Über das Buch:
WG-Mitbewohner für lichtscheuen IT-Studenten,
eigenwillige Architektur- und harmoniebedürftige Lehramtsstudentin gesucht! Möbliertes Zimmer, zentrale Lage,
unkomplizierte Gesellschaft.
Wir freuen uns auf dich!
Gabriel, Lena und Simone

Als Johnny in ihre WG einzieht, können Gabriel, Lena und Simone nicht ahnen, dass er ihr Leben völlig auf den Kopf stellen wird. Denn der Germanistikstudent hat ein Geheimnis … und verfolgt seine ganz eigenen Ziele. Keiner der WG-Bewohner bleibt davon unberührt. Johnnys Anwesenheit hinterlässt Spuren …

Über die Autorinnen:
Melissa C. Feurer wurde 1990 in Gunzenhausen/Mittelfranken geboren und macht 2010 ihr Abitur. Sie ist Mitglied der evangelischen Gemeinde und besucht eine Jugendgruppe des EC. Ihre Begeisterung für das Schreiben entdeckte sie bereits mit 11 Jahren.

Erster Auftritt
Stadium IV

Lena wollte Johnny schütteln oder treten oder wenigstens anschreien. „Lymphdrüsenkrebs“, echote sie stattdessen nur und das Wort fühlte sich in ihrer Kehle an, als würde es sich dagegen sträuben, ausgesprochen zu werden.

„Ja.“ Johnny sah keinen von ihnen an. Schon seit Sekunden starrte er auf die gleiche Stelle auf dem Fußboden, ohne auch nur zu blinzeln. Sein Gesicht erinnerte plötzlich an Stein, nein, wegen seiner üblichen Blässe eher an Eis.

„Aber dann ...“ Simone rang nach Luft oder Worten, fand zuerst beides nicht und setzte sich schließlich schwer atmend neben Johnny, um ihm in die Augen zu schauen. „Dann musst du dich doch behandeln lassen“, piepste sie. „Ich meine, das ist doch ... es ist doch heilbar, oder nicht?“ Flehentlich sah sie ihn an, wartete auf eine Antwort und biss sich auf die Unterlippe, als keine kam.

„Wie lange?“, fragte Lena mit einer Stimme, die selbst in ihren eigenen Ohren klang wie aus weiter Entfernung.

„Seit dreieinhalb Jahren.“ Johnny sah auf, an Simone vorbei, als wäre diese gar nicht da, und hielt Lenas Blick ein paar endlose Sekunden lang fest, als hätte sie noch etwas anderes gefragt, worauf er laut nicht antworten konnte.

„Die Behandlung hat zuerst gut angeschlagen“, setzte er schließlich leise zu sprechen an. „Aber dann kam der Krebs wieder.“ In seiner Stimme lag ein Grauen, dem er mit den knappen, erklärenden Worten keinen Ausdruck verleihen konnte. „Hat sich ausgebreitet. Im lymphatischen System, dann außerhalb. Dann sprachen sie von Stadium vier, von Leberkrebs und dass man nicht operieren könne. Und jetzt nehme ich Schmerztabletten und schaue, wie lange ich zurechtkomme.“

„Moment, Moment.“ Simone erhob sich und wich an Lenas Seite zurück, wie um bei dieser Schutz oder Bestätigung zu suchen. Aber im Gegensatz zu Simone hatte Lena längst verstanden und schwieg. „Du nimmst Schmerztabletten. Und weiter?“, fragte Simone. „Von Schmerztabletten geht der Krebs doch nicht weg!“

Johnny schüttelte den Kopf, holte Luft, wollte sprechen, brachte es aber nicht fertig. Lena konnte nicht mit ansehen, wie es ihn quälte, es aussprechen zu müssen. „Davon ist auch gar nicht mehr die Rede“, flüsterte sie.

„Nein.“

Lena fielen tausend Dinge ein, die sie hätte sagen können, aber jedes einzelne Wort drohte sie zu ersticken, sobald sie ansetzte, es auszusprechen. Manche waren tröstend, manche beschwichtigend und andere waren zornig.

Sie sah zu, wie Gabriel sich der Kaffeemaschine zuwandte und seine vom tausendmaligen Ausführen gewohnten Bewegungen so fahrig waren, dass die schwarze Brühe sich über die Anrichte und den Boden und Gabriels löchrige Socken ergoss. Sie sah zu, wie Simone mit sich selbst rang, sich aber gegen das Weglaufen entschied und stattdessen zu Johnny ging und den Arm um ihn legte.

