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Titel der Originalausgabe
LOVER UNLEASHED (Part 2)
Aus dem Amerikanischen
von Corinna Vierkant
Deutsche Erstausgabe 03/2012
Redaktion: Bettina Spangler
Copyright © 2011 by Love Conquers All, Inc.
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe
und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagbild: Dirk Schulz
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Autorenfoto © by John Rott
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-08203-1
V002
www.heyne.de
J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.
Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R.Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.
Der Pfiff war laut und durchdringend und hallte von den Wänden der Eingangshalle im Haupthaus wider. Qhuinn wusste, wer den schrillen Befehl ausgestoßen hatte: John Matthew.
In den letzten drei Jahren hatte er ihn weiß Gott oft genug pfeifen gehört.
Er blieb auf der untersten Stufe der Freitreppe stehen, wischte sich das Gesicht mit seinem zusammengeknüllten T-Shirt ab und musste sich dann am massiven Holzgeländer festhalten. Sein Kopf fühlte sich nach dem Lauftraining leicht und luftig wie ein Kissen an – und stand damit im direkten Gegensatz zum Rest seines Körpers: Seine Beine und sein Hintern kamen ihm so schwer vor wie dieses verdammte Anwesen …
Es pfiff erneut. Ach ja, richtig, dachte er, da redete ja jemand mit ihm. Er drehte sich nach John Matthew um, der im verschnörkelten Türrahmen zum Esszimmer stand.
Was zum Henker hast du mit dir angestellt?, fragte John in Gebärdensprache und zeigte dann auf seinen eigenen Kopf.
Tja, so eine Scheiße, dachte Qhuinn. Früher hätte sich eine solche Frage auf mehr als nur eine neue Frisur bezogen.
»So etwas nennt sich Haarschnitt.«
Sicher? Ich würde das eher als einen Supergau bezeichnen.
Qhuinn rieb sich über den frisch rasierten Schädel. »Ist nichts Besonderes.«
Wenigstens kannst du immer noch ein Toupet tragen. Johns blaue Augen wurden schmal. Und wo ist der ganze Metallscheiß hingekommen?
»Der Krempel ist bei mir im Waffenschrank.«
Nicht die Waffen, das Zeug in deinem Gesicht.
Qhuinn schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. Er hatte keine Lust, über all die abgelegten Piercings zu reden. Sein Hirn war verknotet und der Körper erschöpft, so steif und wund von seinem täglichen Laufpensum …
Wieder ertönte der Pfiff, und fast hätte Qhuinn seinem Freund über die Schulter zugerufen, er solle sich verpissen. Doch er verkniff es sich, um Zeit zu sparen: In dieser Stimmung ließ John erfahrungsgemäß nicht so schnell locker.
Also drehte Qhuinn sich erneut zu ihm um und knurrte: »Was denn?«
Du musst mehr essen. Bei den Mahlzeiten, allein, egal. Du mutierst allmählich zum Skelett …
»Mir geht es gut …«
Also, entweder holst du dir jetzt sofort was zum Beißen, oder ich lasse den Kraftraum absperren und gebe dir keinen Schlüssel. Kannst es dir aussuchen. Außerdem habe ich Layla gerufen. Sie erwartet dich in deinem Zimmer.
Qhuinn drehte sich vollständig um. Keine gute Idee. Die Bewegung verwandelte die Eingangshalle in ein Karussell. Er hielt sich erneut am Geländer fest und presste zwischen den Zähnen hervor: »Das hätte ich auch selbst tun können.«
Aber du hättest es nicht getan, also habe ich es für dich erledigt – nachdem ich kein Dutzend Lesser töten kann, ist das meine gute Tat für diese Woche.
»Wenn du einen auf Mutter Teresa machen willst, such dir lieber einen anderen.«
Sorry, meine Wahl ist nun einmal auf dich gefallen. Also mach dich lieber auf die Socken – du willst sie doch nicht warten lassen. Ach ja, als Xhex und ich in der Küche waren, habe ich Fritz beauftragt, dir was zu kochen und es dir zu bringen. Später.
Als der Kerl in Richtung Butlerkammer davonspazierte, rief Qhuinn ihm hinterher: »Ich möchte nicht gerettet werden, Arschloch. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
Als Antwort hielt John seinen gestreckten Mittelfinger hoch.
»Ach, verdammt«, fluchte Qhuinn.
Er hatte im Augenblick absolut keine Lust auf Layla.
Nichts gegen die Auserwählte, aber die Aussicht darauf, gleich in einem geschlossenen Raum zu sein mit jemandem, der auf Sex aus war, schien ihm fast unerträglich. Welch Hohn. Bis jetzt war das Vögeln nicht nur ein Bestandteil seines Lebens gewesen, er hatte sich regelrecht darüber definiert. Aber seit letzter Woche wurde ihm beim bloßen Gedanken daran schlecht.
Himmel, wenn das so weiterging, wäre der letzte Fick in seinem Leben dieser Rotschopf gewesen. Ha, ha, wie witzig: Die Jungfrau der Schrift schien echt einen finsteren Sinn für Humor zu haben.
Er schleppte also sein Tonnengewicht die Treppe rauf und nahm sich vor, Layla so höflich wie möglich zu verklickern, dass sie sich weiter um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern …
Auf dem zweiten Absatz wurde ihm schwindlig, und er blieb stehen.
In den vergangenen sieben Nächten hatte er sich an den schwummrigen Dauerzustand gewöhnt, der mit dem vielen Herumlaufen und dem wenigen Essen einherging, er freute sich schon auf die nächste Dröhnung. Zum Donnerwetter, es war billiger als Saufen, und es ließ nie nach – zumindest nicht solange, bis er etwas zu sich nahm.
Aber das hier war etwas anderes. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand von hinten mit dem Bulldozer umgenietet und ihm die Beine unterm Arsch weggezogen – doch seine Augen sagten ihm, dass er noch stand. Genauso wie die Tatsache, dass seine Hüften am Geländer lehn…
Ohne Vorwarnung knickte ein Knie ein, und er polterte zu Boden wie ein Buch aus dem Regal.
