Elementa
Heilende Rache
Daniela Kappel
Impressum
Texte: © Copyright by Daniela Kappel
Umschlag: © Copyright by Wolkenart –
Marie-Katharina Wölk,
www.wolkenart.com
Verlag: Daniela Kappel
Hauptstraße 25
2542 Kottingbrunn
dala.kappel@gmail.com
Korrektorat: Roswitha Uhlirsch
www.spreadandread.de
Die stahlbewehrten Absätze ihrer Stiefel klackerten laut über den dunklen Steinboden. Umgeben von nackten Betonwänden und kaltem Neonlicht verstärkte sich ihr beklemmendes Gefühl. Sie fröstelte. Die lederne Kampfmontur der Auserwählten konnte sie nicht wärmen.
Kaum zu glauben, dass diese Hallen und endlosen Gänge, die kleinen Schlafkojen und die unzähligen Waffenlager ihre neue Heimat waren. Früher hatte sie ein kuscheliges Bett in einem kleinen Häuschen und eine Familie gehabt. Mittlerweile waren die gesichtslosen Gestalten in Schwarz dazu geworden.
Der Wachposten vor dem Atrium nickte ihr grüßend zu und öffnete die schwere Eisentür. Schnellen Schrittes durchquerte sie den Saal und blieb mit leicht gesenktem Kopf vor dem großen Steintisch stehen.
„Ah, da ist sie ja, unsere Iris“, begrüßte Meron sie, einer der Vier. Sie senkte den Kopf noch etwas tiefer.
„Ein durchaus unterhaltsamer Film, den du uns hast zukommen lassen“, meinte Regus und drückte eine Taste der Fernbedienung in seiner Hand. Hinter dem Steintisch flackerte ein großer Bildschirm auf. Regus betätigte eine weitere Taste und an Stelle des flimmernden Bildes trat das forsche Gesicht von Roxanna.
Iris hatte das Band schon unzählige Male gesehen. Die Bilder von der Folter ihrer Tochter. Darias verzweifelte Schmerzensschreie. Der ungläubige Ausdruck in Darias Augen, als Iris ihr das Messer in den Bauch gerammt hatte, brachte den stämmigen Brutus zum Lachen. Iris begann vor Wut zu zittern und ballte ihre Hände zu Fäusten.
„Wer wird sich denn da gleich aufregen?“, fragte Benedik, das vierte Mitglied des Ältestenrates der Auserwählten, mit zuckersüßer Stimme.
„Waren wir nicht überaus gnädig?“, wollte Regus aufgebracht wissen.
Brutus nickte eifrig und ergänzte: „Wir hätten dich und deine Brut auch einfach umbringen können. Stattdessen haben wir dir die Chance gegeben, dich uns anzuschließen, und dir sogar deinen größten Herzenswunsch erfüllt!“
Als Iris den Kopf hob und in die kalten, berechnenden Augen der Vier blickte, fiel es ihr schwer, die Fassade der treuen Anhängerin aufrechtzuerhalten. „Natürlich, ihr wart äußerst gnädig! Ich danke euch abermals für die Chance, mich als würdig zu erweisen. Aber sagt selbst, habe ich nicht jeden Auftrag für euch erledigt? Habe ich mich nicht schon hunderte Male erkenntlich gezeigt? Und habe ich nicht auch diese Sache zu eurer Zufriedenheit beendet?“, wollte Iris angespannt wissen.
„Aber ja, das hast du“, begann Meron. „Du weißt aber auch, wirklich zufrieden wären wir dann, wenn dieser Abschaum, den du Tochter nennst, endgültig beseitigt wäre. Aber auch wir sind keine Unmenschen. Auch wir haben Kinder.“
„Zahllose Kinder“, ergänzte Regus.
Iris verzog unwillkürlich das Gesicht, was den Vieren zum Glück verborgen blieb. Ja, sie hatten unzählige Kinder. Jeder der Vier trug eines der Elemente und sie sorgten am liebsten höchstpersönlich dafür, dass die Blutlinien rein gehalten wurden.
„Darum zwingen wir die Unsrigen nur ungern und nur in äußerst drastischen Fällen dazu, ihr eigen Fleisch und Blut zu töten. Doch was in diesem Fall von größter Bedeutung ist, Iris, hast du weitere Informationen für uns?“, fragte Meron mit einem gönnerhaften Lächeln.
Iris öffnete den Reißverschluss ihrer Lederjacke, holte den Umschlag hervor und legte ihn vor Meron auf die blank polierte Onyxplatte.
