Über das Buch:
Mitten durch Nellies Herz geht ein Riss.
Sie hängt an den Traditionen der Amisch. Dennoch verfolgt sie fasziniert, wie unbeirrt ihre Eltern ihren neu gefundenen, lebendigen Glauben leben. Selbst wenn sie dafür als Abweichler gebrandmarkt werden. Auch von David Yoder, dem Vater ihres geliebten Caleb.
Und darin liegt die Tragik für die Liebenden: Der Patriarch bekämpft voller Eifer alle Ausbruchstendenzen und fordert wegen Nellies Familie das Ende ihrer Beziehung.
Schließlich kommt der Tag, an dem Caleb vor die Wahl gestellt wird: Sein Erbe oder Nellie. Wofür wird er sich entscheiden? Und kann Nellie dem neuen Glauben dauerhaft widerstehen?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Amisch-Land in Lancaster/Pennsylvania geboren. Ihre Großmutter wuchs in einer Mennonitengemeinde alter Ordnung auf. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Colorado.

Kapitel 6

Lange bevor der Montagmorgen anbrach, kam Nan überraschend in Nellies Zimmer und setzte sich auf ihr Bett. „Du bist gestern Abend kein einziges Mal zum Essen aufgewacht“, flüsterte Nan. „Mama hat mehrmals versucht, dich wachzurütteln.“

Nellie streckte die Beine aus. Ihr tat alles weh. „Ach, ich habe so tief geschlafen … und ich fühle mich immer noch ganz kaputt.“

Nan berührte Nellies Stirn. „Ich würde sagen, du hast Fieber.“

„Kannst du … würdest du bitte ein Schild an die Tür der Bäckerei hängen?“

„Aber klar. Und du bleibst im Bett, ja?“ Nan lächelte mitfühlend. „Sieht so aus, als hättest du dir eine richtige Grippe eingefangen.“

Nellies Kopf pochte. „Es ist noch viel zu früh für dich, um aufzustehen, oder?“

„Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Du bist diejenige, die hier glüht.“ Nan stand langsam auf. „Ich hole dir einen kühlen Waschlappen für deine Stirn.“

Nellie schloss die Augen und war erleichtert, dass Nan sich um sie kümmern wollte. So sehr sie auch aufstehen und backen und ihre üblichen Arbeiten verrichten wollte, sie konnte es einfach nicht.

Stunden später, als sie wieder aufwachte und das Tageslicht ins Zimmer fiel, hörte sie unten Stimmen. War das ihre lebhafte Nichte Emma mit ihrer Mama und ihren kleineren Geschwistern? Normalerweise fand es Nellie sehr schade, den Spaß mit ihrer fünfjährigen Nichte und deren zwei jüngeren Brüdern, Jimmy und Matty, zu verpassen. Der sechsjährige Benny, der inzwischen ein Erstklässler war, war bestimmt in der Schule.

Bald brachte Nan ihr ein neues kaltes Tuch, um es gegen das warm gewordene auszutauschen, und Nellie nippte vorsichtig an der Tasse mit lauwarmem Kamillentee, der mit Honig gesüßt war.

„Das wird dir guttun. Der Tee ist nicht zu heiß, damit dein Fieber wieder sinkt.“ Nans Stimme war genauso sanft wie die von Mama oder … Suzy.

„Das ist sehr lieb von dir.“ Nellie schaute Nan an, deren blaue Augen so hell strahlten. Ihre manchmal distanzierte Schwester war heute ungewöhnlich aufmerksam. Auch wenn sie den Grund für diese Veränderung nicht kannte, war Nellie Mae dankbar dafür.

„Martha ist mit den Kindern unten“, sagte Nan und bestätigte damit Nellies Vermutung. „Sie ist zu einem kurzen Besuch gekommen.“

„Ich will nicht, dass einer von ihnen Grippe bekommt.“

Nan gab ihr recht. „Wir lassen die Kinder unten, aber ich schaue bald wieder nach dir.“

„Danke, Nan.“ Nellie bedachte sie mit einem dankbaren Lächeln.

Nan verließ das Zimmer und ließ die Tür angelehnt.

* * *

Als Betsy Fisher ein junges Mädchen gewesen war, war sie einmal auf der Landstraße spazieren gegangen und von dem ohrenbetäubenden Lärm eines tief fliegenden Flugzeugs zu Boden geworfen worden.

Sie erinnerte sich an das Gefühl, als sie von dem Lärm und dem Anblick des riesigen Flugzeugs umgeworfen wurde, während sie jetzt ihre Enkelin Emma auf dem Schoß hielt und mit ihr am Küchentisch saß. Dieses Mal hatten ein paar einfache Worte einen ähnlichen Schreck bei ihr ausgelöst.

„Wir überlegen, ob wir uns einen Traktor kaufen.“ Hatte ihre Schwiegertochter das tatsächlich gesagt?

Ja, sie hatte sich nicht verhört. Martha erzählte weiter, dass ihr Mann, James, und sein jüngerer Bruder, Benjamin, sich vor Kurzem von einem Fahrer in die Stadt hatten bringen lassen, um mit einem Handwerker zu sprechen, der in ihren beiden Häusern Stromleitungen verlegen sollte.

Ach, was haben wir hier nur für eine Büchse der Pandora geöffnet? Betsy war entsetzt und wusste, dass bestimmt noch mehr kommen würde.

Ihr wurde bei dem Gedanken ganz schwindelig, dass sich offenbar eine neue Gruppe von Mannys Kirche der Neuen Ordnung abgespalten hatte. Diese Gruppe strebte alles an, was modern war. Die Beachys waren für Betsys Geschmack viel zu modern und eitel.

Andererseits lebte sie schon lange genug, um zu wissen, dass man Veränderungen einfach nicht mehr aufhalten konnte, wenn bestimmte Dinge erst einmal in Gang gesetzt waren.

* * *

Bevor Kusine Kate am Vormittag kam, um die Babys zu stillen, wollte Rosanna zwei Laibe Brot zum Backen vorbereiten. Sie vermisste es, Brotteig zu kneten, sie vermisste das Gefühl von Mehl zwischen den Fingern. Ihr blieb kaum noch Zeit, um zu backen oder Quiltdecken zu nähen – ihre zwei liebsten Beschäftigungen –, seit Eli und Rosie da waren. Trotzdem genoss sie die Zeit mit ihren Babys. Sie hielt die beiden länger als nötig auf den Armen und verwöhnte sie, wo es nur ging. Oh, was für eine Freude war es, kleine Kinder an ihr Herz zu drücken.

Es störte sie, dass Eli offenbar Kates Lieblingskind war. Rosanna wischte ihre Enttäuschung beiseite und begann, das gesiebte Mehl abzuwiegen. Dann stellte sie es zur Seite und vermischte Fett, Salz, Zucker und das kochende Wasser miteinander, bis das Fett sich aufgelöst hatte. Schließlich war sie so weit, dass sie eine Mischung aus Hefe, Zucker und warmem Wasser hinzufügen und in ihrer größten Schüssel alle Zutaten gründlich miteinander verkneten konnte.