Also packte er das verdammte Geländer und zog sich daran hoch, bis er halb darüberhing. Mit grimmigem Blick auf sein Bein schüttelte er es aus, atmete tief durch und zwang seinen Körper, ihm zu gehorchen.
Fehlanzeige.
Stattdessen rutschte er langsam wieder ab und musste sich herumdrehen, damit es aussah, als würde er sich nur mal eben auf dem blutroten Läufer ausruhen. Das Atmen fiel ihm schwer … oder besser gesagt, er atmete, aber es brachte nichts. Verdammt … reiß … dich … zusammen …
Scheiße.
»Herr?«, kam eine Stimme von oben.
Doppelte Scheiße.
Er kniff die Augen zu. Dass Layla ausgerechnet jetzt erscheinen musste, war ein typisches Beispiel für Murphys berühmtes Gesetz.
»Herr, kann ich Euch behilflich sein?«
Andererseits hatte es vielleicht auch sein Gutes: Lieber sie als einer der Brüder. »Ja. Mein Knie. Hab es mir beim Laufen verletzt.«
Er sah auf, als die Auserwählte zu ihm herabschwebte, ihr weißes Gewand im starken Kontrast zum tiefen Rot des Läufers und dem goldenen Glanz der Verzierungen in der Eingangshalle.
Und als sie sich nach ihm bückte, kam er sich vor wie der letzte Idiot. Er versuchte, sich selbst auf die Füße zu ziehen … aber es gelang ihm nicht. »Ich, äh, … ich warne dich, ich bin ziemlich schwer.«
Ihre gertenschlanke Hand bewegte sich auf ihn zu. Erstaunt bemerkte er seine zitternden Finger, als er ihr Hilfsangebot annahm. Außerdem erstaunte ihn, dass sie ihn mit einem Ruck auf die Füße zog.
»Du bist stark«, bemerkte er, während sie ihm den Arm um die Hüfte legte und ihn in die Senkrechte hievte.
»Wir gehen zusammen.«
»Tut mir leid, ich bin verschwitzt.«
»Das stört mich nicht.«
Und damit ging es auch schon los. Ganz langsam stiegen sie die Treppe hoch und wanderten durch den Flur im ersten Stock, hinkten vorbei an allen möglichen zum Glück geschlossenen Türen: Wraths Arbeitszimmer. Tohrments Zimmer. Das von Blay – das er lieber nicht sah. Das von Saxton – in das er nicht hineinstürzte, um den Cousin mit einem Tritt aus dem Fenster zu befördern. Und das Zimmer von John Matthew und Xhex.
»Ich mache auf«, sagte die Auserwählte, als sie zu guter Letzt vor seiner Tür standen.
Sie mussten sich seitlich drehen, weil er bei seiner stattlichen Größe sonst nicht hindurchgepasst hätte, und er war ihr wirklich dankbar, als sie die Tür schloss und ihn zum Bett geleitete. Niemand brauchte zu erfahren, was hier vorging, und die Chancen standen gut, dass die Auserwählte ihm die Geschichte mit der kleinen Sportverletzung abkaufte.
Eigentlich wollte er aufrecht sitzen bleiben. Doch sobald Layla ihn losließ, kippte er rückwärts auf die Matratze und lag da wie ein Fußabstreifer. Er sah an sich hinab in Richtung der Schuhe und wunderte sich, warum er das Auto nicht entdecken konnte, das doch so offensichtlich auf ihm parkte. Definitiv kein Prius. Eher ein verdammter Chevy Tahoe.
Oder ein Suburban.
»Äh … hör zu, könntest du in meiner Lederjacke nachschauen? Da habe ich einen Proteinriegel drin.«
Im selben Moment hörte er von der Tür her ein Klirren von Metall auf Porzellan. Und dann drang der Geruch einer warmen Mahlzeit zu ihm. »Wie wäre es stattdessen mit diesem Roastbeef, Herr?«
Sein Magen zog sich zusammen wie eine Faust. »Himmel … nein …«
»Es gibt Reis dazu.«
»Nur … einen von diesen Riegeln …«
Ein leises Quietschen ließ vermuten, dass die Auserwählte einen Teewagen herüberschob, und eine Sekunde später war der Essensgeruch überwältigend.
»Stopp – stopp, verdammt –« Er rollte sich zur Seite und beugte sich würgend über einen Papierkorb – ohne dass etwas passiert wäre. »Nicht … das Essen …«
»Ihr müsst aber essen«, kam die überraschend bestimmte Antwort. »Ich werde Euch füttern, wenn es sein muss.«
»Wage es bloß nicht …«
»Hier.« Anstatt Fleisch oder Reis hielt sie ihm nun ein kleines Stückchen Brot hin. »Mund auf. Ihr braucht Nahrung, Herr. Das sagte mir John Matthew.«
Qhuinn sank zurück in die Kissen und legte sich den Arm über das Gesicht. Sein Herz hüpfte unregelmäßig in der Brust, und vage wurde ihm klar, dass er sich umbringen würde, wenn er so weitermachte.
Komisch, die Vorstellung schien ihm gar nicht mal so übel. Besonders, als ihm Blays Gesicht in den Sinn kam.
So schön. So überaus schön. Es klang dumm und unmännlich, aber das war er. Gewiss lag es an diesen verdammten Lippen … wohlgeformt mit voller Unterlippe. Oder waren es die Augen? So blau …
Er hatte diesen Mund geküsst, und es war wundervoll gewesen. Hatte ein wildes Feuer in diesen Augen entfacht.
Er hätte Blay als Erster haben können. Und als Einziger. Doch stattdessen? Sein Cousin …
»O Gott …«, stöhnte er.
»Herr. Esst.«
Weil er zu schwach war, sich zu wehren, fügte er sich, öffnete den Mund, kaute mechanisch, schluckte mit trockener Kehle. Und dann tat er es wieder. Und wieder. Und wie sich herausstellte, beruhigten die Kohlenhydrate das Erdbeben in seinem Magen, und schneller, als er es für möglich gehalten hatte, freute er sich tatsächlich auf etwas Gehaltvolleres. Doch der nächste Gang in der Menüfolge war etwas Wasser aus der Flasche, die Layla ihm an die Lippen hielt, während er in kleinen Schlucken trank.
»Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen«, sagte er und wehrte das nächste Brotstückchen ab, damit es nicht zu viel wurde.
Er rollte sich auf die Seite, und die Knochen seiner Beine schlugen gegeneinander. Außerdem lag sein Arm irgendwie anders als sonst auf der Brust – das Muskelpolster schien geschrumpft zu sein. Und seine Nike-Laufshorts schlackerten am Bund.
Das war also die Schadensbilanz nach gerade mal sieben Tagen.
Wenn er so weitermachte, würde man ihn bald nicht wiedererkennen.
Verdammt, er sah schon jetzt total verändert aus. Wie John Matthew so überaus richtig bemerkt hatte, war nicht nur sein Schädel rasiert, sondern auch das Augenbrauenpiercing verschwunden, genauso wie das Piercing in der Unterlippe und das Dutzend entlang beider Ohrmuscheln. Entfernt hatte er außerdem die Brustwarzenringe. Das Zungenpiercing und den Mist weiter unten hatte er gelassen, aber das sichtbare Zeug war fort, futsch, verschwunden.
Er hatte so vieles an sich satt. Dieses Außenseiterdasein, das er pflegte. Sein Schlampenimage.
Und er hatte keine Lust mehr, gegen ein paar Tote zu rebellieren. Er brauchte wirklich keinen Seelenklempner, er wusste auch so, was ihn geprägt hatte: Er kam aus einer ultrakonservativen Bilderbuchfamilie der Glymera – und heimgezahlt hatte er es ihnen durch sein Auftreten als bisexueller Metalhead mit Goth-Garderobe und einem Nadelfetisch. Aber wie viel von dem Scheiß kam von ihm selbst, und was war Auflehnung wegen seiner verschiedenfarbenen Augen?
Wer war er eigentlich wirklich?
»Mehr?«, fragte Layla.
Tja, das war wohl die große Frage.
Als die Auserwählte erneut mit ihrem Baguette angriff, beschloss Qhuinn, mit den Faxen aufzuhören. Er sperrte den Schnabel auf wie ein Vogeljunges und aß den Happen. Und noch einen. Und als könnte sie seine Gedanken lesen, hielt ihm Layla als Nächstes eine silberne Gabel mit einem Stück Roastbeef vor die Lippen.
»Versuchen wir es mal damit, Herr … aber langsam kauen.«
Guter Witz. Ein urplötzlicher Heißhunger ließ ihn zum T-Rex mutieren, und fast hätte er die Zinken mit abgebissen, als er sich auf das Fleisch stürzte. Doch Layla reagierte schnell und hatte gleich das nächste Stück parat.
»Warte … stopp«, murmelte er, weil er fürchtete, sich übergeben zu müssen.
Er rollte sich auf den Rücken, legte eine Hand auf die Brust und atmete flach, denn alles andere hätte zu einem unappetitlichen Schauspiel geführt.
Laylas Gesicht tauchte über ihm auf. »Herr … vielleicht sollten wir aufhören.«
Qhuinn kniff die Augen zusammen und sah sie zum ersten Mal seit ihrem Erscheinen richtig an.
Gott, was war sie doch für ein Hingucker. Das volle, hellblonde Haar, hoch aufgetürmt auf dem Kopf, dieses bildhübsche Gesicht. Mit ihren Erdbeerlippen und den grünen Augen, die im Schein der Lampe leuchteten, vereinte sie alles in sich, was sein Volk in Sachen Erbgut wertschätzte – nicht der kleinste Defekt.
Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte den Chignon. So weich. Layla benötigte kein Haarspray. Ihre Haarpracht schien von allein zu wissen, dass sie dieses Antlitz zu umrahmen hatte, und kam dieser Aufgabe eilfertig nach.
»Herr?« Sie versteifte sich.
Er wusste, was unter ihrer Robe steckte: Ihre Brüste waren absolut umwerfend und ihr Bauch flach wie ein Brett … und diese Hüften und das samtig weiche Geschlecht zwischen den Schenkeln waren von der Sorte, für die sich ein Mann nackt in Glasscherben fallen lassen würde.
Er kannte diese Details, weil er sie alle gesehen hatte, viele davon berührt und ein paar ausgewählte mit dem Mund erkundet hatte.
Aber er hatte sie nicht genommen. War auch nicht sonderlich weit gegangen. Als Ehros war sie für den Sex geschult, aber nachdem es keinen Primal gab, der den Auserwählten auf diese Art gedient hätte, war ihr Wissen rein theoretischer Natur, ihre praktische Erfahrung gleich null. Eine Zeit lang hatte Qhuinn ihr mit Vergnügen eine kleine Einweisung gegeben.
Aber das Gefühl hatte nicht gestimmt.
Zwar hatte Layla einiges empfunden, das sie für richtig hielt, aber in ihren Augen hatte Qhuinn viel mehr gesehen, als sein Herz erwidern konnte, um die Sache am Laufen zu halten.
»Werdet Ihr meine Ader nehmen, Herr?«, flüsterte sie mit rauchiger Stimme.
Er starrte sie nur an.
Ihre roten Lippen teilten sich. »Herr, werdet Ihr … mich nehmen?«
Als er die Lider schloss, sah er wieder Blays Gesicht vor sich … aber nicht das Gesicht, wie es jetzt war. Er erblickte nicht den kalten Fremden, den Qhuinn geschaffen hatte. Er erkannte den alten Blay, mit seinen blauen Augen, die irgendwie immer auf ihn gerichtet waren.
»Herr … ich stehe Euch zur Verfügung. Noch immer. Für immer.«
Als er Layla wieder ansah, waren ihre Finger zum Aufschlag ihrer Robe gewandert und hatten ihn weit auseinandergezogen, so dass ihr langer, eleganter Hals und ihr geschwungenes Schlüsselbein freigelegt wurden sowie ihr herrlicher Ausschnitt.
