Stephan Waldscheidt

 

Die STIMME

 

Leser verzaubern mit den Stimmen
von Autor, Erzähler und Charakter

 

(Meisterkurs Romane schreiben)

 

Inhalt

 

 

Inhalt

Am Anfang war die Stimme

 

Die Stimmen Ihres Romans

Die Stimmen im Kopf des Lesers

Ein Chor von Stimmen

Warum Sie die Stimme nicht einfach Stimme sein lassen sollten

 

Die Stimme des Erzählers

Bezaubern und Verführen mit nichts als Wörtern

Die Aspekte der Erzählstimme an einem Beispiel erläutert

Was die Erzählstimme leisten kann

Was Stimme von Stil unterscheidet

Die Aspekte der Erzählstimme im Detail

Die perfekt passende Stimme für Ihren Erzähler finden und aufbauen

Misstöne bei der Erzählstimme vermeiden und korrigieren

 

Die Stimme des Charakters

Stimmen der Protagonisten Ihrer Erzählstränge

Die Charakterstimme bei einem auktorialen Erzähler

Die Charakterstimme bei einem personalen Erzähler

Die äußere Charakterstimme in Dialogen

Die innere Charakterstimme in Gedanken

 

Die Stimme des Autors

Die Basis aller Stimmen

So entwickeln Sie Ihre Autorenstimme

Dank

Über Waldscheidt

Impressum

Was darf ich noch für Sie tun?

 

Am Anfang war die Stimme

 

 

Am Anfang war nicht, wie der Schöpfungsmythos sagt, das Wort – am Anfang war die Stimme. Das Wort ist Gehalt und Symbol, die Stimme aber ist Emotion und Kraft und kommt damit eher beim Leser oder Zuhörer an als Inhalt und Verstehen.

Die Stimme ist der durch die Stimmlippen erzeugte und in den Mund-, Rachen- und Nasenhöhlen modulierte Schall. Damit ist sie erfahrbar, ganz körperlich, und durch die Verschiedenartigkeit von uns Menschen – Mund, Rachen, Nasenhöhle sind bei jedem ein klein wenig anders – klingt jeder Stimmerzeuger anders. Die Stimme ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Ein Beleg hierfür sind Computer, die die Stimme zur Authentifizierung verwenden.

Die Stimme ist etwas Einzigartiges. Genau wie Ihr Roman – wie Ihr Erzähler, Ihre Charaktere, genau wie Sie. Über die Stimme finden Sie den individuellen Ausdruck für Ihre Geschichten.

Die Stimme ist bei zahllosen Lautäußerungen beteiligt, etwa beim Schreien, Weinen, Lachen, Singen. Diese Lautäußerungen werden von Emotionen angestoßen und transportieren sie.

Emotionen stehen im Zentrum Ihres Romans. Kein Wunder, dass die Stimme ein ebenso nützliches wie mächtiges Schreibwerkzeug ist.

Die Stimme entsteht bei der Artikulation von Sprache. Sie bringt den Inhalt Ihres Romans auf unverwechselbare wie persönliche Weise zum Leser.

Sie kennen den Begriff Stimme auch aus der Politik: In einer Demokratie hat jeder Wähler eine Stimme. Dort ist sie Ausdruck einer Haltung. Auch in Ihrem Roman ist eine mit der Stimme ausgedrückte Haltung essenziell, denn Sie stellen dem Leser damit einen Erzähler gegenüber, der überzeugt, mitreißt und von Anfang bis Ende fest in der Story hält.

In der Musik ist die Stimme eine Musiziervorschrift für einen oder eine Gruppe von Musikern. In Ihrem Roman sorgt die Stimme entsprechend für den Zusammenhalt aller Charaktere. Sie ist das Medium, in dem sie sich bewegen können und das ihnen damit auch einen Spielraum für ihre Handlungen vorgibt.

Und wenn wir schon bei der Musik sind: Auch Ihre Texte können Sie stimmen. Indem Sie die Stimme der Story, dem Plot, dem Thema und den Charakteren anpassen und beim Schreiben und Überarbeiten immer wieder nachjustieren. Eine erste Stimmung – also das Finden der passenden Stimme – ist vor dem Schreiben ebenso zentral wie in der Musik vor dem Spielen. Falsch gestimmt klingt alles schräg, was Sie dem Leser überbringen, egal wie aufregend die Story, wie sympathisch die Charaktere und wie dramatisch der Plot ist.

In meinem Ratgeber »Der Erzähler: Verführer, Tourguide, Entertainer und Basis der Erzählperspektive« schreibe ich über meinen fiktiven Onkel Max, einen begnadeten Erzähler. Neben seinen Fertigkeiten als Erzähler ist Max mit einer unnachahmlichen Stimme ausgestattet, voller Wärme, Volumen, Ausdruckskraft. Und mit diesem gewissen Etwas, das den Kopf seiner Zuhörer anregt und Bauch und Herz zum Schwingen bringt.

