, die bald ein Geschwister bekommen würden, durch die Regalreihen streiften. Es gab Teddybären und Tücher in Pastellblau und Flamingorosa, Wickeltische, Wiegen und Betten, Schnuller und Öle und Flaschen, es gab Milchpumpen und Still-BHs und Stillsessel, es gab pädagogisches Holzspielzeug und elektronische Sender und Empfänger, über die man hören konnte, wenn das Kind aufgewacht war, oder es beim Schlafen beobachten oder seine Körpertemperatur oder den Kohlendioxidgehalt der Luft um das Kind herum ablesen.

Die Kinder blieben plötzlich mitten im Geschäft stehen. Nein, sagten sie. Nein, guckt doch mal! Sie zeigten auf die Reihen aus süßen kleinen Bodys und Mützen und unbegreiflich kleinen Socken. Diese winzigen Kleidungsstücke hatten etwas Verletzliches an sich, das fast nicht zu ertragen war, und sie streichelten die Stoffe,

Meine Familie sah mich verwirrt an, wir wollten ja eigentlich nur nach einem Wagen sehen, etwas zum Vergleichen haben, bevor wir einen gebrauchten kauften, wir kauften immer aus zweiter Hand und Carola sagte noch etwas über unseren CO2-Fußabdruck, über eine Cousine, deren Tochter gerade aus ihren Kleidern wuchs, aber ich sagte nur bitte, nur dieses eine Mal, bitte, bitte, nehmt, was ihr haben wollt.

Sie bewegte sich nicht von der Stelle, sah nur hilflos zu, wie die Kinder mit leuchtenden Augen und kurzen, entzückten Rufen ihre Arme mit Spucktüchern und Tragetüchern und einem großen Spielbogen aus graublauem Kaschmir beluden. Am Ende begann sie sich umzusehen und fragte die Dame an der Kasse nach Stoffwindeln, nach ökologischem Material und fair gehandelten und klimaneutralen Kleidungsstücken, ob es Badewannen gab, die weniger nach Plastik aussahen, woher die Baumwolle von diesem hübschen gepunkteten Kissen kam, und alles, was sie haben wollte, kostete doppelt so viel wie alles andere. Ich lachte und holte einen Einkaufswagen, und als sie mit dem Rücken zu mir stand, nahm ich das Handy und überwies mehr Geld.

Als die Körbe voll waren und das Hingerissensein vom Niedlichen und Süßen zu einer dumpfen Zufriedenheit geronnen war, gingen sie und ich zu den Kinderwagen zurück. Es gab jetzt keine Alternative mehr zu dem französischen Luxusmodell, das Testsieger geworden war und ein Chassis hatte, dessen Entwicklung fünf

Die Dame an der Kasse gab alles ein und fand luftige Worte für die Information, dass wir den Kinderwagen zurückgeben und das Geld wiederbekommen könnten, falls irgendetwas passierte, und trotz ihres sorglosen und heiteren Tonfalls, wir brauchen nur eine kleine schriftliche Bestätigung, schien alles andere stehen zu bleiben – vor uns sahen wir das Blut in der Toilettenschüssel, eine schreiende Krankenwagenfahrt, einen Kindersarg, einen runzligen alten Gynäkologen, der seine Brille putzt und eine kleine schriftliche Bestätigung schreibt, damit wir hierher zurückfahren können, um die hübschen Designerstoffe und die cognacfarbenen Lederdetails am Handgriff in diese groteske Kultstätte zurückzubringen, und ich hörte Carola in die Leere hinausflüstern, dass so etwas dann ihre Mutter übernehmen müsse.

Aber auch diese Angst verflüchtigte sich wieder, auch dieser Moment ging vorüber, und es blieb nur noch die Summe übrig, die Ziffern auf dem Display der Registrierkasse, ein Betrag, der geringfügig höher war als der Preis meines ersten Autos.

»Sollen wir eine Ratenzahlung einrichten?«, fragte die Dame mit einem strahlenden, einladenden Lächeln. Ich sah mich in dem Laden um, sah zum ersten Mal die anderen Väter, den gestressten Fußballanhänger mit dem Fanpullover, den Migranten mit dem zerknitterten Anzug, den älteren Herrn mit der Lederjacke und der geklebten Brille und begriff, dass es so lief: Die Leute mussten sich Geld für diese Dinge hier leihen, sie müssen SMS-Kredite bezahlen, Zinsen, Bearbeitungsgebühren, Mahngebühren, sie sitzen in ihren kleinen Vororten und stottern mit jedem Monatslohn ihre Teddybären und Decken und Kinderwagen ab, und in mir wuchs der Stolz.