Sie dachte an ihre Mutter, die schon seit vielen Jahren tot war. Oh, was würde sie darum geben, wenn ihre Mama jetzt hier wäre und ihr helfen könnte, Eli und Rosie zu versorgen, und ihr mit Rat und Tat zur Seite stünde, egal, ob es darum ging, wie viel sie den Kindern zu essen geben sollte, oder wie sie Rosie beruhigen konnte, wenn die Kleine Koliken hatte und dabei mit ihren Beinen wie wild strampelte.

Sie erinnerte sich, wie aufgeregt sie und Elias bei der Geburt der Kinder gewesen waren – wie viel mehr hätte ihre Mutter sich darüber gefreut, diese unerwarteten Enkelkinder zu bekommen, die auch noch mit Rosanna verwandt waren. Sie hatte stundenlang die Augen und die Form ihrer Ohrläppchen betrachtet und irgendeine Ähnlichkeit mit ihr und ihren vielen Brüdern gesucht … und sich nach einer auch noch so winzigen Gemeinsamkeit gesehnt.

Sie bearbeitete den Teig weiter und fügte das restliche Mehl hinzu, bis die Mischung weich war und nicht mehr klebte. Jetzt würde sie ihn ungefähr zwei Stunden gehen lassen.

Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich eine Weile und genoss die Stille, bevor Kate käme. Sie wusste, dass ihre Besuche bald enden würden. Vielleicht fühlen wir uns heute bei ihrem Besuch alle ein wenig wohler. Mit dieser Hoffnung begann Rosanna, mit dem Herrn, ihrem persönlichen Erlöser, wie es in der Bibel hieß, zu sprechen. Sie war Linda Fisher so dankbar, dass sie ihr die Augen für diese kostbare Wahrheit geöffnet hatte.

* * *

Es war nach zehn Uhr, als Ruben damit fertig war, mehreren älteren Pferden die Beine einzureiben. Seine Gedanken drehten sich darum, dass er die Fütterungsmengen für seine immer größer werdenden Fohlen aufschreiben wollte, während er zur Straße hinunterging, um den Umschlag mit dem Scheck für eine Futterrechnung in den Briefkasten zu legen. Er betrachtete den immer grauer werdenden Himmel und wünschte, das Stück blauer Himmel im Süden würde sich bis zu ihnen ausbreiten. Ein wenig mehr Sonnenschein würde zweifellos ihnen allen guttun.

Dass James’ Frau und die Kinder heute Morgen zu Besuch hier waren, war vielleicht genau das, was er brauchte, obwohl er wusste, dass auch Betsy den Besuch genießen würde. Er war dankbar, dass seine Frau nicht mehr so niedergeschlagen wirkte, sondern eher so aussah, als hätte sie viel zu tun. Jemand, der viel zu tun hatte, war etwas Wunderbares.

Wenn er ehrlich war, war er ein wenig sauer auf Vetter Jonathan, weil sein Vetter diese ganze Sache mit den Autos ins Rollen gebracht hatte. Der Mann, der als Erster unter ihnen offen von Erlösung gesprochen hatte, war jetzt ein Gläubiger mit einem Auto, bei allem, was recht war.

Was dachte sich Jonathan nur dabei? Wusste er denn nicht, dass andere seinem Beispiel folgen würden? Der Gedanke, dass sein eigener Vetter jetzt ein Auto fuhr, störte Ruben gewaltig, als er jetzt die Fahne hochschob und den Briefkasten öffnete. Er wollte seinen Umschlag hineinlegen, hielt aber inne, als er sah, dass schon ein Brief darin lag. Ist der Postbote schon da gewesen? Er schaute die Straße hinab zum Briefkasten der Nachbarn. Deren Fahne war immer noch oben.

Das ist aber komisch.

Ruben zog den Brief heraus, bevor er seinen eigenen Brief in den Briefkasten steckte. Er betrachtete den Brief in seiner Hand, der anscheinend ein persönlich abgegebener Brief an Nellie Mae war. C. Yoder stand kühn in der Ecke, aber es fehlte der Absender.

Davids Junge trifft sich mit unserer Nellie?

Dieser Gedanke ärgerte ihn. David Yoder war einer der starrsinnigsten, unnachgiebigsten Männer, die er kannte, und obwohl Ruben den Leuten, die in seiner früheren Kirche blieben, mit Freundlichkeit begegnete, hatte er Mühe mit der Vorstellung, dass Caleb vielleicht Nellie Mae umwarb. Caleb hatte sicher nicht damit gerechnet, dass jemand anders als Nellie diesen Brief entdecken würde, da sie gestern am predigtfreien Sonntag allein zu Hause geblieben war.

Er warf wieder einen Blick zum trüben Himmel hinauf. Deprimiert beschloss er, dass Betsy Nellie Mae den Brief bringen sollte, auch wenn er versucht war, ihn zu vernichten oder ihn an den Jungen zurückzuschicken. Aber er würde nicht so tief sinken und auf Davids Taktiken zurückgreifen. Er hatte von Diakon Lapp persönlich gehört, dass David eine Verbindung zwischen einer Tochter des Diakons und Caleb vorantreiben wollte, alles mit dem Ziel, den jüngsten Yoderjungen in der alten Kirche zu halten.

Sieht so aus, als käme David damit ein wenig zu spät, dachte Ruben trocken.

Kapitel 7

„Ich hoffe, du und Rhoda steckt euch nicht mit dieser furchtbaren Grippe an“, sagte Nellie leise. Nan war wieder nach oben gekommen, nachdem Martha und die Kinder gefahren waren, und Nellie war dankbar für die Gesellschaft. Die Stille, die jetzt im Haus herrschte, war ein starker Kontrast zu dem Lachen und Plaudern ihrer kleinen Nichte und Neffen.

„Ach, die Grippe hat mich in den letzten Jahren auch nicht erwischt“, sagte Nan schnell. „Ich habe wirklich großes Glück.“

Nellie schaute ihre schlanke, brünette Schwester an, die so gehorsam und treu mit Dat und Mama zu Prediger Mannys Gottesdiensten ging. „Wolltest du nicht eher sagen, dass das ein Segen ist, und nicht Glück?“

Nan warf ihr einen Blick von der Seite zu. „Das musst du in der neuen Kirche gehört haben, oder?“

„Wahrscheinlich.“ Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass sie es an dem einen Sonntag gehört hatte, an dem sie nachgegeben hatte und ihre Familie begleitet hatte.