 

Übrigens ...

Eine Lektüre des Ratgeberbruders »Der Erzähler« ist für das Verständnis dieses Buchs über die Stimme nicht notwendig, gleichwohl hilfreich, insbesondere für den Umgang mit der Erzählperspektive und deren Optimierung.

 

Die Stimme ist der Weg, wie der von Ihnen so sorgsam ausgewählte und aufgebaute Erzähler zu Ihren Lesern findet. In Ihrem Roman ist die Stimme das Einzige und damit alles, was die Leser mit Ihrem Erzähler und dadurch mit der Geschichte verbindet. Die Bedeutung der Stimme für Ihren Roman ist entsprechend immens und betrifft jeden Aspekt vom Plot und der Dramaturgie über das Thema und die Charaktere bis hin zu Fragen von Spannung und anderen Emotionen, von Beschreibungen und Dialogen, von Sprache und Stil. Doch auch Charaktere und natürlich der Autor besitzen eigene Stimmen. Auch über diese gibt es im Folgenden viel Spannendes und Unverzichtbares zu entdecken, mit großer Bedeutung für Ihren Roman.

Über die Stimme werden Sie eine Menge erfahren, vieles davon neu oder in einen neuen Zusammenhang gebracht. Wie nebenbei legen wir damit weitere Grundlagen für die Erzählperspektive. Eins ist sicher: Es wird aufregend. Meine Stimme hier schafft es hoffentlich, Sie davon zu überzeugen.

 

Entscheidend für das Gelingen Ihres Romans ist, dass Sie sich zielgerichtet mit dem Thema Stimme auseinandersetzen, um dann Ihren eigenen Weg, Ihre eigenen Stimmen zu finden.

Ich freue mich auf Ihre (noch besser klingenden und noch besser erzählten) Romane.

 

Ihr Stephan Waldscheidt

 

Hinweis für Roman- und Schreibanfänger

Das Buch nennt sich aus gutem Grund »Meisterkurs«. Dennoch können auch Roman-Anfänger von ihm profitieren. Seien Sie sich jedoch gerade als weniger erfahrene Autorin oder Autor im Klaren darüber, dass wir viele Knackpunkte beim Schreiben ansprechen werden, denen Sie noch nicht begegnet sind und deren Bedeutung Sie daher kaum abschätzen können. Das ist, als würden Sie als Wasserhasser vor Ihrem ersten Segeltörn in einem Ratgeber über Achterliek, Großtrombe und Brüllende Vierziger lesen. Sie werden dort in jedem Fall Nützliches übers Segeln lernen, selbst wenn Sie noch nicht wissen, was da an Wind und Wellen auf Sie zukommt.

Die Themen hier sind so essenziell, dass ich es für sinnvoll halte, wenn Autorinnen und Autoren jeden Reifegrads sich damit befassen. Immer wieder.

 

Hinweis für mich

Gerade weil wir hier gemeinsam Neuland betreten, bin ich Ihnen für Hinweise, Anregungen, Ideen zu den Themen dieses Buchs dankbar: rat@schriftzeit.de

 

Übrigens ...

Selbst der ursprüngliche Titel dieses Ratgebers wurde von der Stimme beeinflusst, genauer: ihrem Klang. Anfangs hieß das Buch »Erzähler & Stimme«, getreu der Reihenfolge der beiden Teile im Buch selbst. Laut ausgesprochen aber klang der Titel dann gar nicht mehr so gut – und wesentlich besser umgekehrt: »Stimme & Erzähler«. Probieren Sie es aus. Bei »Stimme und Erzähler« wechseln sich betonte und unbetonte Silben harmonisch ab: —◡ — ◡—◡. Anders bei »Erzähler und Stimme«: ◡—◡ — —◡.

Weil es so viel Wichtiges über Stimme und Erzähler zu berichten gibt, habe ich das Buch zum schnelleren Durcharbeiten in zwei Bände aufgeteilt. Damit Sie bald wieder zurück zu dem kommen, was Sie eigentlich tun wollen: Schreiben.

 

Um das meiste aus diesem Buch herauszuholen, sollten Sie Ihre Stimme und Ihre Ohren während der Lektüre immer mal wieder einsetzen.

Die Stimmen Ihres Romans

Die Stimmen im Kopf des Lesers

 

 

»Ich will daran glauben, dass es wahr ist, also sorg dafür, dass ich es glauben kann«, beschreibt Joseph Bates eine zentrale Forderung der Leser an den Autor.[Fußnote 1] Mindestens so wichtig dafür wie der Inhalt sind die Stimmen, in denen der Roman zu den Lesern spricht.

