Paulo Coelho
Der Zahir
Roman
Aus dem Brasilianischen von
Maralde Meyer-Minnemann
Titel der 2005 bei
Editora Rocco Ltda., Rio de Janeiro,
erschienenen Originalausgabe: ›O Zahir‹
Copyright © 2005 by Paulo Coelho
Mit freundlicher Genehmigung von
Sant Jordi Asociados, Barcelona, Spanien
Alle Rechte vorbehalten
Paulo Coelho: www.paulocoelho.com
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2005 im Diogenes Verlag
Abdruck des Gedichts ›Ithaka‹ (S. 7 f.)
aus: Konstantinos Kavafis, Das Gesamtwerk,
aus dem Griechischen übersetzt
und herausgegeben von Robert Elsie
Copyright © 1997 by Ammann Verlag & Co., Zürich
Abdruck mit freundlicher Genehmigung
Coverfoto (Ausschnitt):
Copyright © Schwoab/fotolia
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23580 7 (11. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60266 1
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
Prolog [9]
Ich bin ein freier Mann [11]
Die Frage, die Hans gestellt hat [57]
Der Ariadnefaden [182]
Rückkehr nach Ithaka [305]
Anmerkungen des Autors [340]
[6] O Maria ohne Sünden empfangen,
bete für uns,
die wir uns an dich wenden.
Amen.
Welcher Mensch ist unter euch,
der hundert Schafe hat und,
wenn er eines von ihnen verliert,
nicht die neunundneunzig
in der Wüste läßt und geht dem
verlorenen nach, bis er’s findet?
Lukas 15 : 4
[7] Ithaka
Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst,
So hoffe, daß der Weg lang sei,
Reich an Entdeckungen und Erlebnissen.
Die Lästrygonen und die Zyklopen,
Den zornigen Poseidon, fürchte sie nicht;
Solche findest du nie auf deinem Weg,
Wenn deine Gedanken erhaben bleiben, wenn erlesene Gefühle
Deinen Geist und deinen Körper beherrschen.
Den Lästrygonen und den Zyklopen,
dem wilden Poseidon, ihnen wirst du nicht begegnen,
Wenn du sie nicht in der Seele trägst,
Wenn deine Seele sie nicht vor dich stellt.
Hoffe, daß der Weg lang sei,
Voll Sommermorgen, wenn du,
Mit welchem Vergnügen, mit welcher Freude,
In bisher unbekannte Häfen einfährst.
Unterbrich deine Fahrt in phönizischen Handelsplätzen,
Und erwirb schöne Waren,
Perlmutt, Korallen, Bernstein und Ebenholz,
Allerlei berauschende Essenzen,
Soviel du vermagst an berauschenden Essenzen.
[8] Besuche viele ägyptische Städte,
Und lerne mehr und mehr von den Gelehrten.
Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken.
Dort anzukommen ist dein Ziel.
Aber beeile dich auf der Reise nicht.
Besser, daß sie lange dauert,
Daß du als alter Mann erst vor der Insel ankerst,
Reich an allem, was du auf dem Weg erworben hast,
Ohne die Erwartung, daß Ithaka dir Reichtum schenkt.
Ithaka hat dir eine schöne Reise beschert.
Ohne Ithaka wärest du nicht aufgebrochen.
Jetzt hat es dir nichts mehr zu geben.
Und auch wenn du es arm findest, hat Ithaka
Dich nicht enttäuscht. Weise geworden, mit solcher Erfahrung
Begreifst du ja bereits, was Ithakas bedeuten.
Konstantinos Kavafis (1863 – 1933)
[9] Prolog
Im Wagen hatte ich gesagt, ich hätte den Schlußpunkt unter die erste Fassung meines Buches gesetzt. Als wir gemeinsam den Aufstieg auf einen der Berge der Pyrenäen begannen, der für uns heilig ist und auf dem wir schon außergewöhnliche Augenblicke erlebt hatten, fragte ich sie, ob sie wissen wolle, welches Thema im Mittelpunkt stehe und wie der Titel laute. Ihre Antwort war, sie habe schon lange überlegt, mich zu fragen, und nur aus Achtung vor meiner Arbeit nichts gesagt, sich aber für mich freue, sich sehr darüber freue.
Ich nannte ihr den Titel und das zentrale Thema. Wir wanderten schweigend. Auf dem Rückweg hörten wir ein Geräusch. Es war der Wind, der durch die kahlen Bäume fuhr und zu uns herunterwehte, den Berg wieder einmal seine Magie, seine Kraft zeigen ließ.
Dann fing es an zu schneien. Ich blieb stehen, ließ dieses Bild auf mich wirken: die fallenden Flocken, den grauen Himmel, den Wald und sie neben mir. Sie war immer an meiner Seite gewesen, die ganze Zeit.
Ich wollte es ihr damals sagen, schob es aber auf, damit sie es erführe, wenn sie zum ersten Male diese Seiten durchblättert. Dieses Buch ist dir gewidmet, Christina, meiner Frau.
[10] Dem Schriftsteller Jorge Luís Borges zufolge entstammt die Vorstellung vom Zahir der islamischen Tradition und kam wahrscheinlich um das 18. Jahrhundert auf. Zahir bedeutet auf arabisch sichtbar, gegenwärtig, augenfällig. Eine Sache oder eine Person, welche, sind wir erst einmal in Kontakt mit ihr getreten, ganz allmählich unsere Gedanken ausfüllt, bis wir uns auf nichts anderes mehr konzentrieren können. Dies kann als Heiligkeit oder als Wahnsinn aufgefaßt werden.
Faubourg Saint-Pères,
Enzyklopädie des
Phantastischen, 1953
[11] Ich bin ein freier Mann
SIE: Esther, Kriegskorrespondentin, kürzlich aus dem Irak zurückgekehrt, weil die Invasion des Landes kurz bevorstand, 30, verheiratet, kinderlos.
ER: ein unbekannter Mann, ca. 23 – 25, brünett, mit mongolischen Zügen.
Beide wurden zuletzt in einem Café am Faubourg Saint-Honoré gesehen.
Die Polizei erfuhr, daß sich beide schon vorher getroffen hatten, niemand konnte sagen, wie oft: Esther hatte immer gesagt, der Mann, dessen Identität sich hinter dem Namen Mikhail verbarg, sei sehr wichtig, wobei sie allerdings nie erklärt hatte, ob wichtig für sie als Journalistin oder für sie als Frau. Die Polizei leitete offizielle Ermittlungen ein. Geiselnahme, Erpressung, Geiselnahme mit Todesfolge wurden erwogen – was nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war, da Esther durch ihre Arbeit häufiger Kontakt mit Personen hatte, die mit Terrorzellen in Verbindung standen. Es stellte sich heraus, daß Esther vor ihrem Verschwinden regelmäßig Geld von ihrem Bankkonto abgehoben hatte: Die Ermittler waren der Meinung, dies könne mit der Zahlung für Informationen zusammenhängen. Sie hatte keine Kleidung mitgenommen, aber seltsamerweise wurde ihr Reisepaß nicht gefunden.