Eine Sekunde, zwei Sekunden ... mehr als zehn lange, tickende Sekunden, dann sah sie ein, dass ihre Nähe in diesem Moment wertloser war als ein Tropfen Wasser auf einem heißen Stein, und ließ ihn los.

„Aber sagen können hättest du es uns“, platzte es schließlich aus Gabriel heraus und er wirbelte herum, wobei er geradewegs in die Kaffeepfütze trat. Eine ganze Welle an Schimpfworten, wie man sie von Gabriel nur selten zu hören bekam, sprudelte in atemberaubendem Tempo aus ihm heraus.

Johnny ließ den Kopf hängen und sagte überhaupt nichts mehr. Es war eine seltsame Situation: Sie hatten ihn eigentlich alle lieb gewonnen und hätten teilnahmsvoll, erschrocken oder besorgt sein müssen. Aber keiner von ihnen wusste, was er Johnny sagen oder wie er sich verhalten sollte.

„Du hast es geahnt“, flüsterte Johnny irgendwann, an niemand bestimmten gewandt, aber Lena wusste sofort, dass er mit ihr sprach.

Sie schüttelte den Kopf, nickte dann und zuckte schließlich die Schultern. Überfordert, wie sonst nur Simone es war.

„Woher?“, wollte Johnny wissen.

Lena dachte an die Tabletten, an die Narbe an Johnnys Schlüsselbein, die so verdächtig an die erinnerte, die ein Portkatheter zurückließ, mit dem man bei der Behandlung von Tumorerkrankungen einen dauerhaften Zugang zum Blutkreislauf ermöglichte. Sie dachte an die Art, wie er Fragen ausgewichen war und an die Tage, an denen er sich zurückgezogen hatte. Und an das flaue Gefühl des Misstrauens, das dann jedes Mal in ihr aufgestiegen war. Der schale Geschmack von etwas verhasst Vertrautem, an das sie sich gar nicht erinnern wollte.

„Ich will nicht drüber reden“, erwiderte sie und erhob sich ruckartig. „Überhaupt wolltest du es uns doch nie sagen, oder? Und vielleicht wär’s besser gewesen!“

Ihre Stimme zitterte und ihre Unterlippe auch. Es sah ganz danach aus, als würde Lena jeden Moment in Tränen ausbrechen. Keiner von ihnen hatte Lena jemals weinen sehen. Und sie wäre nicht Lena gewesen, hätte sie den Tränen jetzt nachgegeben. Stattdessen machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand türenknallend in ihrem Zimmer. Und was sie dort drin tat, das ging ohnehin niemanden etwas an.

Zweiter Auftritt
Krisenbesprechungen und Kündigungsfristen

Die Tür zuknallen. Ein Buch gegen die Wand werfen. Johnnys Mietvertrag zerreißen.

Aber anstatt irgendetwas davon zu tun, lag Lena auf ihrem Bett und starrte hinauf an die weiße Decke, während in ihrem Bauch Wut und Enttäuschung tobten.

Wismar und der Friedhof waren gut 600 Kilometer entfernt. Es konnte doch nicht sein, dass sie trotzdem nicht weit genug weggelaufen war! Sie wollte keinen kranken, keinen sterbenden Menschen um sich haben. Nicht noch einmal.

Früher, wenn sie so wie jetzt mit den Tränen gekämpft hatte, hatte ihre Mutter sie manchmal in den Arm genommen und laut mit den Worten ihres Lieblingspsalms gebetet. Darin wurde Gott mit einer schützenden Burg verglichen und das war immer tröstlich gewesen. Damals.

Lena wischte sich zornig über die geschlossenen Augen und suchte nach den Worten. „... und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, und ...“ Aber dann wusste sie nicht weiter.

„Warum?“, fragte sie durch zusammengebissene Zähne in die Stille. Warum sollte sie das noch einmal mitmachen müssen? Warum sie? Warum die anderen? Der weltfremde Gabriel und die naive Simone! Und warum Johnny? Was hatte er denn getan, um das zu verdienen?

Es war ungerecht! Wozu also beten, wenn es doch keinen Unterschied machte? Damals hatten die schönen Psalmworte doch auch nichts geändert.

Die Tränen brannten auf ihrer Haut und hinterließen, als sie trockneten, ein Spannen auf ihren Wangen. Als hätten sie Spuren hinterlassen, damit jeder sehen konnte, dass Lena ihnen nachgegeben hatte.

Aber Lena hatte ohnehin nicht vor, ihr Zimmer zu verlassen und den anderen gegenüberzutreten.