Nachdem die Obersten die Unterlagen gesichtet hatten, nickte Regus zufrieden. „In der Tat. Diese Anomalie wird niemals die Prophezeiung erfüllen. Du hast die Aufgabe erledigt, darum versichern wir dir, deine Tochter darf am Leben bleiben.“
Iris atmete erleichtert aus und wollte sich schon verabschieden, als Brutus erneut das Wort an sie richtete. „Wir haben einiges über die anderen Personen auf dem Videoband in Erfahrung gebracht. Es handelt sich dabei um Angehörige der Terreslinie.“
Mit einem Keuchen riss Iris die Augen auf.
Benedik lachte schallend. „Ja, meine Liebe, auch wir waren verblüfft. Natürlich wirft das die Frage auf, was gerade der Terresclan mit einer Anomalie zu schaffen hat“, sagte er erregt.
„Nehmt ihr an, dass die Terreslinie nach Amalia eine weitere Anomalie hervorgebracht hat?“, wollte Iris ungläubig wissen.
„Nun, wer weiß. Immerhin ist sie die Mutter beziehungsweise Großmutter der Männer, die wir auf diesem Videoband unerbittlich für deine Daria haben kämpfen sehen“, erläuterte Meron angespannt.
„Es ist nicht auszuschließen, dass hinter der ganzen Sache mehr steckt“, ergänzte Regus.
Benedik musterte Iris eingehend. „Du wirst es für uns herausfinden“, sagte er zu ihr.
„Und wenn einer von ihnen wirklich eine weitere Anomalie ist, weißt du ja, was du zu tun hast! Diesmal gibt es keine Gnade“, fügte Brutus mit einem grimmigen Lächeln hinzu.
Daria öffnete blinzelnd die Augen. Das warme Licht der untergehenden Spätsommersonne blendete sie. Doch sie wollte unbedingt den rot-goldenen Sonnenuntergang mitansehen. Gerade brach sich das Licht in Vincents Haar und ließ die dunklen Strähnen kupfern aufflammen. Wie schön es war, einfach hier mit ihm am See zu liegen, Sonne zu tanken und sich der beruhigenden Aura der glitzernden Wasseroberfläche hinzugeben.
Seit Daria ihre Angst vor dem Wasser hinter sich gelassen hatte, kam sie, sooft es ging, hierher, um auszuspannen und Ruhe zu finden.
Vincent, der seinen Kopf auf Darias Bauch gelegt hatte, verlagerte das Gewicht und Daria fühlte einen unangenehmen Zug an ihren Narben. Das taube Kribbeln der längst verheilten Wunden rief die quälenden Gedanken wach. Die Verletzung hatte ihr Leben in eine Richtung gelenkt, die Daria mehr als nur schmerzte. Sie hatte ihr die Wahl genommen. Zwar verstand sie mittlerweile, warum ihre Mutter ihr das angetan hatte: schlichtweg um ihr Leben zu retten.
Doch es änderte nichts an der Tatsache, dass Daria sich deshalb schlecht fühlte. Wie ein Krüppel. Unvollständig. Unfähig. Nutzlos. Es war eine Sache, dass sie nie würde Kinder bekommen können. Nie eine richtige Familie mit Vincent gründen konnte. Was sie aber viel mehr mitnahm, war, dass sie nun nicht mehr Teil der Prophezeiung sein konnte. Ja, sie hatte sich, bevor das alles passiert war, dagegen ausgesprochen. Damals war sie der festen Überzeugung gewesen, die Prophezeiung um keinen Preis erfüllen zu wollen. Der Gedanke, den Elementaren zu gebären, war äußerst befremdlich für Daria gewesen. Doch nun, da sie sich nicht mehr aktiv dafür oder dagegen entscheiden konnte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als unversehrt zu sein.
Darias Hand in Vincents war weich und feucht. Sie schwitzte unter den heißen Strahlen der untergehenden Sonne.
Ein Bild zuckte unvermittelt durch Vincents Kopf. Daria angekettet, völlig schweißgebadet, mit einem zugeschwollenen Auge und der aufgeplatzten Lippe. Er kniff die Augen fest zusammen. Es ist vorbei, sagte er sich immer wieder im Geiste vor wie ein Mantra. Doch war es das wirklich? Würde er nun sein Leben unbehelligt mit Daria weiterführen können? So sehr er die Tage mit Daria genoss, nun da diese elende Prophezeiung nicht mehr zwischen ihnen stand, in den Nächten, wenn er alleine wach lag und an sie dachte, fürchtete er, die Auserwählten könnten erneut angreifen. Der Hauptgrund, warum er mit dieser allgegenwärtigen Angst keinen Frieden schließen konnte, war diese Frau. Sie war offenkundig eine der Auserwählten gewesen. Doch warum hatte sie Daria und ihn dann nicht getötet? Warum hatte sie Daria lediglich verletzt?