[12] ER: sehr jung und unbekannt, ohne Einträge ins Polizeiregister, ohne besondere Merkmale, die seine Identifizierung ermöglichten.
SIE: Esther, zwei internationale Journalistenpreise, 30, verheiratet.
MEINE FRAU.
Ich werde sofort verdächtigt und verhaftet – zumal ich mich weigere zu sagen, wo ich am Tag ihres Verschwindens war. Mein Gefängniswärter hat gerade die Tür aufgeschlossen und mir gesagt, ich sei ein freier Mann.
Warum bin ich ein freier Mann? Weil man heute über jeden alles weiß, man braucht nur eine Information haben zu wollen, und schon ist sie da: wo die Kreditkarte benutzt wurde, welche Orte wir aufsuchen, mit wem wir schlafen. In meinem Fall war es einfacher: Eine Frau erbot sich, zu meinen Gunsten auszusagen. Eine Freundin meiner Frau, ebenfalls Journalistin, geschieden; daher hatte sie kein Problem damit, zu sagen, daß sie mit mir schlief. Sie lieferte konkrete Beweise dafür, daß ich am Tag und in der Nacht von Esthers Verschwinden mit ihr zusammengewesen war.
Ich gehe zum Chefinspektor, um mit ihm zu reden. Er gibt mir meine Sachen zurück, entschuldigt sich, sagt, meine schnelle Festnahme sei gesetzeskonform und ich könne den Staat weder anklagen noch einen Prozeß gegen ihn anstrengen.
Ich erkläre, das hätte ich auch keineswegs im Sinn und wisse im übrigen, daß jeder ständig unter Verdacht stehe und rund um die Uhr überwacht werde, auch wenn er kein Verbrechen begangen habe.
[13] »Sie sind frei«, sagt er und wiederholt damit die Worte des Wärters.
Ich frage: ob es nicht doch möglich sei, daß meiner Frau etwas passiert sei? Sie habe vermutet, daß sie wegen ihrer Kontakte zur Unterwelt des Terrorismus beschattet werden würde.
Der Inspektor weicht aus. Ich lasse nicht locker, aber er schweigt.
Meine Frage, ob sie mit ihrem Paß reisen könne, bejaht er, sie habe ja kein Verbrechen begangen, warum solle sie dann nicht ungehindert aus- und einreisen können?
»Ist es denkbar, daß sie Frankreich verlassen hat?«
»Glauben Sie denn, Sie wurden wegen der jungen Frau verlassen, mit der Sie schlafen?«
Das gehe ihn nichts an, antworte ich. Der Inspektor hält kurz inne, wird ernst, sagt, ich sei festgenommen worden, weil das routinemäßig so gemacht werde. Aber ihm tue das Verschwinden meiner Frau sehr leid. Auch er sei verheiratet und, obwohl ihm meine Bücher nicht gefielen (also weiß er, wer ich bin! Er ist nicht so unwissend, wie er tut!), könne er sich in meine Lage versetzen, sich vorstellen, was ich durchmache.
Ich frage ihn, was ich jetzt tun müsse. Er gibt mir seine Visitenkarte, bittet mich, ihn sofort zu unterrichten, sobald ich Neues wüßte – eine Szene, wie ich sie aus Filmen kenne. Mich überzeugt sie nicht, die Inspektoren wissen immer mehr, als sie sagen.
Er fragt mich, ob ich dem Mann, mit dem Esther zuletzt gesehen worden sei, auch einmal begegnet bin. Meine [14] Antwort ist, daß ich zwar seinen Decknamen kenne, ihm aber persönlich nie begegnet sei.
Er fragt, ob es zu Hause Probleme gebe. Ich sage ihm, wir lebten seit zehn Jahren zusammen und hätten die ganz normalen Probleme eines jeden Ehepaares – weder mehr noch weniger.
Er fragt vorsichtig, ob wir kürzlich über eine Scheidung gesprochen hätten oder ob meine Frau sich mit dem Gedanken trage, sich von mir zu trennen. Ich antworte ihm, dies habe nie zur Debatte gestanden, obwohl wir uns – wie schon gesagt – »wie alle Ehepaare« hin und wieder stritten.
Häufig oder nur manchmal?
Hin und wieder, betone ich.
Er fragt noch vorsichtiger, ob sie wegen meiner Affäre mit ihrer Freundin Verdacht geschöpft habe. Ich sage, es sei das erste und das letzte Mal gewesen, daß wir miteinander geschlafen hätten. Von einer Affäre könne keine Rede sein, es sei in Wahrheit nur zufällig passiert. Es sei ein langweiliger Tag gewesen, nach dem Mittagessen habe es nichts zu tun gegeben. Das Spiel der Verführung trage bekanntlich dazu bei, daß man sich lebendig fühlt, und aus diesem Grunde seien wir im Bett gelandet.
»Sie schlafen mit jemandem – nur einfach so, aus Langeweile?«
Ich überlege mir, ob ich ihm sagen soll, daß diese Art von Fragen nicht zu den Ermittlungen gehört. Aber ich brauche sein Vertrauen, vielleicht kann er mir später noch einmal nützlich sein, schließlich gibt es ja diese unsichtbare Institution namens ›Gefälligkeitsbank‹, die mir immer sehr nützlich war.
[15] »Manchmal ergibt es sich eben. Es passiert gerade nichts Interessantes, die Frau ist auf der Suche nach Emotionen, ich bin auf der Suche nach einem Abenteuer, und schon ist es geschehen. Am nächsten Tag tun beide so, als sei nichts gewesen, und das Leben geht weiter.«
Er bedankt sich, streckt mir seine Hand hin. Seine Welt sehe nicht so aus, sagt er. Langeweile gebe es natürlich auch, Überdruß und sogar den Wunsch, mit jemandem ins Bett zu gehen – aber alles sei sehr viel kontrollierter, und keiner mache, was er denke oder möchte. »Aber vielleicht ist das bei Künstlern ja anders.«
Ich entgegne, seine Welt kenne ich wohl, wolle aber jetzt nicht auf unsere unterschiedlichen Meinungen zur Gesellschaft und den Menschen eingehen. Ich schweige, warte auf seinen nächsten Schritt.
»Da wir gerade von Abenteuern und der Freiheit reden, zu tun, was man gern möchte: Sie können jetzt gehen.« Der Inspektor ist etwas enttäuscht, weil der Schriftsteller sich weigert, mit dem Polizisten zu reden. »Jetzt, wo ich Sie persönlich kenne, werde ich Ihre Bücher lesen. Ich habe zwar gesagt, daß sie mir nicht gefallen, aber um ehrlich zu sein: Ich habe sie noch gar nicht gelesen.«
Diesen Satz höre ich nicht zum ersten Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Wenigstens hat diese Episode mir einen weiteren Leser verschafft. Ich verabschiede mich und gehe.
