Patrick Süskind

Die
Taube

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1987

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration nach einer kolorierten

Lithographie von Joseph Brodtmann aus:

H. R. Schinz, ›Naturgeschichte und

Abbildungen der Vögel‹, 1830

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21846 6 (25. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60176 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

 

[5] Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, daß ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Wesentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod. Und das war ihm durchaus recht. Denn er mochte Ereignisse nicht, und er haßte geradezu jene, die das innere Gleichgewicht erschütterten und die äußere Lebensordnung durcheinanderbrachten.

Die meisten derartigen Ereignisse lagen Gott sei Dank weit zurück in der grauen Vorzeit seiner Kindheits- und Jugendjahre, und er erinnerte sich ihrer am liebsten überhaupt nicht mehr, und wenn, dann nur mit größtem Unbehagen: An einen Sommernachmittag in Charenton etwa, im Juli 1942, als er vom Angeln nach Hause kam – es hatte ein Gewitter gegeben an jenem Tag und dann geregnet, nach langer Hitze, auf dem Heimweg hatte er die Schuhe ausgezogen, war mit nackten Füßen auf dem [6] warmen, nassen Asphalt gegangen und durch die Pfützen gepatscht, ein unbeschreibliches Vergnügen… – er war also vom Angeln nach Hause gekommen und in die Küche gelaufen, in der Erwartung, die Mutter dort beim Kochen anzutreffen, und da war die Mutter nicht mehr vorhanden, nur noch ihre Schürze war vorhanden, sie hing über der Lehne des Stuhls. Die Mutter sei weg, sagte der Vater, sie habe für längere Zeit verreisen müssen. Man hat sie fortgeschafft, sagten die Nachbarn, man hat sie zuerst ins Vélodrome d’Hiver geschafft und dann hinaus ins Lager von Drancy, von dort geht’s nach Osten, da kommt keiner zurück. Und Jonathan begriff nichts von diesem Ereignis, das Ereignis hatte ihn vollkommen verwirrt, und ein paar Tage später war dann auch der Vater verschwunden, und Jonathan und seine kleinere Schwester befanden sich plötzlich in einem Zug, der nach Süden fuhr, und wurden nächtens von wildfremden Männern über eine Wiese geführt und durch ein Waldstück gezerrt und abermals in einen Zug gesetzt, der nach Süden fuhr, weit, unbegreiflich weit, und ein Onkel, den sie bisher noch nie gesehen hatten, holte sie ab in Cavaillon und brachte sie auf seinen Bauernhof nahe der Ortschaft Puget im Tal der Durance und hielt sie dort versteckt bis zum Ende des Krieges. Dann ließ er sie auf den Gemüsefeldern arbeiten.

[7] Anfang der fünfziger Jahre – Jonathan begann, an der Existenz eines Landarbeiters Gefallen zu finden – verlangte der Onkel, er solle sich zum Militärdienst melden, und Jonathan verpflichtete sich gehorsam für drei Jahre. Im ersten Jahr war er einzig damit beschäftigt, sich an die Widerwärtigkeiten des Horden- und Kasernenlebens zu gewöhnen. Im zweiten Jahr wurde er nach Indochina verschifft. Den größten Teil des dritten Jahres verbrachte er mit einem Fußschuß und einem Beinschuß und der Amöbenruhr im Lazarett. Als er im Frühjahr 1954 nach Puget zurückkehrte, war seine Schwester verschwunden, ausgewandert nach Kanada, hieß es. Der Onkel verlangte nun, daß sich Jonathan unverzüglich vereheliche, und zwar mit einem Mädchen namens Marie Baccouche aus dem Nachbarort Lauris, und Jonathan, der das Mädchen noch nie gesehen hatte, tat brav wie ihm geheißen, ja tat es sogar gerne, denn wenngleich er nur eine ungenaue Vorstellung von der Ehe besaß, so hoffte er doch, in ihr endlich jenen Zustand von monotoner Ruhe und Ereignislosigkeit zu finden, der das einzige war, wonach er sich sehnte. Aber bereits vier Monate später gebar Marie einen Knaben, und noch im selben Herbst brannte sie durch mit einem tunesischen Obsthändler aus Marseille. –

Aus all diesen Vorkommnissen zog Jonathan Noel [8] den Schluß, daß auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt. Und weil er nun auch noch zum Gespött des Dorfes geworden war, was ihn nicht wegen des Gespötts an sich störte, sondern wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die er dadurch erregte, traf er zum ersten Mal in seinem Leben selbst eine Entscheidung: Er ging zum Crédit Agricole, hob seine Ersparnisse ab, packte den Koffer und fuhr nach Paris.

