Endnoten

»Ich habe eine Mordswut« Briefe an die Eltern 19561987, hrsg. von Wolfgang Rüger und Maria Fauser. Paria Verlag, 1993

Fauser im Interview mit Ralf Firle, 12. Oktober 1985; Beiheft zur Jörg Fauser Edition, Hrsg. Carl Weissner

Hedwig Rohde: »Berlin zeigt es einem«, Der Tagesspiegel vom 3. Juni 1983

Carl Weissner: »Die Harry Gelb Story«, Tip 5/84

Hans Christian Kosler: »Opium auf dem Nachttisch« in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. März 1984

Maxim Biller: »Ichzeit«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. Oktober 2011

Fauser im Interview mit Rudolf von Bitter, 26. Mai 1984 bei Lesezeichen, Bayerisches Fernsehen

-ky: »Abrechnung mit den Alternativen«, Nürnberger Zeitung vom 22. September 1984

Fauser im Interview mit Hellmuth Karasek u. Jürgen Tomm, 25. September 1984 bei Autor-Scooter, SFB

Gegenüber Trotzki, Goethe und das Glück mit einer zusätzlichen Zeile: »schafften drei Nummern pro Nacht«, bevor es weitergeht mit »hielten uns glänzend in Schuß«. Abgedruckt in Tintenfisch 8, auf dem Umschlag angekündigt als »Die Revolution hieß Louise«.

Klaus Walter: »nacht-räume« bei copyriot.com, April 2004

Fauser im Interview, 26. Mai 1984

Fauser in Live-Diskussion, 25. Oktober 1985, Hessischer Rundfunk

In Istanbul lebte ich meistens im Stadtteil Cağaloğlu, etwas oberhalb der Blauen Moschee. Das Hotel war ein fünfstöckiger Altbau in einer Seitenstraße. Daneben lag eine Schule, und morgens traten die Schulklassen auf dem Hof an und sangen die Nationalhymne. Die türkische Nationalhymne ist recht lang, und wie die Hymne glich auch Istanbul einer Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen.

Weil sie mit ihren fünf Stockwerken noch nicht genug absahnten, hatten die Besitzer des Hotels auf dem Dach noch einen Aufbau hochziehen lassen. Die Aussicht war überwältigend, im Sommer auch die Hitze, im Winter die Kälte. Immerhin – für rund zwei Mark am Tag hatte man das gleiche Panorama, für das die normalen Touristen das Zwanzig- oder Fünfzigfache hinlegten. Und unsereins hatte Kredit.

Als es Winter wurde, zogen Ede und ich zusammen in eine Bude auf dem Dach. Wenn der Wind aus Russland durch die Ritzen pfiff und der Schnee durch die unverputzte Decke sickerte, war es zu zweit entschieden praktischer. Einer goss Sprit auf den Steinfußboden und zündete ihn an, und solange die Flammen etwas Wärme verbreiteten, versuchte der andere, eine Vene zu finden. Wir nahmen

Ede war ein kräftiger Bursche aus Stuttgart, den seine Sucht allmählich von innen ausbrannte – der Knochenbau war immer noch stabil, aber alles Gewebe, Fett, Muskeln reduzierten sich auf das Notwendigste. Zunächst beobachtete ich das fasziniert, dann gab ich es auf. In der Sucht zieht man sich auf sich selbst zurück, und nur wenn der Stoffwechsel seine Sirenen schrillen lässt, sieht man sich mit der Umwelt konfrontiert, die einen leicht in Panik versetzen kann. Deshalb muss man auch etwas zu tun haben, damit die Zeit dazwischen noch da ist, wenn man sie braucht (Zeit, der Stoff, von dem wir nie genug bekommen), und Ede hatte herausgefunden, dass das für ihn das Malen war. Das meiste Geld von dem, was wir gelegentlich machten, ging für Leinwand und Farben drauf. Ede hatte das, was man einen unverbrauchten Stil nennen könnte, er knallte seine Valeurs nur so auf die Leinwand, und nachdem er die abstrakte Anfangsphase hinter sich hatte, ging er zu Figuren und Landschaften über. Es waren wahrscheinlich ziemlich unbedarfte Bilder, aber mir gefielen sie. Je düsterer der Winter und unsere Aussichten, desto farbenfrohere Gemälde stellte Ede her. Ein Psychiater hätte an uns beiden seine helle Freude gehabt.

Denn ich schrieb. Die Türken verkauften sehr solid

 

Es gab ein Viertel, in das sich kaum ein Ausländer wagte: Tophane. Pro Quadratmeter lebten dort wahrscheinlich so viele Opiatsüchtige wie in Harlem oder Hongkong. Es hieß, dass es in Tophane nicht ungefährlich sei, und tatsächlich sah man auch manchmal einen Toten herumliegen, aber mir ist nie etwas Ärgeres passiert, als dass ich beim Einkaufen übers Ohr gehauen wurde. Wenn es um größere Beträge ging und die geneppten Kunden zurückkamen, vermochte der Ort sich innerhalb weniger Stunden so zu verändern, als wäre das ganze armselige Quartier eine Filmdekoration – hier war eben noch ein überfülltes Teehaus gewesen, jetzt waren die Türen verrammelt, alter Staub lag auf den Fenstern; das Kino an der Ecke spielte einen Liebesfilm und nicht mehr den Hunnenstreifen; die Hütte, in der man gelinkt worden war, war eine Schreinerwerkstatt, und statt des Toten, der unter dem Strauch an der Ecke gelegen hatte, bastelte jetzt ein Mechaniker an einem alten Ford-Taxi. Die Dealer, die man suchte, waren wie vom Erdboden verschwunden. Waren es noch dieselben Häuser? Man rieb sich die Augen, aber das half auch nichts. Wenn die Halluzination die Alltäglichkeit einer Zigarette hat, dann sind auch die Pforten