Ich bin frei. Ich bin aus dem Gefängnis entlassen, meine Frau ist unter mysteriösen Umständen verschwunden, ich habe keine festen Arbeitszeiten, keine Probleme, Menschen [16] kennenzulernen, bin reich, berühmt, und falls mich Esther tatsächlich verlassen haben sollte, werde ich schnell jemanden finden, der sie ersetzt. Ich bin frei und unabhängig.
Aber was ist Freiheit?
Ein Großteil meines Lebens war ich Sklave, also sollte ich die Bedeutung dieses Wortes kennen. Von Kindheit an habe ich um meine Freiheit gekämpft, sie war mein kostbarster Schatz. Ich habe gegen meine Eltern gekämpft, die wollten, daß ich Ingenieur werde statt Schriftsteller. Ich habe gegen meine Schulkameraden gekämpft, die mich von Anfang an zum Opfer ihrer perversen Späße erkoren, und erst nachdem viel Blut aus meiner und ihren Nasen geflossen war, erst nach vielen Abenden, an denen ich meine Wunden vor meiner Mutter verbergen mußte (ich selbst mußte meine Probleme lösen, nicht sie), war es mir gelungen zu zeigen, daß ich imstande war, Prügel einzustecken, ohne zu weinen. Ich habe gekämpft, um eine Anstellung zu finden, die mich ernährte. Ich habe als Botenjunge in einer Eisenwarenhandlung gearbeitet, um mich von der berühmten Familienerpressung zu befreien – »wir geben dir Geld, aber du mußt tun, was wir dir sagen.«
Ich habe – wenn auch ohne Erfolg – um das Mädchen gekämpft, das ich als Heranwachsender liebte und das mich ebenfalls liebte. Am Ende hat es mich verlassen, weil seine Eltern es davon überzeugten, daß ich keine Zukunft hatte.
In meiner nächsten Anstellung hatte ich gegen das feindselige Klima unter Journalisten zu kämpfen: Mein erster Chef ließ mich anfangs drei Stunden lang warten und beachtete mich erst, als ich anfing, aus dem Buch, das er gerade las, einzelne Seiten herauszureißen. Erst dann schaute [17] er überrascht auf und sah sich einem Menschen mit Durchsetzungsvermögen und der Fähigkeit gegenüber, sich dem Feind zu stellen – wesentliche Eigenschaften eines guten Reporters. Ich habe für das Ideal des Sozialismus gekämpft, war im Gefängnis, bin wieder herausgekommen, habe weitergekämpft. Ich habe mich als Held der Arbeiterklasse gefühlt, bis ich die Beatles hörte und fand, daß es sehr viel lustiger war, Rock zu mögen als Marx. Ich habe um die Liebe meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau gekämpft. Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, mich von meiner ersten, meiner zweiten, meiner dritten Frau zu trennen, weil die Liebe nicht standgehalten hatte und ich weitergehen mußte, bis ich den Menschen traf, der in diese Welt gestellt worden war, um mir zu begegnen – und es war keine von den dreien gewesen.
Ich habe darum gekämpft, den Mut aufzubringen, die Anstellung bei der Zeitung aufzugeben und das Abenteuer einzugehen, ein Buch zu schreiben. Auch wenn ich wußte, daß es in meinem Land niemanden gab, der von der Literatur leben konnte. Nach einem Jahr habe ich aufgegeben, nach eintausend Seiten, die absolut genial zu sein schienen, weil nicht einmal ich sie verstand.
Während ich kämpfte, hörte ich Menschen sich für die Freiheit stark machen, doch je heftiger sie dieses einzige Recht verteidigten, um so deutlicher erwiesen sie sich als Sklaven der Wünsche ihrer Eltern, einer vorgeblich auf Lebenszeit geschlossenen Ehe, als Sklaven von Waagen, Diäten, von Projekten (die sie dann doch aufgeben), von Lieben, zu denen sie nicht »nein« sagen konnten und auch nicht »es ist vorbei«. Als Sklaven von Wochenenden, an denen sie [18] gezwungen waren zu essen, was sie nicht mochten. Als Sklaven des Scheins von Luxus, des Scheins des Scheins von Luxus. Als Sklaven eines Lebens, das sie nicht selbst gewählt hatten, sondern weil jemand sie davon überzeugt hatte, daß es das Beste für sie war. Und so lebten sie ihre immer gleichen Tage und Nächte, in denen ›Abenteuer‹ nur ein Wort aus einem Buch war oder etwas im Fernsehen. Und wenn sich irgendeine Tür öffnete, dann sagten sie stets: »Das interessiert mich nicht, ich habe keine Lust.«
Wie konnten sie wissen, ob sie Lust hatten oder nicht, wenn sie es nie ausprobiert hatten? Aber es war müßig, zu fragen. In Wirklichkeit hatten sie Angst vor jeder Art von Veränderung, die ihre gewohnte Welt erschüttern könnte.
Der Inspektor sagt, ich sei frei. Frei bin ich jetzt, aber innerlich frei war ich auch im Gefängnis gewesen. Freiheit war immer mein höchstes Gut. Selbstverständlich hat mein Freiheitsdrang auch dazu geführt, daß ich Weine getrunken habe, die mir nicht schmeckten, Dinge getan, die ich besser nicht getan hätte und nie wieder tun werde. Daß ich Narben an Körper und Seele davongetragen habe. Dazu, andere zu verletzen, die ich nachträglich um Verzeihung gebeten habe, damals, als ich noch dachte, alles tun zu können, außer einen anderen Menschen dazu zu zwingen, mir in meiner Verrücktheit, meinem Lebenshunger zu folgen. Ich bereue die Augenblicke, in denen ich gelitten habe, nicht. Ich trage meine Narben wie Orden. Ich weiß, daß die Freiheit einen hohen Preis hat, einen ebenso hohen Preis wie die Versklavung; mit dem einzigen Unterschied, daß man den Preis der Freiheit freudig und mit einem Lächeln zahlt, selbst wenn man unter Tränen lächelt.
[19] Ich verlasse die Polizeiwache, und es ist ein schöner Tag, ein sonniger Sonntag, an dem nichts zu meinem Seelenzustand paßt. Mein Anwalt erwartet mich draußen mit ein paar Trostworten und einem Blumenstrauß. Er sagt, er habe alle Krankenhäuser angerufen (etwas, was man immer macht, wenn jemand nicht nach Hause kommt), habe aber Esther nicht gefunden. Er sagt, er habe zum Glück verhindern können, daß die Journalisten herausfanden, wo ich in Haft war. Er sagt, er müsse mit mir reden, um eine juristische Verteidigungsstrategie gegen eine mögliche Anklage zu entwickeln. Ich danke ihm für seine Umsicht; ich weiß, daß er keine juristische Strategie ausarbeiten will – tatsächlich will er mich nicht allein lassen, weil er unsicher ist, wie ich reagieren werde (ob ich mich betrinken werde und wieder in Haft komme? Ob ich einen Skandal anzetteln will? Einen Selbstmordversuch mache?). Ich sage ihm, ich hätte wichtige Dinge zu erledigen, und er wisse so gut wie ich, daß ich kein Problem mit dem Gesetz habe. Er läßt nicht locker, doch ich lasse ihm keine Wahl – schließlich bin ich ein freier Mann.