Nein, sie wollte niemanden sehen. Und sie wollte wirklich keinen kranken, keinen sterbenden Menschen um sich haben. Aber vor allem wollte sie nicht, dass dieser Mensch begann, ihr ans Herz zu wachsen.

* * *

Lena bekamen sie an diesem Tag nicht mehr zu Gesicht. Sie hatte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und hörte laute Musik, die klang wie frisch aus der Geisterbahn. Simone fand es fürchterlich unpassend und beklagte sich darüber in einem Flüsterton, den sie seit dem Gespräch mit Johnny angeschlagen hatte, bei Gabriel. Aber der zuckte nur die Schultern.

Ihn sollte nur niemand nach seiner Meinung fragen. Die ganze Situation war ihm eindeutig über den Kopf gewachsen. Er wusste nicht, wie er mit Lenas Empörung und wie mit Simones Entsetzen umgehen sollte. Und am wenigsten hatte er eine Ahnung, wie man sich einem von der Schulmedizin aufgegebenen Dreiundzwanzigjährigen gegenüber verhielt, mit dem es bisher immer ganz unkompliziert gewesen war.

Als er gegen Samstagmittag zum Frühstücken in die Küche kam, war Simone bereits seit dem Vorabend abgereist und Lena scheinbar außer Haus. Jedenfalls fehlten auch ihre Jacke und Schuhe im Flur. Johnny saß mit einer Tasse Tee am Küchentisch.

Da sie beide Morgenmuffel waren, war es weder neu noch ungewöhnlich, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten. Aber heute störte es Gabriel doch. Er wollte Johnny ganz normal behandeln, aber er hatte im Moment keine Ahnung, was eigentlich normal war.

Während er der Kaffeemaschine bei der Arbeit zusah, warf er immer wieder einen verstohlenen Blick zu Johnny hinüber. Krank sah er eigentlich nicht aus. Müde zwar und immer ein bisschen blass, aber doch nicht wie jemand, der Krebs hatte.

„Auch Kaffee?“

Johnny schüttelte den Kopf.

„Kann ich sonst irgendwas ...“ Er unterbrach sich. „Weißt du, wo Lena ist?“

Wieder ein Kopfschütteln. Also gab Gabriel es auf und schließlich saßen sie sich schweigend gegenüber, bis irgendwann Lena hereinkam. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet und etwas Eisiges umgab sie. „Ich hab nachgedacht“, sagte sie anstelle einer Begrüßung und schälte sich aus Mantel und Halstuch. „Ich finde nicht, dass du weiterhin hier wohnen solltest.“

„Bitte?“, entfuhr es Gabriel, nicht Johnny – der wirkte kein bisschen überrascht.

„Wie findest du es, dass er uns angelogen hat?“, verlangte Lena zu wissen.

Gabriel nahm einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen. Sie kannten Johnny eigentlich noch nicht lange. Warum hätte er ihnen die Wahrheit sagen sollen?

„Ich will, dass er auszieht.“

„Jetzt übertreibst du aber.“

„Du hast ja keine Ahnung!“, fauchte Lena.

Langsam wurde es Gabriel zu bunt. „Lena, das ist lächerlich. Warum sollte Johnny ausziehen? Bisher hat alles wunderbar geklappt. Wir haben nicht mal bemerkt –“

„Und du glaubst, so bleibt es? Aber was, wenn es ihm nächsten Monat schlechter geht? Oder übernächsten? Was machst du dann? Und behaupte ja nicht“, fuhr sie an Johnny gewandt fort, „das könne nicht passieren. Ich weiß genau, dass es irgendwann passieren wird.“

„Ja, verflixt.“ Johnny schlug mit der flachen Hand so hart auf den Tisch, dass Gabriels Kaffeetasse zitterte. „Es wird passieren. Aber jetzt ist es noch nicht so.“

Wortlos starrten Lena und Johnny sich an. Sie trugen diesen Kampf mit Blicken aus, aber am Ende stand kein Sieger fest. „Wir besprechen das Ganze, wenn Simone am Sonntagabend zurückkommt“, erklärte Lena. Offenbar hatte sie sich bei einem langen Spaziergang alles genau überlegt. „Und wir besprechen es ohne dich.“

* * *

Es wurde ein aufwühlendes und lebhaftes Gespräch am Sonntagabend. Simone, die völlig durch den Wind abgereist und mit neuem Optimismus wiedergekommen war, brach zwischenzeitlich in Tränen aus und Lena schrie mitunter so laut, dass Johnny im Nebenzimmer vermutlich jedes Wort verstehen konnte.