Vincent war sich absolut sicher, dass Daria die Frau erkannt hatte. Aber sie weigerte sich strikt es zuzugeben. Sie behauptete steif und fest, die Frau noch nie zuvor gesehen zu haben. Vincent konnte einfach nicht verstehen, warum Daria ihm nicht die Wahrheit sagte. Weshalb nur belog sie ihn? Vertraute sie ihm etwa nicht genug, um ihr Geheimnis mit ihm zu teilen?
Von einer plötzlichen Sehnsucht ergriffen richtete Vincent sich auf und küsste Daria. Zärtlich streichelte er ihre Wange, legte seine Hand dann um ihre Taille und zog sie fest an sich. Sanft fuhr er ihr über den Bauch und wollte gerade ihr T-Shirt hochziehen, als Daria sich abrupt von ihm löste.
Mit einem unergründlichen Ausdruck in ihrem erhitzten Gesicht setzte sie sich auf und zog die Beine an.
„Was ist? Habe ich etwas falsch gemacht?“, wollte Vincent verunsichert wissen.
„Ja, … ich meine nein, eigentlich nicht. Es ist nur, du weißt schon. Ich möchte nicht, dass du meine Narben anfasst“, gab Daria kleinlaut zu.
Vincent musterte sie mit einem derart intensiven Blick, dass Daria noch mehr ins Schwitzen kam. Dann lächelte er sie verschmitzt an, packte ihre Beine an den Fußgelenken und zog daran, bis sie ausgestreckt vor ihm lagen. „Du weißt, dass ich dich über alles liebe?“, fragte er.
Daria nickte und erwiderte sein Lächeln.
„Gut. Dann weißt du auch, dass ich deinen Körper liebe, genauso wie er ist. Daran können Narben nichts ändern!“, meinte er sanft und zog Daria das T-Shirt über den Kopf. Dann fuhr er die wulstige Linie, die von Darias Bauchnabel bis knapp über den Rand ihrer Bikinihose reichte, mit dem Finger nach. Dabei verspürte er plötzlich das vertraute Ziehen im Arm. Es verwirrte ihn, denn dieses Gefühl hatte er eigentlich nur, wenn er seine Erdkräfte einsetzte. Er ignorierte das Ziehen und küsste die zweite Narbe auf Darias Bauch. Diese war kleiner und stand schräg von der anderen ab. Sie war nicht bei der Operation entstanden, sondern stammte von einem Messer. Verbissen versuchte Vincent, die aufkommenden Bilder abzuschütteln. Als er nach oben und in Darias eisblaue Augen blickte, läutete ihr Telefon.
Sie drehte sich halb um und kramte das laut klingelnde Handy aus der Badetasche. „Ja?“, fragte Daria kichernd, weil Vincent sie neckisch an den Zehen kitzelte.
„Hi, Süße“, begrüßte Izzy sie. „Na, ihr habt offenbar Spaß zusammen. Störe ich etwa gerade?“
Daria trat leicht nach Vincent, damit er endlich aufhörte, sie zu kitzeln, und meinte an Izzy gewandt: „Nein, gar nicht.“
„Gut, denn ich wollte euch erinnern, dass wir uns heute um neun im Club treffen. Ich hoffe, ihr seid pünktlich! Immerhin ist heute der letzte Ferientag und bevor wir morgen ins Abschlussjahr starten, müssen wir noch einmal ordentlich auf den Putz hauen!“
„Wird gemacht“, versicherte Daria und verabschiedete sich grinsend von Izzy.
„Was meinst du, sollen wir uns noch schnell abkühlen, bevor wir losfahren?“, wollte Vincent wissen.
Daria stimmte zu und watete mit ihm in den kühlen See. Vincent schwamm los, doch Daria begnügte sich damit, im Seichten zu bleiben, wo sie ohne Probleme stehen konnte. Das kühle Wasser genießend blickte sie sich gedankenverloren um. Aus den Augenwinkeln meinte sie, eine Bewegung an der Baumreihe am Ufer gesehen zu haben. Doch als sie ihren Blick über den Waldrand schweifen ließ, konnte sie dort nichts Ungewöhnliches entdecken.