Freiheit. Die Freiheit, elendiglich allein zu sein.
Ich nehme ein Taxi ins Zentrum von Paris, bitte, beim Arc de Triomphe zu halten. Ich gehe über die Champs-Elysées in Richtung Hotel Bristol, wo Esther und ich immer eine heiße Schokolade getrunken hatten, wenn einer von uns beiden von einer Auslandsreise zurückkehrte. Es war eine Art Heimkehrritual, ein Eintauchen in die Liebe, die uns verband, auch wenn uns das Leben immer häufiger auf verschiedene Wege trieb.
Ich gehe weiter. Die Menschen lächeln, die Kinder freuen [20] sich über das frühlingshafte Wetter noch mitten im Winter, der Verkehr fließt, alles scheint in Ordnung zu sein – nur weiß von diesen Menschen keiner – und würde sich auch nicht dafür interessieren –, daß ich gerade meine Frau verloren habe. Merkt man etwa nicht, wie sehr ich leide? Alle müßten traurig sein, Mitleid haben, solidarisch sein mit einem Mann, dessen Herz blutet; aber sie lachen weiter, sind in ihrem eigenen kleinen Leben gefangen, das außerdem nur am Wochenende stattfindet.
Wie lächerlich von mir! Viele der Menschen, denen ich begegne, sind wahrscheinlich auch todtraurig, und ich weiß auch nicht, warum und wie sie leiden.
Ich betrete eine Bar, um Zigaretten zu kaufen, man spricht mich auf englisch an; ich gehe in eine Apotheke, um meine Lieblingssorte Pfefferminzbonbons zu kaufen, und der Apotheker redet englisch mit mir – obwohl ich beide auf französisch angesprochen habe. Vor dem Hotel Bristol fragen mich zwei Jungen, die gerade aus Toulouse angekommen sind, nach einem bestimmten Laden; sie fragen auch noch andere, aber niemand versteht, was sie sagen. Was ist das? Was ist hier los? Hat in den vierundzwanzig Stunden, in denen ich in Haft war, die Sprache auf den Champs-Elysées gewechselt?
Tourismus und Geld können Wunder wirken: Warum hatte ich das nicht schon früher gemerkt? Weil Esther und ich offensichtlich schon lange keine Schokolade mehr zusammen getrunken hatten, auch wenn wir beide in dieser Zeit mehrfach verreist und wieder nach Hause gekommen waren. Es gab immer etwas Wichtigeres. Es gab immer eine unaufschiebbare Verabredung. Ja, meine Liebe, wir werden [21] nächstes Mal unsere Schokolade trinken, komm schnell zu mir, du weißt, daß ich heute ein wirklich wichtiges Interview habe und dich nicht vom Flughafen abholen kann. Nimm ein Taxi, mein Handy ist angestellt, du kannst mich anrufen, wenn etwas Dringendes ist, ansonsten sehen wir uns heute abend.
Mein Handy! Ich ziehe es aus der Tasche, wähle mich ein, es klingelt ein paarmal, jedesmal macht mein Herz einen Satz, ich sehe die Namen der Leute, die mich sprechen wollten, auf dem kleinen Bildschirm, rufe aber niemanden zurück. Vielleicht ist ja eine Nummer »ohne Identifikation« darunter: Das würde nur sie sein können, denn ihre Telefonnummer kennen kaum mehr als zwanzig Leute, die geschworen hatten, sie niemals weiterzugeben. Es erscheint keine anonyme Nummer, nur Nummern von Freunden oder von mir nahestehenden Kollegen. Sicher wollen sie wissen, was passiert ist, wollen helfen (aber wie?), fragen, ob ich etwas brauche.
Das Telefon klingelt wieder. Soll ich rangehen? Soll ich mich mit einem dieser Menschen treffen?
Ich beschließe, allein zu bleiben, bis ich das Geschehene verarbeitet habe.
Ich betrete das Bristol, das Esther immer als eines der wenigen Hotels beschrieben hat, in dem die Kunden wie Gäste behandelt werden und nicht wie Obdachlose, die ein Dach über dem Kopf suchen. Man begrüßt mich, als gehörte ich zum Haus, ich wähle einen Tisch vor einer schönen Uhr, höre dem Piano zu, schaue nach draußen in den Garten.
Ich muß pragmatisch vorgehen, die Alternativen durchspielen, das Leben geht weiter. Ich bin weder der erste noch [22] der letzte Mann, der von seiner Frau verlassen wird – aber warum muß das ausgerechnet an einem sonnigen Tag passieren, an dem es nur lächelnde Menschen auf der Straße gibt, an dem die Kinder singen, sich der Frühling ankündigt, die Sonne strahlt, die Autofahrer an den Zebrastreifen halten?
Ich nehme eine Serviette, möchte diese Gedanken aus meinem Kopf herausholen und auf dem Papier festhalten. Lassen wir Gefühle beiseite, und sehen wir, was ich tun kann.
a) Angenommen, sie wurde tatsächlich entführt und ihr Leben ist in diesem Augenblick wirklich in Gefahr: Ich bin ihr Mann, ihr Gefährte in allen Lebenslagen, ich muß Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu finden.
Dagegen spricht: Sie hat ihren Paß dabei. Die Polizei weiß es nicht, aber sie hat auch ein paar persönliche Dinge mitgenommen, auch eine Brieftasche mit ihren Schutzheiligen, die sie immer bei sich trägt, wenn sie ins Ausland reist. Sie hat Geld von der Bank abgehoben.
Schlußfolgerung: Sie hatte sich darauf vorbereitet, zu gehen.
b) Angenommen, sie wurde in einen Hinterhalt gelockt.
Dafür spricht, daß sie sich häufig in gefährliche Situationen begeben hat – das gehörte zu ihrer Arbeit. Aber sie hat mir immer vorher Bescheid gesagt, denn ich war der einzige Mensch, dem sie vollkommen vertraute. Sie sagte mir immer, wo sie sein, mit wem sie Kontakt aufnehmen werde (obwohl sie, um mich nicht in Gefahr zu bringen, meistens den Decknamen der Leute gebrauchte), und was ich zu tun hätte, falls sie nicht um eine bestimmte Uhrzeit wieder da sei.
[23] Schlußfolgerung: Sie hatte nicht die Absicht, einen ihrer Informanten zu treffen.
c) Angenommen, sie hat einen anderen Mann getroffen.
Diese Annahme kann ich nicht beurteilen. Aber es ist die einzige Hypothese, die einen Sinn ergibt. Doch ich kann das nicht hinnehmen, ich kann nicht hinnehmen, daß sie einfach so geht, ohne mir wenigstens zu sagen, warum. Sowohl Esther als auch ich waren immer stolz darauf, alle Schwierigkeiten im Leben gemeinsam anzugehen. Wir haben gelitten, uns aber niemals angelogen – auch wenn es zu den Spielregeln gehörte, den einen oder anderen Seitensprung zu verschweigen. Ich weiß, daß sie sich sehr verändert hat, seit sie diesen Mikhail kennengelernt hat, aber rechtfertigt das den Bruch mit einer zehnjährigen Ehe?