Gabriel fand es zermürbend. Er hatte mehrere Tassen Kaffee getrunken und am Ende mit schlechtem Gewissen Lena zugestimmt. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn Johnny ging, jetzt, wo es noch leicht war loszulassen. Sie kannten ihn noch nicht lange und eigentlich ging sie diese ganze Sache nichts an. Trotzdem fühlte Gabriel sich elend und egoistisch, sobald er diese Worte ausgesprochen hatte.

Lena legte nach diesem Triumph eine verbissene Zufriedenheit an den Tag, nahm zwei Pizzen aus dem Tiefkühlfach und steckte sie in den Ofen. Simone und Gabriel sahen ihr dabei zu, aber keiner wollte mehr etwas sagen.

Von der plötzlichen Stille angelockt, stieß schließlich auch Johnny zu ihnen, mit einem Gesichtsausdruck, der so kühl war, dass er Lenas Konkurrenz machte.

„Du ziehst aus“, erklärte Lena ohne Umschweife. „Das haben wir eben beschlossen.“

„Wer hat das beschlossen?“, gab Johnny zurück und taxierte Simone mit seinem blauäugigen Blick. „Willst du, dass ich ausziehe?“

Lena, der klar war, dass Johnny das schwächste Glied in der Kette ausgemacht hatte, ging dazwischen: „Simone hat für dich gestimmt. Aber Gabriel und ich sagen, du gehst.“ Gabriel zuckte beim Klang seines Namens zusammen. „Es steht zwei gegen eins und damit ist die Sache klar.“

„Wie würde es bei einem Unentschieden aussehen?“, fragte Johnny und verschränkte die Arme vor der Brust. Lena hatte nicht erwartet, bei ihm auf Gegenwehr zu stoßen. Keiner hatte damit gerechnet. Warum sollte Johnny bleiben wollen, wenn die anderen ihn so offensichtlich loswerden wollten?

„Im Zweifel für den Angeklagten“, antwortete Lena. „Aber es gibt kein Unentschieden bei zwei gegen einen.“

„Ich stimme dafür, dass ich bleiben darf.“ Johnny reckte das Kinn vor und wandte den Blick nicht von Lena ab. Aber die blieb seelenruhig: „Du hast keine Stimme. Nur WG-Bewohner dürfen abstimmen.“

Als hätte er eben erst bemerkt, dass er von den anderen regelrecht umzingelt war, sah Johnny von einem Gesicht zum anderen. Simone und Gabriel wichen seinem Blick aus. „Noch bin ich offiziell ein WG-Bewohner. Ich hab einen Mietvertrag unterschrieben.“

„Den hast du unter völlig falschen Voraussetzungen bekommen“, wehrte Lena ab. Ein kaum merkliches Zögern hatte sich in ihre zuvor so entschlossene Stimme geschlichen, aber sie machte es schnell mit ihren Worten zunichte. „Wir hatten ja keine Ahnung, dass –“

„Ach seltsam“, fiel Johnny ihr ins Wort. Er klang jetzt zynisch und abweisend. „In eurem Mietvertrag hab ich gar keine Frage dazu gefunden. Haben Sie irgendwelche ernsten Erkrankungen? Planen Sie, in den nächsten Monaten das Zeitliche zu segnen?

Simone wand sich vor Unbehagen, aber Lena platzte nur heraus: „Also doch! Du bist hergekommen, um hier zu st –“

„Ich hab nicht vor zu sterben!“, brüllte Johnny. „Ich will einfach nur hier wohnen und studieren!“

„Aber wir haben abgestimmt –“

„Ich will, dass er bleibt.“ Gabriel konnte nicht mehr an sich halten. Er hatte so lange stillschweigend zugehört, dass er jetzt aufsprang und Lena unnötig laut unterbrach.

„Super“, fauchte Lena, wandte sich ruckartig ab und riss den Ofen hinter ihrem Rücken auf, sodass eine Rauchwolke herausquoll. „Ihr könnt eure Entscheidung mit verbrannter Pizza feiern. Ich hab die Schnauze voll.“ Und weg war sie.

Dritter Auftritt
Schlaflos in Würzburg

Flüstern war in der darauffolgenden Woche genau die Gesprächslautstärke, die in der Würzburger Wohngemeinschaft angebracht war, wenn man unbehelligt und in Frieden leben wollte. Lena hatte sich in eine tickende Zeitbombe verwandelt, die bei der kleinsten Erschütterung in die Luft gehen konnte, und Johnny gab sich zwar Mühe, machte aber meist ein finsteres Gesicht und war ziemlich ungesprächig.