„Falls du dir irgendwann unsere Bibel ausleihen willst – Rhodas und meine –, brauchst du nur ein Wort sagen.“ Nan lächelte sie fröhlich an. „Es ist so interessant, selbst darin zu lesen. Ehrlich.“

Nellie wünschte sich oft, sie verstünde die Bibel, die beim Predigtgottesdienst in altem Deutsch gelesen wurde. „Auf Englisch, nicht wahr?“

„Ja. Dat sagt, manchmal ist es besser, einen Vers mehrmals zu lesen. Damit er besser in uns Wurzel schlagen kann, weißt du.“

„So habe ich das noch nie gesehen.“

Nan seufzte und schaute zum Fenster. „Es gibt so vieles, das ich dort lerne.“ Sie schwieg einen Moment und eine Träne lief ihr über die Wange. Schnell wischte sie sie weg. „Entschuldige.“

Nellie wurde schwer ums Herz. „Es gibt nichts, für das du dich entschuldigen müsstest.“ Sie wollte am liebsten hinzufügen: Schließlich sind wir Schwestern … du kannst mir sagen, was dich belastet, aber sie ergriff nur wortlos Nans Hand.

„Ich lese die Bibel nicht nur, weil ich wissen will, was darin geschrieben ist“, flüsterte Nan mit Tränen in den Augen.

Nellie hielt den Atem an und hörte ihr zu, da sie diesen Moment, in dem Nan so offen mit ihr sprach, nicht zerstören wollte.

„Mein Herz ist ein einziger Scherbenhaufen.“ Nan zog ein Taschentuch aus ihrem schmalen Ärmel. „Mama weiß es … aber sonst habe ich es keiner Menschenseele erzählt. Nicht einmal Rhoda.“

„Ach, Nan.“

„Dave Stoltzfus hatte alles, was ich an einem Freund liebte, Nellie Mae. Alles …“ Nan weinte jetzt offen.

„Du hast ihn sehr gern gehabt“, war alles, was Nellie sagen konnte, ohne selbst zu weinen. Sie hörte zum ersten Mal den Namen des Jungen, der ihre Schwester so sehr verletzt hatte.

Nan nickte kräftig. Ihr Gesicht war ganz rot. „Ich habe fast die ganzen Psalmen gelesen. König David hat auch viel Traurigkeit erlebt, aber er konnte Gott trotzdem Loblieder singen.“

Nellie hatte die Verse, von denen Nan hier sprach, nie gehört. „Ich bin froh, dass du Trost gefunden hast.“

Nan konnte nicht weitersprechen. Sie schaute Nellie an, der bei der Zuneigung und Offenheit ihrer Schwester richtig warm ums Herz wurde.

* * *

Nellie fuhr aus dem Schlaf hoch und sah Mama neben ihrem Bett stehen.

Langsam setzte sich Mama. Sie hatte einen Briefumschlag in der Hand. „Ich wollte dich nicht wecken, Schatz.“ Sie legte den Kopf schief. Aus ihren Augen sprach eine unübersehbare Besorgnis. „Dein Dat hat das ins Haus gebracht … für dich.“

Sie hätte beinahe vergessen, dass sie vor einiger Zeit jemanden an ihrem Briefkasten gesehen hatte … gestern, nicht wahr? Der Mann auf der Straße, den sie nur verschwommen gesehen hatte, war in einem Wirrwarr aus sonderbaren Träumen untergegangen, und Nellie hatte schon gedacht, sie hätte ihn sich nur eingebildet. „Ach, was ist denn das?“

Mama sagte nichts, blieb aber sitzen. Nach einem längeren Schweigen fragte sie: „Wie fühlst du dich? Sinkt das Fieber allmählich?“

Nellie schüttelte den Kopf. Oh, was würde sie dafür geben, um die Hitze, die in ihrem Körper tobte, loszuwerden! Trotz des Fiebers war ihr kalt, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie sehnte sich danach, dass die Krankheit, die sie seit Samstag-abend plagte, endlich nachließ.

Waren es wirklich erst zwei Tage?

Mama wechselte das nasse Tuch auf ihrer Stirn und gab ihr noch mehr lauwarmen Tee mit Honig zu trinken. Dann legte sie eine Hand auf Nellies Stirn, beugte den Kopf und bewegte schweigend die Lippen.

Nellie fühlte sich getröstet, aber auch ein wenig unwohl, als sie sich fragte, ob Prediger Manny diese Art zu beten lehrte. Sie lernte anscheinend neumodische Sachen, auch ohne dass sie zu seinen Versammlungen ging. Aber Mamas Geste rührte sie an, und sie hoffte, das Gebet würde sie vielleicht wirklich schneller gesund machen.

Als Mama fertig war, schlug sie die Augen auf. „Ich bete, dass die Kraft des lebendigen Gottes dich aufrichtet.“

Nellie merkte, dass sie nickte, obwohl sie bezweifelte, dass der Herr im Himmel mit einer so kleinen Bitte belästigt werden wollte.

Mama hob das kühle Tuch hoch und beugte sich vor, um Nellie auf die Stirn zu küssen, bevor sie schließlich das Zimmer verließ. Erst jetzt wagte es Nellie, den Umschlag hochzuheben. Der Brief stammte tatsächlich von Caleb.

Obwohl sie so krank war, hüpfte ihr Herz vor Freude, und sie öffnete schnell den versiegelten Umschlag.

Meine liebste Nellie,

ich habe Dich nicht vergessen. Keine einzige Minute! Weihnachten war schrecklich, weil ich Dich nicht sehen konnte. Und das tut mir wirklich furchtbar leid.
Ich fühle mich wie ein Vogel, der in einen Käfig gesperrt ist. Und ich gebe zu, dass ich sündige, wenn ich diesen Brief heute, am Sonntag, den 13. Januar, in Deinen Briefkasten lege. Denn ich tue so, als hätte ich Grippe, die zurzeit leider umgeht. Während also meine Familie unterwegs ist, um Verwandte zu besuchen, liege ich „krank“ im Bett – und marschiere gleich zu eurem Haus, liebste Nellie.
Wenn es je ein Mädchen für mich gegeben hat, dann bist Du das. Ich denke viel an Dich und träume öfter von Dir, als ich zählen kann. Ich hoffe, Du denkst nicht schlecht von mir, weil ich Dich, wenn auch nur für eine kurze Weile, ohne die Begleitung eines Freundes lasse. Mir gefällt das ehrlich überhaupt nicht.
Jetzt ist es schon fast Mitte Januar, und ich habe immer noch keine Lösung für unser Dilemma gefunden. Daed verlangt, dass ich Dich und Deine Familie meide, als wärt ihr mit dem Bann belegt, aber ich sehne mich danach, mit Dir zu sprechen und wieder in Deiner Nähe zu sein.
Du brauchst keine Angst wegen unserer Zukunft zu haben, meine liebe, liebe Nellie. Ich werde sehr bald wissen, was zu tun ist, damit wir zusammen sein können.

Mit meiner ganzen Liebe
Caleb Yoder

Nellies Hände zitterten, nicht wegen des Fiebers, als sie den Umschlag in der Mitte faltete und ihn unter ihr Kissen schob. Oh, Caleb, du hast so viel riskiert, um mir diesen Brief zu bringen. Wie konnte ich nur an dir zweifeln?

Sie hatte seine liebevollen Worte nicht vergessen und auch nicht, wie er sie am Mühlbach in den Armen gehalten und ihr Gesicht geküsst hatte, wenn auch nicht auf die Lippen. Es war ihr unausgesprochenes Versprechen, dass sie damit warten würden.