»Herr … ich möchte Euch dienen.« Sie zog den Satinstoff noch weiter auseinander und bot ihm nicht nur die Vene, sondern ihren ganzen Körper dar. »Nehmt mich …«
Qhuinn hielt ihre Hände fest, als sie zu der Kordel um ihre Hüfte wanderten. »Stopp.«
Sie senkte den Blick und erstarrte.
Doch bald sammelte sie sich wieder, löste sich aus seinem Griff und zupfte ihre Robe notdürftig zurecht.
»Dann nehmt mein Handgelenk.« Ihre Hand zitterte, als sie den Ärmel hochriss und ihm den Arm hinstreckte. »Nehmt von meiner Vene, was Ihr so offensichtlich braucht.«
Sie sah ihn nicht an. Vermutlich schaffte sie es nicht.
Dennoch wich sie nicht vom Fleck … zwar war sie verstummt nach dieser Demütigung, die sie nicht verdiente und die er bedauerte … doch sie bot sich ihm an – nicht auf eine Weise, die lächerlich war, sondern weil man sie von Geburt an dazu erzogen hatte, einem Zweck zu dienen, der nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hatte, sondern einzig mit den Erwartungen der Gesellschaft … und sie war entschlossen, ihnen gerecht zu werden. Selbst wenn man ihre Person dabei verkannte.
Himmel, er wusste genau, wie sich das anfühlte.
»Layla …«
»Entschuldigt Euch nicht, Herr. Das setzt mich herab.«
Er griff nach ihrem Arm, um zu verhindern, dass sie aufstand. »Sieh mal, es ist meine Schuld. Ich hätte niemals Sex mit dir anfangen …«
»Und ich bitte Euch, hört auf!« Sie saß kerzengerade auf dem Bett und klang schrill. »Lasst mich bitte los.«
Er runzelte die Stirn. »Scheiße … du fühlst dich kalt an.«
»Tatsächlich.«
»Ja.« Er rieb ihren Arm. »Musst du dich nähren? Layla? Hallo?«
»Nein, ich war im Heiligtum.«
Nun, das kaufte er ihr sogar ab. Wenn sich die Auserwählten auf der Anderen Seite aufhielten, existierten sie, ohne wirklich zu existieren, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, sich von Blut zu nähren – und sie kamen dort allem Anschein nach wieder zu Kräften: In den letzten zwei Jahren hatte Layla allein all den Brüdern gedient, die sich nicht von ihren Shellans nähren konnten. Alle kamen sie zu ihr.
Und dann dämmerte es ihm. »Warte mal, du warst noch nie oben im Norden?«
Seit Phury die Auserwählten von ihrem strengen und eingeschränkten Dasein befreit hatte, verließen die meisten von ihnen das Heiligtum, in dem sie seit Ewigkeiten festgesessen hatten, und besuchten das Sommerhaus in den Adironbacks, um die Freiheiten des Lebens auf dieser Seite kennenzulernen.
»Layla?«
»Nein, ich gehe nicht mehr dorthin.«
»Warum nicht?«
»Ich kann nicht.« Sie winkte ab und zog erneut an ihrem Ärmel. »Herr? Nehmt Ihr nun meine Ader?«
»Warum kannst du nicht?«
Sie sah ihn an, völlig entnervt. Was war das für eine Erleichterung. Ihre duldsame Ergebenheit konnte einen daran zweifeln lassen, ob sie überhaupt eine eigene Meinung hatte. Doch jetzt bewies ihr Gesichtsausdruck, dass sie eine Menge unter ihrer Robe verbarg – und dabei dachte Qhuinn nicht nur an ihre perfekte Figur.
»Layla. Antworte mir. Warum nicht?«
»Ich kann nicht.«
»Wer sagt das?« Qhuinn stand Phury nicht sonderlich nahe, aber er kannte ihn gut genug, um dem Kerl ein Problem vorzubringen. »Wer?«
»Niemand sagt das. Macht Euch keine Sorgen.« Sie deutete auf ihr Handgelenk. »Nehmt, damit Ihr zu Kräften kommt, und dann lasse ich Euch in Frieden.«
»Fein, wenn du um Worte streiten möchtest – was hindert dich daran?«
Frust flammte in ihrem Gesicht auf. »Das geht Euch nichts an.«
»Ich entscheide, was mich etwas angeht.« Üblicherweise belästigte er keine Frauen, aber anscheinend war der Gentleman in ihm erwacht und mit dem linken Fuß aus dem Bett gestiegen. »Jetzt sag schon.«
Er war sonst der Letzte, der andere zur Aussprache nötigte, aber heute ließ er nicht locker. Denn er hätte es nicht ertragen, wenn etwas diese Frau verletzt hätte.
»In Ordnung.« Sie warf die Hände in die Luft. »Würde ich in den Norden gehen, könnte ich Euch nicht alle mit Blut versorgen. Deshalb ziehe ich mich ins Heiligtum zurück, um mich zu erholen, und warte, bis ich gerufen werde. Dann komme ich auf diese Seite und diene Euch, und danach muss ich wieder zurück. Deshalb kann ich nicht in die Berge.«
»Himmel …« Was waren sie doch für ein unsensibles Pack. Sie hätten dieses Problem erkennen müssen – zumindest Phury hätte es merken müssen. Es sei denn … »Hast du mit dem Primal geredet?«
»Worüber denn, wenn ich fragen darf?«, fauchte sie. »Sagt mir, Herr, hättet Ihr es wohl eilig, Eurem König zu berichten, wenn Ihr im Kampf versagt hättet?«
»Aber wer spricht denn von Versagen? Schließlich nährst du – wie viele? – vier von uns.«
»Genau so ist es. Und ich diene Euch allen in äußerst eingeschränkter Funktion.«
Layla sprang auf, trat ans Fenster und starrte hinaus. Qhuinn sah sie an und wünschte, er könnte sie begehren: In diesem Moment hätte er alles gegeben, um ihre Gefühle zu erwidern – sie war alles, was man in seiner Familie wertschätzte, der Inbegriff der perfekten Frau. Und sie begehrte ihn.
Aber wenn er in sein Herz blickte, wohnte dort jemand anders. Und das ließ sich durch nichts ändern. Niemals … fürchtete er.