Selbst wenn sie mit ihm geschlafen, sich verliebt haben sollte, würde sie nicht alle unsere gemeinsamen Augenblicke, alles, was wir erreicht haben, auf eine Waage legen, bevor sie zu einem Abenteuer ohne Wiederkehr aufbrach? Sie war frei, zu reisen, wohin sie wollte, sie lebte umgeben von Männern, von Soldaten, die lange keine Frau gesehen hatten, ich habe sie niemals gefragt, und sie hat mir nie etwas gesagt. Wir waren beide frei und stolz darauf.
Aber Esther war verschwunden. Hatte Spuren hinterlassen, die nur für mich sichtbar waren wie eine geheime Botschaft: Ich bin dabei, wegzugehen.
Warum?
Lohnt es wirklich, eine Antwort auf diese Frage zu geben?
Nein. Denn hinter jeder Antwort würde meine eigene Unfähigkeit aufscheinen, die Frau, die ich liebe, an [24] meiner Seite zu halten. Lohnt es, sie zu suchen, um sie davon zu überzeugen, zu mir zurückzukehren? Um eine weitere Chance für unsere Ehe zu flehen, zu betteln?
Das erscheint mir lächerlich. Lieber leide ich, wie ich schon zuvor gelitten habe, als mich andere Menschen, die ich liebte, verlassen haben. Lieber lecke ich meine Wunden, wie ich es bereits in der Vergangenheit getan habe. Ich werde eine Zeitlang an sie denken, zu einem bitteren Menschen werden, meine Freunde damit nerven, daß ich kein anderes Thema mehr habe als das Weggehen meiner Frau. Ich werde das Geschehene zu rechtfertigen versuchen, werde mir Tag und Nacht jeden Moment, den ich an ihrer Seite verbracht habe, vor Augen halten und zum Schluß kommen, daß sie hart zu mir war, zu mir, der ich immer versucht habe, mich zu bessern, es besser zu machen. Wenn ich durch die Straßen gehe, werde ich ständig Frauen begegnen, die sie sein könnten. Tag und Nacht, Nacht und Tag leiden. Das kann Wochen, Monate, vielleicht sogar mehr als ein Jahr dauern.
Bis ich eines Morgens aufwache, feststelle, daß ich an etwas anderes denke, und begreife, daß das Schlimmste nun vorbei ist. Das Herz ist verletzt, aber es ist dabei, sich zu erholen, und sieht wieder, daß das Leben schön ist. Das ist schon früher passiert, das wird wieder passieren, da bin ich mir sicher. Wenn jemand geht, heißt das, jemand anderes wird kommen – und ich werde eine neue Liebe finden.
Einen Augenblick lang genieße ich meine neue Lage: frei und ungebunden zu sein und noch dazu reich. Ich kann ausgehen, mit wem ich will, am hellichten Tage. Ich kann mich bei Partys aufführen, wie ich es in allen Ehejahren nicht [25] getan habe. Die Nachricht wird sich rasch verbreiten, und bald werden viele Frauen an meine Tür klopfen, junge und nicht mehr so junge, reiche und solche, die weniger reich sind, als sie zu sein vorgeben, intelligente und solche, die nur dazu erzogen wurden, zu sagen, was ich vermeintlich hören möchte.
Ich möchte glauben, daß es großartig ist, frei zu sein. Wieder frei. Bereit, die wahre Liebe meines Lebens zu finden, diejenige, die auf mich wartet und die mich niemals eine so erniedrigende Situation erleben lassen wird.
Ich trinke meine Schokolade aus, schaue auf die Uhr, weiß, daß es noch zu früh ist, dieses angenehme Gefühl zu haben, wieder Teil der Menschheit zu sein. Ein paar Minuten lang träume ich davon, daß Esther durch diese Tür hereinkommt, über die schönen Perserteppiche geht und sich wortlos neben mich setzt, daß sie eine Zigarette raucht, in den begrünten Innenhof blickt und meine Hand hält. Eine halbe Stunde verstreicht, eine halbe Stunde lang glaube ich die Geschichte, die ich mir gerade ausgedacht habe, bis ich begreife, daß es sich nur um ein weiteres Hirngespinst handelt.
Ich beschließe, nicht nach Hause zu gehen. Begebe mich zum Empfang, bitte um ein Zimmer, eine Zahnbürste, ein Deodorant. Das Hotel ist ausgebucht, aber der Geschäftsführer macht es möglich: Ich bekomme eine wunderschöne Suite mit Balkon und Blick auf den Eiffelturm, auf die Dächer von Paris, die Lichter, die ganz allmählich angehen, auf die Familien, die sich an diesem Sonntag zum Abendessen zusammenfinden. Und das Gefühl, das ich zuvor auf den [26] Champs-Elysées hatte, überkommt mich wieder: Je schöner alles um mich herum ist, desto elender fühle ich mich.
Kein Fernsehen. Kein Abendessen. Ich setze mich auf die Terrasse und blicke auf mein Leben zurück: ein junger Mann, der davon träumt, ein berühmter Schriftsteller zu werden, und plötzlich sieht, daß die Wirklichkeit vollkommen anders ist. Er schreibt in einer Sprache, die außerhalb seines Landes kaum jemand lesen kann, in einem Land, von dem es heißt, es gebe dort keine Leser. Seine Familie zwingt ihn zu studieren (egal was, mein Sohn, Hauptsache, du bekommst ein Diplom – denn sonst bringst du es im Leben zu nichts). Er lehnt sich auf, reist als Hippie durch die Welt, trifft schließlich einen Sänger, schreibt ein paar Songtexte und verdient plötzlich mehr Geld als seine Schwester, die auf die Eltern gehört hat und Chemieingenieurin wurde.
Ich schreibe noch mehr Songtexte, der Sänger hat immer mehr Erfolg, ich kaufe ein paar Wohnungen, verkrache mich mit dem Sänger, habe aber genug Kapital, um die nächsten Jahre zu leben, ohne arbeiten zu müssen. Ich heirate meine erste Frau. Sie ist älter als ich, ich lerne viel von ihr – Liebe machen, Auto fahren, Englisch, lange schlafen –, aber dann trennen wir uns doch, weil ich, wie sie meint, »emotional unreif, hinter jedem Mädchen mit großen Brüsten her« sei. Ich heirate ein zweites und ein drittes Mal, Frauen, von denen ich glaube, sie könnten mir innere Stabilität geben: Ich bekomme, was ich möchte, finde aber heraus, daß die erträumte Stabilität mit einer tiefen Langeweile einhergeht.
Noch zwei Scheidungen. Erneut die Freiheit, aber das ist nur ein Gefühl; Freiheit ist nicht das Fehlen von [27] Verpflichtungen, sondern die Fähigkeit, zu wählen – und mich auf das einzulassen, wovon ich glaube, daß es das Beste für mich ist.