Nellie schob ihre warme Hand unter das kühle Kissen, berührte seinen Brief und wünschte, sie könnte einen Weg finden, ihm zu antworten.

* * *

Während Rhoda im Wohnzimmer der Kraybills Staub wischte, schmiegte sich der Kater an ihr Bein. Mit hochgebogenem Rücken stieß er ein lautes Miau aus.

„Ach, du hast Hunger, nicht wahr?“

Pebbles miaute wieder. Dieses Tier war ständig auf der Suche nach Leckereien.

Er folgte ihr durch den Flur, dann durch den Salon mit dem hohen Kaminsims und den dazu passenden, goldenen Polstersesseln und dann weiter in die Küche. Rhoda öffnete die Tüte mit dem Katzenfutter, füllte Pebbles Schüssel und schaute, ob in seiner Wasserschüssel noch genug Wasser war.

Sie schaute dem schwarzweißen Kater zu, wie er sich über den Fressnapf hermachte, und wusste genau, dass ihr Vater nie etwas so Unsinniges wie ein Tier im Haus erlauben würde. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wie Mrs Kraybill ihr gemütliches, schön eingerichtetes vorderes Zimmer bezeichnete, um ihre Arbeit fortzusetzen. Rhoda rückte den niedrigen Tisch zurecht und bemühte sich, die Zeitschriften, die darunter sauber gestapelt waren, nicht zu beachten. Besonders schwer fiel ihr das bei einer Zeitschrift, die sich aus Mr Kraybills Arbeitszimmer hierher verirrt hatte, eine Autozeitschrift. Ihr war nicht entgangen, dass letzte Woche eine neue Ausgabe erschienen war. Ihre Eltern wären traurig, wenn sie wüssten, dass Rhoda die Autos, die auf den Hochglanzseiten vorgestellt wurden, bewunderte, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie es wirklich müde war, mit Pferd und Einspänner zu fahren.

Genauso geht es bestimmt auch einigen Jungen aus der Kirche.

Mehrere aus der alten Kirche hatten Autos gekauft und sie weit weg von den Häusern ihrer Väter versteckt und waren dadurch ungehorsam gewesen, bevor sie schließlich getaufte Kirchenmitglieder geworden waren. Einige dieser Jungen hatten ihr beim Singen am Sonntagabend die kalte Schulter gezeigt. Rhoda wollte es nicht zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, aber sie merkte, dass sie ihnen gern zeigen wollte, was sie damit verpasst hatten.

Trotzdem würde sie in den Seiten der neuesten Autozeitschrift erst blättern, bis sie sicher war, dass sie wirklich allein im Haus war – bis Mrs Kraybill in ihrem weinroten Kostüm und mit ihren schwarzen, hochhackigen Schuhen zu ihrem Wohl-tätigkeitstreffen in New Holland gefahren wäre. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wie lange muss ich noch warten?

Natürlich wurde von ihr erwartet, dass sie heute das erste Stockwerk gründlich putzte, aber am Nachmittag gestand Mrs Kraybill ihr die Zeit für eine Pause zu, zu der auch Tee und Kekse gehörten, die häufig aus Nellies Bäckerei stammten.

Rhoda interessierte sich in letzter Zeit nicht mehr so sehr für Süßigkeiten, da sie ein paar Pfund abnehmen wollte. Denn sie war sicher, dass eine schlankere Figur und ein hübsches Auto ein Garant dafür wären, einen Mann zu finden.

Kapitel 8

Als Nellie Mae am Mittwochmorgen aufwachte, fühlte sie sich besser. Obwohl ihr Fieber gestern plötzlich gesunken war, waren Mama und Nan für sie im Laden eingesprungen, hatten aber weniger Sachen gebacken als normal, da zurzeit sowieso nicht viele Kunden kamen.

Nellie genoss das Mitgefühl, das ihr von ihrer älteren Schwester entgegengebracht wurde, die sie herzlich über den Frühstückstisch anlächelte, als sie Nellie das Essen zuschob.

Später, nachdem der Tisch abgeräumt war und Rhoda zur Arbeit gegangen war, spülte Nan das Geschirr und Mama trocknete ab. Beide bestanden darauf, dass Nellie am Tisch sitzen blieb und ihren Tee trank.

Aber nachdem Mama das Zimmer verlassen hatte und nach oben gegangen war, um mit Dat „stille Zeit“ zu halten, setzte Nan sich neben sie. „Rebekah Yoder war wieder zu Besuch hier“, flüsterte sie.

„Wann?“, fragte Nellie.

„Gestern, als du im Bett lagst.“ Nan sah beunruhigt aus. „Sie hat mir etwas erzählt, das mich sehr überrascht hat. Sie hat gesagt, ihre Mutter habe gehört, dass jemand in der Lancaster New Era eine Anzeige aufgegeben habe, in der für Nellies Bäckerei Werbung gemacht wird.“

„Was? Bist du sicher?“

„Sie hat es gesagt. Es sieht so aus, als wäre ihre Mama darüber sehr erbost. Sie muss gesagt haben, dass es ‚diesen Fishers ähnlich sieht, so etwas Weltliches zu tun.‘“

Nellie war entsetzt, dass Calebs Mutter so über ihre Familie sprach. „Aber wer sollte denn so etwas gemacht haben?“

„Mir fällt da nur eine Person ein.“ Nan warf einen Blick zur Tür. „Ich tippe auf Rhoda.“

Nellie lachte. „Aber warum?“

„Viele aus der alten Kirche bleiben seit der Spaltung als Kunden weg … das stört Rhoda sehr.“ Nan schwieg einen Moment. „Wahrscheinlich versucht sie nur zu helfen. Das ist alles.“

„Das ist wirklich sehr nett, wenn man es sich genauer überlegt.“

Nan stimmte ihr zu. „Besonders da sie sich in letzter Zeit ziemlich abweisend verhält.“ Sie nippte an ihrem Tee. „Soll ich dir noch etwas erzählen?“

Nellie hörte zu, während sie ihre Teetasse von sich wegschob.

„Rebekah hat gesagt, sie hält die Anzeige für eine wunderbare Idee. Sie sagt, dass wir dadurch bestimmt mehr englische Kunden bekommen, als wir brauchen können.“

Nellie stöhnte. „Wie sollen wir das alles schaffen, falls das wirklich passiert?“

„Warten wir es einfach ab. Darüber brauchen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen.“ Nan grinste sie breit an. „Ich helfe dir mehr, Nellie Mae. Und Mama auch.“

„Dat ist mit den Tischen und Stühlen fast fertig“, erinnerte Nellie sie. „Vielleicht hat Rhoda deshalb Geld ausgegeben, um für die Bäckerei Werbung zu machen. Was meinst du?“

„Wer kann das schon sagen? So wie ich sie kenne, hat sie vielleicht einfach nur Interesse daran, mehr moderne Leute hierher zu bringen.“ Sie seufzte. „Ihr gefällt das Haus der Kraybills sehr gut.“

Besser als unseres …

Nan legte ihr Gesicht in die Hände und stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Ich würde sagen, bald sieht hier einiges anders aus.“

„Für dich auch, Nan?“

„In gewisser Weise vielleicht schon.“ Wieder schaute Nan zur Tür, als wollte sie sichergehen, dass Mama nicht in Hörweite war. „Ich bin bereit zu vergeben … die Gemeinheit meines früheren Freundes zu vergessen. Aber ich kann nicht sagen, dass ich bereit wäre, meinen Ärger gegenüber Rebekahs Vater loszulassen. Er hat kein Recht, Leuten, die miteinander befreundet sind, zu verbieten, sich zu treffen.“

Das stimmt!, dachte Nellie.