Der wummernde Bass drang Daria tief in die Knochen. Sie schritt den langen, in schummriges Licht getauchten Gang entlang, der sie direkt in das Herz des Clubs führte.
Vincents Hand in ihrer war weich und warm. Ein angenehmes Gefühl, an das sie sich in den letzten Wochen gewöhnt hatte und das sie nicht mehr missen wollte. Es fühlte sich richtig an. Mehr als das. Als wäre sie nur ganz, wenn sie in seiner Nähe war, ihn berührte.
Kurz bevor sie in das bunt zuckende Gewirr aus Scheinwerferlicht traten, drehte sich Vincent halb zu ihr um. Er musterte ihre leicht verkniffenen Züge. „Was ist los mit dir?“, wollte er wissen.
Daria bemühte sich, sein Lächeln zu erwidern. „Ich musste an unseren ersten Besuch hier denken“, sagte sie gerade laut genug, damit Vincent ihre Stimme über die immer lauter werdende Musik hinweg hören konnte. Er drückte zaghaft ihre Hand.
„Als wir das letzte Mal hier waren, hast du mit einem anderen Mädchen getanzt“, stellte sie verhalten fest.
Er grinste spöttisch.
Daria stieg die Zornesröte ins Gesicht. Lachte er sie etwa aus? Sie war drauf und dran ihre Hand wegzuziehen, doch Vincent hielt sie eisern fest und drehte sie sanft zu sich um. Geduldig wartete er, bis sie ihren Blick hob und ihm in die Augen sah.
„Das letzte Mal, als wir hier waren, …“, erklärte er mit sanfter Stimme, „… habe ich mich endgültig in dich verliebt.“
Dieses Geständnis machte Daria verlegen, aber auch unendlich glücklich. Nun war ihr Lächeln echt.
Gemeinsam durchquerten sie die große Halle auf der Suche nach Izzy und den anderen.
Am hintersten Ende der langen Bar, die sich wie eine Schlange durch den Club zog, erkannte Daria den altbekannten Rotschopf.
Vincent winkte Ben zu, der sie ebenfalls gerade entdeckt hatte. Die beiden bahnten sich einen Weg durch die tanzende Menge, bis sie endlich bei den anderen angelangt waren.
Ben und Izzy sahen alles andere als ausgelassen und vergnügt aus.
Nachdem sie einander begrüßt hatten, musterte Daria Izzy und zog fragend die Brauen hoch.
Izzy verdrehte genervt die Augen und zeigte hinter sich.
Da erst sah Daria Lea.
Ihr normalerweise perfekt frisiertes Haar war völlig zerzaust. Kein Wunder, denn Lea knutschte eng umschlungen und der Junge, dessen Gesicht Daria nicht sehen konnte, fuhr ihr dabei unablässig durch die Haare.
Verblüfft zog Daria die Augenbrauen noch ein Stück höher. So etwas hatte sie von der strengen Lea, der die Keine-Liebschaften-Regel ihrer Mutter immer wichtig gewesen war, nicht erwartet.
Izzy nickte wissend.
„Wer ist der …?“, begann Daria mit erhobener Stimme, damit Izzy sie trotz der lauten Musik hören konnte.
„Der Junge?“, unterbrach Izzy sie grimmig. „Dreimal darfst du raten!“
Daria schaute noch einmal zu dem sich innig umarmenden Paar und da erkannte sie ihn. Jonas, Izzys Verabredung vom letzten Schulball. „Oh, Mann“, stöhnte Daria und meinte dann noch etwas lauter: „Tut mir leid, Izzy!“
Diese zuckte mit den Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung. Doch daran, wie sie tunlichst vermied, Lea und Jonas anzusehen, erkannte Daria, dass es Izzy keineswegs egal war.
Auch Ben, der sich gerade mit Vincent unterhalten hatte und nun Daria leicht verkniffen anlächelte, sah gar nicht zufrieden mit der Gesamtsituation aus.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Daria sanft. Sie hoffte inständig, dass nicht auch noch er Jungsprobleme hatte.
Ben sah gequält und genervt zugleich aus. Ohne etwas zu erwidern, machte er einen großen Schritt zur Seite und gab damit den Blick auf jemanden frei, der hinter ihm auf einem Barhocker saß.
Es handelte sich um einen schlaksigen Jungen mit hellem Haar, der unruhig zur Musik wippte. Seine Augen waren von einer großen Sonnenbrille mit spiegelnden Gläsern verdeckt, die in seinem schmalen Gesicht völlig fehl am Platz wirkte. Mit gesenktem Kopf rutschte er angespannt auf dem grauen Ledersitz herum.