Sobald der Leser Ihren Roman zu lesen beginnt, drängen sich diese Stimmen in seinen Kopf, und das sind keineswegs nur die Stimmen der Romanfiguren. Je nachdem, wie sichtbar der Erzähler ist, ertönt auch seine Stimme im Leser. Und je nachdem, wie deutlich der Autor selbst unter der Erzählstimme hervorscheint, wird er vom Leser wahrgenommen.

Ob der Leser sich einem wohltönenden Chor von Stimmen hingeben kann oder ob er in einer Kakophonie aus Stimmengewirr ertrinkt, bestimmen Sie.

Falls Sie es aktiv bestimmen.

Viele Autorinnen und Autoren begehen den Fehler und lassen ihre Stimmen Stimmen sein. Stimmt (!) schon, die Stimme ist auch dann präsent, wenn Sie sich keine Gedanken über sie machen. Was eine miserable Idee wäre. Denn dann würden Sie auf ein gewaltiges Repertoire an Möglichkeiten verzichten, unter anderem:

 

• Ihre Stimmen aktiv einsetzen und damit mit die mächtigsten und wirkungsvollsten Instrumente in Ihrem Orchester als Autor nutzen.

• Ihre Stimmen bewusst verändern, um bestimmte literarische und erzählerische Wirkungen zu erzielen.

• Ihre Stimmen verbessern und optimieren.

• Eine neue Erzählstimme bewusst und zweckgerichtet aufbauen, insbesondere über die Komponenten der Stimme wie Haltung oder Ton.

• Fehler aufspüren und beseitigen. Und aus diesen Fehlern lernen.

• Ihren Lesern ein intensiveres Lese-Erlebnis verschaffen.

• Ihre Chancen auf einen Agentur- und Verlagsvertrag erhöhen.

• Ihre Chancen auf einen Bestseller vergrößern.

• Ihr erzählerisches und sprachliches Know-how auf eine neue Ebene heben.

• Mit anderen, etwa Ihrer Lektorin oder Kollegen, über Ihre Stimmen konstruktiv diskutieren.

• Ein besserer Autor, eine bessere Autorin sein.

 

Die Stimme in ihren vielen Formen gehört zu den Themen im Handwerk des Romaneschreibens, die am wenigsten greifbar sind. Weil die Stimme alles durchdringt, jedes Kapitel prägt, in jedem Satz zu Hause ist, sogar im Punkt am Ende, und weil sie sich in jedem Wort ebenso tummelt wie in jeder Pause zwischen Wörtern, Zeilen, Kapiteln oder gar Büchern einer Reihe. Sogar in jeder Silbe, jedem Echo eines Buchstabens klingt die Stimme an. Wer genau hinhört, findet sie sogar in dem, was zwischen und hinter den Zeilen steht.

Stimmen sind der Stoff, der alle Elemente Ihres Romans verbindet und zusammenhält.

Stellen Sie sich einen Ozean vor, der bunt mit Korallen und Seesternen bevölkert ist, in dem sich Riffe gegen die Wellen türmen und Vulkane das heiße Erdinnere ausspeien, wo Fischschwärme sich zwischen Tangwäldern tummeln mit Millionen winziger, schuppenglänzender Individuen, wo Haie in einen Fressrausch geraten und von Delfinen ausgelacht werden, wo Muränen lauern und Robben Pinguine jagen, um dann selbst von einem Orca verspeist zu werden, ein Ozean, in dem sich die intelligenten Kraken ebenso wohlfühlen wie die tumben Seegurken und die gruseligen Anglerfische der Tiefsee, ein Ozean mit Schiffswracks und Plastikmüll, auf dem riesige Tanker fahren und Seeleute schuften, wo Schnorchler ihren Sommer genießen und planschende Kinder ihre ersten Abenteuer erleben.

Stellen Sie sich vor, der Ozean wäre Ihr Roman.

 

Die Stimme? Sie ist das Wasser. Medium. Lebensgrundlage. Segen und auch Fluch. Überall und doch nicht fassbar. Mal in der Sonne glitzernd, mal jedes Licht verschluckend, erhebend und auch erdrückend. Ohne das Wasser gäbe es nichts von dem, was ich oben beschrieben habe.

Ohne die Stimme gäbe es keinen Roman. Das gilt sogar für die Romane, in denen die Stimme versucht, nicht aufzufallen, in denen sie ist wie klares, lauwarmes, geschmackloses Wasser. Und doch ist das Wasser da.

Entsprechend schwierig ist es, einen Aspekt aus der Stimme herauszugreifen, um ihn sich genauer anzusehen – in unserem Bild hätten Sie dann nur Wasser in Händen (und das nicht lange), welches genauso aussieht wie das Wasser ein paar tausend Ozeankilometer weiter westlich.