„Man sollte doch meinen, dass David Yoder wenigstens auf Onkel Bischof hören würde. Er ist so darauf versessen, der alten Kirche nachzufolgen. Da ist es doch wirklich ein Widerspruch, dass er der Anweisung des Bischofs, wegen der Kirchenspaltung niemanden zu verstoßen, nicht gehorcht.“ Nan verdrehte die Augen.

Nellie gab ihr recht und stand auf, um ihre Tasse zur Spüle zu tragen. „Oh, was für ein herrliches Gefühl es ist, sich wieder stärker zu fühlen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so krank gewesen bin.“

„Ja, wir dürfen dem Herrn im Himmel dankbar sein für deine Gesundheit … und Mama für ihre Gebete“, sagte Nan.

Nellie erzählte nicht, wie Mama ihre Hand auf Nellies Stirn gelegt und direkt über ihr gebetet hatte. Nan war wahrscheinlich inzwischen mit dieser Art zu beten auch vertraut. Diese Familie veränderte sich wirklich sehr – und das ziemlich schnell. Und falls Rhoda tatsächlich die Zeitungsanzeige aufgegeben haben sollte, schien ihre ältere Schwester eine ganz eigene Richtung eingeschlagen zu haben.

* * *

Chris Yoder stand im Türrahmen und wartete darauf, dass seine Jungengruppe eintraf. Die Gruppe am Mittwochabend hatte sich verdoppelt, seit er sie leitete. Zwei Jungen hatten Schulfreunde in ihrem Alter eingeladen, und es kamen einfach immer wieder neue Kinder und brachten noch mehr Freunde mit.

Er trat zu den Fenstern, lehnte sich ans Fensterbrett und ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern. Er und Zach hatten diesem Raum im Herbst einen neuen eierfarbenen Anstrich verpasst und das frühere Grau durch die freundlichere, hellere Farbe ersetzt. Chris hatte außerdem von seinem eigenen Geld eine Tafel gekauft.

Er betete für die jungen Menschen, denen er jede Woche etwas von Gott erzählen durfte, und brachte ihre Namen flüsternd vor seinen himmlischen Vater. Ein Junge machte ihm besonders Sorgen – Billy Zercher – ein Einzelgänger mit dunklen Ringen unter den großen, blauen Augen.

„Hilf mir, ihn zu erreichen …“

Chris wusste, dass er wahrscheinlich zu ungeduldig war und es nicht erwarten konnte, Ergebnisse zu sehen. Da sein Schulabschluss schon in greifbarer Nähe war, freute er sich darauf, in seinem Leben die nächsten Schritte zu gehen, und er wartete darauf, dass Gott ihm zeigte, welche Richtung er einschlagen sollte. Sein Vater sagte immer, ein fahrendes Schiff lasse sich leichter steuern als ein stehendes … das untätig darauf wartet, dass etwas Großes geschieht. Chris wollte etwas Großes. Vor den Geschäften und auf dem Gehweg vor den staatlichen Schulen verteilten er und seine Brüder Traktate mit Einladungen zu den Erweckungsveranstaltungen auf dem Tel-Hai-Gelände. Während ihre Bemühungen auf mäßigen Erfolg stießen, hoffte er darauf, mehr als nur die zwei oder drei Leute zu erreichen, die sich zu diesen Veranstaltungen verirrten. Wenn es nach ihm ginge, würde er unermüdlich daran arbeiten, den „Gott-ist-tot“-Unsinn zu widerlegen, der neuerdings von Time und anderen Zeitschriften verbreitet wurde.

Was seine berufliche Zukunft anging, war die Landschaftsgärtnerei seines Vaters sicher eine Möglichkeit. Chris kannte sich damit aus – er wusste, wie vorsichtig man Baumwurzeln beim Verpflanzen behandeln musste und vieles mehr. Er hatte sich mühelos jede mehrjährige Pflanze, die in dieser Gegend wuchs, gemerkt. Er wusste, wie viel Wasser sie brauchten, wie tief ihre Wurzeln gingen und welche Pflanzen Blüten trugen und welche nicht.

In letzter Zeit jedoch sehnte er sich nach etwas mit ewiger Bedeutung, nach einem Beruf, in dem er ganz für Gott da wäre. Er hoffte, dass er klarer sehen würde, wenn er im nächsten Herbst zur Bibelschule in Harrisonburg, Virginia, ginge.

Chris war nicht der Einzige mit großen Träumen. Er wusste, dass Zach auch einen Beruf ergreifen wollte, in dem er für Gott arbeiten konnte, und er betete sogar mit diesem Ziel im Hinterkopf für eine Lebensgefährtin und bat um ein Mädchen, das Gott von ganzem Herzen liebte. Als er Suzy Fisher kennenlernte, hatte Zach geglaubt, er hätte seine künftige Frau schon gefunden, wenn auch ein wenig früh. Sein älterer Bruder und auch sein Vater hatten versucht, Zach zu warnen. Er solle sich nicht zu schnell in sie verlieben … besonders da sie ein amisches Mädchen war.

Chris hingegen war noch nie einem Mädchen begegnet, das ihn übermäßig interessiert hätte. Aber Zach war sich sicher, dass er früh in seinem Leben die große Liebe gefunden hatte, und hatte das Chris auch anvertraut. Er hatte beschlossen, Suzy an jenem Nachmittag, als sie ihren Ausflug zum Marsh Creek State Park unternahmen, zu fragen, ob sie fest miteinander gehen wollten. Doch dann war in einem einzigen schrecklichen Moment Suzy von dem riesigen See verschlungen worden und war jetzt für immer fort.

Chris und Zach waren sofort ins Wasser gesprungen, um sie zu retten, genauso wie ihre drei älteren Brüder, die ihre entsetzten Freundinnen in den anderen Ruderbooten sitzen gelassen hatten. Zuerst hatte Chris vor Panik nicht genug Luft in die Lunge bekommen, um tiefer zu tauchen.

Beim dritten Tauchversuch hatte Chris es schließlich geschafft und Suzy wieder an die Oberfläche geholt. Zu spät – ihre Lunge hatte sich bereits mit Wasser gefüllt, ihr Körper war leblos gewesen.