»Nein, nein«, sagte ich und reichte ihr die Karte, »direkt alles zusammen.«

Es gibt eine Stelle zwischen der glatten, über den Schädelknochen gespannten Oberfläche der Stirn und dem schon jetzt sehr kräftigen, dunklen Haar, ein flauschiges, unabgrenzbares Zwischengebiet, das manchmal – besonders wenn es warm und dunkel ist wie jetzt – in die Schläfe wandert oder hinter das Ohr oder die Fontanellen oder sogar bis ganz hinten in den Nacken. Dort kann ich die Nase hineinbohren und den Duft von haariger, sanfter Haut und süßer, eingetrockneter Milch wahrnehmen, der nach ein paar Tagen etwas schärfer wird, beinahe wie gereifter Käse, bis man sie wieder sauber wäscht. Eine Schwere auf meinem Arm wie von einem Sack mit warmem, frisch durchgedrehtem Hackfleisch, die Konsistenz wie rohe Wurst, luftig in einen Darm gestopft mit vorsichtigen Händen, um die empfindliche Oberfläche nicht zu zerreißen, nichts ist gespannt oder geschwollen, keine Muskeln, keine Verhärtungen. In der Schläfrigkeit verschwinden die Grenzen zwischen ihr und mir und alles wird zu Atem und weichem, warmem, klebrigem Gewebe, sie ist nackt, abgesehen von der Windel, es ist Monate her, dass sie einen Schlafanzug im Bett trug, es ist zu warm.

Becka hat ihre Flasche ausgetrunken und ein Bäuerchen über meiner Schulter gemacht und wir sind zusammen eingeschlafen, als die ersten Sirenen wie aus dem Traum heraus erklingen, zuerst entfernt und unbedeutend, wie das Piepen einer Spülmaschine oder eines Wäschetrockners, wenn das Programm beendet ist, ein Teil des ständigen Lärms, nach einer halben Minute deutlicher, die Sirenen durchschneiden den Filter, die Blase, dringen hinein zu uns.

»Das ist bestimmt nur eine Autobombe«, sagt Carola mit dem Rücken zu mir, ein alter Scherz von dem Semester in Malmö, ein

Die Sirenen kommen näher, sie müssen jetzt hier draußen auf den schmalen Straßen sein, vielleicht wollen sie zu dem einsamen, alten Mann, der unten im blauen Haus wohnt, der Schuppenflechte im ganzen Gesicht hat, er wird wohl schon über siebzig sein. Aber Krankenwagen und Polizei kommen bei einem natürlichen Tod doch nicht mit Sirenen angefahren?

Ich lege Becka auf die Matratze, sie jammert, streckt die Arme in die Luft, der kleine Körper ist gespannt wie ein Bogen, ich stelle die Füße auf den alten Dielenboden und gehe zum geöffneten Fenster. Es ist nicht so heiß wie gestern, vielleicht nur dreißig Grad, und es herrscht eine angenehme Brise, ich sehe, wie die Krone der hohen Kiefer schaukelt und sich im Wind neigt. Die Hitze hat nachgelassen, es ist aufgefrischt, endlich ist die Luft weniger stickig.

»Heute wird ein schöner Tag«, sage ich zu niemandem.

Im Kinderzimmer ist es mucksmäuschenstill, ich klopfe an und öffne die Tür, sie liegen jeweils im eigenen Bett mit ihren Bildschirmen und Kopfhörern, der Geruch nach schmutziger Wäsche und Süßigkeiten und ihren schlaffen, jungen Körpern ist so dick, dass man ihn mit Messern schneiden kann, und ich sage ihnen ganz

»Die Zahnfee war hier und hat einen goldenen Zehner in mein Glas gelegt!«

»Oh, tatsächlich? Und der Zahn ist immer noch da?«

»Ja, weil sie ja weiß, dass ich die sammle! Dass ich sie aufbewahre!«

»Das ist ja großartig.«

»Papa?«

Er lächelt, es ist ein zuckersüßes, leicht übertriebenes Lächeln, mit dem er angefangen hat, nachdem Becka zur Welt gekommen und er nicht mehr der Jüngste war, er benutzt es, wenn er sich seiner Kindlichkeit allzu bewusst wird und weiß, dass er etwas tut, wofür er eigentlich zu groß ist, ein kleines Theaterstück, das er aufführt, damit er sich wieder klein fühlen darf.

»Papa, glaubst du, dass es die Zahnfee auch in Thailand gibt?«

Ich streichle durch sein feuchtes Haar, spiele das Kinderspiel mit, vielleicht weil ich es auch ein bisschen brauche.

»Natürlich gibt es sie da auch, mein Süßer. Sie ist wie der Weihnachtsmann, sie fliegt herum, allerdings nicht mit Rentieren, sondern mit …«

»Zahntrollen!«

»Genau! Zahntrolle, die sie … gefangen hat. Mit …?«

Er muss nicht länger als eine Sekunde nachdenken.

»Mit Zahnseide!«

Wir lächeln beide über die gemeinsame Phantasie, sind beide gleich verliebt in das alberne Bild einer Zahnfee, die in einem Wagen sitzt – konstruiert aus verlorenen Zähnen? Mit Zahncreme als Kleber? –, der von einer Handvoll wütender, aber starker Zahntrolle gezogen wird, so etwas machen wir zusammen, machten wir,

Unten in der Küche steht noch alles von gestern, Töpfe, Bratpfannen, dreckige Teller und Weingläser, wir vergessen immer, uns Wasser für den Abwasch aufzuheben. Das Monopoly-Spiel, bei dem die dicken Geldstapel daran erinnern, wie Carola die Kinder gewinnen ließ, an unseren Streit danach. Ich machte mir Sorgen und redete über Regeln und Konsequenzen, okay, Zack ist zehn, aber eine Vierzehnjährige wie Vilja muss lernen, dass es nicht geht, sich einfach einen Stapel Geld von der Bank zu nehmen, wenn das eigene Geld nicht mehr reicht, und sie lächelte dieses traurige, resignierte Lächeln und sagte, dass sie noch früh genug lernen wird, wie der Kapitalismus funktioniert, das wird man leider nicht vermeiden können.