Und wenn die Grenzen der Wahrnehmung verwischen, dann verlieren auch andere Maßstäbe ihre Gültigkeit. Ede und ich entwickelten unsere eigene Masche. Sie bestand darin, einen der ahnungslosen jungen Ausländer aufzugabeln, die in immer größerer Zahl in die Stadt einfielen und sich mal eben mit einem Kilo Stoff versorgen wollten, bevor sie wieder in ihre PanAm- oder Quantas-Maschine stiegen, um an irgendeinem Campus im Mittleren Westen oder in New South Wales den erfahrenen Weltenbummler und Handelsreisenden in Sachen Haschisch zu markieren. Man traf sie überall in den Pudding-Shops und Teehäusern rund um die Blaue Moschee, blonde, braungebrannte, immer gutgelaunte Jungs und Mädchen auf Europa-Trip, die in ihren Hotelzimmern zusammenhockten, Gitarre spielten und Protestsongs sangen und schworen, nie nach Vietnam zu gehen, um zu killen. Ede und ich und die paar anderen deutschen Dauergäste am Bosporus fühlten uns dann immer wie uralte Asiaten, getränkt mit der mitleidlosen Philosophie des Opiums: Wenn du etwas hast, bekommst du es abgenommen. Wenn du nichts hast, stirbst du. Und wie alle Philosophen fanden wir, dass es nur gerecht war, der Gemeinde von unserem Wissen abzugeben – und zwar, bevor sie auf andere hörte. Passende Opfer fanden sich leicht. Wenn man an der Grenze lebt, bekommt man einen Blick für das Gepäck der Reisenden. Einer machte sich also an den Jungen oder das Pärchen ran – gefragt waren natürlich solche, die absolut non-violent und ein bisschen kopflastig wirkten – und brachte ihn ins Hotel. Das Zimmer war

Das Geschäft war immer schnell abgemacht. Beats sind absolut coole Leute, die nicht viel Zeit für den Alltagsschmus haben. Einer von uns verzog sich dann mit der Kohle – natürlich immer mit der ganzen Kohle, denn wir halfen ja bei diesen Deals praktisch nur aus Gefälligkeit –, und der andere hockte mit dem Stiesel da oben in der Beatnik-Bude mit Blick auf die Blaue Moschee und das Meer und rollte die Joints. In der Dämmerung verloren sich die Konturen der Moscheen, die Möwen flogen Arabesken um die Minarette. Die Musik aus den Teehäusern half auch. Die Konversation tröpfelte. Peace.

»Müsste er jetzt nicht allmählich kommen?«

»Was? Ah ja.«

»Ich meine, es wird allmählich spät …«

»Manchmal müssen sie warten, bis es dunkel wird.«

»Oh.«

Dann gab man ihnen ein paar Tabletten, ein bisschen speed zum Aufmöbeln, und prompt bekamen sie den gehetzten Blick, wenn unten die Verbindungstür zum Dach knarrte. Sie wurden schnell und fingen an zu reden, und je mehr sie redeten, desto mehr hatte man sie unter Kontrolle. Du kannst einem Fremden nicht erzählen, wie furchtbar

Wenn ich dann in das Hotel kam, in dem Ede ein Zimmer genommen hatte, roch es bereits nach Terpentin und Ölfarbe, und er hatte es fertiggebracht, sein Bett einzudrecken.

»Na, wie ist es gelaufen?«

»Werden wir den Typen noch mal sehn?«

»Du würdest ihn doch nie erkennen.«

Auf dem Nachttisch lag ein Klumpen Opium. Ringsum schrien die Huren. Auf Sex hatte ich selten Lust. Ich legte mich hin und schlug das Notizbuch auf mit dem Kapitel, an dem ich gerade schrieb. Der Rapidograph war frisch gefüllt. Ein neuer Beschiss, ein neues Bild, ein neues Kapitel. Was hatte Faulkner gesagt? »Ich würde meine Großmutter bestehlen, wenn es mir beim Schreiben helfen würde.« Ich wusste zwar nicht genau, wie er das gemeint hatte (man wusste nie genau, wie diese Leute das gemeint hatten), aber eins stand fest: Ich schrieb.

Dass man etwas aus seinem Leben machen muss, war mir ziemlich früh eingebleut worden. Auf der anderen Seite war da die Apathie, unter der ich anfallsweise litt wie unter den ständig wiederkehrenden Halsentzündungen, die auch nicht aufhörten, als man mir die Mandeln entfernte. Immer wieder aufflackernde melancholische Schüttelfröste beim Anblick der Kartoffelfeuer auf den öden Feldern im Herbst, der Raben, die in den Bäumen hingen, der roten Haare eines Mädchens in der Nachbarschaft. Dagegen half nur, sich ins Bett zu verziehen und zu lesen oder selbst zu schreiben. Nach zwei kurzen Flirts mit der Politik und der Religion war mir mit achtzehn klar, dass der Beruf des Schriftstellers der einzige war, in dem ich meine Apathie ausleben und vielleicht dennoch aus meinem Leben etwas machen konnte.