Sie hat nie erfahren, dass Zach glaubte, Gott hätte sie und ihn zusammengebracht …

Chris glaubte genauso wie seine vier Brüder fest daran, dass Gott der Herr über alles war. Ihre Eltern hatten ihnen das schon sehr früh beigebracht. Wenn er sich vorstellte, dass Suzy, die in ihrem Glauben noch so neu gewesen war, vielleicht seine Schwägerin geworden wäre, wenn sie am Leben geblieben wäre! Aber jetzt quälte Zach die Erinnerung daran, wie Suzy im Ruderboot aufstand und dann das Gleichgewicht verlor und wie sich ihr langes Kleid aufblähte, als sie taumelte und über Bord fiel. Er hatte Alpträume und warf sich oft in seinem Bett hin und her. Die Träume und Erinnerungen ließen ihn den ganzen Tag nicht zur Ruhe kommen. Inzwischen litten auch seine Noten in der Schule darunter.

Sogar Chris hatte nach dem Unfall im letzten Juni Mühe gehabt, sich zu konzentrieren. Er erledigte seine Arbeit in der Baumschule an der Seite seines Vaters, war aber mit den Gedanken ganz woanders. Als ein Mitarbeiter für die Jugendgruppe am Mittwochabend gesucht worden war, hatte er diese Aufgabe gern übernommen.

Der Herr hat gewusst, dass ich diese Gruppe brauche …

Er trat vom Fenster weg und verteilte Bibeln auf dem großen, runden Tisch, bevor er noch einmal seine Notizkarten durchging. Aber seine Gedanken kehrten wieder zu Suzy Fishers Bekehrung und zu ihrem plötzlichen Tod zurück.

Wie leicht hätte es passieren können, dass sie in ihren Sünden gestorben wäre.

Er dankte dem Herrn noch einmal, dass sie sich begegnet waren, dass er Suzys Herz darauf vorbereitet hatte, ihn anzunehmen. Er betete auch, dass Suzys Tod irgendwie nicht umsonst gewesen war.

Die Jungengruppe stürmte aufgeregt plaudernd ins Zimmer. Schnell setzten sie sich auf ihre Plätze und bildeten einen Kreis aus acht energiegeladenen Dritt- und Viertklässlern. Chris setzte sich eilig zu ihnen an den Tisch, er wollte ihnen wie ein älterer Bruder begegnen. „Seid ihr bereit für euer Schwerttraining?“, fragte er.

Es herrschte eine plötzliche Hektik, als diejenigen, die keine Bibeln mitgebracht hatten, sich eilig die Bibeln schnappten, die in der Mitte des Tisches lagen. Sie legten die Daumen startbereit über den Goldschnitt und schauten ihn mit leuchtenden Augen erwartungsvoll an.

„Galater 6,2“, sagte Chris.

„Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen, Chris“, rief ein Junge laut los, ohne die Bibel aufzuschlagen.

„Das ist nicht fair!“, rief ein anderer Junge.

„Geht es hier um ein Schwerttraining oder darum, Verse auswendig zu können?“, fragte Billy Zercher.

Chris schaute Billy überrascht an. „Du hast recht.“ Er lächelte. „Willst du eine Bibelstelle aussuchen?“

Billy wurde schüchtern und blinzelte unsicher. Er senkte den Kopf und schwieg.

„Ich weiß eine!“, ertönte es im Chor.

Chris schaute Billy an. Ich werde ihn nicht aufgeben. Und Zach auch nicht …

Kapitel 9

Der lang erwartete Moment war gekommen.

Mit sehr ernster Miene forderte Daed am Mittwochabend Caleb auf, sich zu ihm zu setzen, und begann, ihm seine Zukunftspläne darzulegen. Er begann mit seinen Erwartungen für die Aufteilung der Verantwortung bei der Bearbeitung der Felder und der Versorgung des Viehs. Danach sprach er davon, dass er ihm einmal das Land überschreiben würde. „Mein Sohn, ich will, dass alles in deiner Hand liegt – das Pflügen, Säen, Ernten, die Bearbeitung des Landes und die Versorgung des Viehs. Eine Weile kannst du natürlich auf die Hilfe deiner älteren Brüder bei dieser Arbeit zurückgreifen, genauso wie ich das jetzt mache.“ Er fuhr mit den Daumen über seine schwarzen Hosenträger, bevor er weiter ins Detail ging.

Da er diesen Tag sehnsüchtig erwartet hatte, schenkte ihm Caleb jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Mein Geburtsrecht, endlich!

Nach einer Weile lehnte sich Daed auf seinem Stuhl zurück und schien ihn zu mustern. Caleb erwiderte den Blick seines Vaters, obwohl er sich unter der unerwarteten kritischen Begutachtung unwohl fühlte.

„Hör zu, Caleb, ich bin stolz auf dich, weil du mit diesem Mädchen, das du hattest, Schluss gemacht hast. Das heißt, ich nehme an, dass du das getan hast.“

Die Worte seines Vaters stießen bei ihm auf deutliche Ablehnung, aber es gelang ihm, den Augenkontakt zu ihm zu halten.

„Glaube nicht, mir wäre entgangen, dass du nicht mehr zum Singen und den anderen Treffen der Jugend gehst.“

Caleb biss die Zähne zusammen, sagte aber nichts.

„Jetzt ist es an der Zeit, dir eine passende Frau zu suchen. Warte nicht, bis das Gras unter deinen Füßen zu hoch wächst.“ Sein Vater fügte hinzu: „Ich stehe zu meinem Wort. Ich überschreibe dir den Hof, wenn du eine geeignete Frau gefunden hast.“

„Geeignet?“ Nellie Mae war am besten geeignet. „Warum nicht Nellie Mae? Sie ist nicht in Prediger Mannys Kirche eingetreten, Daed. Sie bleibt in der Alten Ordnung. Das wirst du im nächsten Herbst mit eigenen Augen sehen, wenn wir uns beide taufen lassen.“

Sein Vater schnaubte. „Ich sehe nur, dass alle Mädchen das tun, was ihre Mama tut, auch wenn sie schon verheiratet sind. Es ist gut, dass du mit ihr Schluss gemacht hast.“

Caleb öffnete den Mund, um ihm zu antworten, änderte aber seine Meinung. Es war gewiss nicht Nellies Schuld, dass Ruben Fisher das Alt Gebrauch, die Alte Ordnung, verlassen hatte und sich von der gefährlichen Denkweise seines Predigervetters hatte anstecken lassen und nun eigenständig in der Bibel las. Warum sollte Caleb seine Zuneigung zu Nellie Mae aufgeben, nur weil sein Vater etwas gegen Rubens starkes Interesse an der Bibel hatte?

Daed sprach weiter. „Du könntest alle möglichen Mädchen in unserem Kirchenbezirk heiraten … zum Beispiel Diakon Lapps Tochter.“

„Susannah?“

Daeds Augen leuchteten auf. „Sie ist ein kräftiges Mädchen. Und sie kann arbeiten. Und sie ist auch noch ziemlich hübsch. Hübscher als dieses Fishermädchen.“ Daed deutete mit dem Finger auf ihn. „Was ich damit sagen will: Ich erwarte von dir, dass du ein ehrbares Mädchen aus einer Familie in unserer Kirche heiratest. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du dein Land bekommst.“ Damit meinte sein Vater, dass niemand von den Leuten, die angeblich „durch Gnade erlöst“ waren, oder von denen, die sich noch weiter von ihren Wurzeln entfernten, in Frage kam.