 

Selbst Beispiele bringen ihre Schwierigkeiten mit: Denn sobald der Leser einen Aspekt der Stimme bemerkt, wird er aus dem Fluss der Story gerissen. Aber Sie sind ja als Autor hier im Buch und daher können und wollen Sie genauer hinsehen, mehr erkennen, mehr begreifen. Sie werden eine Menge Entdeckenswertes finden, um es zu analysieren und am Ende in Ihren Romanen anzuwenden.

 

Übrigens ...

»Leider hat mir der Sprecher auch so gar nicht gefallen. Irgendwie bin ich nicht mit ihm warm geworden und das macht für mich schon die Hälfte von einem guten Hörbuch aus.« (cvcoconut über Romy Fölck, »Bluthaus«)

Mit dem Sprecher eines Hörbuchs gesellt sich eine weitere Stimme zum Chor hinzu. Das Gleiche gilt für Filme und TV-Serien nach Romanvorlagen. Und erleichtert oder erschwert dem Hörer oder Zuschauer den Zugang zur Geschichte. In jedem Fall beeinflusst es ihn.

 

Einige Fehler und Irrtümer treten in Zusammenhang mit der Stimme immer wieder auf. Das sind keine Kleinigkeiten, sondern Knackpunkte, die Sie massiv daran hindern, das Potenzial Ihrer Stimmen und Ihrer Romane auszuschöpfen.

1. Alle reden bei »Stimme« nur von der »Autorenstimme«.

Ein großer Fehler. Und einer, der Sie als Autorin oder Autor kleiner macht, als Sie sind. Denn Sie verfügen neben Ihrer Autorenstimme über unzählige andere Stimmen: die Stimmen der Erzähler, die Ihren Roman oder Handlungsstrang erzählen, und die Stimmen der Charaktere selbst, etwa in Dialogen. Nicht zu vergessen: die lautlosen Stimmen von alldem Unausgesprochenen und Unaussprechlichen.

 

2. Es gibt eine Autorenstimme, die man entdecken muss. Und dann gut.

Irrtum. Ihre Autorenstimme ist nichts Fixiertes. Sie ist permanent im Fluss und verändert sich wie das Wasser des Flusses. Sie aus dem Wasser zu greifen, reißt sie aus dem Zusammenhang. Ihre Autorenstimme wächst mit Ihnen und Ihrem Vokabular, verändert sich mit Ihnen und Ihren Erfahrungen, erweitert sich mit jedem Erzähler und Charakter, den Sie sprechen lassen, mit zufällig aufgeschnappten Informationen und bewusst recherchiertem Wissen, und sie wird mächtiger mit jedem Stückchen Handwerk, das Sie lernen.

 

3. Stimme ist dasselbe wie Stil.

Nein. Die Stimme umfasst den Stil, ist jedoch weit mehr. Der Stil ist lediglich ein Teil der Stimme: ihre technische, handwerkliche Seite. Zu dieser zählen Emotionen, Haltungen und vieles mehr.

 

4. Die Stimme ergibt sich beim Schreiben von selbst.

Der Satz ist insofern richtig, als Sie nicht stimmlos schreiben können. Und dass Sie nicht bei jedem Satz über die Stimme nachdenken sollten. Doch damit sich intuitiv eine passende und effektive Stimme herausschält, brauchen Sie Erfahrung sowie Wissen um Erzählhandwerk und Sprache. Erst dann ergibt sich eine Stimme, die Ihren Erzählabsichten und Ihrer Geschichte dient, statt sie laufend zu unterwandern. Nur dann geht das Schreiben der Stimme wie von selbst. Damit Sie mehr Zeit haben, über Charaktere, Plot und Spannung nachzudenken.

 

5. Als Entdecker (Aus-dem-Bauch-heraus-Schreiber) muss ich mir über die Stimme keine Gedanken machen.

Sie müssen es nicht. Aber Sie sollten es tun, um einen sehr viel besseren Roman zu schreiben. Gerade Sie als Entdecker brauchen das Wissen um Erzähler und Stimme, um nach dem Aus-dem-Bauch-Schreiben und Die-Story-Entdecken bei der (nüchternen, kopfgesteuerten) Überarbeitung so viel Nutzen aus der Stimme zu ziehen, wie Sie nur können.

 

All diese Irrtümer stellen wir im Lauf des Buchs vom Kopf auf die Füße.

 

 

Ein Chor von Stimmen

 

In Ihrem Roman wirken zahllose Stimmen wie in einem Chor zusammen: die Stimme eines oder mehrerer Erzähler, die Stimmen der Charaktere, insbesondere in Dialogen und Gedanken, sowie die Stimme des Autors selbst.