Allerdings waren die guten Bücher schon alle geschrieben. Sie standen in Buchhandlungen oder den eigenen Regalen, und so geriet ich zwangsläufig unter den Einfluss solcher Lebenskünstler wie Henry Miller oder Kerouac – nur wuchs ich in Frankfurt/M. 50 auf. Ehrlich schreiben konnte man doch nur über das, was man selbst aus erster Hand erfahren oder erlebt hatte, die Technik kam dann schon, wenn man es nur ernsthaft genug mit dem Schreiben

Mit den Sterbenden hatte ich allerdings Schwierigkeiten beim Schreiben, und dann wurden meine Sätze auch immer länger.

»Der Satz hört ja überhaupt nicht mehr auf«, sagte Ede. Ich las ihm gelungene Passagen gern vor. Er hatte ein türkisches Mädchen in seinem Bett, eine Ausgeflippte, die sich in der Gegend um Sultan Ahmed herumtrieb und von der Polizei und ihren reichen Eltern aus Izmir gesucht wurde. Ich fand das gar nicht cool – wir arbeiteten schließlich ohne Netz –, aber Ede war sowieso nicht mehr cool. Seine Bilder wurden immer bunter, und er sprach davon, eine Ausstellung zu machen.

»Das liegt an der Technik«, sagte ich. »Hier handelt es sich um einen Bewusstseinsstrom à la Joyce. Schon mal Ulysses gelesen?«

Die Türkin stöhnte irgendwo unter der Decke. Unsere Kerzen warfen phantastische Schatten. Ede machte eine frische Zigarette an. »Ich glaub, das liegt eher am Desoxyn«,

»Willst du vielleicht sagen, dass Joyce Desoxyn genommen hat?«

»Wahrscheinlich hat sein Hirn auch ohne Desoxyn so funktioniert.«

»Weil er eben eine bestimmte Technik erarbeitet hat.«

»Ach, Schreiber«, sagte Ede wegwerfend. »Bei euch läuft alles nur übers Hirn.« Er fluchte. Die Türkin hatte ihn gebissen. »Dagegen die Malerei – so direkt ist nicht mal die Musik.« Er machte die Zigarette aus, griff sich die Türkin und zog sie über sich. Endlich bekam sie seinen Hosenstall auf, und es konnte losgehn. Armer Ede. Sie bearbeitete ihn mit Zähnen und Klauen. Das Bett wackelte heftig, und unsere Katze flüchtete sich zu mir. Dann krähten in der Nähe die ersten Hähne, und die in Üsküdar drüben antworteten. Ein fahler Streifen Licht erschien auf der dreckigen Fensterscheibe. Die Türkin keuchte, als ob es um ihr Leben ginge. Vielleicht ging es um ihr Leben. Was war das überhaupt, das Leben? Vielleicht wusste es die Katze, aber sie zog es vor, ihr Ohr zu putzen. Mein Gott, Ede, nun komm schon. Ich überflog den letzten Satz. Er war noch viel zu kurz. Man musste alles hineinpacken, in einen Satz so wie in dieses Zimmer, wo auch alles beisammen war, auch der Tod. Aha. Tod. Der Tod fehlte noch in diesem Satz. Auf dem Weg ins Stationszimmer, wo er sich wieder am Giftschrank bedienen wollte, musste der Held also von dem manisch-depressiven Oberarzt abgefangen werden, der ihn mit in den Kühlraum nahm, wo die Leichen … genau! Etwas Vampirismus, das

Früh am Morgen mochte ich die Stadt am besten. Es war gut, noch am Leben zu sein. Der Wind, der vom Horn wehte, machte den Kopf klar. Ich ging in eine Milchstube, wo die Lastenträger und Ladenschwengel frühstückten, aß eine Schüssel süße Nudeln und trank heiße, gezuckerte Milch. Selbst die Spitzel waren um diese Zeit einfach Männer, die wieder eine Nacht überlebt hatten. Ich schlenderte zum Bahnhof Sirkeçi hinunter und wartete, bis der Zeitungsladen aufmachte. Der Zug nach Deutschland stand schon auf den Gleisen. Ich hatte keine Lust mitzufahren. Ich kaufte eine Times. Frühjahr ’68. Es sah so aus, als ob sich etwas zusammenbraute in Paris, Berlin, Prag. Ich setzte mich in das Teehaus an der Ecke und las die Zeitung. Es nahm sich ganz interessant aus. Der Ami bezog Prügel in Vietnam. Wer weiß, was die Türken davon hielten. Man hörte, dass amerikanische Seeleute abgestochen wurden, in Tophane und anderswo. Gerüchte. Hoffentlich waren die beiden bald fertig mit ihrem sexuellen Anfall. Ich wollte noch weiterschreiben. Ich hörte Schiffssirenen im Horn. Plötzlich dachte ich: Und wenn du das Ding wirklich fertigschreibst, was machst du dann damit? Schickst du dann diese Wachstuchkladden gebündelt nach Deutschland? Und an wen? Und das liest dann irgendein bedeutender Verleger und druckt es, und dafür schickt er dir Geld? Und du bezahlst dann die Schulden im Hotel und ziehst vielleicht ins Pierre

Ede fing an zu verkaufen. Seine Bilder hingen in Pudding-Shops und Hippie-Hotels, in Souvenirläden und Kebabstuben. Er machte vage Andeutungen über eine Ausstellung im Hilton. Merkwürdige Typen tauchten auf dem Dach auf – junge Türken in dreiteiligen Anzügen mit Spritzbestecken in der Westentasche, ein Deutscher mit rotem Bart, der etwas von Aufträgen in Damaskus und Amman faselte, schroffe Straßenkämpfer, die ihre an den Barrikaden des Boul’ Miche erworbenen Verletzungen vorzeigten. Wir hatten einen florierenden Kunsthandel, einen florierenden Passhandel und einen florierenden Kreis von Spinnern und Spitzeln. Sogar ein leibhaftiges Model gab ein Gastspiel mit zwei Hutschachteln. Meine Produktion kam praktisch zum Erliegen.