Ich überprüfe reflexhaft den Wasserhahn. Nur ein schwaches Brausen, mehr nicht. Es stört mich weniger als früher, wir haben Wasser in Flaschen, wir haben Getränke für die Kinder und Bier für uns. Pinkeln kann man hinter einem Baum, Kleider kann man im See unten waschen, den Abwasch mit ein bisschen Papier abreiben. Die einzige echte Zumutung, für deren Vermeidung ich gerne bezahlen würde, sind die Kackwürste, die in der Toilette herumschwimmen, die langsam mit immer mehr Kot und Papier gefüllt wird, wir versuchen, den Kindern beizubringen, dass sie Bescheid sagen, damit wir ihnen mit einem Töpfchen helfen können, aber Zack vergisst es immer wieder und Vilja weigert sich einfach, also muss am Ende alles mit einem Kochtopf und einem Wischeimer gereinigt werden, während ich mir über die Kopfhörer Musik anhöre, durch den Mund atme und das Gehirn auf Standby setze.

Zack steht jetzt hier und hat schon die Badehose angezogen, seit Wochen hat er nichts anderes mehr getragen als Badehosen und ich gebe ihm ein Glas Milch und sehe zu, wie er es austrinkt. Dann gehen wir, er läuft vor mir her, auf den schmalen Schotterweg hinaus, der beinahe weiß vor Staub ist, der trockene, milde Wind, der die

Der alte Mann ist nicht tot, er steht draußen und blinzelt im Sonnenschein, als wir zum Steg hinunterkommen, der Wind spielt mit seiner grauen Windjacke, der rot-weiße Schorf im Gesicht ist weniger auffällig, als ich ihn in Erinnerung habe, die Sonne hilft da natürlich.

»Seid ihr noch da?«, sagt er und klingt fast ein bisschen verärgert.

»Selbstverständlich«, antworte ich. »Wir haben unser Haus über den Sommer vermietet, deswegen müssen wir …«

»Ihr seid noch da«, wiederholt er im selben vorwurfsvollen Tonfall. »Die meisten anderen sind am Wochenende gefahren.«

»Bei uns läuft das problemlos.« Ich ärgere mich über den alten Mann, aber noch mehr über meine eigene Reaktion, dass ich das Gefühl habe, mich verteidigen zu müssen, als wollte ich seinen Segen bekommen. »Für die Kinder ist es bestimmt sehr nützlich, die Auswirkungen mit eigenen Augen zu sehen. Wenn sie es sonst nur in der Schule lernen, ist es zu abstrakt.«

Zack läuft unbekümmert an dem Mann vorbei, hinauf auf die kleine Sandfläche neben dem Steg, und sucht nach unseren Sachen. Unter einer alten, abgeblätterten Bank liegen der aufblasbare Plastikdelfin und die Luftmatratze, mit der wir immer spielen, sowie ein kleines Necessaire mit Seife und Shampoo für Seewasser, er findet es so lustig, wenn er sich beim Baden waschen kann, der Schaum, der in die Wellen fließt, Papa, können wir die Haare waschen kreischt er und sieht auf den leeren See hinaus mit dem stolzen Blick eines Kinds, dem eben noch ein Hotel in der Bahnhofstraße und drei Häuser in der Schlossallee gehört haben.

Der Mann sieht dem Jungen beim Umherlaufen zu. Ein unmerkliches Kopfschütteln.

Er hebt die Hand über den Kopf und zeigt nach hinten, zum See, und wirft mir einen schweren Blick zu.

»Siehst du das nicht? Es hat sich heute Nacht mehrere Kilometer bewegt.«

Der See, die Wellen, der Schaum weiter draußen. Auf der anderen Seite Wald, Grün, das in Gelb und Braun übergeht. Und weiter hinten, in den Baumkronen, ein dunkler Dunst, der in den leeren Himmel steigt, wie eine Gewitterwolke, aber in Bewegung, ein schneller, qualmender Aufmarsch.

Der alte Mann schnuppert hörbar mit aufgesperrten Nasenlöchern, und aus reinem Reflex heraus mache ich dasselbe. Es sticht.

Rauch.

Zack sitzt schon auf dem Rand des Stegs, er hat den Plastikdelfin auf dem Schoß und spricht mit ihm, sein ewiges nasales, kindliches, in sich selbst gewendetes Gebrabbel, die Luft ist aus dem Spielzeug entwichen, so dass der Delfinkörper sich beinahe zu einem V in seinen Armen formt.