»Ich weiß nicht, wer oder was ich eigentlich bin«, sagte Layla, als würde sie mit sich selbst sprechen.
Tja, sah ganz so aus, als quälte sie beide die gleiche Frage. »Das wirst du nicht herausfinden, solange du das Heiligtum nicht verlässt.«
»Unmöglich, wenn ich Euch dienen …«
»Dann bitten wir eben eine andere. Ganz einfach.«
Er hörte sie scharf die Luft einsaugen. »Selbstverständlich. Ihr tut, wie es Euch beliebt.«
Qhuinn studierte die harte Kontur ihres Kinns. »Ich wollte dir damit nur helfen.«
Sie funkelte ihn über die Schulter hinweg an. »Tut Ihr aber nicht – denn dann bleibt mir gar nichts. Ihr wählt, ich trage die Konsequenzen.«
»Es ist dein Leben. Du hast die Wahl.«
»Reden wir nicht mehr darüber.« Sie warf erneut die Hände in die Luft. »Gütige Jungfrau der Schrift, Ihr habt keine Vorstellung, wie es ist, etwas zu begehren, das Euch das Schicksal verwehrt.«
Qhuinn stieß ein hartes Lachen aus. »Von wegen.« Als sie ihn überrascht ansah, verdrehte er die Augen. »Wir beide haben mehr gemeinsam, als du glaubst.«
»Ihr habt alle Freiheit der Welt. Was könnte Euch noch fehlen?«
»Glaub mir.«
»Nun, ich sehne mich nach Euch, doch Ihr seid mir verwehrt. Daran kann ich nichts ändern. Aber wenn ich Euch und den anderen diene, habe ich zumindest noch eine andere Aufgabe im Leben, als nur meinen geplatzten Träumen nachzutrauern.«
Qhuinn atmete tief durch. Man musste diese Frau bewundern. Sie zog nicht die Mitleidsnummer ab, sondern nannte die Dinge beim Namen, so wie sie sich für sie darstellten.
Scheiße, sie war wirklich genau die Sorte Shellan, von der er immer geträumt hatte. Obwohl er alles gevögelt hatte, was ihm über den Weg gelaufen war, hatte er sich insgeheim immer in einer dauerhaften Beziehung gesehen. Mit einer Klassefrau aus gutem Haus – einer, die seinen Eltern nicht nur gefallen hätte, sondern von der sie auch ein bisschen beeindruckt gewesen wären.
So weit sein Traum. Doch jetzt, da er kurz davor war, sich zu verwirklichen … jetzt, da die Frau, von der er immer geträumt hatte, leibhaftig vor ihm stand und ihm ins Gesicht blickte … wollte er etwas völlig anderes.
»Ich wünschte, ich würde mehr für dich empfinden«, sagte er rau und rückte nun seinerseits mit der Wahrheit heraus. »Ich würde fast alles tun, um für dich zu fühlen, was ich fühlen sollte. Du bist … die Frau meiner Träume. Nach jemandem wie dir habe ich mich immer gesehnt, doch ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass sich ein Wesen wie du für mich interessieren könnte.«
Ihre Augen weiteten sich wie zwei Monde, schön und leuchtend. »Aber warum …«
Er rieb sich das Gesicht und fragte sich, was er da eigentlich redete.
Was er da eigentlich tat.
Als er die Hände von den Augen nahm, blieb eine Feuchtigkeit zurück, über die er nicht zu lange nachdenken wollte.
»Ich habe mein Herz verloren«, sagte er heiser. »An jemand anderen. Das ist der Grund.«
Im Flur herrschte Aufruhr. Eilige Schritte waren zu hören … ein leises Fluchen … gelegentlich ein dumpfer Schlag.
Der Lärm weckte Manny auf. Er schreckte aus dem Tiefschlaf hoch und war sofort hellwach, als die Geräuschparade auf dem Flur vorüberzog. Das Gerumpel hielt an und wurde dann abrupt abgeschnitten, als hätte man die Tür zu einer Vorführung geschlossen. Welcher Art sie auch war.
Manny hob den Kopf von Paynes Bett und betrachtete seine Patientin. Schön. So schön. Und sie schlief fest …
Der Lichtstrahl fiel ihm mitten ins Gesicht.
Janes Stimme klang gepresst, als sie links in der Tür stand, ein schwarzer Scherenschnitt ihrer selbst. »Ich brauche Unterstützung. Sofort.«
Sie musste nicht zweimal fragen. Manny hastete zur Tür, ganz der pflichtbewusste Chirurg, stets einsatzbereit, ohne Fragen zu stellen.
»Was haben wir?«
Während sie durch den Gang eilten, strich sich Jane den rot befleckten Arztkittel glatt. »Diverse Verletzungen. Größtenteils Stichwunden, eine Schussverletzung. Und einer wird noch reingefahren.«
Sie betraten gemeinsam das Untersuchungszimmer und – ach du Scheiße … überall verwundete Männer. Sie standen in den Ecken, saßen auf dem Untersuchungstisch, lehnten an den Regalen, liefen fluchend umher. Elena oder Elaina, die Schwester, war damit beschäftigt, Dutzende Skalpelle und meterweise Faden bereitzulegen, und dann war da ein kleiner alter Mann, der Wasser auf einem Silbertablett reichte.
»Ich habe sie mir noch nicht alle angesehen«, sagte Jane. »Es sind zu viele.«
»Gibt es noch ein Stethoskop und eine Blutdruckmanschette?«
Jane ging zu einem Schrank, zog eine Schublade auf und warf ihm beides zu. »Ihr Blutdruck ist viel niedriger, als wir es gewohnt sind. Genauso ihre Herzfrequenz.«
Das hieß, dass ihm als Mediziner das nötige Fachwissen fehlte, um den Zustand dieser Kreaturen richtig einzuschätzen.
Manny legte die Instrumente beiseite. »Dann solltest lieber du und die Schwester die Untersuchung durchführen. Ich bereite derweil alles vor.«
»Vermutlich hast du recht«, pflichtete Jane ihm bei.