„Das ist Liam, mein Cousin“, stellte ihn Ben kopfschüttelnd vor.
Daria sah von dem dürren Burschen, der sich sichtlich unwohl fühlte, zu Ben.
„Was ist mit ihm?“, wollte Vincent wissen. Auch er schien den Eindruck zu haben, dass mit Liam etwas nicht stimmte.
„Lange Geschichte! Er sollte eigentlich gar nicht hier sein, doch er wollte partout nicht zuhause bleiben. Selbst schuld!“, blaffte der sonst so sanfte Ben und sah seinen Cousin tadelnd an.
In diesem Moment hob der Junge den Kopf und blickte direkt in Darias Richtung. Als hätte ihn jemand heftig geschubst, taumelte er auf dem Barhocker nach hinten und krallte sich gerade noch rechtzeitig an der Theke fest, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Mit zittrigen Händen fuhr er sich durch sein ohnehin schon strubbeliges Haar, bevor er sich die Sonnenbrille mit einem Ruck vom Kopf riss. Das blasse Gesicht mit den hohen Wangenknochen wurde von den Scheinwerfern in buntes Licht getaucht.
Doch das nahm Daria nur am Rande wahr. Sie starrte unablässig in Liams stechende Augen. Eines so dunkel, dass sich die Iris nicht von der Pupille abzuheben schien. Das andere von einem zarten Blau wie ein wolkenloser Winterhimmel. Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, starrten sie diese ungleichen Augen an und wurden dabei immer größer. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf Liams blassen Gesicht, gefolgt von einem breiten Grinsen.
„Ist er auf Drogen, Ben?“, fragte Vincent vorwurfsvoll.
„Was? Nein!“, bekräftigte dieser. „Er ist … er muss jetzt einfach nach Hause. Entschuldigt uns!“, grummelte Ben und zog Liam mit einem unsanften Ruck von dem Barhocker.
Beim Vorbeigehen drehte Liam seinen Kopf immer weiter, um Daria und Vincent so lange wie möglich ansehen zu können. Doch schon einen Augenblick später wurden Ben und er von der tanzenden Menge verschluckt und waren außer Sicht.
Daria ließ der verblüffte Ausdruck in Liams schmalem Gesicht nicht mehr los. Er war ihr auf unangenehme Weise vertraut. Ein anderes Gesicht zuckte durch ihren Gedanken. Das nur kurz aufflackernde Bild eines bärtigen Mannes, dessen schmutziges Antlitz von einer fleckigen Kapuze halb verdeckt war. Der Bettler, dem sie damals vor einem Supermarkt begegnet war.
Schnellen Schrittes stöckelte Maria den menschenleeren Gehweg entlang. Konzentriert blickte sie auf ihre Armbanduhr. Viertel nach Zehn. Die Geschäfte hatten geschlossen, doch hier und da erleuchteten Neonschilder die Straße. Auf der Suche nach ihrem Ziel sah sie sich um. Ein Zoogeschäft, eine Drogerie, ah hier. Mit gemischten Gefühlen blieb sie vor den abgewetzten Stufen des Restaurants stehen. Die Statue eines goldenen Drachen blickte ihr entgegen. Das einzige Fenster, welches zur Straße ging, war in einer Ecke angelaufen, und aus dem Lüftungsrohr neben der Tür waberten nach Sojasoße und altem Fett riechende Schwaden. Maria straffte ihre Schultern und betrat das schäbige Restaurant.
In den Unterlagen ihrer Mutter war sie auf diese Adresse gestoßen. Die dazugehörige Beschreibung verhieß eine Quelle an Informationen. Hier würde sie auf Zara treffen, eine uralte Elementträgerin, die nach den Aufzeichnungen ihrer Mutter jegliche Art von Informationen beschaffen konnte. Genau das war es, was Maria brauchte. Informationen.
Mit gerümpfter Nase sah sie sich in dem kleinen Gastraum um, als jemand ihren Namen rief. Misstrauisch folgte sie der Stimme in den hinteren Teil des Lokals. Das also war die mächtige Zara? Maria schürzte bei dem Anblick der runzeligen, buckligen Dame verächtlich die Lippen.
Zara hingegen musterte sie mit einem offenen Lächeln. „Setz dich, meine Liebe“, forderte sie Maria höflich auf.
Diese gehorchte und starrte die Alte unverhohlen an.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte Zara und reichte ihr eine abgegriffene Speisekarte, die mit fettigen Fingerabdrücken übersät war.