Simone flüchtete sich immer öfter zu Gabriel, da die Küche als Aufenthaltsraum nicht infrage kam, solange Johnny dort auf seinem Lieblingsplatz saß und las. Lena wertete es als Hochverrat, wenn sich jemand zu ihm setzte, und Simone wollte sie nicht noch mehr verärgern. Ihre Loyalität zu Johnny zeigte sie deshalb nur zweitrangig: indem sie auch Lena mied.

„Ich hasse es, dass die beiden sich so anstellen müssen.“ Simone hockte auf Gabriels Bett und beklagte sich bei ihrem Leidensgenossen.

Der saß – wie könnte es anders sein – vor dem Computer und sah pflichtbewusst immer, wenn Simone etwas sagte, kurz auf. Vermutlich hielt sie ihn vom Arbeiten ab, aber sie brauchte gerade dringend Gesellschaft und jemanden zum Reden. Mit ihrer Mutter hatte sie heute schon zweimal telefoniert, doch die riet ihr nur, ein klärendes Gespräch mit Lena zu führen. Als könnte man mit Lena vernünftig reden!

Erst gestern hatte Simone es versucht. Sie hatte Lena gesagt, dass Johnny ihnen nichts getan und keine Probleme gemacht hatte. Dass sie ihn mochte. Und dass sie fand, es war auch irgendwie ihre Pflicht, ihn weiterhin bei sich wohnen zu lassen und ihm wenn nötig zu helfen.

„Du kannst ihm aber nicht helfen!“, hatte Lena sie angefahren. „Niemand kann ihm mehr helfen.“

„Kennst du die Geschichte vom barmherzigen Samariter?“, hatte Simone gefragt und es später bereut, weil Lena da erst recht die Nerven verloren hatte. Sie hatte gesagt, Simone solle nicht so neunmalklug und von oben herab daherreden. „Aber bitte, wenn du gerne Samariter spielst, dann tu, was du nicht lassen kannst“, hatte sie dann noch verkündet, ehe sie türenknallend abgezogen war. „Aber beschwer dich nicht, wenn es endet wie mit dem kleinen Vogel damals.“

Nein, noch einmal mit Lena zu sprechen kam überhaupt nicht infrage. Diese Worte hatten Simone schon genug getroffen.

„Was erwartet sie denn? Dass er freiwillig geht, wenn sie ihn nur mies genug behandelt?“, verlangte sie von Gabriel zu wissen.

„Wenn er schlau ist, tut er das“, meinte dieser, wobei er beim Tippen innehielt. Er glaubte nicht, dass die Wogen sich bald glätten würden. Lena schien in ihrer Verbissenheit sehr ausdauernd zu sein.

„Also willst du auch, dass er geht.“ Simone klang enttäuscht und Gabriel fühlte sich verpflichtet, ihr zu widersprechen: „Auf keinen Fall. Aber Lena wird ihm das Leben hier zur Hölle machen.“

„Und uns mit“, meinte Simone düster. Wie ein Häufchen Elend saß sie auf Gabriels Bettkante. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich zu ihr zu setzen und den Arm um sie zu legen.

„Ich bin weg und komme spät zurück“, rief Lena in diesem Moment im Flur. Simone atmete merklich auf.

„Vielleicht beruhigt sie sich, wenn sie Johnny eine Weile möglichst selten zu Gesicht bekommt.“ In letzter Zeit war sie viel außer Haus. „Gabriel, sei ehrlich: Am Anfang sah es doch so aus, als würde sie ihn ganz gerne mögen, oder?“

„Na klar.“ Gabriel wandte sich wieder dem Computer zu, konzentrierte sich aber nur halb auf seine Arbeit. „Wir mochten ihn doch alle sofort.“

„Aber Lena mochte ihn mehr“, beharrte Simone. „Das hast du doch auch gemerkt!“

Hatte er das? Gabriel durchforstete sein Gehirn nach einer Erinnerung, nickte aber hastig und unverbindlich. Simone war feinfühliger für so etwas, und wenn sie es sagte, würde es schon stimmen.

„Sie mochte ihn. Meinst du, sie ist deswegen so wütend?“

„Weil sie ihn mochte?“

„Weil sie ihn gern hat und sich Sorgen macht.“

Es klang logisch, wie Simone es erklärte, aber einen Haken hatte die Sache: „Aber warum sollte sie ihn dann rausschmeißen wollen?“

„Das weiß ich auch nicht“, gab Simone zu. Aus Lena wurde man wirklich nicht schlau. Und bei deren aktueller Laune wollte Simone auch gar nicht weiter nachforschen. Auch mit Johnny war es bei Weitem nicht mehr so unkompliziert wie am Anfang. Seine Krankheit schwebte wie ein schwarzer Schatten über jedem alltäglichen Gespräch.