*

Eine ganze Stunde lang fühle ich mich so lebendig wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Überall schlägt der Puls des Abenteuers, ich mache ein Selfie mit Zack auf dem Steg mit dem See im Hintergrund und schreibe Da hinten im Wald brennt es. Zeit, sich davonzumachen – jetzt sind wir auch Klimaflüchtlinge. Traurig, aber wahr. #climatechange und stelle es direkt ein und sofort kommen Herzen und Emojis und Mitteilungen wie Wo seid ihr? und Großer Gott, können wir euch irgendwie helfen? und Carolas Mutter ruft sie an und geht die Wertsachen durch, was absolut mit ins Auto kommen muss für den Fall, dass, ihre Schwester ruft an, ihre Freundinnen rufen an, niemand ruft mich an. Ich fühle mich fokussiert, entschlossen, ich teile den großen Kindern mit, dass sie genau eine halbe Stunde

Die SMS und die Likes strömen weiter ein. Ich gehe nach draußen zum Auto, um alles einzupacken, das Radio ruft an, eine gestresste Redakteurin fragt mich, ob ich mich interviewen lassen möchte, und plötzlich bin ich mitten in einer Livesendung, Didrik von der Esch, von Beruf PR-Berater, befindet sich mit seiner Familie im Waldbrandgebiet nördlich des Siljan-Sees, was passiert gerade um Sie herum, Didrik?

Tja, wir halten uns seit ein paar Wochen im Sommerhaus meiner Schwiegermutter in Dalarna auf, und im Laufe der Zeit ist hier alles schwieriger geworden wegen der Dürre und der Hitze, und jetzt haben wir gehört, dass wir aus Sicherheitsgründen umgehend abreisen müssen.

Didrik, sind Sie zufrieden mit den Informationen, die Sie von den Behörden erhalten haben?

Ich schließe das Telefon an mein Headset an und lade Sachen in

Ich genieße dieses Gespräch, lasse die Worte auf der Zunge zergehen, klappe den Kinderwagen zusammen und lege ihn ganz oben in den Kofferraum und höre das bestürzte Schweigen der Radiosprecherin, die eine hübsche kleine Kunstpause daraus macht, bevor sie sagt Didrik, Sie wirken erstaunlich gefasst, trotz des Ernstes der Situation?

Ja, wir werden natürlich ausgezeichnet zurechtkommen, unser Besitz und Eigentum sind versichert, nicht so wie in den armen Gegenden der Welt, wo die Klimakrise jedes Jahr Millionen Opfer fordert, die Riesenstädte in Indien und Afrika, in denen das Wasser ausgegangen ist, der Westen der USA und Kanada, wo im Prinzip ganze Bundesstaaten abbrennen, vielleicht ist es diese Art von Ereignissen, die man braucht, damit wir in Schweden aufwachen und verstehen, wohin wir auf dem Weg sind.

Das Studio bedankt sich dafür, dass ich mir die Zeit genommen habe und Das war also Didrik von der Esch, der gerade zusammen mit seiner Familie das Sommerhaus in Dalarna evakuieren muss, und ich drücke das Gespräch weg und schlage die Kofferraumklappe zu und nach dem Knall hallt die Stille.

Keine Vögel. Keine Autos. Nur das Rauschen des Winds in den Bäumen.

Ich schaue noch einmal auf das Handy. Es sind noch mehr Likes gekommen, aber keine SMS. Die Leute denken wohl, dass wir schon auf dem Weg sind.

»Sind langsam alle bereit für die Abfahrt?«, rufe ich ins Haus hinein und bin stolz darauf, wie entspannt ich klinge.

Carola und Vilja kommen mit Becka heraus und wir heben sie auf den Rücksitz und schnallen sie im Babysitz fest. Zack steht im Flur mit seinem Spiderman-Rucksack und ich möchte ihn gerade ins Auto bringen, als ich entdecke, dass er weint, stumm, verbissen, das macht er sonst nie. Ich gehe vor ihm in die Hocke.

»Kleiner, was ist denn? Du hast doch nicht etwa Angst? Alles ist gut, wir fahren jetzt einfach.«

»Ich finde es nicht.«

Ich nehme den Rucksack, befühle ihn, er ist voller Kleidung, Bücher, im Außenfach spüre ich das harte Rechteck des Tablets.

»Aber es ist doch alles da, du hast wirklich gut gepackt.«

Zwei große Tränen kullern nebeneinander die Wangen herunter.

»Der goldene Zehner. Und der Zahn. Ich habe sie überall gesucht und Vilja sagt, dass wir nicht länger suchen können, sonst würden wir verbrennen.«

»Aber Zacharias, nein. Hier wird gar nichts verbrennen. Wir fahren einfach früher nach Hause, das ist doch nicht gefährlich. Komm, wir setzen uns ins Auto. Was willst du hören? Das Phantom der Oper? Oder noch mal die Zauberflöte

Das Gesicht ist eine starre Maske aus Verzweiflung und Trotz.

»Der Goldzehner. Und der Zahn. Den wollte ich doch aufbewahren.«

»Okay, mein Süßer, dann denken wir nach, er war neben deinem Bett, als du heute Morgen aufgewacht bist, oder?«

Aber es ist keine gute Idee, pädagogisch vorzugehen und mit ihm in Gedanken durch das Haus zu wandern, es ist zu klein, das Kinderzimmer, unser Zimmer, das Badezimmer und dann die kleine Küche und das Zimmer unten, das ist alles, man hat es in zwei Minuten durchsucht. Und ich sehe es ihm an, er weiß es, wagt es nur nicht zu sagen. Er hat zu viel Angst.