Manny trat auf die blonde Schwester zu, die mit geübten Handgriffen alles Nötige bereitlegte. »Ich übernehme hier. Du hilfst Jane bei den Messungen.«
Sie nickte knapp und machte sich sofort an die Aufnahme der Vitalzeichen.
Manny erkundete die Schränke, riss Schubladen auf, holte chirurgische Instrumente heraus und ordnete sie auf den Tischchen an. Schmerzmittel befanden sich in einem schmalen hohen Schränkchen, Spritzen darunter. Manny war beeindruckt: Er wusste nicht, wie Jane es angestellt hatte, aber alles entsprach dem Standard einer richtigen Klinik.
Zehn Minuten später traf er sich mit Jane und der Schwester in der Mitte des Raums. »Bei zweien ist der Zustand bedenklich«, meldete Jane. »Rhage und Phury bluten beide sehr stark – ich fürchte, es könnte Arterien erwischt haben, die Schnitte sind sehr tief. Z und Tohr müssen geröntgt werden, und Blaylock hat, glaube ich, eine Gehirnerschütterung, zusätzlich zu dieser hässlichen Schnittwunde am Bauch.«
Manny ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. »Fangen wir an.« Er sah sich um und deutete auf den riesenhaften Blonden mit der Blutlache unter dem linken Stiefel. »Ich nehme den.«
»Okay. Ich kümmere mich um Phury. Ehlena, du röntgst die Knochenbrüche.«
Nachdem sie es hier mit Lazarettbedingungen zu tun hatten, nahm Manny seine Instrumente mit zu dem Patienten, der auf dem Boden saß, dort, wo er beim Reinkommen zusammengesunken war. Der Hüne war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und schien große Schmerzen zu leiden. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und biss die Zähne zusammen.
»Ich werde dich jetzt behandeln«, erklärte Manny. »Hast du ein Problem damit?«
»Nicht, wenn du mich vor dem Verbluten bewahrst.«
»Wird erledigt.« Manny griff nach der Schere. »Ich schneide jetzt das Hosenbein auf und ziehe dir den Schuh aus.«
»Meine Treter meinst du wohl«, stöhnte der Kerl.
»In Ordnung, egal wie du sie nennst, wir ziehen die jetzt aus.«
Manny hielt sich nicht mit den Knoten auf, sondern schnitt die Schnürsenkel kurzerhand durch und zog den Stiefel von einem koffergroßen Fuß. Danach ließ sich die Lederhose einfach seitlich bis zur Hüfte aufschneiden und dann aufklappen wie Chaps.
»Wie sieht es aus, Doc?«
»Tja, wie eine Weihnachtsgans, mein Freund.«
»So tief?«
»Jup.« Dass man den Knochen sah und das Blut in einem stetigen Rhythmus hervorquoll, musste man ja nicht zwingend erwähnen. »Ich muss mich noch mal waschen, bin gleich zurück.«
Nach einem Zwischenstopp am Waschbecken zog Manny sich ein Paar Handschuhe über, setzte sich wieder vor seinen Patienten und griff nach einer Flasche Lidocain.
Doch Mr Blond-und-blutig hielt ihn auf. »Mach dir keine Mühe wegen dem Schmerz, Doc. Flick mich zusammen und behandle meine Brüder – sie brauchen es dringender als ich. Ich hätte mich selbst drum gekümmert, aber Jane lässt mich nicht.«
Manny hielt inne. »Du würdest dich selbst nähen?«
»Das habe ich schon getan, bevor du in den Windeln lagst, Doc.«
Manny schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. »Tut mir leid, Indianer, ich gehe bestimmt nicht das Risiko ein, dass du zuckst, während ich dieses Leck hier stopfe.«
»Doc …«
Manny richtete die Spritze direkt auf das Gesicht seines unverschämt gut aussehenden Patienten. »Mund halten und zurücklehnen. Für diese Behandlung sollte man dich eigentlich unter Vollnarkose setzen, also mach dir keine Gedanken – du bekommst noch Gelegenheit genug, die Luft anzuhalten und den Helden zu spielen.«
Wieder eine Pause. »Okay, okay, Doc. Kein Grund zur Aufregung. Bring es einfach so schnell wie möglich hinter dich … und kümmre dich um die anderen.«
Man musste seine Loyalität bewundern.
Manny arbeitete schnell, stach mit der Nadel kreisförmig um die Wunde und betäubte den Bereich, so gut es eben ging. Himmel, es war wie zu Studienzeiten. Manny fühlte sich viel lebendiger als bei den Operationen, die er in letzter Zeit geleitet hatte.
Das hier war die Realität, aber mit voll aufgedrehter Lautstärke. Und der Sound gefiel ihm bestens.
Er schnappte sich einen Stapel sauberer Handtücher, schob sie unter das Bein und spülte die Wunde aus. Als sein Patient zischte und sich versteifte, sagte er: »Ganz ruhig, großer Mann. Wir müssen die Wunde reinigen.«
»Kein … Problem …«
Von wegen, dachte Manny, und wünschte, er hätte mehr gegen den Schmerz tun können, aber ihm fehlte die Zeit. Er musste sich noch um die komplizierten Brüche kümmern, also hieß es Blutung stillen und weitermachen.
Während jemand aufstöhnte und links von ihm die nächste Fluchtirade losging, versorgte Manny einen kleinen Riss in der Arterie. Dann nähte er die Muskeln zusammen und machte mit Faszie und Haut weiter. »Du schlägst dich wacker«, lobte er, als er die geballten Fäuste mit den weiß hervortretenden Knöcheln bemerkte.
»Mach dir keine Sorgen um mich.«
»Ja, ja, deine Brüder, schon klar.« Manny hielt eine Sekunde inne. »Weißt du was, du bist echt okay.«
»Verdammt … nein …« Der Kämpfer lächelte und entblößte seine Fänge. »Ich bin … perfekt.«
Dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück, die Zähne so fest zusammengebissen, dass man sich fragte, wie er noch schlucken konnte.
Manny arbeitete so schnell er konnte, ohne die Qualität zu vernachlässigen. Als er eine Naht mit sechzig Stichen mit einer Kompresse abtupfte, hörte er Jane aufschreien.