Zum Glück war da noch Gabriel. Simone war noch nie so dankbar gewesen, den computervernarrten, eigenbrötlerischen Gabriel um sich zu haben. Er schien ja die einzige vernünftige Gesellschaft unter diesem Dach zu sein.

* * *

Lena blieb länger in der Werkstatt der Fachhochschule, als sie geplant hatte, und es war wirklich spät, bis sie endlich nach Hause kam und todmüde in ihr Bett fallen konnte. Sie schlief miserabel in dieser Nacht. Es fing schon damit an, dass quälende Gedanken sie wachhielten, und dann störten Albträume den wohlverdienten Schlaf. Johnny kam darin vor und Simone, die mit einem Zugticket am Fenster stand und Lena nachrief, ob sie nicht zu ihren Eltern und Manuel nach Wismar fahren wolle.

„Lena! Magdalena!“ Simone musste sie schütteln, damit sie endlich in die Realität einer matten Regennacht zurückkehrte. Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben, vor denen Dunkelheit herrschte, und im Flur brannte Licht, das durch den Türspalt fiel und Simones bleiches Gesicht mit den schreckensweiten Augen erhellte.

„Du musst mitkommen.“

„Was ist los?“ Mühsam rappelte Lena sich auf und befreite sich von ihrer Bettdecke. Die Digitaluhr im Regal verriet ihr, dass es halb vier war.

„Johnny.“

Lena ließ sich wieder ins Kissen fallen. Hinter ihren Schläfen pochten Müdigkeit und Kopfschmerzen.

„Ich glaube, er hat Schmerzen. Oder Fieber. Ich hab keine Ahnung.“ Simone krallte ihre Fingernägel in Lenas Handgelenk.

„So ein Mist.“ Widerwillig schüttelte Lena die Schläfrigkeit ab und schwang sich aus dem Bett. Der Holzboden war eiskalt unter ihren nackten Füßen und sie fühlte sich benommen. „Du wolltest, dass er bleibt“, blaffte sie Simone an. „Warum kümmerst du dich nicht selbst um ihn?“

„Ich weiß nicht wie.“

Das glaubte Lena ihr sofort. Überfordert wie eh und je blieb Simone im Türrahmen zu Johnnys Zimmer stehen und tippelte dort nervös umher. „Oh Gott“, murmelte sie dabei halblaut vor sich hin. „Oh Gott, bitte ...“

„Der hilft uns jetzt auch nicht weiter“, knurrte Lena und schob sich an Simone vorbei ins Zimmer. Im Licht der Nachttischlampe saß Johnny aufrecht im Bett und bearbeitete mit zittrigen Fingern einen Tablettenblister.

„Schon gut“, brachte er gequält hervor. „Geht wieder schlafen. Ich nehm die Dinger und dann ist es okay.“ Die erste Tablette entglitt ihm und rollte über den Boden, bis sie in einer Fußbodenritze verschwand.

„Ihr könnt gehen.“ Johnny stöhnte, ließ den Tablettenblister fallen und presste die Hände schützend an seinen Körper. „Ich will niemandem zur Last fallen.“

Das galt eindeutig Lena und diese hätte auch nichts dagegen gehabt, einfach wieder ins Bett zu gehen, sich die Ohren zuzuhalten und nichts davon mitzubekommen, dass es Johnny nicht gut ging.

Aber sie gab sich einen Ruck und trat zu ihm. Er hatte keine andere Wahl, als ihre widerstrebend und wortlos angebotene Hilfe anzunehmen, und ließ sich eine Tablette aus dem Blister in die Hand drücken, lehnte es dann aber vehement ab, sich beim Trinken helfen zu lassen.

„Die Schmerzen lassen gleich nach“, versicherte er, nachdem er die Tablette hinuntergewürgt hatte, und fuhr sich durch das schweißnasse Haar. „Die Dinger wirken schnell.“

„Ich weiß“, sagte Lena, aber keiner hakte nach. „Du solltest dich umziehen. Du bist ganz nass.“

Johnny schüttelte den Kopf.

„Und Simone meinte, du hast Fieber.“ Die Genannte stand immer noch unbehaglich und mit abwehrend vor dem Körper verschränkten Armen in der Tür. Dafür, dass sie so wild auf die Rolle des barmherzigen Samariters gewesen war, verhielt sie sich nun ganz schön passiv.