Der kleine dünne Körper, der auf den Steg lief, das Shampoo und das aufblasbare Badetier, er saß ganz hinten an der Kante, als er den Dunst und den Rauch auf der anderen Seite des Sees sah, der Nacken wurde steif, der Kopf gedreht, um mich anzusehen, um Trost zu suchen oder Sicherheit, und für einen kurzen Augenblick, bevor ich die ganze Tragweite dessen erfasste, was der alte Mann mir zeigte, und einen Plan machen konnte, war ich nicht für ihn da, ich war genauso verloren wie er.

»Ich wollte den Zahn Delfini zeigen«, schluchzt er.

»Natürlich wolltest du das.«

»Und jetzt ist der Zahn da unten und verbrennt.«

»Das macht er natürlich nicht. Er liegt dort in dem Marmeladenglas und wartet auf dich, bis wir das nächste Mal wiederkommen.«

Zack sieht auf den Boden, nickt. Geht stumm zum Auto mit seiner Tasche. Carola sitzt auf der Rückbank mit einer offenen Tür in der unerträglichen Hitze und sieht mich fragend an.

»Er hat seinen Zahn unten am Steg vergessen.«

Vielleicht ist es wegen des Anflugs von Angst in ihren Augen, vielleicht wegen dieses Augenblicks vor einer Weile, als sie mit der Ikeatüte nach unten kam, als sie mich einfach küsste, als es einen

*

Der alte Mann ist immer noch dort. Er sitzt auf der abgewetzten Holzbank und sieht auf den See hinaus. Der Himmel über uns hat jetzt fast denselben grauen Farbton wie seine Jacke, aber auf der anderen Seite ist er ein dunkler, flauschiger Filz, schwellend, wälzend, vor einer Stunde war der Rauch ein dunstiger Schirm, jetzt ist er breit, kompakt, hässlich.

Und die Luft. Der Schmutz, wie die Augen tränen.

»Hören Sie«, sage ich. »Sie sollten jetzt wirklich aufbrechen.«

Er dreht sich mühsam um und sieht mich an.

»Das ist schon lustig, letztes Mal wollten sie mich zwingen, zu Hause zu bleiben. Anderthalb Jahre lang war ich eingesperrt. Durfte niemanden sehen, nicht einmal die Nachbarn. Jetzt ist es umgekehrt. Jetzt darf ich nicht mehr bleiben.«

Man hört es am Tonfall und der Wortwahl, dass er es schon vorher ausformuliert hat, vielleicht bin ich nicht der Erste, der ihn fragt, vielleicht hat er mit einem Kind oder Enkelkind telefoniert, es ist dieser schmatzende, pompöse Stoizismus von älteren Männern seiner Art.

»Ich gehe nirgendwo hin. Das hier ist mein Zuhause. Seit 1974 habe ich jeden Morgen an diesem See gesessen. Es gibt nirgends, wo ich hinfahren könnte.«

»Ich denke, dass wir jetzt …«

»Außerdem«, fügt er mit einem kleinen Grinsen hinzu, »ist mein

»Jetzt hören Sie aber auf«, ermahne ich ihn erneut. »Es wird schon jemand kommen und Sie abholen.«

»Die Polizei war gerade hier, hat an meine Hütte geklopft. Aber ich bin nicht zur Tür gegangen. Ich komme alleine zurecht.«

Das Pathos in der Geste des alten Mannes, wie er mir mit einem stolzen Nicken den Rücken zuwendet, um weiter auf den einsamen See zu starren, ist beinahe unerträglich, als würde man einem Betrunkenen dabei zuschauen, wie er zum fünften Mal am selben Abend versucht, an einem Türsteher vorbei in ein Lokal zu kommen, so groß ist der Unterschied zwischen dem, was ich seiner Meinung nach sehe (den Kapitän eines Ozeandampfers, der mit seinem Schiff untergeht), und dem, was ich wirklich sehe (einen verwirrten alten Knacker, der die Rettungsmaßnahmen boykottiert).

Ich gehe auf den Steg. Das kleine Marmeladenglas steht ganz hinten, direkt an der Badetreppe, das Thermometer schaukelt wie gewohnt im Wasser, befestigt mit einer dünnen Angelschnur an einem der Poller, und ich gebe dem Impuls nach, es abzulesen. Neunundzwanzig Grad. Der Delfin ist nirgendwo zu sehen, der Wind hat ihn wohl mitgenommen.

Ich sehe zum Waldrand. Der Rauch ist nicht mehr dunkel, sondern kohlschwarz. Zwischen den Baumwipfeln sehe ich Flammen aufsteigen. Der Himmel ist eine Brühe aus Ruß, Ascheflocken und roten Streifen, er zittert in der Hitze, durch den Wind kann ich das Knistern von brennenden Bäumen und Büschen hören.