Angewidert schüttelte Maria den Kopf.
„Also dann, was willst du wissen, Mädchen?“
Verblüfft starrte Maria die alte Dame an. „Sie wissen, warum ich hier bin?“
Zara lachte gackernd und legte die Speisekarte zur Seite. „Jeder, der mich besucht, kommt, um etwas zu erfahren. Ich gehe nicht davon aus, dass es bei dir anders ist“, murmelte sie gedehnt, ohne Maria aus den Augen zu lassen.
Maria nickte verhalten. „Ich muss wissen, wo ich ein bestimmtes Mädchen finde“, begann sie zögerlich. Maria konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, woher Zara wissen sollte, wen sie meinte. Sie wusste nicht den Namen des Mädchens, nicht wer sie war oder wo sie es finden konnte. Lediglich, dass sie ihre geliebte Mutter auf dem Gewissen hatte und dass sie sich dafür rächen würde.
„Genau deshalb bist du doch zu mir gekommen“, stellte Zara fest.
Maria starrte die Alte skeptisch an. Was sollte das heißen? Zara konnte doch unmöglich wissen, was sie gerade dachte. Oder etwa doch? Mit zu Schlitzen verengten Augen fragte sie schroff: „Können Sie mir nun helfen oder nicht?“
Erneut lachte Zara gackernd und schüttelte belustigt den von Falten gekerbten Kopf. „Natürlich kann ich dir helfen. Und ich werde es auch tun, denn du bist wichtig“, erklärte die Alte geduldig, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen.
Maria verkrampfte sich und spürte, wie ihr heiß wurde. Was zum Teufel laberte Zara da bloß?
„Ganz recht, Liebes, du hast eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Das weiß ich genau.“
„Und wissen Sie auch, wo ich dieses Mädchen finde?“, blaffte Maria ungeduldig. Diese kryptische Leier ging ihr allmählich gewaltig auf die Nerven.
„Daria, meinst du? Sie, die deine Mutter getötet hat?“, fragte Zara mit einem durchdringenden Blick.
Schockiert riss Maria die Augen auf. Daria. Das war also ihr Name. Offenbar konnte ihr diese schrullige Alte doch Informationen liefern. „Ja, Daria also.“ Maria spuckte den Namen aus, als wäre er etwas Widerliches, das sie augenblicklich zum Würgen brachte. „Wo finde ich sie?“
Zara wirkte, als versuchte sie, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. „Warte einen Moment, meine Liebe.“ Sie lehnte sich zurück und schloss sichtlich angestrengt die Augen. Die Minuten verstrichen, ohne dass die Alte ein Lebenszeichen von sich gab.
Maria rutschte erwartungsvoll und zunehmend ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Nichts geschah. Zara blieb weiterhin in ihrer eigenartigen Erstarrung.
Um sich zu beschäftigen und wenigstens etwas von ihrer nervösen Energie loszuwerden, griff Maria nach einem Päckchen mit hölzernen Essstäbchen, die in einer angelaufenen Metallbox am Tischrand platziert waren. Mit steifen Fingern nestelte sie an der leicht klebrigen Plastikhülle herum. Wie alles hier war auch sie mit einem dünnen Fettfilm des Kochdunstes überzogen. Die Verpackung glitt ihr aus den Händen und segelte auf die verblichenen Holzdielen. Geistesabwesend bückte Maria sich nach den Stäbchen und erhaschte dabei einen Blick unter den Tisch auf Zaras Beine. Wobei es Beine nicht wirklich traf. Dort wo Zaras Beine hätten sein sollen, wanden sich zwei knorrige Stämme von der Sitzbank nach unten. Keine Füße, dafür aber vielfach verzweigte Wurzeln, die sich über den Holzboden verästelten. Die Enden verschwanden zwischen den Dielenbrettern. Maria sog scharf die Luft ein und richtete sich wieder auf. Was zur Hölle war diese Frau? Maria hatte etwas Vergleichbares noch nie zuvor gesehen. Als sie den Blick hob, bemerkte sie, dass Zara aus ihrer Erstarrung erwacht war und sie freundlich musterte.
Sie griff nach einer Serviette und holte aus einer ihrer Taschen einen Stift hervor. Mit ihrer runzligen Hand kritzelte sie etwas auf die Serviette und reichte sie anschließend Maria.
Es war ein Ortsname. „Keine vollständige Adresse?“, fragte Maria gereizt.
„Das ist nicht dein Weg, Liebes“, erwiderte Zara aufmunternd.