Dann hatte er zweimal großes Glück. Er fand Arbeit als Wachmann einer Bank in der Rue de Sèvres, und er fand eine Bleibe, eine sogenannte chambre de bonne im sechsten Stock eines Hauses in der Rue de la Planche. Man erreichte das Zimmer über den Hinterhof, die enge Treppe des Lieferantenaufgangs und einen schmalen, von einem Fenster spärlich erhellten Gang. Zwei Dutzend Zimmerchen mit grau angestrichenen numerierten Türen lagen an diesem Gang, und ganz am Ende lag die Nummer 24, Jonathans Zimmer. Es maß drei Meter vierzig in der Länge, zwei Meter zwanzig in der Breite und zwei Meter fünfzig in der Höhe und besaß als einzigen Komfort ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, eine Glühbirne und einen Kleiderhaken, sonst nichts. Erst in den sechziger Jahren wurden die elektrischen Leitungen dergestalt verstärkt, daß man eine [9] Kochplatte und einen Heizstrahler anschließen konnte, wurden Wasserleitungen verlegt und die Zimmer mit eigenen Waschbecken und Boilern versehen. Bis dahin aßen sämtliche Bewohner des Dachgeschosses, sofern sie nicht verbotenerweise einen Spirituskocher unterhielten, kalt, schliefen in kalten Zimmern und wuschen ihre Socken, ihr weniges Geschirr und sich selbst mit kaltem Wasser in einem einzigen Becken auf dem Gang, gleich neben der Türe des Gemeinschaftsklos. All das störte Jonathan nicht. Er suchte nicht Bequemlichkeit, sondern eine sichere Bleibe, die ihm und ihm allein gehörte, die ihn vor den unangenehmen Überraschungen des Lebens schützte und aus der ihn niemand mehr vertreiben konnte. Und als er das Zimmer Nummer 24 zum ersten Mal betreten hatte, da wußte er sofort: Das ist es, das hattest du eigentlich immer gewollt, hier wirst du bleiben. (Ganz wie es angeblich manchen Männern bei der sogenannten Liebe auf den ersten Blick geschieht, wo ihnen blitzschlagartig aufgeht, daß eine bisher nie gesehene Frau die Frau des Lebens sei, die sie besitzen und bei der sie bleiben werden bis ans Ende ihrer Tage.)

Jonathan Noel mietete dieses Zimmer für fünftausend Alte Francs im Monat, ging von dort jeden Morgen in die nahegelegene Rue de Sèvres zur Arbeit, kehrte abends mit Brot, Wurst, Äpfeln und [10] Käse zurück, aß, schlief und war glücklich. Am Sonntag verließ er das Zimmer überhaupt nicht, sondern putzte es und überzog sein Bett mit frischen Laken. So lebte er ruhig und zufrieden, jahraus, jahrein, Jahrzehnt um Jahrzehnt.

Bestimmte äußere Dinge änderten sich in dieser Zeit, die Höhe der Miete etwa, die Art der Mieter. In den fünfziger Jahren wohnten noch viele Dienstmädchen in den anderen Zimmern und junge Ehepaare und einige Rentner. Später dann sah man häufig Spanier, Portugiesen, Nordafrikaner ein- und ausziehen. Ab Ende der sechziger Jahre überwogen die Studenten. Schließlich wurden nicht mehr sämtliche vierundzwanzig Kammern vermietet. Viele standen leer oder dienten ihren Besitzern, die in den Herrschaftswohnungen der unteren Etagen lebten, als Rumpelkammern oder als nur gelegentlich genutzte Gästezimmer. Jonathans Nummer 24 war im Lauf der Jahre zu einer vergleichsweise komfortablen Behausung geworden. Er hatte sich ein neues Bett gekauft, einen Schrank eingebaut, die siebeneinhalb Quadratmeter Boden mit grauem Teppich ausgelegt, seine Koch- und Waschecke mit schöner roter Lacktapete ausgekleidet. Er besaß ein Radio, einen Fernsehapparat und ein Bügeleisen. Seine Lebensmittel hängte er nicht mehr, wie bisher, in einem Säckchen zum Fenster hinaus, sondern verwahrte sie in einem [11] winzigen Kühlschrank unter dem Waschbecken, so daß ihm jetzt nicht einmal mehr im heißesten Sommer die Butter zerrann oder der Schinken vertrocknete. Am Kopfende des Bettes hatte er ein Regal angebracht, in dem nicht weniger als siebzehn Bücher standen, nämlich ein dreibändiges medizinisches Taschenwörterbuch, einige schöne Bildbände über den Cromagnon-Menschen, Gußtechniken der Bronzezeit, das alte Ägypten, die Etrusker und die Französische Revolution, ein Buch über Segelschiffe, eines über Flaggen, eines über die tropische Tierwelt, zwei Romane von Alexandre Dumas dem Älteren, die Memoiren von Saint-Simon, ein Kochbuch für Eintopfgerichte, der ›Kleine Larousse‹ und das ›Brevier für das Wach- und Schutzpersonal mit besonderer Berücksichtigung der Vorschriften für den Gebrauch der Dienstpistole‹. Unter dem Bett lagerten ein Dutzend Flaschen Rotwein, darunter eine Flasche Chateau Cheval Blanc grand cru classé, die er sich für den Tag seiner Pensionierung im Jahre 1998 aufbewahrte. Ein ausgetüfteltes System von elektrischen Lampen sorgte dafür, daß Jonathan an drei verschiedenen Stellen seines Zimmers – nämlich am Fuß- und am Kopfende seines Bettes sowie an seinem Tischchen – sitzen und Zeitung lesen konnte, ohne geblendet zu werden und ohne daß ein Schatten auf die Zeitung fiel.