Er sah sich um und fluchte: »Ach du Scheiße.«
In der Tür zum Untersuchungszimmer stand Janes Mann, gestützt von diesem Red-Sox-Typen. Er sah aus, als hätte ihn ein Lastwagen überrollt: Seine Haut war aschfahl, die Augen nach hinten verdreht und … heilige Scheiße, sein Stiefel … er zeigte in die falsche Richtung.
Manny rief nach der Schwester. »Könntest du das hier bitte verbinden?« Dann schaute er zu seinem Patienten. »Ich muss mir das ansehen …«
»Geh schon.« Der Kerl klopfte ihm auf die Schulter. »Und danke, Doc. Das werde ich dir nicht vergessen.«
Manny ging auf den Neuankömmling zu und fragte sich, ob ihn das ziegenbärtige Großmaul überhaupt operieren lassen würde. Aber sein Bein sah schon vom anderen Ende des Raums komplett zerstört aus.
Als Butch ihn endlich in den Untersuchungsraum brachte, tauchte Vishous nur noch in Intervallen aus der Bewusstlosigkeit auf. Die Kombi aus Knie und Hüfte eröffnete ihm eine neue Dimension von Schmerz, die an seinen Kräften zehrte und ihm das Denken erschwerte.
Doch er war hier nicht der Einzige in schlechter Verfassung. Butch taumelte mit ihm durch die Tür, so dass Vs Kopf gegen den Rahmen knallte.
»Verdammt!«
»Scheiße – tut mir leid.«
»Auch schon egal«, keuchte V, als seine Schläfe dröhnend eine A-cappella-Version von »Welcome to the Jungle« anstimmte.
Um den Katzenjammer auszublenden, öffnete er die Augen und suchte nach Ablenkung.
Jane stand direkt vor ihm, eine Operationsnadel in der blutigen, behandschuhten Hand, das Haar mit einem Gummi zurückgebunden.
»Nicht sie«, stöhnte er. »Nicht … sie …«
Als Arzt sollte man niemals seinen Lebensgefährten behandeln müssen, denn damit war die Katastrophe vorprogrammiert. Wenn sein Knie oder seine Hüfte dauerhaft geschädigt waren, wollte er nicht, dass sie sich dafür verantwortlich fühlte. Sie hatten wirklich schon genügend Probleme miteinander.
Manny trat hinter Vs Shellan hervor. »Dann musst du mit mir vorliebnehmen. Such es dir aus.«
Vishous verdrehte die Augen. Was für eine Alternative.
»Einverstanden?«, fragte Manny. »Oder möchtest du noch eine Weile darüber nachdenken, während dein Gelenk zu einem Flamingobein zusammenwächst? Oder bis das Bein sich entzündet und abfällt?«
»Tja, wenn das … keine … überzeugende Verkaufsmasche ist.«
»Und die Antwort lautet …?«
»In Ordnung. Ja.«
»Heb ihn auf den Tisch.«
Butch legte ihn mit größter Vorsicht ab, doch als sich sein Gewicht verlagerte, hätte V trotzdem beinahe über sie beide drübergekotzt.
»Scheiße …«
Das Gesicht des Chirurgen erschien über ihm. »Achtung, Manello … komm mir lieber nicht … zu nahe …«
»Willst du mir etwa eine reinhauen? Okay, aber warte, bis ich mit deinem Bein fertig bin.«
»Nein, mir ist … speiübel.«
Manello schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Schmerzmittel. Ich besorg Demer…«
»Kein Demerol«, sagten V und Jane im Chor.
Vs Kopf schnellte herum. Jane saß am anderen Ende des Raums auf dem Boden über Blaylocks Bauch gebeugt und nähte einen übelaussehenden Schnitt. Ihre Hände wirkten ruhig, sie arbeitete gekonnt, alles an ihr gab ein Bild professioneller Kompetenz ab. Mit Ausnahme der Tränen, die über ihre Wangen strömten.
Stöhnend richtete er den Blick auf die Leuchte über ihm.
»Ist Morphin in Ordnung?«, fragte Manello, während er den Ärmel von Vs Bikerjacke aufschnitt. »Und versuch nicht, den toughen Kerl zu mimen. Ich habe nichts davon, wenn du dich vollkotzt, während ich hier unten rumstochere.«
Jane antwortete diesmal nicht, deshalb tat V es. »Okay. Morphin ist gut.«
Manny zog gerade eine Spritze auf, da stand Butch plötzlich vor ihm. Selbst bei seiner Schlagseite, die vom Lesser-Inhalieren rührte, klang der Bulle äußerst bedrohlich: »Ich warne dich: Fickst du meinen Freund, fick ich dich. Verstanden?«
Der Chirurg blickte an Ampulle und Nadel vorbei. »Mir ist im Moment nicht nach Sex, herzlichen Dank auch. Und selbst wenn, dann sicher nicht mit ihm. Anstatt dir also Gedanken darüber zu machen, wen ich flachlege, könntest du uns allen einen Gefallen tun und duschen. Du stinkst nämlich.«
Butch blinzelte. Dann lächelte er schräg. »Du hast echt Nerven.«
»Ja, und zwar aus Stahl.«
Als Nächstes spürte V, wie etwas Kaltes in seine Armbeuge gerieben wurde und es piekste, und schon kurz darauf begab er sich auf eine kleine Reise. Sein Körper verwandelte sich in einen Wattebausch und wurde luftig leicht. Nur von Zeit zu Zeit brach Schmerz in sein Bewusstsein, züngelte hoch aus seinem Magen und nagelte sich in sein Herz. Aber es hatte nichts mit Manellos Arbeit zu tun: V konnte den Blick nicht von seiner Shellan abwenden, die seine Brüder verarztete.
Durch die gewellte Scheibe vor seinen Augen sah er zu, wie sie Blay behandelte und sich dann Tohrment zuwandte. Er hörte nicht, was sie sagte, weil seine Ohren nicht richtig funktionierten, aber Blay war offensichtlich dankbar, und Tohr schien es allein schon durch ihre Anwesenheit besser zu gehen. Von Zeit zu Zeit wandte sich Manello mit einer Frage an sie, oder Ehlena wollte etwas wissen, oder Tohr zuckte zusammen, und sie beruhigte ihn.