Wie bei jedem Chor ergibt sich der Wohlklang, zeigt sich die Meisterschaft erst durch den Zusammenklang der Stimmen und Stimmlagen. Die Stimmen ergänzen einander, sie bauen aufeinander auf, sie kontrapunktieren oder klingen gemeinsam, sie stellen sich gegenseitig heraus.

 

Wenn Sie wissen, was typisch für Ihre Autorenstimme ist, können Sie leichter eigenständige Erzählerstimmen erschaffen. Indem Sie Manierismen, Haltungen, stilistische Eigenheiten und vieles mehr bewusst ergänzen oder weglassen. Das erlaubt es Ihnen, immer wieder neue Erzählstimmen zu schaffen. Für die Arbeit in einem Roman, wo Sie aus mehreren personalen Perspektiven schreiben, erweist sich das als außerordentlich nützlich. Ihre Erzähler klingen unterschiedlich, jeder hat etwas Individuelles, das ihn von den anderen abhebt. Damit gestalten Sie einerseits die Erzähler lebendiger und glaubhafter, andererseits öffnen Sie den Roman und machen ihn welthaltiger, sein Format mehr IMAX als Normalleinwand, mehr Cinemascope als 4:3.

Entsprechendes gilt für die Stimmen Ihrer Charaktere, die Sie auf diese Weise individueller und besser unterscheidbar gestalten.

 

Betrachten Sie Ihre Autorenstimme als die Basis für all die anderen Stimmen, die in Ihnen schlummern: die Stimmen der Erzähler und die all der Charaktere in den vielen Geschichten und Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern, Short Storys und Gedichten, Songs und Musicals, die Sie schreiben und schreiben werden. Ihre Autorenstimme ist der Heimathafen, von wo Sie aufbrechen in die unzähligen Welten und Figuren, die Ihrer Phantasie entspringen, in Abenteuer und Gefahren, in spritzige Erotik und bodenständigen Humor, zu fremden Galaxien oder rüber zu den Nachbarn und ihren Geheimnissen.

Dieser Hafen ist, wie etwa der in Hamburg, dennoch permanent in Bewegung: Da wird die HafenCity errichtet, die Elbe weiter ausgebaggert, ein neues Kreuzfahrtterminal gebaut – und so verändert sich Ihre Autorenstimme, weil Sie sich verändern, und Sie verändern sich deshalb, weil sich Ihre Stimme wandelt.

Manche Autoren geben Ihren Lesern einen großen Teil Ihrer Autorenstimme, indem sie die Erzählstimme kaum von ihr abweichen lassen. Andere Autoren wollen hinter den Erzähler zurücktreten und möglichst wenig von ihrer eigenen, der Ur-Stimme preisgeben. Bei vielen ändert sich das von Buch zu Buch, bei manchen bleibt es über die Jahre und Projekte hinweg gleich.

Wichtig ist, dass Sie Ihren Weg finden, auch stimmlich, als Chorleiter ebenso wie als Sänger auf jeder Stimmlage.

 

Die einzelnen Stimmlagen – Autor, Erzähler, Charakter – sehen wir uns jetzt im Detail an.

 

 

Warum Sie die Stimme nicht einfach Stimme sein lassen sollten

 

Nicht wenige sind der Meinung, eine Stimme passiere einfach, sei es die Stimme von Charakter, Erzähler oder Autor. Und das wäre gut so.

Dieser gefährliche Irrglaube lässt sich leicht entkräften. Lassen Sie Ihre Stimme Stimme sein, geben Sie die Kontrolle über sie ab. Stellen Sie sich eine Sängerin vor, die drauflos singt, egal in welcher Tonart, in welchem Rhythmus, ob es harmonisch ist oder nicht, ja, sie interessiert sich nicht mal für Tonhöhen, nicht für Dur und Moll, nicht für den Takt. Wie viele Zuhörer werden so zu Fans? Wie viele Plattenverträge und Grammys bekommt sie? Wie viele Herzen lässt sie schmelzen? Wie viele Menschen werden in ihre Konzerte strömen, wer wird ihre Lieder auf YouTube covern, ja, wer wird überhaupt von dieser sinn- und ziellosen Ansammlung von Tönen bewegt?

Eben.

Ohne Kontrolle fehlt Ihnen jede Möglichkeit, die Stimme zu verändern, sie anzupassen, sie zu erweitern und zu verbessern. Ohne Interesse an der Stimme fehlt Ihnen das Vokabular, um mit anderen darüber zu sprechen, sich Tipps zu holen, Tipps zu geben.