„Das sind nur die B-Symptome.“ Wieder legte er eine Hand auf seinen Oberbauch. Von Leberkrebs hatte er gesprochen. Verursachte das die Schmerzen? Lena schluckte.

„Du ziehst dir jetzt trotzdem etwas Trockenes an“, bestimmte sie und griff nach Johnnys Arm, um ihm aus dem Bett zu helfen. Johnny biss die Zähne zusammen und ließ es geschehen. „Und du kannst Tee machen“, wies sie Simone an, damit diese nicht verloren und schaulustig in der Tür stehen blieb.

„Nicht nötig –“, setzte Johnny an, aber Lena unterbrach ihn: „Ich jedenfalls brauche Tee auf diesen Schrecken.“

* * *

Simone tappte beinahe mechanisch in die Küche, während Lena Johnny beim Umziehen half. In ihrem Hals steckte ein zentnerschwerer Frosch, der ihr das Sprechen unmöglich machte. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt. Einem Kranken zu helfen sollte etwas Selbstverständliches sein. So wie es bei Lena trotz ihres Murrens und ihrer forschen Art war. Aber als Simone dem Schmerz und der Erniedrigung Auge in Auge gegenübergestanden und begriffen hatte, dass sie Johnny gar nicht wirklich helfen konnte, wäre sie am liebsten davongelaufen.

Ganz zittrig vor Schreck und Sorge lehnte sie sich an die Anrichte und schlang die Arme um ihren Oberkörper. „Oh Gott“, murmelte sie wieder und rang nach Worten. „Bitte hilf ihm, bitte.“ Für Gott war es gar kein Problem, die Schmerzen wegzunehmen. Also war Simone doch nicht ganz hilflos: Sie konnte immer noch für Johnny beten. Aber neben dem, was Lena tat, kam ihr das so unbedeutend und klein vor.

Das Wasser kochte und Simone füllte die Teekanne absichtlich langsam, weil sie noch nicht zurück zu Lena und Johnny wollte. Sie wusste, dass es egoistisch war, aber in diesem Augenblick wünschte sie sich einfach nur jemanden, der sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass das alles nicht ganz so schlimm war, wie es schien.

* * *

Die Stimmung beim Frühstück am nächsten Morgen war gedrückt und aufgeladen. Vor den Fenstern plätscherte immer noch der Regen, Gabriel schlief natürlich noch und Johnny hatte sich nur einmal kurz blicken lassen, um eine neue Flasche Wasser zu holen.

„Meinst du nicht, er sollte was essen?“, fragte Simone kleinlaut und an ihren Toast gewandt, den sie gerade mit Marmelade bestrich.

Lena knurrte zur Antwort. Sie war kein Morgenmuffel, aber die vergangene Nacht war ihr gehörig aufs Gemüt geschlagen. Daran hatte auch Simones viel zu bitterer grüner Tee nichts ändern können.

„Meinst du nicht –“, setzte Simone nochmals an, aber Lena stand wortlos auf, warf zwei Scheiben gebutterten Toast auf einen Teller und schenkte ein Glas Orangensaft ein.

Dann würde sie Simone eben den Gefallen tun und dafür sorgen, dass Johnny etwas zu Essen bekam. Selbst brachte Simone es ja doch nicht fertig, sein Zimmer zu betreten.

„Johnny?“ Mit dem Ellbogen drückte sie die Türklinke hinunter, ohne angeklopft zu haben. Sie hatte keine Hand frei.

„Du siehst besser aus“, sagte sie mit einem Blick auf Johnny, der in Jeans und einem gemusterten Strickpulli auf der Bettkante hockte. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben und er hätte dringend eine Rasur benötigt, aber Lena hatte ihn schon in schlechterem Zustand gesehen.

„Mir geht’s gut“, erwiderte Johnny distanziert. Zumindest bemühte er sich, die Distanz zu wahren, die Lena seit seiner Offenbarung zum Maß der Dinge gemacht hatte. Aber Johnny war schlecht darin, Menschen auf Abstand zu halten. „Ist das für mich?“, platzte er schon Sekunden später heraus, als Lena noch immer regungslos zwischen ihm und der Tür stand.

„Äh ... ja. Simone meinte, du solltest vielleicht was essen.“ Sie hielt Johnny den Teller hin und stellte das Glas auf das Nachtkästchen.

„Lieb von Simone.“ Johnny beäugte den Toast, als wäre ihm allein der Gedanke, etwas zu essen, zuwider.