Maria ballte die Hände zu Fäusten. „Und was ist dann mein Weg?“, wollte sie mit zusammengebissenen Zähnen wissen.
„Dein Weg führt dich zwischen die beiden.“
Maria verstand kein Wort.
„Sie und der Junge, Vincent, … sie sind gleich, haben eine enge Verbindung. Ich denke zwar, es wird dir unmöglich sein, dein Ziel zu erreichen, doch der einzige Weg dies zu schaffen, liegt darin, dich zwischen die beiden zu stellen. Versuch es, wenn dir so viel daran liegt, deine Mutter zu rächen. Du wirst den beiden sehr viel Schmerz zufügen, das kann ich dir jedenfalls versichern. Doch sei gewarnt, meine Liebe, es könnte weitreichende Folgen für dich haben.“ Zaras Blick wirkte mitleidig.
Doch Maria war hellauf begeistert. Sie würde Daria finden und ihr Leid zufügen, so wie sie ihr Leid zugefügt hatte.
Diese Augen. Dunkel. Voller Hass. Tod. Daria wälzte sich schweißgebadet in den Laken. Der Albtraum ließ sie laut keuchen. Roxanna stand mit einem wilden Lächeln über sie gebeugt. Ihre toten Augen musterten Daria voll Zorn und Gier. „Du hast es verdient!“ Roxanna spie die Worte zischend aus. „Du bist es nicht wert zu leben! Ich werde dich vernichten!“ Roxannas Worte hallten lange nach wie das Echo eines gewaltigen Donnergrollens.
Daria krümmte sich zusammen. Schmerz, Angst und Schuld brandeten über sie hinweg. Die Erkenntnis, welche sie so lange tief in ihrem Innersten begraben hatte, drang wie ein Geysir an die Oberfläche. Ich habe sie umgebracht.
Sofort blitzte das Gesicht ihrer Mutter auf. „Du hattest keine andere Wahl, mein Schatz“, flüsterte diese beschwichtigend. Ihre Mutter verblasste und machte einem neuen Gesicht Platz.
Vincent. „Du wolltest mich bloß beschützen, Daria. Nur so konntest du mich retten und selbst am Leben bleiben!“, erklärte er in eindringlichem Tonfall. Auch sein Anblick verblasste und eine tiefe Schwärze breitete sich rund um Daria aus. Nur eines blieb. Ihre dunklen, toten Augen.
Völlig aufgelöst schreckte Daria aus dem Traum hoch. Ein verschwommener Blick auf die Leuchtziffern ihres Weckers verriet ihr, dass es erst kurz nach Mitternacht war. Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen. Mit steifen Gliedern und von einem durchdringenden Zittern gestraft schleppte sie sich ins Bad und stellte sich unter die heiße Brause. Die panische Angst, welche sie in ihrem Traum fest in der Hand hatte, ließ allmählich wieder von ihr ab. Doch ein Gefühl blieb. Es hatte sich tief in ihre Knochen gebrannt. Schuld. Sie hatte dieser Frau das Leben genommen. Der verstörende Traum hatte ihr eines klargemacht, sie würde dafür bezahlen müssen. Daria hatte keine Ahnung, woher sie diese Gewissheit nahm, doch wie ein Damoklesschwert hing sie über ihr.
Ein leises Kichern entschlüpfte Sophias Mund. Mit dem Glas Rotwein in der Hand musterte sie Erik belustigt. Die beiden hatten es sich auf der großen Veranda gemütlich gemacht und plauderten über die Arbeit.
„Ich danke dir, dass du mir … uns das ermöglicht hast, Sophia! Ohne dein Jobangebot hätte ich nicht gewusst, was ich hätte machen sollen“, meinte Erik und schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln.
„Keine Ursache!“, bekräftigte sie schmunzelnd. „Ich finde es überaus mutig von dir, mit deinen alten Gewohnheiten zu brechen und einmal in deinem Leben nicht davon zu laufen.“
Eriks Blick verdunkelte sich bei dem Gedanken an die vielen Umzüge, die Geldsorgen, die Einsamkeit. Er seufzte tief. „Ich habe die Entscheidung Daria überlassen.“
„Du würdest alles für deine Tochter tun, nicht?“, fragte Sophia mit sanfter Stimme.
Erik nickte bedächtig. „Sie ist alles, was ich noch habe, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es ihr wieder gut geht“, beteuerte er, den Blick starr in den kleinen Garten gerichtet.