»Was du brauchst«, sagte Ede, »ist eine Schreibmaschine, Harry.«

»Was ich brauche«, antwortete ich, »sind ein paar Plastikvenen.«

Wenn Ede sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es auch durch. Wir fanden unten in Galata einen Laden, der gebrauchte Schreibmaschinen verkaufte. Das billigste Modell mit deutschen Typen kostete so viel, wie wir in zwei Monaten zum Leben brauchten. Wir fanden, dass es eine

Aber mit der Schreibmaschine tauchten Probleme auf, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Am Tag ging es bei uns inzwischen zu wie in einem Taubenschlag, und nachts konnte ich auch nicht gut tippen – die Leute wollten schließlich schlafen. Das Schreibpapier verschwand rapide, aber nicht beim Tippen, sondern auf dem Klo. Während Ede wie gewohnt nachts die Leinwand attackierte – er hatte etwas zugenommen und malte vorzugsweise Frauen mit enormen Brüsten –, hockte ich verdrossen in einer Ecke und blätterte in meinen Kladden.

»Du musst dir einen neuen Rhythmus zulegen«, meinte Ede. »Am besten mietest du noch ein Zimmer und richtest dir eine Art Büro ein. Und dann hältst du richtig feste Zeiten ein. Herrgott, wer schreibt denn heute noch mit der Hand? Die Leute denken doch, du führst da ein Tagebuch.«

Ich warf die Kladden zu meinen anderen Habseligkeiten.

»Warum fahren wir nicht zurück, Ede? In Europa ist Revolution, und wir hocken hier auf diesem Dach und machen in Künstler.«

»Ede, ich war schließlich Korrespondent der englischen Anarchistenzeitung Freedom in der Bundesrepublik. Die ist noch von Kropotkin gegründet worden. Du wirst mir doch nicht erzählen, dass ich nicht weiß, wann ich eine revolutionäre Situation vor mir habe.«

»Aus England hört man aber nichts, Harry.«

»Die brauchen eben etwas länger. Und außerdem kriegen wir da Heroin auf Krankenschein.«

»Du darfst dich jetzt nicht ins Bockshorn jagen lassen«, sagte Ede. »Als ich das erste Mal mit richtiger Leinwand gearbeitet habe, wollte ich am liebsten auch alles stehen- und liegenlassen. Das geht vorbei. Du musst dich einfach an die Schreibmaschine gewöhnen.«

»Soll ich mit ihr schlafen, oder wie?«

»Du könntest damit anfangen, Briefe zu schreiben. Bei den Türken ist das immer noch ein Beruf, Schreiber. Nicht Schriftsteller, sondern Schreiber. Am besten wirst du erst mal ein Schreiber. Hier leben Hunderte von Ausländern, was glaubst du, was da an Möglichkeiten besteht. Wer hat denn schon eine Schreibmaschine? Und wenn du ein guter Schreiber bist, wirst du auch ein guter Schriftsteller.«

»Che Guevara ist tot, und du erzählst mir einen solchen Blödsinn!«

»Glaub nicht, dass Che dir was anderes erzählt hätte. Gib mir mal die Tube Preußischblau.«

Am nächsten Tag hockte ich vor der verdammten

Im Sommer fielen die Franzosen und die Österreicher in Istanbul ein. Horden von Hippies aus Wien und Paris, Tirol und der Bretagne, die die intime Atmosphäre, die bisher geherrscht hatte, in ein angeblich libertäres Tohuwabohu verwandelten. Sie trieben es in aller Öffentlichkeit in den Parks, sie fingen an zu betteln, sie stahlen und betrogen ohne jedes Raffinement, sie droschen Phrasen und brachten in kürzester Zeit den allgemeinen Umgangston auf ein erbärmliches Niveau herab. Und für jeden, der nach Osten verschwand, tauchten am nächsten Tag zwei neue auf.

Es gab richtige Verhaftungswellen. Die Gerichtsurteile wurden härter. Zwanzig Jahre für ein Kilo, drei Jahre für zehn Gramm, Todesschuss für einen Amerikaner, der bei seiner Verhaftung die Knarre gezogen hatte. Die ersten Vietnam-Veteranen tauchten auf. Schwarze Kongo-Kif‌fer aus Katanga. Die Love & Peace-Saison war lange vorbei. Wir näherten uns rapide der Saison in der Hölle.

Kein Pudding-Shop kaufte mehr Bilder, und ich hatte das Schreiben endgültig eingestellt. Keine langen Sätze und auch keine Briefe für den Patron. Ein glühend heißer Sommer lag über der Stadt. Demonstrationen im Universitätsviertel. Straßensperren. Nächtliches Ausgangsverbot. In den Teehäusern lasen sie sich die Artikel über die Hippies

Aber das Dach war längst mehr als eine Unterkunft. Wir waren da oben zu Hause. Das Dach war unser Asyl. Woanders wären wir in einem Tag weg gewesen. Die Konsequenz war klar: ein Coup.

