Das Gute
an der Mafia ist,
dass sie sich
gegenseitig umlegen
Aufsätze neapolitanischer Kinder
über die Camorra
Herausgegeben von Marcello D’Orta
und Don Luigi Merola
Aus dem Italienischen von
Sophia Marzolff
Die Originalausgabe erschien 2012
bei Arnoldo Mondadori Editore, Mailand,
unter dem Titel ›’A voce d’ ’e creature‹
Copyright © 2012 by Arnoldo Mondadori
Editore S.p.A., Mailand
Die deutsche Erstausgabe erschien 2013
im Diogenes Verlag
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06880 1 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60365 1
[5] Ich widme dieses Buch meiner Mutter Rosetta, meinem Vater Giuseppe sowie Don Stefano, die mich gelehrt haben, ein anständiger Mensch und ein Gott liebender Priester zu sein. Ich widme es auch meinen Schützlingen, die mir jeden Tag vor Augen halten, dass es die Träume unserer Stadt Neapel zu bewahren und ernst zu nehmen gilt.
Luigi Merola
[11] Vorwort
von Marcello D’Orta
Wie ein Märchen klingt es.
Es war einmal ein Schloss, genauer eine dreistöckige Villa. Der Besitzer dieser Villa war kein König, sondern ein Camorraboss – der böse Riese gewissermaßen. Die Villa befand sich in Neapel, im ärmlichen und heruntergekommenen Stadtteil Arenaccia, und den Camorraboss nannte man Bambù, nach den Bambuspflanzen, die sein Haus umstanden. Wie der selbstsüchtige Riese in Oscar Wildes gleichnamigem Märchen verbot Bambù den Bewohnern der umliegenden Häuser, ihre Fenster zu öffnen: Wehe dem, der es wagte, einen Blick auf sein Anwesen zu werfen!
In dieser Villa fanden wichtige Treffen der Camorra statt, bei denen über Leben und Tod eines Menschen entschieden wurde oder Pläne entstanden, wie man Mitglieder anderer Clans ausschalten konnte.
Weder ein deutscher Schäferhund noch ein neapolitanischer Mastino (dessen Anblick furchterregend genug wäre) bewachte die Villa, sondern ein Löwe, und dieser Löwe, wo immer sie den auch herhatten, hieß Simba, wie es sich für einen Löwen gehört.
[12] Aber der Mensch denkt und Gott lenkt (wenn er will), und so kam es, dass der Camorraboss an einem bestimmten Punkt seiner ›beruflichen Karriere‹ verhaftet wurde. Der Löwe (dessen nächtliches Brüllen den Anwohnern Schauder über den Rücken jagte) wurde im Zoo von Neapel untergebracht, die Villa beschlagnahmt. Der gesamte Bau, der mit seinen drei Stockwerken auf eine Fläche von 550 Quadratmetern kommt, wurde von der Stadt (mit Fördermitteln der EU) umstrukturiert und Don Luigi Merola anvertraut.
Vormals Pfarrer im Forcella-Viertel und als »Anti-Camorra-Priester« bekannt (eine Bezeichnung, die er nicht gerne hört), hat Don Merola in der Villa seine Stiftung ’A voce d’ ’e creature (»Die Stimme der Kinder«) untergebracht.
Für zahlreiche Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Problemvierteln Neapels, vor allem aus Poggioreale, hat Merola in der Stiftung eine Nachmittagsbetreuung eingerichtet. Das Angebot umfasst Tanzkurse, Gitarrenstunden, Lesekreise, Informatikunterricht, Journalismus, Filmkunst, Schauspiel und mehr. Ziel der Stiftung ist es, Kinder und Jugendliche, die der Schule fernbleiben, wieder zum Schulgang zu motivieren und ihnen die Integration in die Arbeitswelt zu erleichtern, auch durch die Wiederbelebung alter Berufe und durch Handwerkstätigkeiten.
Ich bin Don Luigi Merola erstmals im Jahr 2006 begegnet und habe ihm ein gemeinsames Projekt [13] vorgeschlagen: Die Idee war, die Kinder und Jugendlichen schriftlich und mündlich zu aktuellen Themen zu befragen, ihre Äußerungen zu sammeln und in einem Buch herauszugeben, dessen Verkaufserträge wieder in die Stiftung fließen sollten. Merola gefiel die Idee, und er machte sich gleich ans Werk. In den folgenden Jahren landeten zahlreiche Aufsätze, Erzählungen oder auch Aufzeichnungen von Merola selbst auf meinem Schreibtisch. (Zum Beispiel ist in seinem Notizbuch folgender Dialog mit einem Kind festgehalten. Merola: »Also, Ciro, morgen machen wir einen Ausflug nach Ischia.« Ciro: »Aber, Padre, was sollen wir denn da? Wir wollen doch das Meer sehen!« Ciro wusste nicht, dass Ischia eine Insel ist.)
Don Merolas Schützlinge sind zwischen sechs und sechzehn Jahre alt, und so verwundert es nicht, wenn manche Textstellen schon etwas abgeklärter erscheinen als jene aus dem Band In Afrika ist immer August.