Ich setze meine Liebessuche fort, schreibe weiter Songtexte. Wenn ich gefragt werde, was ich beruflich mache, sage ich, ich sei Schriftsteller. Wenn die Leute dann sagen, sie würden nur meine Songtexte kennen, gebe ich zur Antwort, dies sei nur ein Teil meiner Arbeit. Wenn sie sich entschuldigen und sagen, sie hätten noch nie ein Buch von mir gelesen, erkläre ich ihnen, ich arbeite gerade an einem Projekt – was gelogen ist. Tatsächlich habe ich Geld, Kontakte, nur fehlt mir der Mut, ein Buch zu schreiben – mein Traum ist möglich geworden. Wenn ich es versuche und scheitere, weiß ich nicht, wie der Rest meines Lebens aussehen wird: Daher ist es besser, weiter zu träumen, als der Möglichkeit ins Auge zu sehen, der Traum könnte fehlschlagen.
Eines Tages kommt eine Journalistin, um mich zu interviewen: Sie möchte wissen, wie man sich fühlt, wenn die eigene Arbeit im ganzen Land bekannt ist, aber niemand weiß, wer man ist, da normalerweise nur der Sänger in den Medien erscheint. Sie ist hübsch, intelligent und redet kein Wort zuviel. Wir begegnen uns auf einem Fest wieder, jetzt ohne Arbeitsdruck, es gelingt mir, noch in derselben Nacht mit ihr ins Bett zu gehen. Ich verliebe mich, sie findet, es sei nicht besonders aufregend gewesen. Ich rufe sie an, sie sagt immer, sie habe zu tun. Je mehr sie mich abweist, um so mehr interessiert sie mich – bis ich sie überreden kann, ein Wochenende mit mir in meinem Landhaus zu verbringen. (Ich bin zwar das schwarze Schaf, andererseits aber auch der einzige, der sich damals ein Landhaus leisten kann – manchmal lohnt es sich eben, aufzubegehren.)
[28] Drei Tage lang sind wir ganz allein, betrachten das Meer, ich koche für sie, sie erzählt Geschichten von ihrer Arbeit, und am Ende verliebt sie sich in mich. Wir kehren in die Stadt zurück, sie schläft regelmäßig in meiner Wohnung. Eines Morgens geht sie früher aus dem Haus und kehrt mit ihrer Schreibmaschine zurück: Von diesem Tag an wird meine Wohnung, ohne daß ein Wort darüber verloren wurde, zu ihrem Zuhause.
Die gleichen Konflikte, die ich mit meinen vorigen Frauen hatte, beginnen: Sie sind immer auf der Suche nach Stabilität, nach Treue, und ich auf der Suche nach Abenteuern und dem Unbekannten. Diesmal hält die Beziehung aber länger. Trotzdem denke ich zwei Jahre später, daß für Esther der Augenblick gekommen ist, ihre Schreibmaschine und alles, was sie sonst noch angeschleppt hatte, wieder mitzunehmen.
»Ich glaube, es wird nicht gehen.«
»Aber du liebst mich doch, und ich liebe dich, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Wenn du mich fragst, ob ich dich gern um mich habe, so ist die Antwort ja. Wenn du allerdings von mir wissen willst, ob ich ohne dich leben kann, dann ist die Antwort ebenfalls ja.«
»Ich möchte nicht als Mann geboren sein, ich bin sehr zufrieden damit, eine Frau zu sein. Letztlich erwartet ihr doch von uns nur, daß wir gut kochen. Andererseits erwartet man alles von den Männern, absolut alles – sie sollen das Geld für den Haushalt heranschaffen, Liebe machen, die Nachkommenschaft schützen und füttern, und sie sollen Erfolg haben.«
[29] »Darum geht es nicht: Ich bin mit mir selber sehr zufrieden. Ich mag dich um mich haben, aber ich bin überzeugt davon, daß es nicht gutgehen wird.«
»Du magst mich um dich haben, aber du haßt es, mit dir allein zu sein. Du suchst immer das Abenteuer, um an die wichtigen Dinge nicht denken zu müssen. Du rennst hinter dem Adrenalinkick her und vergißt darüber, daß in deinen Adern Blut fließen soll und nichts weiter.«
»Ich laufe nicht vor den wichtigen Dingen davon. Was wäre denn wichtig, zum Beispiel?«
»Ein Buch zu schreiben.«
»Das kann ich jederzeit tun.«
»Dann tu es doch. Hinterher trennen wir uns, wenn du willst.«
Ich finde ihre Bemerkung absurd, ich kann jederzeit ein Buch schreiben, ich kenne Verleger, Journalisten, Leute, die mir einen Gefallen schulden. Esther ist wieder nur eine Frau, die Angst hat, mich zu verlieren, sie erfindet das alles bloß. Ich sage, es reiche mir, unsere Beziehung sei am Ende, es gehe um Liebe, nicht darum, was mich ihrer Meinung nach glücklich machen würde.
»Was ist Liebe?« fragt sie. Ich versuche mehr als eine halbe Stunde lang, es ihr zu erklären, und merke dann, daß es mir nicht gelingt.
Sie meint, daß ich, solange ich die Liebe nicht definieren könne, versuchen sollte, ein Buch zu schreiben.
Ich antworte ihr darauf, diese beiden Dinge hätten nichts miteinander zu tun, ich würde noch heute die Wohnung verlassen, sie könne bleiben, so lange sie wolle. Ich würde ins Hotel ziehen, bis ich eine andere Wohnung gefunden [30] hätte. Sie meint, sie sehe da kein Problem, ich könne jetzt gehen, noch vor Ablauf eines Monats sei die Wohnung wieder frei – sie werde noch am nächsten Tag nach etwas suchen. Ich packe meine Koffer, und sie liest dabei ein Buch. Ich sage, es sei schon spät, ich würde morgen gehen. Sie schlägt vor, ich solle sofort gehen, denn morgen würde ich mich schwächer fühlen, weniger entschlossen. Darauf frage ich sie, ob sie mich loswerden wolle. Sie lacht, sagt, ich sei es gewesen, der Schluß machen wollte. Laß uns schlafen. Am nächsten Tag ist der Wunsch, zu gehen, schon nicht mehr so groß, ich beschließe, es mir noch einmal zu überlegen. Esther meint allerdings, die Sache sei noch nicht beendet: Solange ich nicht alles für das riskieren würde, was ich für den wahren Sinn meines Lebens hielte, würden Tage wie dieser immer wieder kommen, sie würde am Ende unglücklich sein und schließlich mich verlassen. Nur würde sie dann ihre Absicht umgehend in die Tat umsetzen und alle Brücken, die ihr erlauben könnten zurückzukehren, hinter sich abbrechen. Ich frage sie, was sie damit sagen wolle. Einen anderen Liebsten finden, mich verlieben, ist ihre Antwort.