Ich drehe mich schnell um und gehe zurück. »Kommen Sie schon«, sage ich zu dem alten Mann. »Wir rücken in unserem Auto zusammen, Sie können nicht hierbleiben, das ist Ihnen doch klar, soll die Gesellschaft etwa unnötig Zeit und Ressourcen verschwenden, nur weil Sie …«

Er rührt sich nicht von der Stelle und ich mache einen Schritt auf die Bank zu, strecke eine Hand aus. Der alte Körper versteift sich

Es knallt. Es ist ein kräftiger Knall, ein Geräusch, das nichts ähnelt, was ich jemals gehört habe, ein betäubender Donner, der über den See hallt.

»Autoreifen«, sagt der alte Mann und lässt den Anflug eines Lächelns in seinem zerfurchten Schuppenflechtegesicht spielen. »So klingt es, wenn sie in der Hitze explodieren. Hört man viele Kilometer weit.«

Ich halte das Marmeladenglas fest in meiner Hand. Ich laufe.

*

Becka weint, die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht, der Wind hat nachgelassen und es ist heiß geworden, immer noch nicht so wie gestern, aber fast. Carola gibt ihr den Muttermilchersatz, aber Becka sitzt im Kindersitz, und das funktioniert sonst nie, der Winkel ist falsch und sie kleckert und sabbert und stößt die Flüssigkeit in kleinen, sauren Klumpen wieder auf.

»Hier«, sage ich zu Zack und versuche zu lächeln, er nimmt das Glas mit leblosem Schweigen, während er zusammengekrümmt auf seinem klebrigen Sitz hockt, kontrolliert aber genau, ob die Münze und der Zahn noch da sind.

»Der alte Mann ist noch da unten«, sage ich zu Carola. »Er weigert sich, den Ort zu verlassen.«

»Aber das geht doch nicht. Im Radio haben sie gesagt, dass das Gebiet geräumt werden muss. Alle sollen sich nach Östbjörka oder Ovanmyra begeben.«

»Er will nicht.«

»Hast du denn versucht, ihn zu überreden?«

»Ja, Carola«, sage ich übertrieben langsam und deutlich, »ich habe ihm selbstverständlich gesagt, dass er mit uns kommen soll, aber er sagt nein und du darfst sehr gerne noch einmal zu ihm hinuntergehen und es selbst versuchen.«

»Ich füttere Becka«, sagt sie hart und betrachtet das Kind in der Babyschale.

Ihre ständige Trumpfkarte. Ich seufze, versuche, rational zu denken, setze mich auf den Fahrersitz und schnalle mich an.

»Okay, wir fahren runter zum See. Wenn er immer noch dort ist, versuchen wir beide, ihn zu überreden. Vielleicht ist es schwerer für ihn, nein zu sagen, wenn die Kinder dabei sind, wir können sie vielleicht irgendwie als Hebel verwenden. Wenn er sich weigert, denken wir uns etwas aus. Okay?«

Sie nickt, erst angespannt, aber dann lässt die Spannung nach und sie kann sich überwinden, mich wieder anzusehen, und flüstert klar, okay.

»Ist das der, der in dem alten Haus wohnt, neben dem, wo Ella und Hugo früher gewohnt haben?«, fragt Vilja plötzlich. »Dieser uralte Knacker? Wird er jetzt verbrennen? Wollt ihr ihn nicht retten?«

Doch, sagen wir beide gleichzeitig, und Carola fährt fort mit Hier wird es nicht brennen, meine Süße, sie wollen nur, dass wir vorsichtig sind und ich sage Wir wollen nur, dass diejenigen, die das Feuer löschen, nicht auch noch nach ihm suchen müssen, und während wir all das sagen, drücke ich auf den Startknopf, aber das Auto springt nicht an.

Es springt nicht an.

Aber das Auto springt nicht an.

Ich drücke immer wieder auf den Knopf, kontrolliere, dass der Schalthebel in Parkstellung ist, die Bremse angezogen, dass alle Türen geschlossen sind, obwohl es keine Rolle spielen sollte, aber das Auto springt nicht an, nichts leuchtet, piept, antwortet, es ist vollkommen tot.

Ich atme tief durch die Zähne ein und will direkt jemanden anbrüllen, Zack, Vilja, wer auch immer von den beiden vergessen hat, die Lampen auszuschalten, nachdem sie etwas gesucht haben, was ihnen zwischen die Sitze gerutscht war, oder sie haben die Tür nicht richtig geschlossen oder mit den Scheinwerfern gespielt oder den

»Es war gestern, als es so warm war. Becka hat geschrien. Wir haben uns in den Wagen gesetzt. Nur einen kurzen Moment. Mit der Klimaanlage, sie fand es so schön, als ihr die Luft ins Gesicht blies.«

Es ist still im Auto. Ich lasse die Hände schwer auf dem Lenkrad ruhen.