„Mal abgesehen davon, dass es einfach Zeit brauchen wird, bis sie diese schrecklichen Ereignisse verdaut hat, … hast du denn das Gefühl, es geht ihr nicht gut?“, wollte Sophia mit einem Anflug von Sorge in der Stimme wissen.
„Ich weiß nicht recht. Sie ist so verschlossen seitdem, noch verschlossener, als sie es bisher schon war. Ich dringe gar nicht mehr zu ihr durch. Sie lächelt mich an und versichert mir, es wäre alles in Ordnung, doch ich sorge mich um sie“, gestand er.
Sophia musterte ihn eindringlich und griff nach seiner Hand, um sie zu drücken. „Ich habe keine eigenen Kinder, wie du weißt. Und trotzdem fühle ich mit dir. Es macht mich traurig, dich so voller Sorge zu sehen. Sag, Erik, wie kann ich dir helfen? Soll ich mit ihr reden?“
Sophias Anteilnahme, ihre Wärme und Fürsorge waren Balsam für seine Seele. Es war Jahre her, dass er jemanden an seiner Seite hatte, dem er sich anvertrauen konnte. Sophia vertrieb seine Einsamkeit. Wenigstens für den Moment.
Mit noch immer steifen Gliedern ließ Daria sich in den Autositz sinken.
Vincent begrüßte sie mit einem sanften Lächeln, das sie nicht so recht erwidern konnte. Sofort zogen sich seine Augenbrauen zusammen und er musterte sie besorgt. „Was ist los? Du siehst schrecklich aus!“
„Danke, sehr charmant“, entgegnete Daria trocken.
Vincent machte keine Anstalten loszufahren, obwohl sie schon spät dran waren.
„Ich habe einfach nur schlecht geschlafen“, erklärte sie und versuchte sich nun doch an einem Lächeln. Schlecht geschlafen ist allerdings gar kein Ausdruck, dachte Daria bitter, als Vincent den Wagen auf die Straße lenkte. Sie musste dringend mit jemanden über diese Träume reden. Von Izzy wusste sie ja bereits, dass manche Elementträger die Fähigkeit hatten, Visionen oder so etwas in der Art zu empfangen.
Daria rutschte unbehaglich auf dem Ledersitz herum. Sie hoffte inständig, dass ihre Träume, dass dieser Traum keine Vorhersage gewesen war.
Am Eingang zum Schulgebäude trafen sie auf Izzy und Leo. Auch Ben kam gerade vom Parkplatz herüber. Er hatte seinen Cousin Liam im Schlepptau. Liams Augen wurden wieder von der übergroßen Sonnenbrille verdeckt. Alles in allem wirkte er aber wesentlich entspannter als am Abend zuvor.
„Hey, Leute“, begrüßte Ben sie und stieß seinen Cousin leicht mit dem Ellenbogen an. „Autsch!“, gab dieser quiekend zurück.
„Jetzt sei höflich, Liam, und stell dich vor. Nach deinem Auftritt gestern müssen meine Freunde ja meinen, du bist völlig daneben“, tadelte Ben ihn.
Liam nahm seine Sonnenbrille ab und warf Ben einen vernichtenden Blick aus seinen ungleichen Augen zu. Dann trat ein freundliches, leicht schüchternes Lächeln in sein Gesicht, als er sich Daria und Vincent zuwandte. „Ich habe mich noch nicht bei euch beiden vorgestellt. Ich bin Liam … und ihr seid einfach atemberaubend schön!“, sagte er mit immer breiter werdendem Lächeln.
Ben schlug sich mit der Hand auf die Stirn, bevor er ihn mit geschürzten Lippen zu schütteln begann. „Liam!“, maulte er beschämt.
„Ist schon in Ordnung!“, beeilte sich Daria zu sagen. „Etwas eigentümlich zwar, aber … hi, ich bin Daria!“, begrüßte sie Liam mit einem zaghaften Lächeln und schüttelte seine Hand.
Ein noch strahlenderes Grinsen erschien auf dessen Gesicht und er musterte Daria unverhohlen von Kopf bis Fuß. Dann legte er die Stirn in Falten, als sein Blick an Darias Bauch hängenblieb. „Oh“, murmelte er.
Vincent beäugte Liam mit einem skeptischen Blick, bevor auch er sich vorstellte und ihm die Hand gab.
„Kommt Leute, wir müssen langsam reingehen“, meinte Izzy und hakte sich bei Daria unter.
Als sie bei den Spinden angekommen waren, hielt Daria es nicht mehr länger aus. „Was ist bloß mit Liam los?“, fragte sie leicht verlegen.