 

Wenn eine Sängerin nicht weiß, was ein höherer und was ein tieferer Ton ist, wenn sie keine Ahnung hat, was ein Akkord sein soll und was einen Dreiviertel- von einem Viervierteltakt unterscheidet, dann hat sie keine Chance, ihre Stimme von einer Gesangslehrerin verbessern zu lassen, und auch keine Chance, konstruktive Kritik zu begreifen, geschweige denn, sie umzusetzen.

Ohne Kontrolle über Ihre Stimme können Sie sie nicht einsetzen, um bestimmte Effekte in Ihren Texten zu erzielen. Schlimmer: Ohne Kontrolle über Ihre Stimme verlieren Sie auch die Kontrolle über die anderen Sprach- und Erzähltechniken und damit über Ihren Roman.

 

Denken Sie an unsere Wassermetapher. Wenn das Wasser der Ozeane vergiftet ist oder wenn es verdunstet, sterben eben auch die Tiere und Pflanzen darin, Wassersportler werden fett, Touristen langweilen sich und Frachtschiffe laufen auf Grund. Von den Folgen fürs Weltklima ganz zu schweigen.

Bleiben wir konkreter: Nehmen Sie an, Sie haben alle Faktoren für eine hochspannende Szene beisammen – und dann bringt Ihr Erzähler die Szene stimmlich schlecht rüber und ruiniert sie damit für den Leser. Oder der Erzähler wirkt aufgrund seiner Stimme so unsympathisch, dass die Leser keine Spannung empfinden können. Vielleicht arbeitet Ihr Erzähler mit seiner Stimme gegen andere Ihrer Erzählinstrumente und seine distanzierte, ironische Ausdrucksweise macht Ihre als rührend gedachte Abschiedsszene kaputt.

 

Die gute Nachricht: Selbst wenn Sie sich nur ein wenig mit den Stimmen befassen oder überhaupt mal nur auf sie achten, gewinnen Sie Kontrolle zurück. Und Ihre mühsam erarbeiteten Unterhaltungswerte wie ein dramatischer Plot oder eine emotionale Liebesgeschichte können ihre Wirkung besser entfalten.

 

 

 

Die Stimme des Erzählers

Bezaubern und Verführen mit nichts als Wörtern

 

 

»Oftmals ergibt ein Stück Text kein Ganzes, bis der Autor die richtige Stimme dafür gefunden hat«, schreibt Barbara Baig.[Fußnote 2] Sie beschreibt damit zwei zentrale Aspekte der Stimmen, in denen der Roman zu seinen Lesern spricht: Es gibt eine richtige, eine gut geeignete Stimme. Und sie sollte wie aus einem Guss wirken, erst dann kann sie den Leser in den Lesefluss leiten und zugleich die Geschichte zusammenhalten.

Welche Stimme meint sie?

 

»Stimme«, schreibt Gabriela Pereira, »ist eins der Versprechen, die Sie dem Leser von der allerersten Seite an machen sollten.«[Fußnote 3] Viele Autoren denken bei dem Vertrag mit dem Leser nur an die Inhalte. Doch wie viel Inhalt kann man schon in den ersten Sätzen eines Romans übermitteln? Anders sieht es mit der Stimme aus, mit der der Roman zu den Lesern spricht. Sie ist das erste Versprechen, das Sie dem Leser machen.

Welche Stimme meint Pereira?

 

Was verführt Sie im Buchladen oder bei einer Leseprobe, ein Buch zu kaufen? Der Klappentext. Das Thema. Eine zufällig ausgewählte Stelle aus dem Inhalt. Der Anfang des Buches.

Die Stimme des Erzählers.

Was verzaubert einen Literaturagenten? Womit überzeugen Sie eine Lektorin? Die meisten Profis im Buchmarkt lassen sich bei ihren Entscheidungen immer auch von ihrem Bauchgefühl leiten. Besonders sensibel reagiert es auf die Stimme des Romans. Spricht der Text zu ihnen? Löst er starke Emotionen bei ihnen aus?

Viele Lektoren und Lektorinnen sind Literaturwissenschaftler oder Germanisten. Und diese, bei aktuellen Romanen erfahren und zugleich vertraut mit den Klassikern, haben ein empfängliches Ohr für Stimme und Stil, häufig empfänglicher als das der Leser.[Fußnote 4]

Die Stimme ist der erste Eindruck, den Sie mit Ihrer Geschichte hinterlassen. Und Sie wissen selbst um die enorme Bedeutung des ersten Eindrucks und wie er alles Weitere einfärbt. Die Stimme reißt mit? Schon erscheinen dem Leser Plotlöcher weniger gravierend, die Protagonistin sympathischer, Ihre Ideen strahlender.