»Ich habe nicht nachgedacht«, fährt sie zögernd fort, »ich wusste nicht, dass die Batterie … verzeih mir. Verzeih mir verzeih mir verzeih mir, bitte Didrik, verzeih mir.«

*

Ich möchte nie die Kinder eines anderen Mannes bei mir haben. Ich habe noch nie zuvor darüber nachgedacht, aber so ist es. Okay, wenn er tot wäre oder vielleicht verschwunden, wenn ich das Gefühl hätte, ich könnte an seine Stelle treten (also nicht verschwunden in dem Sinne, dass er im Gefängnis säße oder im Drogenmissbrauch versunken oder psychisch krank wäre, ein Wrack, das mitten in der Nacht anrufen und nach Geld fragen könnte, sondern er müsste schon richtig verschwunden sein, weg). Aber jemand, der anwesend ist, der sich nach ihnen sehnt, der sie haben will, und ich würde sie ihm wegnehmen, ihm sein halbes Leben stehlen, ihn zum Jede-zweite-Woche-Papa machen, zum Jeden-zweiten-Geburtstags- und Jedes-zweite-Ostern- und Jedes-zweite-Weihnachten-Papa, das könnte ich nicht fertigbringen und Hand aufs Herz, das ist kein Mitleid mit einem etwas verbitterten Ex, sondern ich will keine anderen Kinder haben als meine eigenen und würde niemals denken können, dass es noch einen anderen Vater geben könnte als mich.

Aber sie wollte die Kinder haben. Wenn wir ineinander verschlungen lagen, konnte sie plötzlich darüber sprechen, dass sie

Es war wohl zu der Zeit, als es auseinanderzufallen begann, denn bis dahin hatte ich immer an uns als nur wir beide gedacht. Unsere Gespräche über Kunst, Politik, Philosophie in kleinen, versteckten Restaurants in den Touristenvierteln, wo niemand, den wir kannten, essen würde, die begehrlichen Blicke, die Hände unter dem Tisch ineinandergefaltet. Die marathonlangen und trotzdem allzu kurzen Nachmittage in Hotelzimmern, wo wir, nachdem wir stundenlang wie Besessene gefickt, die wildeste, verzweifeltste Lust gesättigt hatten, eine Pause machten und Essen aufs Zimmer bestellten, das wir mit Champagner hinunterspülten, unter die Dusche gingen und danach begannen, uns ernsthaft dem Sex zu widmen, auf einer ganz anderen Ebene, systematisch unsere Spiele und Phantasien zu verwirklichen begannen, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie hatten. Die langen Chatverläufe, in denen wir das Kommando über die Gedanken des jeweils anderen übernahmen und sie in eine Richtung drehten, die wir zuvor niemals einzuschlagen gewagt hätten.

In meiner Welt waren es nur sie und ich. Ich sah mir Zweizimmerwohnungen an, Dreizimmerwohnungen, dachte etwas zerstreut, dass man die Kindersachen jede zweite Woche in Schubkästen unter dem Bett lagern könnte, und einen Monat lang, als es am besten beziehungsweise am schlimmsten war, suchte ich nach Einzimmerapartments, denn war das mit dieser zweiten Woche wirklich so wichtig, war das nicht eher eine kleinbürgerliche Übereinkunft? Geteiltes Sorgerecht natürlich, aber musste man sich wirklich so strikt an den Kalender halten?

Als ich am verliebtesten war, träumte ich von langen Frühstücken in weißen Morgenröcken, schmuddeligen Sexorgien auf einer

Sie habe angefangen, Geld für einen Führerschein zu sparen, flüsterte sie und drückte ihren geschmeidigen, nackten Körper an meinen. Um abholen und bringen zu können. Sie wusste nicht viel darüber, was ein Leben als Eltern bedeutete, aber sie wusste, dass es meistens darum ging, zu bringen und abzuholen, und dazu wäre sie gerne in der Lage.

Ich sehe Carola an, sie sitzt auf der Rückbank neben Becka, stumm, erschrocken, bebende Lippen und in den Augenwinkeln Tränen.

Sie wollte deine Kinder haben. Ich hätte alles mit ihr machen können, alles, außer ihr deine Kinder zu geben. Also blieb ich.

Und machte ein neues.

»Es wird alles gut, mein Schatz«, höre ich mich selbst sagen. »Es wird alles gut, das schaffen wir schon, oder? Das ist bestimmt nur eine Autobombe

Für ein paar Sekunden bleibe ich sitzen, tue nichts, verweile einfach nur einen Augenblick im Duft meines Autos, das Fach in der Tür mit den Eiskratzern und Süßigkeitenpapier, das Handschuhfach mit dem Serviceheft und allen Quittungen, ein roter Umschlag mit CDs, die wir nie spielen, das Gefühl des Lenkrads unter der Handfläche und den Fingern, die leicht genoppte Oberfläche für einen verbesserten Griff, der Becherhalter, in dem ich meinen Kaffee abstelle, das erloschene Armaturenbrett, das die Kilometer, die Geschwindigkeit, den Batteriestatus von Minute zu Minute anzeigte, der Luxus zu wissen – es nicht laut zu sagen, aber zu wissen –, dass ich mir einmal in meinem Leben ein beinahe neues Elektroauto von BMW leisten konnte.