Wir ließen die Finger von den Amerikanern. Schließlich legten wir keinen Wert darauf, dass einer plötzlich den Colt hervorholte. Es fand sich niemand bis auf einen Landsmann, den wir schon länger kannten. Eine riskante Sache, aber Gefühle konnte man sich in diesem Geschäft nicht leisten, und für Bedenken war es allmählich zu spät. Wir konnten das Hotel nur noch verlassen und betreten, wenn der Patron nicht da war. Er nahm an, dass wir keine Papiere hätten, wir hatten aber noch unsere Personalausweise, die wir immer am Körper trugen. Wir organisierten den getürkten Deal, aber an dem Tag, an dem er über die Bühne ging, erwischte Ede eine zu große Dosis Desoxyn und fiel wegen totaler Paranoia aus. Es ging so gut wie alles schief. Der Junge blieb mir stundenlang auf den Fersen. Er witterte, was wir vorhatten, und wollte das Geld nicht rausrücken. Über der ganzen Stadt schien eine elektrische Spannung zu liegen wie vor einem Gewitter, das schon lange fällig ist. Statt der erwarteten Summe von 2000 oder 3000 Lira hatte ich nur knapp 1000, als ich schließlich auf der Fähre nach Karaköy stand. Noch

Das Polizeigefängnis lag in der Nähe des Bahnhofs, nicht weit von Cağaloğlu. Eine Eingangshalle mit Büros und kleinen Zellen, einer Galerie mit weiteren Büros und Zellen und der Massenzelle mit den Ausmaßen einer Turnhalle und dem Geruch eines Massengrabs. Ich musste meine Brille, den Ausweis und den Gürtel abgeben. Die zusammengefalteten Geldscheine hatte ich in der kleinen Seitentasche der Badehose, die ich anstelle einer Unterhose trug. Die Franzosen machten natürlich ein großes Geschrei, vor allem die Mädchen: »Salauds! Fascistes!« Die Wildesten bekamen eins mit dem Knüppel und wurden in abgelegene Zellen geschleppt. Wir anderen bekamen die Massenzelle.

Ich erfuhr, dass die Razzien schon mittags angefangen hatten. Mich hatten sie auf unserem Dach erwischt, gerade als ich mir den Schuss machen wollte. Ede war auch da gewesen, aber anscheinend war es ihm gelungen, irgendwie zu entwischen. Oder hatte er eine kleine Privatabmachung laufen? Von den rund 150 Typen in der Massenzelle kannte ich nur ein paar Oldtimer. Man erkannte sie an den kurzen Haaren, der fahlen Haut und daran, dass sie, statt zu lamentieren und zu protestieren, sofort anfingen, winzige Vorteile herauszuholen – von der Zeitung, um darauf zu sitzen, bis zur Nembutalkapsel, um den Cold Turkey abzufangen.

Ich saß mit angezogenen Knien so weit wie möglich von den anderen entfernt auf meiner Zeitung, die Arme um die Beine geschlungen, und starrte kurzsichtig in eine nächtliche Landschaft, die bevölkert war mit Figuren aus den Alpträumen Hieronymus Boschs. Es war, als ob alle Drogen und Gifte, die ich seit Jahren in mich hineingepumpt hatte, gleichzeitig aus meinem Stoffwechsel ausscheiden wollten und dabei um jede Pore erbarmungslos kämpften. Und wenn sie meinen nutzlosen Körper verlassen hatten, dann fuhren sie wie Vampire in den Stoffwechsel derjenigen Junkies, deren Blut sie noch bewirten konnte. Es war kein schöner Anblick, aber was mir wirklich Sorgen machte, war der Gedanke an meine Wachstuchkladden.

Die Kladden musst du haben, dachte ich, sobald das Fieber mich einen klaren Gedanken fassen ließ. Mit den Kladden kannst du vor Gericht beweisen, dass für dich die Drogen ein Auftrag waren. Ein Auftrag und eine notwendige Erfahrung. Denken Sie an all die Schriftsteller, die das Opium gerühmt haben! Glauben Sie vielleicht, Pierre Loti hätte kein Opium geraucht? Und in Istanbul ist sogar eine Straße nach ihm benannt! Übrigens geht aus diesen Heften eindeutig hervor, dass mein Roman alles andere als eine Apologie des Opiums sein soll, im Gegenteil! Eine drastische Warnung! Ein Report aus dem Abgrund! Hohes Gericht! Gerade die Türkei als Opiumproduzent sollte meine schriftstellerische Mission also nicht behindern oder gar unter Strafe stellen, sondern nach Kräften fördern! Ich denke da an einen

Plötzlich wusste ich, dass mir hier nichts passieren würde. Ich konnte sogar aufstehen und mich bewegen. Ich sah, wie dreckig es den anderen ging. Einige schienen im Sterben zu liegen. Ein Franzose, dessen Arme nur aus offenen, vereiterten Wunden bestanden, schien sich umbringen zu wollen, indem er mit dem Kopf ständig gegen die Mauer stieß. Seine Freunde versuchten, ihn davon abzuhalten, aber dann wimmerte er so entsetzlich, dass sie es aufgaben. Schließlich holten die Türken die Wache. Sie schleppten ihn weg. Andere versuchten, sich mit Sex darüber wegzuhelfen. Das sah auch nicht besser aus. Dazwischen die stumm leidenden Oldtimer, die flüsternd mit den Türken verhandelten und mit den Wachen. Ab und zu fingen die Französinnen in den Zellen auf der Galerie wieder an, obszöne Sprüche zu kreischen. Dann griffen die Bullen sich ihre Schlagstöcke und verpassten ihnen eine Abreibung. Und die ganze Zeit liefen Verhöre. Ein paar smarte Detektive in gutsitzenden Anzügen ließen sich die Zelle aufsperren, griffen sich die Gesuchten heraus, fesselten sie und führten sie ab. Keiner von ihnen kam wieder. Die Bullen schienen eine Liste zu haben. Es war die längste Nacht meines Lebens, aber ich hatte nie das Gefühl, ich könnte auch auf der Liste stehen. Stattdessen machte ich die Entdeckung, dass es sich auszahlt, wenn man in solchen Nächten seine Psyche mit Mythen beschäftigt.