Den gesammelten Aufzeichnungen von Don Merola habe ich noch andere hinzugefügt, die aus meinen Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen aus den Vierteln Stella und Sanità stammen. Sie besuchten in der Gemeinde, in welcher mein Sohn Pfarrer ist, den Kommunions- oder Firmunterricht; andere Aufsätze stammen aus der katholischen Jugendarbeit meines eigenen Stadtteils. Die Texte sind in bewährter Manier in einer Collage zusammengestellt.
Die Camorra hat Don Luigi Merola schon mehrfach [14] mit Mord gedroht. – Wünschen wir ihm, er möge hundert Jahre alt werden, und seinen Schützlingen, sie möchten noch weiter so wunderbare Texte (denn das sind sie) schreiben, wie sie in diesem Buch versammelt sind.
Gott segne die Stiftung ’A voce d’ ’e creature.
[15] Einleitung
von Luigi Merola
Ich wurde in eine einfache Familie hineingeboren: Mein Vater Giuseppe war Bauarbeiter, dann Pförtner am Priesterseminar von Neapel, meine Mutter Hausfrau und Bürohilfe in einer Arztpraxis von Verwandten. Als zweiter von vier Söhnen bin ich mit dreizehn Jahren ins Knabenseminar eingetreten. Zu dieser Entscheidung hat mich der Aufenthalt in einem Sommerferienlager in Sicignano degli Alburni (in der Provinz Salerno) gebracht, das von Afrikamissionaren geleitet wurde. Die Freude und Tatkraft des Paters Luigi Morell, der in Mosambik wirkte, hatte mich zutiefst beeindruckt. Ich hoffte, ein guter Priester zu werden, ein Priester, der für die Menschen da ist wie die Missionare in Afrika. In meinem Heimatort Marano habe ich 1996 begonnen, mit Kindern der Azione Cattolica zu arbeiten, zusammen mit Padre Domenico Galluccio, einem Priester, der die Armen liebte und selbst arm war. Das ließ den Wunsch in mir entstehen, mich mit der Hilfe Gottes und mit all meiner Kraft für die Kinder einzusetzen, die in den Gassen Neapels oder der umliegenden Dörfer häufig Gewalt erfahren oder zu schnell erwachsen werden müssen. Ich [16] hatte also immer die Vorstellung eines Priesters im Kopf, der sich »die Hände schmutzig machen« muss, denn, wie Don Lorenzo Milani es ausgedrückt hat: »Was nützen einem saubere Hände, wenn man sie in die Taschen steckt?« Ein Priester muss Hirte sein und den strengen Geruch der Schafe atmen; er muss aus der Sakristei herauskommen, sonst wird er niemals dem Beispiel Jesu folgen, der seine Tage draußen auf den Straßen verbracht hat, um die Welt zu retten. Mein Engagement für die Kinder hat dazu geführt, dass man mich seit ein paar Jahren in Neapel und an Kirchentagen in ganz Italien den »Pfarrer von Forcella« oder den »Anti-Camorra-Priester« nennt. Forcella, der kleinste Stadtteil Neapels, war der von Gott für mich bestimmte Ort, an dem es galt, den Schwächsten zu helfen, auch wenn das nicht einfach war. Denn der Mensch steht immer an einem Scheideweg: Wir müssen uns zwischen Gut und Böse entscheiden. Wir können aus unserem Leben ein lebendiges Wunder machen, oder wir machen es zum Werkzeug des Übels und der Grausamkeit – so wie die Camorra. Forcella ist ein Sinnbild dafür, wie das Leben eines Menschen dem Guten dienen kann oder dem Bösen. Hier haben wir uns für Kinder und Jugendliche eingesetzt, die nun in der Stiftung Zuwendung und Hilfe finden können, in jenem Haus in Arenaccia, das der organisierten Kriminalität entzogen wurde.
In den vergangenen vier Jahren haben Marcello D’Orta und ich mit unseren Fragen und Schreibanregungen [17] versucht, den jungen Leuten die Idee einer normaleren Stadt zu vermitteln, in der das Gesetz Geltung hat und ein faires Miteinander möglich ist. Herausgekommen ist diese Sammlung, deren Botschaft hoffentlich viele Leser erreicht und zu einer Verbesserung der Lebensumstände in unserer Stadt beiträgt, obwohl die Zeiten nicht leicht sind.
Schon seit Jahren widme ich mich dieser Aufgabe, die mich leider zu einem Leben unter extremen Sicherheitsvorkehrungen zwingt. In meinem Alltag beschützen mich vier Carabinieri, Pasquale und Peppe, Aristide und Francesco, die mich überallhin begleiten, wo ich junge Leute dazu bringen kann, ein Leben in der Legalität zu führen, indem ich von den Erfahrungen erzähle, die ich auf meinen Stationen von Marano über Forcella bis hin zum Hauptbahnhof von Neapel gemacht habe. Dabei werde ich unterstützt von Schülern und Lehrern, Gewerkschaften und Ordnungskräften, Unternehmern und Arbeitern, die ebenfalls davon erzählen können, dass man als Mitglied der Camorra früher oder später ein schlimmes Ende nimmt: Entweder man landet im Gefängnis, oder man wird von einem rivalisierenden Clan umgebracht. Um es nicht dazu kommen zu lassen, versuchen wir den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich von morgens bis abends mit kulturellen, spielerischen und gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beschäftigen und auf diese Weise »ehrliche Bürger und gute Christen« zu werden.
[18]