Dann steige ich aus, die Hitze ist jetzt drückend, es ist beinahe

Carola hat den Kindern mit ruhiger Stimme erklärt, was passiert ist, und sie reagieren natürlich vollkommen unterschiedlich, Vilja weint, tröstet und schimpft abwechselnd, während Zack von seinen Superkräften spricht, von Hubschraubern und Luftballons, die kommen und uns retten können, und ich denke noch Jetzt sollte man so einen begabten Sohn haben, der sich für Chemie, Physik, Mechanik interessiert und sich überlegt, wie man ein Kabel an das Stromnetz im Haus anschließen und damit das Auto anwerfen könnte oder wo ein verlassener alter rostiger Saab 900 steht, von dem er weiß, wie man ihn heimlich anzapfen kann, so einer, der Preise gewinnt und die Königin treffen darf und etwas Schlaues und Brauchbares zustande bringt anstelle dieses ständigen Harry-Potter-Gebrabbels, bevor wir ein Flugzeug durch den Himmel donnern sehen, ganz nahe am Boden, eines dieser großen gelben.

»Hier!«, brülle ich und schwenke so heftig den Arm, dass es sich anfühlt, als würde ich ihn mir auskugeln. »Hier!« Aber das ist natürlich sinnlos und dumm, damit erschrecke ich nur die Kinder.

Sie sind aus dem Auto gehüpft, stehen um mich herum, schauen in den Himmel, wollen wissen, was ich gesehen habe.

»Ein Flugzeug. So eines, das Wasser holt und es auf das Feuer schüttet.«

Sie sehen mich an, suchen in meinem Gesicht nach einer Antwort, ist es gut, dass das Flugzeug hier ist, dürfen wir nach Hause fahren, wie nah ist das Feuer?

Wie nah ist das Feuer?

Becka schreit. Ich gehe um das Auto herum, öffne die Tür zur

»Kommt«, sage ich. »Wir müssen gehen.«

»Und der alte Mann?« Vilja sieht erst mich, dann ihre Mutter misstrauisch an. »Wir wollten doch den alten Mann holen?«

Carola streicht ein paar schweißnasse Haarsträhnen aus ihrer Stirn.

»Nehmt eure Sachen, Kinder«, sagt sie und öffnet den Kofferraum.

*

Carola trägt die blaue Ikeatüte und die neue bonbonrote Wickeltasche, die wir für den Urlaub gekauft haben. Vilja zieht den großen Rollkoffer mit dem Großteil unserer Kleider. Zack trägt seinen Spiderman-Rucksack und weint immer noch, weil ich ihn gezwungen habe, die Bücher zurückzulassen, drei von ihnen waren aus der Bibliothek und wir haben bereits jede Menge Mahnungen bekommen und jetzt macht er sich Sorgen, dass er vielleicht nie wieder welche ausleihen darf, er weint und nölt und beschwert sich über Schmerzen in seinen Füßen. Ich trage einen Fjällräven-Rucksack mit unseren Wertsachen, eine Tüte mit Nahrungsmitteln und Wasser in der einen Hand, mit der anderen ziehe ich Becka im Kinderwagen. Wir tragen unsere Atemschutzmasken, moderne, neue Masken aus hypoallergenem Neopren, die wir in Thailand gekauft und mit hierher genommen hatten, »für den Fall, dass«. Becka quengelt und versucht, sich die Maske vom Gesicht zu ziehen, und ich muss ständig anhalten und sie an die richtige Stelle zurückziehen.

Laut Handy sind es 11,6 Kilometer bis Östbjörka, wir fahren nie in die Richtung, aber auf dem Satellitenbild kommt zuerst ein Schotterweg, dann biegt man nach links ab, auf eine gerade Strecke, die sich allmählich nach rechts neigt, überquert eine Kreuzung, nach der die Strecke ein gutes Stück gerade weitergeht, bis man zu

Die Hitze liegt wie ein Deckel über dem Wald, wir versuchen, im Schatten zu gehen, Zack trägt eine Badehose und Flipflops, Becka liegt nur in einer Windel in ihrem Wagen, ich trage abgeschnittene Jeans und ein altes, ausgewaschenes Lacoste-Hemd. Wir hören die Sirenen aus der Entfernung, sehen mehrere Flugzeuge durch den diesigen Himmel donnern, wir sehen keine Menschen.

Ein Holzstapel, ein Ameisenhügel, ein handgeschriebenes Schild, das auf WILDE KINDER UND SPIELENDE RENTNER hinweist, hier komme ich immer vorbei, wenn ich joggen gehe, wenn der Sommer ganz warm ist, ist die Luft voller kleiner Mücken, die mich umschwirren, wenn ich mein Shirt ausziehe, habe ich sie auf dem Bauch, in den Achselhöhlen und auf dem Rücken, überall, wo der Schweiß rinnt, es ist unerträglich, sie verfolgen mich kilometerweit.

Jetzt ist die Luft leer, der Wald still. Man hört nichts außer dem monotonen Rollen des Koffers und des Kinderwagens.

»Ella ist immer mit dem Hund von dem alten Mann rausgegangen«, sagt Vilja und sieht hinunter auf den Asphalt, zwei helle Augen oberhalb der schwarzen Maske. »Ein schwarzer Labrador, er heißt Ajax. Manchmal durfte ich mitgehen.«