Aus Daeds gerötetem Gesicht schloss er, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, weiter zu drängen und seinen Zorn noch mehr heraufzubeschwören. Nein, sein Vater ärgerte sich viel zu sehr über diese Spaltung und zog für seine Familie klare Grenzen, wer als Gesellschaft geeignet war und wer nicht. Caleb fragte sich, ob seine Schwester Rebekah vor ein ähnliches Ultimatum gestellt würde. Gestern hatte er eine Auseinandersetzung zwischen der gewöhnlich ruhigen Rebekah und Daed gehört. Rebekah war in Tränen ausgebrochen und hatte gesagt, dass sie jetzt ihre beste Freundin, Nan, besuchen gehe. „Und niemand wird mich daran hindern!“

Er war also nicht der Einzige, der sich über die Vorurteile seines Vaters gegenüber den Fishers erboste, obwohl Rebekah anscheinend eigensinniger war als er.

Wenigstens geht Daed davon aus …

Daed machte sich nicht die Mühe, ihm zu sagen, dass das Gespräch zu Ende sei. Er stand einfach auf und ging zur Abstellkammer. Caleb konnte nicht vergessen, dass das derselbe Mann war, der vor neun Jahren seinen älteren Bruder Abe zurechtgewiesen und ihn gezwungen hatte, seine schwangere Freundin zu heiraten. Aber Calebs jetzige Situation war eine ganz andere als Abes Situation damals, der einfach zu verliebt gewesen war.

Trotzdem erschauderte er bei dem Gedanken, wie schnell er in einen wütenden Kampf zwischen dem Erbe, das sein Leben lang sein Ziel gewesen war, und der geliebten Nellie Mae hi-neingezogen werden konnte. Tatsache war, dass alles einfacher wäre, wenn sein Vater mit eigenen Augen sähe, dass Nellie Mae voll und ganz hinter der Alten Ordnung stand. Wenn Daed es nur nicht so eilig hätte.

* * *

Die Gerüchte über die Zeitungsannonce für Nellies Bäckerei breiteten sich genauso schnell aus wie der Löwenzahn, wenn er im Sommer seine Samen in alle Himmelsrichtungen fliegen lässt. Betsys Schwägerin, Anna, die Frau des Bischofs, übernahm es persönlich, beim Nähtag am Donnerstagvormittag zu betonen, dass es „einfach eine Sünde und eine Schande“ sei, dass die Fishers so tief gesunken seien, so etwas zu machen. Das sagte sie Betsy direkt ins Gesicht, die sie daraufhin völlig verblüfft anschaute.

„Ruben und ich haben damit nichts zu tun“, erwiderte Betsy.

„Wer dann?“

„Das weiß ich nicht.“ In ihrem Haus las niemand die Tageszeitung, die von Englischen herausgegeben wurde. Die einzige Zeitung, die sie abonnierten, war das Budget, eine amische Zeitung, die in Sugarcreek, Ohio, herausgegeben wurde und über die neuesten Ereignisse in den amischen Gemeinden berichtete.

„Ich muss wirklich sagen, dass einige für Geld einfach alles tun.“ Rachel Stoltzfus gab ihren Kommentar zum Besten, als hätte sie Betsy überhaupt nicht gehört.

„Wir hatten damit nichts zu tun, sage ich euch.“ Betsy wandte sich ab und schaute auf ihre Näharbeit hinab. Die Gruppe bestand an diesem Morgen aus acht anderen Frauen. Auch ihre eigenen Schwiegertöchter Esther und Fannie, die Frauen von Thomas und Jeremiah, waren dabei.

Esther war immer für ein freundliches Wort zu haben und setzte sich jetzt für sie ein. „Wie kommt ihr denn darauf, so etwas von Mama zu denken?“

Rachel schnaubte leise, hielt aber den Kopf gesenkt und die Augen auf den aufgerissenen Saum am Hemd ihres Mannes gerichtet. Sie alle flickten verschiedene Kleidungsstücke und trafen sich, wie mehrmals im Jahr, zum Nähen, damit es mehr Spaß machte. Aber der heutige Nähtag bereitete Betsy nicht viel Spaß. Sie beschloss, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und nähte den Saum ihres Kleides nach oben und hoffte, dass es dann noch einen oder zwei Monate halten würde.

„Frag doch deine Mama, ob sie absichtlich Unruhe schürt, indem sie mehr englische Kunden in unsere Gegend holt“, stichelte Rachel erneut.

Jetzt war es an ihrer Schwiegertochter Fannie, sich einzumischen. „Hör zu, Rachel, du kannst direkt mit Mama sprechen. Meine Güte, sie sitzt dir gegenüber!“

„Ja, und ihr könnt nicht behaupten, dass ihr nichts mit Außenstehenden zu tun hättet. Ihr macht doch auch Geschäfte mit ihnen und kauft von ihnen Futter, Getreide und alles mögliche andere“, strich Esther heraus und legte ihre Arbeit einen Moment weg, um Rachel anzuschauen.

„Futterhändler kann man nicht unbedingt als Außenstehende bezeichnen“, mischte sich Anna jetzt wieder in das Gespräch ein.

„Das stimmt“, nickte Betsy. „Sie sind Mennischte – Mennoniten.“

„Aber Traktorenverkäufer, was ist mit ihnen?“, warf Rachel böse ein.

Jetzt war Betsy wirklich sauer. „Mit ihnen habe ich nichts zu tun.“

„Oh, aber andere hier haben etwas mit ihnen zu tun … und ihr wisst ganz genau, von wem ich spreche!“ Rachel stand schnell auf und ging in den hinteren Teil des Hauses, wo ein kleines Badezimmer angebaut worden war, ähnlich wie Ruben es in ihrem eigenen Haus angebaut hatte.

Im Raum herrschte Schweigen, während Rachel fort war, obwohl Betsy große Mühe hatte, nicht mit dem herauszuplatzen, was sie ärgerte. Ihre Geduld wurde hier im Haus ihrer Schwägerin auf eine harte Probe gestellt, aber sie hielt sich trotzdem zurück, genauso wie damals, als Rubens Mutter sie mit ihren Worten angegriffen hatte. Natürlich war das eine ganz andere Sache gewesen.

Na ja, vielleicht war sie doch nicht so viel anders gewesen.

Diese ganzen Anfeindungen von Rachel und Anna entstanden durch die Spannungen zwischen den verschiedenen Kirchengruppen. Es gab inzwischen drei Gruppen: Die Alte Ordnung, die Neue Ordnung und die Beachys. Eigentlich war es ziemlich überraschend, dass die Frau des Bischofs Frauen aus allen drei Gruppen zum heutigen Nähtag eingeladen hatte.