Sie geht zur Arbeit in die Redaktion, und ich beschließe, mir den Tag freizunehmen. (Außer als Songtexter arbeite ich zur Zeit bei einer Plattenfirma.) Ich setze mich an die Schreibmaschine. Ich stehe wieder auf, lese die Zeitungen, beantworte zuerst einmal die wichtigen Briefe, und als ich damit fertig bin, fange ich mit den weniger wichtigen an. Ich notiere, was ich noch tun muß, höre Musik, mache einen Spaziergang um den Block, unterhalte mich mit dem [31] Bäcker, komme nach Hause zurück, der Tag ist um, und ich habe auf der Schreibmaschine keinen einzigen Satz zustande gebracht. Ich komme zu dem Schluß, daß ich Esther hasse, weil sie mich zwingt, Dinge zu tun, die ich hasse.
Als Esther aus der Redaktion kommt, fragt sie gar nicht erst, sondern erklärt gleich, ich hätte nichts geschrieben, mein Blick sei noch genauso wie gestern.
Am nächsten Tag gehe ich zur Arbeit, aber abends setze ich mich wieder an die Schreibmaschine. Ich lese, sehe fern, höre Musik, setze mich erneut an die Schreibmaschine, und so vergehen zwei Monate, es sammeln sich Seiten über Seiten mit einem »ersten Satz«, aber es gelingt mir nie, einen Absatz zu beenden.
Ich führe alle nur möglichen Entschuldigungen ins Feld – in diesem Land liest keiner, oder ich habe noch nicht den Plot, der mir vorschwebt, oder ich habe zwar eine großartige Geschichte, weiß aber noch nicht, wie ich sie erzählen soll. Außerdem würde ich bis über beide Ohren in Arbeit stecken, müsse diesen Artikel und jenen Songtext fertigschreiben. Weitere zwei Monate gehen ins Land, und eines Tages kommt Esther mit einem Flugticket nach Hause.
»Es reicht«, sagt sie. »Hör auf, so geschäftig zu tun, und rede mir nicht von Verantwortung oder davon, daß die Welt auf das wartet, was du gerade machst. Reise eine Zeitlang.« Später könne ich immer noch Chefredakteur der Zeitung werden, in der ich ein paar Reportagen veröffentlicht habe, könne immer noch Präsident der Plattenfirma werden, für die ich die Songtexte schreibe und die mich nur eingestellt hat, damit ich nicht auch die Konkurrenz beliefere. Auch könne ich später wieder das tun, was ich zur Zeit [32] mache, aber mein Traum könne nicht länger warten. Entweder würde ich ihn jetzt annehmen oder ihn für immer vergessen.
»Wohin geht der Flug?«
»Spanien.«
Ich rege mich mächtig auf, die Tickets seien teuer, ich könne jetzt nicht weg, sei gerade dabei, Karriere zu machen, und müsse mich darum kümmern. Ich würde viele Partner im Musikgeschäft verlieren, das Problem sei nicht ich, das Problem sei unsere Ehe. Wenn ich ein Buch schreiben wolle, könne mich niemand daran hindern.
»Du kannst, du willst, aber du tust es nicht«, sagt sie. »Da das Problem nicht meins, sondern deins ist, bleibst du besser eine Zeitlang allein.«
Sie zeigt mir eine Landkarte. Ich würde nach Madrid fliegen und von dort weiter mit dem Bus in die Pyrenäen fahren, bis an die französische Grenze. Dort beginne der letzte Abschnitt eines mittelalterlichen Pilgerwegs, des Jakobswegs: Ich solle ihn zu Fuß zurücklegen. An seinem Ende werde sie auf mich warten und dann alles akzeptieren, was ich dann sagen würde: daß ich sie nicht mehr liebte, daß ich noch nicht genug erlebt hätte, um ein literarisches Werk zu schaffen, daß ich nie wieder auch nur daran denken würde, Schriftsteller zu werden, daß dies alles nur ein Jugendtraum gewesen sei und nichts weiter.
Es ist nicht zu fassen! Die Frau, mit der ich seit zwei langen Jahren zusammen bin – eine wahre Ewigkeit für mich in einer Liebesbeziehung –, maßt sich an, über mein Leben zu entscheiden, will mich dazu bringen, meine Arbeit aufzugeben, ein ganzes Land zu Fuß zu durchqueren! Das ist [33] dermaßen verrückt, daß ich beschließe, sie ernst zu nehmen. Ich betrinke mich ein paar Nächte lang, sie ist bei mir und betrinkt sich auch, obwohl sie das Trinken haßt. Ich werde aggressiv, sage, sie sei nur neidisch auf meine Unabhängigkeit, auf diese verrückte Idee sei sie nur gekommen, weil sie gesagt habe, sie wolle mich verlassen. Darauf entgegnet sie, alles sei nur so gekommen, weil ich schon als Schüler davon geträumt hätte, Schriftsteller zu werden, jetzt hätte ich es lange genug aufgeschoben, entweder würde ich mich mir selber stellen oder den Rest meines Lebens damit verbringen, zu heiraten und mich wieder scheiden zu lassen, über meine Vergangenheit hübsche Geschichten zu erzählen und immer mehr abzubauen.
Selbstverständlich kann ich nicht zugeben, daß sie recht hat – aber es stimmt, was sie sagt. Und je deutlicher mir dies wird, um so aggressiver werde ich. Sie nimmt die Aggressionen widerspruchslos hin – sie erinnert mich nur daran, daß der Tag der Abreise näher rückt.
Eines Nachts – mein Flug geht in wenigen Tagen – weigert sie sich, mit mir zu schlafen. Ich rauche einen ganzen Joint, trinke zwei Flaschen Wein und breche mitten im Wohnzimmer ohnmächtig zusammen. Als ich aufwache, wird mir klar, daß ich jetzt ganz unten, endgültig am Boden bin und jetzt nur wieder auf die Füße kommen muß. Ausgerechnet ich, der ich immer so stolz auf meinen Mut war, muß erkennen, wie feige, bequem ich bin, wie kleinherzig ich mit meinem eigenen Leben umgehe. An diesem Morgen wecke ich Esther mit einem Kuß und sage, ich würde tun, was sie vorschlägt.
Ich breche auf, lege den Jakobsweg in achtunddreißig [34] Tagen zurück. Als ich in Santiago de Compostela ankomme, begreife ich, daß die Arbeit erst jetzt beginnt. Ich beschließe, in Madrid zu wohnen, ein Ozean soll zwischen Esther und mir liegen, obwohl wir offiziell weiter zusammen sind und häufig miteinander telefonieren. Es ist sehr bequem für mich, weiter verheiratet zu sein, zu wissen, daß ich jederzeit in ihre Arme zurückkehren und zugleich alle Unabhängigkeit der Welt genießen kann.
Ich verliebe mich in eine katalanische Wissenschaftlerin, eine Argentinierin, die Schmuck macht, ein Mädchen, das in der Metro singt. Von meinen Tantiemen kann ich bequem leben, ich muß nicht arbeiten, habe jede Menge freie Zeit für alles – auch dafür, ein Buch zu schreiben.