[12] Durch die vielen Anschaffungen war das Zimmer freilich noch kleiner geworden, es war gleichsam nach innen zugewachsen wie eine Muschel, die zuviel Perlmutt angesetzt hat, und ähnelte mit seinen diversen raffinierten Installationen eher einer Schiffskabine oder einem luxuriösen Schlafwagenabteil als einer einfachen chambre de bonne. Seine wesentliche Eigenschaft aber hatte es über die dreißig Jahre hinweg behalten: Es war und blieb Jonathans sichere Insel in der unsicheren Welt, es blieb sein fester Halt, seine Zuflucht, seine Geliebte, ja, seine Geliebte, denn sie umfing ihn zärtlich, seine kleine Kammer, wenn er abends heimkehrte, sie wärmte und schützte ihn, sie nährte ihn an Leib und Seele, war immer da, wenn er sie brauchte, und sie verließ ihn nicht. Sie war in der Tat das einzige, was sich in seinem Leben als verläßlich erwiesen hatte. Und deshalb hatte er nie einen Augenblick daran gedacht, sich von ihr zu trennen, auch jetzt nicht, da er schon über Fünfzig war und es ihm gelegentlich ein wenig Mühe machte, die vielen Treppen zu ihr hinaufzusteigen, und da sein Gehalt es ihm erlaubt hätte, ein richtiges Appartement zu mieten mit eigener Küche, eigenem Klo und Bad. Er blieb seiner Geliebten treu, war sogar im Begriff, sie noch enger an sich und sich an sie zu binden. Er wollte ihr Verhältnis für alle Zeiten unverbrüchlich machen, indem er sie nämlich kaufte. Mit Madame [13] Lassalle, der Eigentümerin, hatte er schon den Vertrag geschlossen. Fünfundfünfzigtausend Neue Francs sollte sie kosten. Siebenundvierzigtausend hatte er bereits bezahlt. Der Rest von achttausend Francs war Ende des Jahres fällig. Und dann wäre sie endgültig sein, und nichts auf der Welt würde sie noch je voneinander trennen können, ihn, Jonathan, und sein geliebtes Zimmer, bis daß der Tod sie schiede.

Das war der Stand der Dinge, als im August 1984, an einem Freitagmorgen, die Sache mit der Taube geschah.

Jonathan war gerade aufgestanden. Er hatte Pantoffeln und Bademantel angezogen, um wie jeden Morgen vor dem Rasieren das Etagenklo aufzusuchen. Ehe er die Türe öffnete, legte er das Ohr an die Türfüllung und lauschte, ob niemand auf dem Gang sei. Er liebte es nicht, Mitbewohnern zu begegnen, schon gar nicht morgens in Pyjama und Bademantel, und am allerwenigsten auf dem Weg zum Klo. Die Toilette besetzt vorzufinden wäre ihm unangenehm genug gewesen; geradezu peinigend gräßlich aber war ihm die Vorstellung, vor der Toilette mit einem anderen Mieter zusammenzutreffen. Ein einziges Mal war ihm das passiert, im Sommer 1959, vor fünfundzwanzig Jahren, und ihn schauderte, wenn [14]