 

Am nächsten Mittag holten sie uns raus und verfrachteten uns in zwei Busse. Wilde Spekulationen setzten ein.

»Sie laden jeden an seinem Hotel ab!«

»Sie deportieren uns auf die Inseln!«

»Passt nur auf: Sie fahren uns vor die Stadt und erschießen uns!«

Einem der Oldtimer war es gelungen, ein Fläschchen Opiumtinktur aufzutreiben, und ich kaufte ihm einen Teil davon ab. Wir hatten etwas Wasser dabei und genügend Zigaretten, und ich genoss die lange Busfahrt bis zur Grenze. Nach dem langen heißen Sommer war die Landschaft ausgebrannt. Staubschleier trieben über ausgetrockneten Flussbetten. Gelbe Kürbispyramiden vor den Tankstellen und Teehäusern. Manchmal ein Streifen Meer, das flimmerte wie eine Fata Morgana. Die überfüllten Busse an den Rastplätzen der kleinen, geduckten Dörfer, die Kinder, die süße Kringel und Limonade verkauften, die Bauern mit ihren

Sie sperrten uns in den Bahnhof von Edirne und überließen es den Grenzern, was mit uns geschah. Die Collage zerfiel. Typen lagen auf dem Boden und wichsten. Andere versuchten, ihren Sabber zu fixen. Ein paar coole Kanadier hatten ihr ganzes Gepäck von einem Konsulatsangehörigen in den Knast bringen lassen und verteilten jetzt Haschischplatten an den Bahnhofsvorstand, die Grenzpolizei, den Zoll. Ich glaube, es blieb ihnen immer noch genug. Die einzige Sprache, die hier noch verstanden wurde, war Geld. Sie verfrachteten uns in einen Zug, der uns nach Bulgarien bringen sollte, aber an der bulgarischen Grenzstation wurde der Zug angehalten und zurückgeschickt. Nachdem das Opium alle war, kaufte ich eine Flasche billigen Kognak, und irgendwann am nächsten Morgen erreichte ich Saloniki. Ich hatte noch meinen Ausweis, etwa 500 türkische Lira, meine Brille und die Fetzen, die ich auf dem Leib trug, aber mein Roman war weg. Ich versprach mir, dass ich den nächsten zu Ende schreiben würde, und machte mich auf den Weg nach Deutschland. Als ich eine Woche später bei meinen Eltern klingelte, machte meine Mutter auf. Ich sah, wie sie erschrak. Ich wog noch 45 Kilo.

Wir kamen um acht Uhr morgens in Berlin-Tempelhof an. Es war Anfang Dezember, und der Himmel war eine Bleiplatte, an der Eiszapfen hingen. Caspar sagte, wir hätten es nicht weit. Er war ein blonder Adonis mit einem hinterhältig kalten Lächeln, das für den Winter wie geschaffen war. Er war dreiundzwanzig und behauptete, Anarchist zu sein. Wir fuhren mit der U-Bahn nach Schöneberg. Caspar reiste ohne Gepäck. Ich hatte einen schweren Wintermantel an und einen Koffer dabei, der randvoll war mit Büchern, Pullovern, Socken, Unterwäsche, Notizheften, Pamphleten, Schals, Wollhandschuhen, Schallplatten, Medikamenten aus Krankenhausbeständen und Manuskripten. Wir waren auf dem Weg in den Berliner Underground, er, um Revolution zu machen, ich, um Material für meinen neuen Roman zu sammeln. Ich hütete mich natürlich, das zu erwähnen. Ich war auch Anarchist.

Die Kommune lag nicht weit von der U-Bahn, die auf dieser Strecke eine Hochbahn war. Eine verschlafene junge Frau machte die Tür auf. Wir waren angemeldet und durften reinkommen. Mir schien es kaum wärmer als draußen zu sein, wo tote Tauben auf den Schneehaufen lagen. Die Mitglieder der Kommune steckten unter Decken, Mänteln und Kissen auf einem großen Matratzenlager. Trotz des

»Wir haben gerade beschlossen, dass wir jetzt alle zusammen schlafen«, erklärte Sonja, die uns aufgemacht hatte. Sie schien die Älteste und so etwas wie die Anführerin der Kommune zu sein. Sie war auch die Hübscheste. »Sonst werden wir diesen bürgerlichen Scheiß nie los«, fügte sie hinzu. Ihr Lächeln konnte vieles bedeuten.

Caspar nickte nur und vertiefte sich schon in einen Stadtplan. Er gab den beinharten Aktionisten, nur an Taten interessiert. »Wir brauchen hier nur vorübergehend eine Unterkunft«, erklärte er. »Eine Basis.« Er sah sich bedeutungsvoll um.