Man muss ihr wirklich zugute halten, dass sie sich um Einheit bemüht, sinnierte Betsy.

Sie erinnerte sich an Mannys Predigt vom letzten Sonntag. Manny hatte gesagt, dass der Herr das neue Leben niemandem gegen seinen Willen aufzwinge. Der Wille des Einzelnen spiele eine große Rolle bei der Frage, ob man zum Kreuz auf Golgatha kommt und dem göttlichen Ruf folgt – dem inneren Ziehen und Locken, ganz ähnlich wie bei einem Liebespaar der Mann seine Freundin liebevoll umwirbt. Könnte es sein, dass Anna und der Bischof irgendwann die Erlösung durch Jesu Kreuz erkennen? Vielleicht sogar Rachel? Betsy betete treu dafür, genauso wie sie Gott auch andere in ihrer Gemeinde im Gebet hinlegte, die immer noch in der Tradition gefangen waren.

Es dauert nicht einmal mehr einen Monat, dann wird jeder, der sich für die andere Kirche entscheidet, mit dem Gemeindebann belegt!

* * *

Rosanna wünschte sich ehrlich, Kusine Kate wäre zum Nähtag gegangen, statt nach dem Stillen von Eli so lange dazubleiben. Dass ihre Kusine Rosie nun gar nicht mehr stillte, fand sie seltsam, obwohl es Zeit wurde, dass Kusine Kate das Stillen nun endgültig einstellte.

Rosannas Vorfreude darauf hatte nichts damit zu tun, dass sie Kate von den Babys fernhalten wollte. Aber Kate war einfach nicht sie selbst, und ihr Verhalten machte Rosanna nervös. Waren das Wochenbettdepressionen? Viele Frauen litten in den Monaten nach einer Entbindung darunter, und sie wollte natürlich verständnisvoll und mitfühlend sein. Trotzdem reizte es sie, als Kate ihre vorsichtige Frage, wann sie Eli abstillen werde, völlig überging.

Rosanna versuchte es erneut. „Es sind schon über zwei Monate vergangen, Kusine. Elias und ich sind dir für deine Hilfe dankbar, aber du hast sicher Besseres zu tun, als täglich hierher zu kommen.“

Auch nach diesem deutlichen Hinweis hatte Rosanna den Eindruck, dass Kate sich weigerte, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen beugte sie sich über Eli und streichelte seinen fleischigen Arm, der unter seiner Decke herausschaute.

„Was für ein schöner Junge er ist“, murmelte Kate. „Ganz wie sein Vater.“

Rosanna erschauderte bei dieser Bemerkung. Wie würde Kate sich fühlen, wenn die Rollen vertauscht wären? Sie lehnte sich schwer an den Türrahmen und versuchte, die Dinge mit Kates Augen zu sehen. Es musste für sie sehr schwer sein, ihre Babys wegzugeben. Sie konnte es sich kaum vorstellen.

„Schau nur, wie geschwungen seine rechte Augenbraue ist“, sagte Kate und fuhr sie mit ihrem Zeigefinger nach.

„Das habe ich auch schon bemerkt.“

Dann berührte Kate ihre eigene Augenbraue, als wolle sie sie vergleichen.

Rosanna musste wegschauen. Sie konnte es nicht ertragen, dass ihre Kusine noch länger hierherkam.

Während sie langsam zur Küche ging, fragte sie sich, ob Kate Kräuter nahm, die gegen Depressionen halfen. Vielleicht sollte sie einfach ihren Küchenschrank durchgehen und Kate ein Benediktenkraut oder Nachtkerzenöl anbieten, das sie sich als Tee aufgießen konnte. Wie die meisten Frauen wusste sie, dass diese Mittel das Stillen nicht beeinträchtigen würden. Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn es ein Ende nähme.

Plötzlich brach Kate im Zimmer nebenan in Tränen aus. „Oh, mein geliebtes Boppli.“ Sie stand vom Schaukelstuhl auf und weckte dabei den kleinen Eli. Dann lehnte sie ihn an ihre Schulter, streichelte seinen Rücken und ging mit ihm ins Wohnzimmer, während er Rosanna mit seinen kleinen Augen verschlafen anblinzelte.

Bricht sie gleich zusammen? Oder hat sie wirklich so wenig Feingefühl und so wenig Interesse an meinen Wünschen?

In diesem Moment beschloss Rosanna, dass sie auf jeden Fall zum nächsten Quilttag ginge oder vielleicht einfach jemanden besuchte und die Babys mitnahm. Kate kann ruhig kommen und sehen, dass niemand zu Hause ist!

* * *

Nellie Mae unterdrückte einen Freudenschrei, als sie die Post holte, bevor sie am Donnerstag nach dem Mittagessen in den Laden zurückkehrte. Calebs Name und Absender standen in der Ecke eines Briefumschlags, wo jeder ihn lesen konnte.

Noch ein Brief nach nur wenigen Tagen … wie kühn von ihm!

Sie lief über den verschneiten Hof zur vorderen Veranda, wo sie sich trotz der Kälte hinsetzte, um den Brief von ihrem geliebten Freund zu lesen.

Liebste Nellie,
ich vermisse Dich mehr, als ich zu schreiben wage. Ich muss Dich wiedersehen. Komm heimlich zu unserem Platz.
Ich komme am Freitag nach dem Abendessen zu Fuß dorthin. Hoffentlich ist es Dir nicht zu kalt. Pack Dich warm ein, ja?
Ich zähle die Stunden.

Für immer Dein
Caleb Yoder

Sie drückte den Brief an ihre Lippen. Er hatte sie wirklich sehr gern. So viel war klar. Er hatte es wieder riskiert, mit einem Brief erwischt zu werden. Natürlich hatte er hier nichts zu befürchten, denn ihre Eltern drohten ihr nicht mit der Verweigerung des Erbes.

Nein, Nellie stand es frei, sich zu treffen, mit wem sie wollte … und auch Caleb zu heiraten, falls sie das wollte. Natürlich wollten Dat und Mama, dass Nellie ihren Glauben annahm, aber sie hatten keine Bedingungen gestellt, wen ihre Töchter heiraten dürften.

Trotzdem machte sich Nellie Sorgen um Caleb … um sie beide. Was würde er tun, wenn sein Vater sich weigerte, seine Meinung zu ändern, und ihnen nicht erlaubte, sich zu treffen?

Wird Caleb mich so sehr lieben, dass er auf den Hof verzichtet?

Nellie wusste, dass Calebs Liebe zu seinem Geburtsrecht weniger mit dem Land zu tun hatte als vielmehr damit, was es für seine künftige Familie bedeutete. Caleb wollte den Hof nicht aus egoistischen Gründen. Er wollte nur für ihre gemeinsame Zukunft sorgen und dafür liebte sie ihn umso mehr. Aber das konnte sie ihm erst am Freitag sagen, denn sie wagte es nicht, ihm auch einen Brief zu schreiben.

Morgen sehe ich ihn!