Sie war vollkommen in ihrem Element. Dieses Heilen, dieses Streben nach Perfektion, diese Ergebenheit an die zu Behandelnden, es war ihr Leben.
Sie definierte sich durch ihre Pflicht gegenüber ihren Patienten, nicht wahr?
Und sie so zu sehen, rückte den Vorfall zwischen ihr und Payne in ein neues Licht. Jane hätte zweifelsohne versucht, Payne von einem Selbstmord abzubringen. Doch wenn es sich als unmöglich erwiesen hätte …
Abrupt, als hätte sie seine Blicke bemerkt, sah sie in seine Richtung. Ihre Augen waren so überschattet, dass er kaum ihre Farbe erkennen konnte, und sie verlor vorübergehend ihre stoffliche Form, als hätte er ihr den Lebenswillen entzogen.
Das Gesicht des Chirurgen schob sich dazwischen. »Mehr Morphin?«
»Was?«, lallte V mit schwerer, trockener Zunge.
»Du hast gestöhnt.«
»Nicht … wegen … Knie.«
»Es ist nicht nur das Knie.«
»… was …?«
»Ich befürchte, deine Hüfte ist ausgerenkt. Ich werde die Hose ganz aufschneiden.«
»Nur zu …«
V wandte sich erneut in Richtung Jane und merkte kaum, wie eine Schere an beiden Seiten seiner Lederhose aufwärtswanderte. Dennoch war offensichtlich, wann er ganz von seiner Hose befreit war. Der Chirurg stieß einen zischenden Laut aus … und verbiss ihn sich sogleich.
Diese Reaktion galt ganz bestimmt nicht den eintätowierten Warnungen in der Alten Sprache.
»Entschuldigung, Doc«, murmelte V, obwohl er sich nicht ganz im Klaren darüber war, weshalb er sich für die Metzgerarbeit unter seiner Gürtellinie entschuldigte.
»Ich … äh … deck dich zu.« Manny verschwand und kam mit einem Laken wieder, das er V über die Lenden legte. »Ich muss mir nur mal hier die Gelenke ansehen.«
»Tu … das.«
Vishous’ Augen wanderten zurück zu Jane, und er fragte sich … wäre sie nicht gestorben und in dieser Form zu ihm zurückgekehrt, hätten sie dann versucht, Kinder zu haben? Es war zweifelhaft, ob er irgendetwas anderes als einen Orgasmus zeugen konnte mit dem, was ihm sein Vater übrig gelassen hatte. Außerdem hatte er nie Kinder gewollt – und wollte noch immer keine.
Trotzdem hätte sie eine erstklassige Mutter abgegeben. Sie war in allem gut, was sie tat.
Fehlte es ihr, das Leben?
Warum hatte er sie das nie gefragt?
Die Rückkehr des Chirurgengesichts riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Hüfte ist tatsächlich ausgerenkt. Ich muss sie einrenken, bevor ich mit dem Knie anfange, weil ich mir Sorgen um die Durchblutung mache. Okay?«
»Bieg mich einfach wieder hin«, stöhnte V. »Was immer dazu nötig ist.«
»Gut. Ich habe das Knie vorläufig geschient.« Manello sah Butch an, der die Aufforderung zu duschen ignoriert hatte und keinen Meter weit entfernt an der Wand lehnte. »Ich brauche deine Hilfe. Sonst hat hier niemand die Hände frei.«
Der Bulle war sofort zur Stelle, sammelte seine Kräfte und stellte sich neben ihn. »Was soll ich machen?«
»Halte sein Becken.« Manny hüpfte auf Höhe von Vs Beinen auf den OP-Tisch und zog den Kopf ein, um nicht gegen die Deckenleuchte zu stoßen. »Das hier wird ein kleiner Kraftakt – anders geht es nicht. Ich will, dass du mich anschaust, und ich zeige dir, wo du anpacken musst.«
Butch stellte sich ganz nah an den Tisch und fasste nach unten. »Wo?«
»Hier.« V spürte vage ein warmes Gewicht auf beiden Seiten seiner Hüfte. »Ein Stückchen weiter nach außen – genau. Gut.«
Butch sah V über die Schulter an. »Bist du bereit?«
Dumme Frage. Als würde man jemanden fragen, ob er bereit war für einen Frontalzusammenstoß.
»Kann’s kaum erwarten«, murmelte V.
»Konzentrier dich einfach auf mich.«
Und das tat V … er sah die grünen Punkte in den braunen Augen des Bullen und die Kontur der gebrochenen Nase und den Bartschatten.
Als der Chirurg Vs Unterschenkel umfasste und ihn langsam anhob, schoss V vom Tisch hoch, sein Kopf fiel in den Nacken und das Kinn drängte vor.
»Ganz locker«, sagte der Bulle. »Konzentrier dich auf mich.«
So, so, interessant. Es gab also Schmerz und SCHMERZ. Aber das hier war SCHMERZ.
Vishous rang um Atem, seine Nervenbahnen waren von Signalen blockiert, er explodierte innerlich, obwohl die Haut drum herum intakt blieb.
»Sag ihm, er soll atmen«, meinte jemand. Vermutlich der Chirurg.
Atmen, ja, ja, ganz bestimmt. Nicht.
»Okay, bei drei drücke ich das Gelenk in die richtige Position – bereit?«
V hatte keine Ahnung, mit wem der Kerl sprach, aber sollte er gemeint sein, sah er keine Chance auf eine Antwort. Sein Herz raste und seine Lungen waren aus Stein und sein Hirn war Las Vegas bei Nacht und …
»Drei!«
Vishous schrie auf.
Einzig das Krachen seiner Hüfte übertönte den Schrei. Und das Letzte, was er sah, bevor sein Bewusstsein sich verabschiedete, war Jane, die panisch den Kopf herumriss. In ihren Augen stand die nackte Angst, als wären seine Schmerzen das Schlimmste auf der Welt für sie.
Und in diesem Moment erkannte er, dass er sie noch immer liebte.