»Das müssen wir aber vorher noch ausdiskutieren«, ließ sich ein Kommunarde vernehmen.

»Mit Diskutieren kommen wir nicht mehr weiter«, sagte Caspar.

»Ihr könnt hier doch nicht einfach so reinschneien und uns vor euren Karren spannen«, gab der Kommunarde zurück.

»Wenn wir Aktionen machen, dann machen wir sie gemeinsam. Den individualistischen Scheiß haben wir hier aufgehoben.«

Da bist du ja richtig, dachte ich. Vielleicht wärst du besser in die andere Richtung, damals an der Grenze. Auf dem Dach wäre es jetzt zwar auch nicht viel wärmer, aber,

Das Frühstück war die Hauptmahlzeit des Tages. Es bestand aus Tee, Kaffee, Kakao, Fruchtjoghurt, Schrippen, Margarine, Aufschnitt, Quark, Schnittkäse, vielleicht etwas Fisch oder kaltem Braten, Gurken, Obst, Schokolade und, falls vorhanden, einigen Joints. Ansonsten wurde Tabak Marke »Schwarzer Krauser« geraucht, und zwar mit »Abadie«-Blättchen gedreht. Wichtig waren auch die Zeitungen. Die Boulevardpresse wurde bevorzugt, für gehobenere Ansprüche gab es gelegentlich eine Frankfurter Rundschau. Die Kommune bestand zwar überwiegend aus Ex-Studenten oder Studenten, aber das Niveau der politischen Diskussion bewegte sich nicht über dem eines vage linken Stammtischs. Revolution schien etwas zu sein, das man zuerst in sich machen musste, in sich, für sich, um sich herum, vor allem sexuell, aber auch psychisch und überhaupt ständig, auch beim Geschirrspülen oder Scheißen. Allmählich fragte ich mich, ob ich in der Türkei nicht mehr zurückgelassen hatte als meine Kladden. Dann kamen sie auf Drogen zu sprechen, und ich wusste, dass ich auch für ihre Psyche den Schlüssel hatte. Er hieß: das neue Bewusstsein. Ich brauchte den Schlüssel nur umzudrehen.

Die Tische waren alle an der Schmalseite zusammengerückt, und auf den Tischen lagen nebeneinander Stapel von bedruckten Blättern. Es waren die Seiten 118 bis 148 von Wilhelm Reichs Funktion des Orgasmus, fotokopiert. Wir machten einen Raubdruck. Jetzt mussten die Blätter zusammengetragen werden, und dazu musste man im Gänsemarsch um die Tische, die Blätter grapschen und den Stapel auf einen Extratisch legen. Dagegen war das Ausfegen einer Fabrikhalle eine geradezu künstlerische Tätigkeit. Das Stapeln von Funktion des Orgasmus erinnerte mich an Strafarbeiten in der Schule. Schreib 100 x den Satz: Ich will es nie wieder tun.

»Ich finde, wir sollten lieber darüber sprechen, warum ich keinen Orgasmus bekomme«, sagte Hilde. Sie war ein junges Ding aus dem Hannoverschen und hatte ein Semester Pädagogik studiert, bevor ihr Freund mit ihr in die Kommune zog. »Seit wir alle zusammen schlafen, habe ich gar nichts mehr gehabt.«

»Wir müssen das jetzt aber durchziehn«, meinte Baby. Baby machte auf schwul, schlief aber mit Sonja. Er sah zwar aus wie ein Mädchen, war aber der einzige Mann in der Kommune gewesen, bevor Caspar und ich auftauchten. »Wenn wir morgen nicht mindestens 100 Stück

Das Gas war schon abgestellt.

»Und ich hab gedacht, in einer Kommune wird der Leistungsdruck aufgehoben«, sagte Hilde. »Dabei ist für mich manchmal schon das Frühstück ein Leistungsdruck. Wer geht mit ins Go?«

Wir gingen alle. Im Mister Go gab es heißen Rock und eine Light-Show. Beliebte Motive waren Schnappschüsse aus dem Krieg in Vietnam. Da flackerten GIs beim Angriff und beim Sterben über die Wände, brennende Mönche, Vietcong, die hingerichtet wurden. Dazu eine Musik, die mir neu war: die Doors, Jefferson Airplane, Cream, Jimi Hendrix. Dealer mit wallenden Haaren und einer Mao-Plakette an ihrem indischen Hemd, Catchertypen mit Ohrringen und Moschusduft, ätherische Grazien aus Siemensstadt oder Neheim-Hüsten, die ihre Friseurlehre mit freier Liebe oder einer Bombe vertauschen wollten und stattdessen in einer Kreuzberger Kellerwohnung mit einer rostigen Kanüle im Arm aufwachten, futuristische Politkommissare mit weißen Nyltesthemden und den Gesammelten Werken Enver Hodschas und kompletten Erschießungslisten im Kopf, und Straßenkids auf der Suche nach ihrem ersten Flash drängten sich unter der Light-Show mit ihren Memos von der asiatischen Revolution, und die Doors versuchten, dem Kind einen Namen zu geben: »Father, I want to kill you.« Wenn man rauskam, standen die Streifenwagen an der Ecke, und ihre rotierenden Blaulichter schienen wie ein höhnischer Kommentar zu den explodierenden Collagen in deinem Kopf.

»Wie – was will ich mal machen?«

Vier Uhr früh. Schneeflocken schmolzen an den Neonlichtern in der Potsdamer Straße. Aus einer Bierschwemme drang das Wunschlied der schweigenden Mehrheit: Heintjes »Mama«.