„Du musst nicht –“

„Und auch lieb von dir“, fuhr er fort, „dass du letzte Nacht –“

Lena machte einen Schritt rückwärts. „Du musst dich nicht bedanken.“

„Will ich aber“, protestierte Johnny. „Das hätte nicht jeder getan und i–“

„Schon okay.“ Lena biss die Zähne zusammen. „Es war keine große Sache.“

Johnny zuckte die Schultern und wandte den Blick ab. Eher widerwillig nahm er einen Bissen von einer Toastscheibe und kaute langsam darauf herum.

„Wir lassen sowas wie letzte Nacht nicht zur Gewohnheit werden“, erklärte Lena aus Mangel an geeigneteren Worten, um das zu sagen, was ihr auf dem Herzen lag. Darin war sie einfach nicht gut.

„Hab ich nicht vor.“

Langsam nickte Lena. Natürlich hatte Johnny das nicht vor. Als könnte er sich nichts Schöneres vorstellen als eine Nacht, in der die Schmerzen ihm das Schlafen unmöglich machten! „Dann ... ich hab nichts dagegen, wenn du bleibst.“ Sie musste die Worte regelrecht über ihre Lippen zwingen. Eine Entschuldigung wäre auch noch angemessen gewesen, aber die brachte sie beim besten Willen nicht heraus.

* * *

„Papa, es gibt eine Menge Studenten, die über Weihnachten nicht nach Hause fahren.“ Genervt ließ Lena sich auf eine Bank fallen und fand sich damit ab, dass aus dem ruhigen Spaziergang am Main nichts werden würde. Sie hatte das eigentlich schon gewusst, als sie die Nummer ihrer Eltern auf dem Display ihres Handys gesehen hatte.

In der Wohngemeinschaft sei sie ja seit Tagen nicht zu erreichen gewesen, hatte ihr Vater ihr mit vorwurfsvollem Unterton erklärt. Johnny hatte sie ohne indiskrete Fragen zu stellen verleugnet. Vielleicht glaubte er, doch irgendwie in ihrer Schuld zu stehen.

„Sogar manche, die keine so weite Fahrt haben“, fügte Lena hinzu. Sechs Stunden und zweimal umsteigen.

„Lena, deiner Mutter b...“, setzte ihr Vater an, räusperte sich dann aber vernehmlich – wahrscheinlich hatte die Genannte den Raum betreten. „Du warst lange nicht mehr hier.“

„Ich weiß.“ Lena wusste, dass es ihr leidtun sollte, ihren Vater so niedergeschlagen, fast schon flehend, zu erleben, aber stattdessen sperrte sich etwas in ihr gegen den unterschwelligen Vorwurf. „Ich studiere. Das ist eine Menge Arbeit.“

Architektur hätte sie beinahe überall studieren können. Dazu hätte sie nicht bis nach Würzburg ziehen müssen. Aber für Lena hatte schon lange festgestanden, dass sie gar nicht weit genug von Wismar weggehen konnte. Schon seit der Mittelstufe. Dabei hätte sie eigentlich genauso gut bleiben können. Seit dem Morgen nach ihrem Abschlussball war es egal. Manuel war kein Grund mehr zu bleiben und kein Grund mehr wegzulaufen.

„Ich komme euch Ende Februar besuchen“, versuchte Lena die Wogen zu glätten. Es waren immerhin ihre Eltern. „Mama wird fünfzig. Das ist mir wichtiger, als an Weihnachten zu Hause zu sein.“

Beim Gedanken an eine große Familienfeier, an alle Bergmanns aus ganz Deutschland an einem Ort vereinigt und eine Menge dummer Fragen, wie immer, zog ihr Magen sich zusammen. Aber wenigstens war es ein Aufschub von knapp zwei Monaten.

„Aber Papa, ich muss jetzt weiter.“ Ungeduldig ließ Lena ihre Füße unter der Bank baumeln und stieß eine leere Plastikverpackung zur Seite.

„Ist okay.“ In diesen zwei Worten lag Resignation. „Ich grüße deine Mutter von dir, ja?“

„Ja.“

„Und wir reden die nächsten Tage noch mal über ... Weihnachten.“ Er ließ ihr keine Zeit für einen Widerspruch. „Mach’s gut Lena.“

„Du auch. Tschüss.“

„Und ich hab dich lieb“, fügte er hinzu.

Lenas Kehle schnürte sich zusammen und sie legte hastig auf. Seine letzten Worte hatte sie eben nicht gehört – das würde er jedenfalls denken.