Was ist die einzige Verbindung, die Sie zu einem fremden Menschen in einem Buchladen in einer Stadt aufnehmen, in der Sie nie waren? Was verbindet Ihre Geschichte direkt mit Herz und Hirn des Lesers? Die Stimme des Erzählers.

Wie etwas gesagt wird, ist in vielen Fällen so wichtig wie das Gesagte selbst. In manchen Fällen sogar wichtiger.

 

»Ich liebe dich«, hauchte sie, ihr Atem warm und weich auf seiner Wange.

 

»Ich liebe dich«, sagte sie tonlos und verließ den Raum, ohne die Tür zu schließen.

 

»Ich liebe dich!«, brüllte sie, und ihre Ohrfeige traf ihn noch vor dem Ausrufezeichen.

 

Außer für die sprachlich unmusikalischen Leser ist die Erzählstimme auf den ersten Seiten eines Buchs wichtiger als ein inhaltlich packender Anfang. Es ist die Stimme des Erzählers, die den Leser ins Buch zieht. Zahllose Bestseller, die ohne jedes Spektakel loslegen, zeugen davon. Nehmen Sie Robert Seethalers Spiegel-Bestsellerlisten-Topper »Das Feld«. Der beginnt so:

 

Der Mann blickte über die Grabsteine, die wie hingestreut vor ihm auf der Wiese lagen. Das Gras stand hoch und Insekten schwirrten in der Luft. Auf der bröckeligen, von Holunderbüschen überwucherten Friedhofsmauer saß eine Amsel und sang. Er konnte sie nicht sehen. Seit einer Weile schon hatte er es mit den Augen, und obwohl es mit jedem Jahr schlimmer wurde, weigerte er sich, eine Brille zu tragen.

(Robert Seethaler, »Das Feld«, Hanser 2018)

 

Anders als (unser aller) Onkel Max, dieser vollkommene Erzähler, kommt die Stimme Ihres Roman-Erzählers mit einem Nachteil belastet daher: Wo Onkel Max mit ausgreifenden Gesten seine Worte unterstreicht, wo seine Stimme an- und abschwillt, seine Augenbrauen tanzen und er die Stirn in Falten legt, wenn es spannend wird, wo er seinem Publikum zublinzelt, wenn er etwas ironisch meint, wo er seiner Stimme einen piepsigen Klang verleiht, wenn er die Worte einer kleinen Elfe wiedergibt – in all diesen Situationen müssen Sie als Autorin oder Autor auf das Einzige zurückgreifen, was Ihnen bei dem Kontakt mit den Lesern zur Verfügung steht: die Wörter auf der Seite. Keine Mimik, keine Gesten, keine Lautstärke oder verstellte Stimme helfen Ihnen dabei, es macht keinen Unterschied, ob Sie einen langen Bart tragen und einen Schlapphut aufsetzen oder im Schlafanzug vor Ihren Lesern – also vor der Tastatur – sitzen, es spielt keine Rolle, wie Sie aussehen oder ob Sie zum Stottern neigen, der Leser bekommt von alldem nichts mit.

Alles, was Ihnen zur Verfügung steht, um Ihre Leser zu erreichen und zu berühren, alles, was Sie haben, um eine Brücke zwischen Ihrer Phantasie und der Phantasie des Lesers zu spannen, ist die Stimme Ihres Erzählers. Klingt, als müsste diese ein ebenso zentrales wie machtvolles Instrument in Ihrem Handwerkskasten für Autoren sein.

Oft wird ein Text überhaupt erst lebendig, wenn Sie als Autor die richtige Stimme dafür gefunden haben. Falls Sie mal bald nach dem Beginn eines Romans nicht mehr weiterkommen und den Grund vergeblich suchen, probieren Sie es mit einer veränderten oder gleich ganz anderen Erzählerstimme. In vielen Fällen hilft das, und wenn nicht, gibt Ihnen selbst eine nur vorübergehende Änderung der Stimme neue Impulse und Ideen. Versprochen.

Die Stimme, so Literaturagentin Paula Balzer, ist die Persönlichkeit Ihres Textes.

 

Im Buch »Der Erzähler« haben wir gesehen, dass Erzähler und Autor nie identisch sind, nie identisch sein können. Entsprechend ist die Erzählstimme nicht mit der Stimme des Autors identisch. Dass beide dennoch so oft für dasselbe gehalten werden, sorgt auf der einen Seite für Verwirrung und auf der anderen Seite für Geschichten und Romane, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Nur, wenn Sie sich der Unterschiede bewusst sind und diese kennen, können Sie sowohl Ihre Autorenstimme als auch die Ihrer Erzähler entwickeln, pflegen und gezielt einsetzen.

In Abgrenzung zum Stil gehört die Erzählstimme zum Erzähler, während der Stil zum Autor gehört.