Das Buch kann immer bis zum nächsten Tag warten, denn der Bürgermeister von Madrid hat beschlossen, die Stadt in einen einzigen Festplatz zu verwandeln, und einen Slogan geschaffen: »Madrid macht mich an.« Man solle jede Nacht gleich mehrere Bars besuchen, und das Ganze nennt sich movida madrileña – Madrid in Bewegung. Das kann ich nicht auf morgen verschieben, das macht Spaß, die Tage sind kurz, die Nächte lang.
Eines schönen Tages kommt ein Anruf von Esther, mit dem sie ihren Besuch ankündigt: Sie findet, wir müßten unsere Situation ein für allemal klären. Sie hat einen Flug für die nächste Woche gebucht, und das gibt mir Zeit, mich bei der blonden Straßensängerin, die inzwischen bei mir im Apart-Hotel schläft und jede Nacht mit mir durch Madrid zieht, herauszureden: Ich wolle nach Portugal, komme aber in einem Monat wieder. Ich räume das Apartment auf, tilge jede Spur weiblicher Präsenz, bitte meine Freunde um [35] vollständiges Stillschweigen, meine Frau sei im Anflug und werde einen Monat hierbleiben.
Als Esther aus dem Flugzeug steigt, erkenne ich sie kaum wieder. Sie hat eine scheußliche Frisur. Ich sage es ihr, sie geht zum Friseur und sieht danach wieder hübsch aus. Wir reisen durch Spanien, lernen kleine Städte kennen, die uns eine Nacht lang viel bedeuten, die ich aber heute nicht mehr auf Anhieb finden würde. Wir schauen uns Stierkämpfe an, Flamenco, ich bin der beste Ehemann der Welt, denn ich möchte, daß Esther mit dem Gefühl wegfliegt, daß ich sie immer noch liebe. Ich weiß nicht, warum ich ihr dieses Gefühl vermitteln will, vielleicht weil ich im Grunde glaube, daß der Traum von Madrid eines Tages enden wird.
Nur noch zehn Tage bis zum Ende ihres Urlaubs: Ich möchte, daß sie befriedigt wieder abreist und mich allein in Madrid zurückläßt, das »mich anmacht« mit seinen Diskotheken, die um zehn Uhr morgens öffnen, mit seinen Corridas und den endlosen Gesprächen über die ewig gleichen Themen: Alkohol, Frauen, noch mehr Corridas, noch mehr Alkohol, noch mehr Frauen, und keinen, absolut keinen festen Zeiten.
Eines Sonntags auf dem Weg zu einer Imbißbude, die die ganze Nacht geöffnet hat, stellt sie mir eine Frage zum Tabuthema: dem Buch, von dem ich behauptet habe, ich sei dabei, es zu schreiben. Ich leere eine ganze Flasche Sherry, traktiere die Rollgitter mit Fußtritten, pöble Leute auf der Straße an, fahre meine Frau an, wieso sie eine so weite Reise gemacht habe, nur um mir das Leben zur Hölle zu machen, mir die Freude zu vergällen. Sie sagt nichts – aber wir beide wissen, daß unsere Beziehung an ihren Grenzen angelangt [36] ist. Ich verbringe eine traumlose Nacht, und am nächsten Morgen beschwere ich mich erst mal bei dem Geschäftsführer darüber, daß das Telefon nicht ordentlich funktioniert, erkläre dem Zimmermädchen, sie habe seit einer Woche die Bettwäsche nicht gewechselt, nehme ein endloses Vollbad, um den Kater vom Vorabend auszukurieren, und dann erst setze ich mich an die Schreibmaschine – nur um Esther zu zeigen, daß ich es versuche, daß ich ehrlich versuche zu arbeiten.
Und da geschieht plötzlich ein Wunder: Als ich die Frau anschaue, die vor mir sitzt, die gerade einen Kaffee gekocht hat und die Zeitung liest, die Frau, in deren Augen Müdigkeit und Verzweiflung liegen, die Frau, die dort in ihrer stillen Art sitzt, die ihre Zärtlichkeit nicht immer durch Gesten zeigt… diese Frau, die mich hat ja sagen lassen, als ich nein sagen wollte, mich gezwungen hat, um das zu kämpfen, was sie – zu Recht – für den Sinn meines Lebens hielt, die auf meine Anwesenheit verzichtet hat, weil ihre Liebe zu mir größer war als ihre Liebe zu sich selbst, die mich auf die Reise geschickt hat, meinen Traum zu suchen… – Als ich diese Frau sah, die fast noch ein Mädchen ist, die nie viele Worte macht, mit ihren beredten Blicken, diese Frau, die häufig im Herzen ängstlich, aber in ihren Taten immer mutig ist, imstande, zu lieben, ohne sich zu erniedrigen, ohne sich dafür zu entschuldigen, daß sie um ihren Mann kämpft – da plötzlich hämmern meine Finger auf die Tasten der Schreibmaschine.
Der erste Satz ist da. Und dann der zweite.
Und dann verbringe ich zwei Tage, ohne etwas zu essen, schlafe nur soviel wie unbedingt notwendig, die Worte [37] scheinen aus einer ungekannten Quelle hervorzusprudeln – wie früher vielleicht auch meine Songtexte, wenn mein Partner und ich nach vielen Streitereien und sinnlosen Gesprächen wußten, daß ›es‹ da war, reif war und die Zeit gekommen, ›es‹ niederzuschreiben und in Noten umzusetzen. Diesmal weiß ich, daß »es« aus Esthers Herzen kommt, meine Liebe wird wiedergeboren, ich schreibe das Buch, weil es sie gibt. Sie hat die schwierige Zeit überwunden, ohne zu klagen, ohne sich als Opfer zu fühlen. Ich beginne, von meiner einzigen Erfahrung zu erzählen, die mich in den letzten Jahren wirklich berührt hat – vom Jakobsweg.
Während des Schreibens merke ich, daß meine Sicht der Welt sich entscheidend ändert. Viele Jahre lang hatte ich Magie, Alchemie und okkulte Wissenschaften studiert und praktiziert. Ich war von dem Gedanken fasziniert, daß eine Gruppe von Menschen eine ungeheure Macht besaß, die auf gar keinen Fall mit dem Rest der Menschheit geteilt werden durfte, weil es höchst riskant wäre, dieses riesige Potential in unerfahrene Hände gelangen zu lassen. Ich hatte in Geheimgesellschaften mitgemacht, war in exotische Sekten verwickelt gewesen, hatte sündhaft teure, auf dem Markt nicht erhältliche Bücher gekauft, wahnsinnig viel Zeit mit Ritualen und Initiationen verbracht. Andauernd war ich in irgendwelche Gruppen und Bruderschaften ein- und wieder ausgetreten, in der fieberhaften Hoffnung, jemanden zu treffen, der mir endlich die Mysterien der nichtsichtbaren Welt enthüllen würde. Und ich war jedesmal wieder enttäuscht, wenn ich herausfand, daß die meisten dieser Menschen – sosehr sie auch von guten Absichten geleitet waren – nur blind einem Dogma folgten und häufig zu [38] Fanatikern wurden, weil Fanatismus der einzige Ausweg aus den Zweifeln ist, die die Seele des Menschen unaufhörlich quälen.