»Ich meine, was machst du später mal?«

»Später gibt’s nicht mehr.«

»Einfach so?«

»Später ist abgeschafft. Es gibt nur noch jetzt.«

»Und in zehn Jahren?«

»In zehn Jahren ist immer noch jetzt.«

»Du meinst, die Zeit bleibt stehen?«

»Harry, du törnst mich ab.«

Ich setzte mich in das Zimmer mit dem Erker, von wo aus ich die Hochbahn beobachten konnte, die roten Lichter der Züge, wenn sie unterm Nollendorfplatz verschwanden oder auftauchten.

Ich schluckte ein paar Rosimon-Neu und nahm mir meine Gedichte vor. Ich schrieb wieder Gedichte, aber nicht mehr das lyrische Zeug aus der Schulzeit. Da war manchmal schon Istanbul drin und die langen Prosazeilen aus meinen Wachstuchkladden. Ich schrieb jede Nacht vier oder fünf von den Dingern und las sie dann Manni vor, einem jungen Typ, der vor irgendetwas in Braunschweig davongelaufen war. Er hatte lange Haare, enge Jeans, Wildlederstiefel, eine Sonnenbrille und immer etwas Shit und flatterte um die Kommune wie eine Motte ums Licht. Wir rauchten, er legte Platten auf, ich schrieb. Dann las ich es ihm vor.

»Yeah, man, yeah.«

»Manni, wie siehst du die Sache?«

»Welche Sache, Mann?«

»Ich meine, was willst du mal machen?«

»Oh, das meinst du. Du, das ergibt sich schon.«

»Du hast keine Pläne, oder?«

»Also, ich würde ja hier gerne einziehen. Ich finde, das ist doch ausbaufähig hier.«

»Ja, willst du die Funktion des Orgasmus verkaufen?«

»Na ja, Kohle muss sein. Später wird sie abgeschafft, klar, aber jetzt muss sie noch sein. Aber Bücherverkaufen ist nicht so mein Bier, ich bin mehr praktisch veranlagt, weißt du.«

»Ja, was stellst du dir denn da vor?«

»Tja, ich seh da Möglichkeiten im Trödel. Trödel geht jetzt ab wie Lucy, weißt du. Ja, und dann Acid, klar. Wenn die erst mal alle auf dem Trip waren, Mann! Dann brauchst du doch diese ganze Politik nicht mehr.«

»Bist du sicher?«

»Ich seh das so: Acid wird die Welt mehr verändern als Mao Tse-tung, Alter.«

»Aber wie siehst du das für dich selbst, Manni? Was wird aus dir?«

»Be cool, ist mein Motto. Hier lässt sich sicher was machen, ich hab auch schon mit Sonja das gecheckt. Und wenn nicht, ich hab da diesen Kumpel in Braunschweig, wir wollen mal sehn, dass wir nach Indien machen. Ich glaub, da kriegst du erst die echte Perspektive.«

»In Indien?«

Manni legte eine Platte auf. Vanilla Fudge. Meine Finger waren steif vor Kälte. Und die roten Lichter rollten in den Tag.

Die Kommune I hielt Silvester für den richtigen Zeitpunkt, um auf Trip zu gehn, und wir bekamen auch davon ab. Erst als nach fünf Tagen immer noch niemand geschlafen hatte, dämmerte es uns, dass es kein Acid, sondern STP gewesen war, eine Droge direkt aus den Laboratorien des Teufels. Sie verband die halluzinatorische Wirkung des LSD mit dem brachialen Aufputscheffekt der Amphetamine. Vielleicht das probate Mittel, um einer abgeschlafften Nudisten-Party in Hollywood neue Perspektiven zu eröffnen, aber ziemlich riskante Sache, um mitten in der silvesterfeiernden Frontstadt die ersten Weihen des Acid-Zeitalters zu empfangen. Und als die ausgebrannten Hülsen der Kracher und Raketen längst fortgeräumt waren, knallten in den Kommunen immer noch Sprengstoff‌ladungen und rissen Löcher in die Gehirne.

Nackte auf den Treppen. Fünf Tage und fünf Nächte das weiße Album der Beatles gehört und dann glasklar herausgefunden, dass Revolution Nr. 9 genau das meint: Revolution Nr. 9. 1789, 1830, 1848, 1871, 1917, 1918/1919, 1949, 1959, 1969: Die Blinden werden sehen und die Stummen werden singen. While my guitar gently weeps. Nie mehr schlafen. Zweiundzwanzig Jahre das Du gesucht, und dann definitiv festgestellt, dass es nur ein Ich gibt, und das trägt schmutzige

 

Eine Amerikanerin war aufgetaucht in einem schmutzigen Sari, im neunten Monat schwanger. Irgendjemand hatte ihr auf Formentera diese Adresse gegeben. Go to Berlin, it’s groovy there. Revolution, you know. Sie hatte seit einem Jahr LSD geschluckt, und jetzt hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, das Kind in einer Kommune zur Welt zu bringen. Auf einem Trip, natürlich. Sie hatte noch einen ganzen Streifen Löschpapier. Caspar und ich verfrachteten sie in eine Klinik in Mariendorf, und da lag sie nun zwischen den Frauen der Postsekretäre und BVG-Schaffner, brabbelte Mantras und wollte ihr Löschpapier. Wir schickten ein Telegramm an ihren Vater in Chicago, und ein paar Tage später saßen wir