Die Erzählstimme eines bestimmten personalen oder auktorialen Erzählers beschränkt sich auf einen Point-of-View-Charakter, auf einen Erzählstrang, auf einen Roman oder auf eine Romanreihe.

 

Eine kraftvolle Stimme, egal ob sie vom Autor, vom Erzähler oder von einer Romanfigur kommt, sorgt für Emotionen. Eine starke, eigenständige Stimme lässt keinen halbwegs sensiblen Leser kalt. Es sind diese Emotionen, mit denen Sie Ihre Leser an sich binden.

 

Stimmt, viele stimmlose Autoren haben dennoch ihre Fans. Weil sie etwas anderes richtig machen, beispielsweise verlässlich unterhaltsame Romane abliefern. Wobei sich mit einer effektiven Stimme auch die Unterhaltsamkeit steigern ließe ...

 

Sehen Sie die starke Stimme als zusätzliches Mittel zur Leserbindung. Das können Sie mit dem Erzähler einer Reihe erreichen oder mit einer Serienfigur in den Romanen selbst. Auch Ihre Autorenstimme, wenn sie ihren eigenen Sound mitbringt (wie beispielsweise die Stephen Kings, der in vielen seiner Bücher im Original einen Rock-’n’-Roll-Sound an den Tag legt), kann mithelfen, Leser in treue Leser zu verwandeln und diese in Fans.

 

Unterhaltsame Romane schreiben auch Ihre Kollegen. Aber niemand anderes bringt den Chor Ihrer Stimmen mit. Wäre es nicht eine Verschwendung, gerade dieses Einzigartige nicht zu nutzen?

 

In die Stimme des Erzählers gehen folgende Aspekte ein, die wir uns einzeln und genauer ansehen:

 

• Haltung und Einstellungen

• Inhalt und Fokus

• Erzählton und Stimmung

• Erzählrhythmus und Erzähltempo

• Sprache und Stil

• Genre und Anspruch

• Die innere Stimme des Lesers

und, alldem zugrunde liegend und es zugleich individualisierend,

• Faktor X – Die Stimme des Autors (als Teil der Erzählerstimme)

Keiner dieser Aspekte lebt in einem Vakuum, jeder beeinflusst die anderen und wird von den anderen beeinflusst. Die isolierte Betrachtung wird Ihnen dennoch enorm weiterhelfen. Sehen – oder besser: hören – Sie selbst.

 

 

Die Aspekte der Erzählstimme an einem Beispiel erläutert

 

Früher hat man gesagt, die Russinnen. Die sind groß und muskulös wie Hammerwerfer, die arbeiten beim Straßenbau, und unter den Achseln haben sie so viele Haare, dass sich noch ein Toupet für ihren Mann ausgehen würde und ein zweites für den ersten Parteisekretär. Da hat man gesagt, Russinnen sind Mannweiber, und wenn sie ihren Diskus werfen, musst du in Deckung gehen, weil Kraft wie ein Traktor aus Minsk oder einer aus Krasnodar oder sogar ein Kirovets aus Leningrad. Dann hat es auf einmal geheißen, die Russinnen, das sind die dünnsten Fotomodelle, die teuersten Nutten, da musst du als Mann schon ein Hochhaus haben, damit sich so eine überhaupt von dir scheiden lässt, am besten mit einem Privatzoo, weil Beine wie eine Giraffe, Taille wie eine Wespe, Augen wie die Biene Maja.

Darüber hat der Nikolaus nachgedacht, während er im Computer die Damen durchgeschaut hat, die einen österreichischen Mann zum Heiraten gesucht haben. Wo liegt da die Wahrheit punkto Russinnen, und gibt es überhaupt eine Wahrheit, quasi Philosophie. Aber interessant. Da war keine einzige Traktorfahrerin dabei, sondern der Nikolaus hätte fast jede genommen, so gut waren die in Schuss.

(Wolf Haas, »Brennerova«, Hoffmann und Campe 2014)

 

Sprache und Stil:

Eine einfache Sprache mit Ausflügen ins Ordinäre (»Nutten«). Doch diese ist nur scheinbar einfach, enthält sie doch ausgefeilte und ungewöhnliche Bilder (»... Privatzoo, weil Beine wie eine Giraffe, Taille wie eine Wespe, Augen wie die Biene Maja«).

 

Haltung und Einstellungen:

Die Einstellung Frauen gegenüber wirkt rückständig bis abfällig, ja, in einem Satz wie »so gut waren die in Schuss« wird die Frau sogar zum Objekt herabgewürdigt, als wäre sie ein Auto oder ein Haus.

Die eigentliche Haltung bleibt, zwischen den Zeilen, eher distanziert, was in dem Satz »aber interessant« sichtbar wird.

 

Inhalt und Fokus: