Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort
ERSTER TEIL – An den Quellen des Hasses
I – Vernunft und Wahnsinn
II – Die rätselhaften Wege des Gedächtnisses
III – Sklavenjagd
IV – Die Kolonialmassaker
Postskript
V – Durban oder wenn der Hass auf den Westen den Dialog blockiert
VI – Sarkozy in Afrika
ZWEITER TEIL – Die abscheuliche Erbfolge
I – Vom Sklavenhalter zum alles verschlingenden Raubtier
II – In Indien, in China
DRITTER TEIL – Die Schizophrenie des Westens
I – Die Menschenrechte
II – Zynismus, Arroganz und Doppelzüngigkeit
VIERTER TEIL – Nigeria, die Fabrik des Hasses
I – Die Paten von Abuja
II – Zur Zeit des Biafrakriegs
III – Die Wahlfarce
IV – Bestechung als Herrschaftsinstrument
Postskript
V – Blutspur im Delta
VI – Lagos, Mülleimer des Westens
VII – Die Heuchelei der Weltbank
VIII – Die Sklavenkinder von Wuze
IX – Als Angela Merkel Wole Soyinka ohrfeigte
FÜNFTER TEIL – Bolivien: der Bruch
I – Als die Schweine hungrig waren
II – Ein Indianer im Palacio Quemado
III – Der wiedergewonnene Stolz
IV – »Im Namen des bolivianischen Volkes …«
V – Die Not besiegen
VI – Der Bruch mit dem Kolonialstaat
VII – Das Fest
VIII – Die Ustaschi sind zurück
EPILOG
Danksagung
ANMERKUNGEN
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
Copyright
Dieses Buch ist dem Gedenken von
Jean Duvignaud,
Jaime Vargas,
l’Abbé Pierre
gewidmet.
VORWORT
Ich bewohne eine heilige Wunde
Ich bewohne mythische Ahnen
Ich bewohne einen dunklen Willen
Ich bewohne ein langes Schweigen
Ich bewohne einen unstillbaren Durst
Ich bewohne eine tausendjährige Reise
Ich bewohne einen dreihundertjährigen Krieg
[…].
AIMÉ CÉSAIRE, »Calendrier lagunaire«, Moi, laminaire.
Märzschauer peitschten die hundertjährigen Bäume des Chemin de l’Ermitage in Genf. Eine feine Schicht von nassem Schnee bedeckte das leuchtende Rot der Magnoliensträucher, das Rosa der japanischen Kirschbäume und die goldenen Zweige der Forsythien.
Kurz vor Mitternacht, es herrschte Eiseskälte.
Ich ging neben einer eleganten Frau in einem weißen und ockerfarbenen Sari, über dem sie einen Wollmantel trug. Es war Sarala Fernando, Botschafterin von Sri Lanka bei den Vereinten Nationen in Genf.
Wir kamen von einem Dinner, das Paul Kavanagh, der irische Botschafter, in seinem Amtssitz für europäische, asiatische und afrikanische Diplomaten gegeben hatte. Den ganzen Abend lang hatten wir darüber diskutiert, welche Maßnahmen ergriffen werden könnten, um dem schrecklichen Völkermord Einhalt zu gebieten, den der sudanesische Diktator General Omar Bachir schon seit Januar 2003 in den Gebirgsmassiven und Savannen von Darfur verübt.
Die Männer, Frauen und Kinder der Massalit, Fur und Zaghawa sterben zu Tausenden unter den Bomben der Antonows und den Lanzenstößen der Dschandschawid, der arabischen Reitermilizen. Wie die apokalyptischen Reiter fallen diese Mörder über die afrikanischen Dörfer her, vergewaltigen und verstümmeln die Frauen und jungen Mädchen, schneiden ihnen die Kehle durch, werfen die Kinder lebendig in die Flammen der brennenden Hütten, massakrieren Männer, Jugendliche und Greise.
Die Dschandschawid töten auf Befehl der Generale, die in Khartum an der Macht sind und die ihrerseits von den »Vordenkern« der Islamischen Heilsfront ferngesteuert werden.
Wir schreiben den 20. März 2007.
Vier Tage zuvor hatte die Nobelpreisträgerin Jody Williams als Präsidentin der Untersuchungskommission für Darfur im Saal XIV des Genfer Völkerbundpalastes ihren Bericht dem UN-Menschenrechtsrat vorgetragen.
Die unstreitige, belegbare Bilanz des Völkermords: in vier Jahren mehr als zweihunderttausend Tote, hunderttausende verstümmelte Menschen und über zwei Millionen Flüchtlinge oder Vertriebene.
Auf dem von Paul Kavanagh und seiner Gattin organisierten Dinner sollte eine Kompromissresolution aufgesetzt werden, die man noch in derselben Woche den Vertretern der siebenundvierzig Mitgliedstaaten des Rates übergeben wollte.
Seit 2007 spielt der Menschenrechtsrat auf internationaler Ebene eine entscheidende Rolle. Nach der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat ist er die drittwichtigste Instanz der UNO. Im Gegensatz zum Sicherheitsrat kennt der Menschenrechtsrat kein Vetorecht. Die Großmächte sind dort dem Gesetz der Mehrheit unterworfen, die ihrerseits von einem Bündnis zwischen den Mitgliedstaaten der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz) und den Staaten der Blockfreien Bewegung NAM beherrscht wird. Die wiederauferstandene Bewegung von Bandung nennt sich NAM (Non Aligned Movement; dt.: blockfrei). Der alte Name wurde beibehalten, obschon es den zweiten Block, den kommunistischen, seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht mehr gibt.
Mehr und mehr – und das gilt insbesondere für den Fall Darfur – übernimmt der Menschenrechtsrat die Rolle eines Anti-Sicherheitsrats.
Die Resolution sah vor, vom Tschad aus humanitäre Korridore zu öffnen, um Lebensmittel, Wasser und Medikamente für die Opfer herbeizuschaffen, sowie den Luftraum von Darfur für alle nicht von der UNO genehmigten Flüge zu sperren.
In dem eisigen Wind kommt Sarala Fernando nur mühsam voran. Sie ist eine Frau reiferen Alters mit schönen schwarzen Augen und großem Scharfsinn, die unter den in Genf akkreditierten asiatischen Diplomaten ein hohes Maß an Einfluss und Ansehen genießt.
Plötzlich bleibt sie mitten auf dem Weg stehen.
»Why are they attacking us all the time? … We are civilized … But sometimes it is very difficult to control ourselves, not to speak out …« (»Warum greifen sie uns ständig an? … Wir sind doch zivilisierte Menschen … Aber manchmal haben wir große Mühe, uns zu beherrschen, unsere Meinung nicht klar und deutlich zu sagen …«).
Nur mühsam zügelte Sarala Fernando ihren Zorn. Der Vorschlag, der von den Vertretern der Europäischen Union vorgebracht worden war – in einer scharfen Resolution das islamistische Regime des Sudans zu verurteilen -, empörte sie. Am Tisch des irischen Botschafters hatte sie geschwiegen. Aber jetzt explodierte sie.
»And the Germans, what did they do not so long ago?« (»Und was haben die Deutschen vor noch gar nicht so langer Zeit getan?«). Die Anspielung galt dem deutschen Botschafter Michael Steiner, der damals, im März 2007, gerade den Vorsitz in der Gruppe der Botschafter der Europäischen Union innehatte.1 »Und die Engländer? Erinnern Sie sich, was sie mit den indischen Webern gemacht haben? Um die indische Textilindustrie zu zerstören und ihr eigenes Monopol durchzusetzen, haben sie den Webern – Männern, Frauen und Kindern – die Finger gebrochen … Und bei uns in Sri Lanka haben die Engländer, als sie kamen, hunderttausende Hektar bestellten Lands, auf dem unsere Bauern arbeiteten und lebten, zu waste lands – herrenlosem Ödland – erklärt. Die Bauern wurden verjagt. Hunderttausende von Dorfbewohnern sind verhungert. Auf den Massengräbern, die mit den Leichen unserer Bauern gefüllt waren, haben die Engländer ihre Teeplantagen angelegt.«
In der eisigen Nacht erkannte ich überrascht, dass diese Intellektuelle buddhistischer Herkunft, die zweifellos gebildet und eingehend über die Gräueltaten von Darfur informiert war, jede Kritik westlicher Vertreter an der Diktatur Omar Bachirs als einen unerträglichen Angriff auf die Völker der südlichen Hemisphäre empfand.
Sarala Fernando ist natürlich nicht blind für die Leiden der Menschen in den drei westsudanesischen Provinzen. Wie jeder fühlende Mensch ist sie entsetzt über das Wüten der Dschandschawid – die Massenvergewaltigungen afrikanischer Frauen, die Verstümmelungen der Kinder und die Massaker an den Vätern vor den Augen der versammelten Familien.
Trotzdem lehnt sie jede Form der Zusammenarbeit mit den europäischen Mitgliedstaaten des Rats für Menschenrechte ab.
Diese Ablehnung hat Konsequenzen. Um die Verwundeten zu evakuieren, die Toten würdig zu bestatten und die noch lebende Bevölkerung zu schützen, muss ein bestimmter UN-Mechanismus ins Werk gesetzt werden, der nur mit der Unterstützung der wichtigsten Staaten – also auch derjenigen des Südens – funktionieren kann. Dieser Mechanismus heißt Responsibility to protect (»Schutzverantwortung«).
Am 6. Oktober 2006 hatte der Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, der zufolge zwanzigtausend Blauhelme entsandt werden sollten, um den Genozid an der afrikanischen Bevölkerung Darfurs zu beenden. Doch die Umsetzung dieser Resolution war aufgrund der Responsibility to protect nur mit der Unterstützung der wichtigsten Staaten möglich. Die Weigerung, mit den westlichen Staaten zusammenzuarbeiten, bedeutete in diesem Fall, dass man den Völkermördern freie Hand ließ.
Sarala Fernando ist ein Musterbeispiel für die hochrangigen Diplomaten der südlichen Hemisphäre. Angesichts der gegenwärtigen und vergangenen Verbrechen des Westens hält sie es für skandalös, wenn sich ein westlicher Botschafter – unter welchen Umständen auch immer – auf die Menschenrechte beruft.
In New York, in Genf denkt die überwältigende Mehrheit ihrer algerischen, philippinischen, senegalesischen, ägyptischen, pakistanischen, bengalischen, kongolesischen und weiterer Kollegen genau wie sie.
Weil deren Gedächtnis die gleichen Wunden aufweist wie das Sarala Fernandos. Auch sie bewohnen die »heilige Wunde«, von der Aimé Césaire spricht.
Der Hass auf den Westen, diese unausrottbare Leidenschaft, beherrscht heute eine große Mehrheit der Völker in der südlichen Hemisphäre. Er ist ein machtvoller Mobilisierungsfaktor.
Dieser Hass ist keineswegs pathologisch, sondern manifestiert sich in einem strukturierten und rationalen Diskurs. Und er lähmt die Vereinten Nationen. Indem er die internationalen Verhandlungen blockiert, verhindert er die Lösung von Konflikten und schwerwiegenden Problemen, obwohl dabei unter Umständen das Überleben der ganzen Menschheit auf dem Spiel steht.
Der Westen seinerseits bleibt taub, blind und stumm gegenüber diesen Identitätsbekundungen, in denen sich der brennende Wunsch der südlichen Völker nach Emanzipation und Gerechtigkeit äußert. Er versteht diesen Hass nicht.
Denn das Gedächtnis des Westens ist hochfahrend, jedem Zweifel unzugänglich. Das der südlichen Völker dagegen ist ein verwundetes Gedächtnis. Und der Westen weiß nicht, wie tief und schwer diese Wunden sind.
Hören wir Régis Debray: »Wem nicht klar ist, dass heute in der Gattung Mensch zwei Arten Seite an Seite leben, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen – die Erniedrigenden und die Erniedrigten -, versteht das 21. Jahrhundert nicht. […] Die Schwierigkeit erwächst daraus, dass die Erniedrigenden sich nicht beim Erniedrigen sehen. Mit den Erniedrigten kreuzen sie die Waffen, selten den Blick.«2
Und noch einmal Debray: »Sie haben den Tropenhelm abgenommen. Doch ihr Kopf darunter bleibt kolonialistisch.«
In ihrer Studie »Histoire, mémoire et mondialisation« kommen Bertrand Legendre und Gaidz Minassian ihrerseits zu dem Ergebnis: »Der Süden bittet den Westen nicht mehr um Hilfe. Er verlangt Wiedergutmachung, wenn nicht gar einen Reueakt […]. Der ganze [afrikanische] Kontinent schreit nach Gerechtigkeit […]. Die Europäer verharmlosen die verheerenden Folgen der Sklaverei. Lieber preisen sie deren Abschaffung […], wie François Mitterrand, als er 1981, am Tag seines Amtsantritts, im Panthéon Blumen am Grab von Victor Schoelcher niederlegte […]. Die Nachkommen der Sklaven verlangen Entschädigung vom Westen, da sie noch heute unter den Folgen der Verschleppung leiden.«3
Der Ruf nach Gerechtigkeit, nach Reue erklingt immer häufiger auf den drei Kontinenten.
Legendre und Minassian: »Diese erinnerungsträchtigen Proteste liegen in ihrer Vielfalt und Fülle zeitlich viel zu nahe beisammen, um ein Produkt des Zufalls sein zu können.«
Mit meinem Buch möchte ich die Wurzeln dieses Hasses freilegen und gleichzeitig nach Möglichkeiten seiner Überwindung suchen.
Wie lässt sich verstehen, dass dieser Hass in der heutigen globalen Gesellschaft so plötzlich über den Westen hereinbricht? Ich sehe zwei Erklärungen.
Die erste ist die unvermittelte Wiederkehr des verwundeten Gedächtnisses des Südens. Die lange verdrängten Erinnerungen an die Demütigungen, die seine Völker in dreihundert Jahren Sklavenhandel und kolonialer Besetzung erlitten, tauchen wieder im Bewusstsein auf. Das verwundete Gedächtnis ist eine machtvolle geschichtliche Kraft.
Ihrer Untersuchung widme ich den ersten Teil meines Buchs.
Die zweite Erklärung liegt in einem unerträglichen Widerspruch zwischen Demografie und Macht: Seit mehr als fünfhundert Jahren beherrschen die westlichen Länder den Planeten. Dabei haben die Weißen nie mehr als 23,8 Prozent der Weltbevölkerung gestellt – heute sind es kaum noch 13 Prozent.
Daher ist in den Augen der meisten Frauen und Männer, die in der südlichen Hemisphäre leben, die gegenwärtige, von den Oligarchien des westlichen Finanzkapitals aufgezwungene Weltwirtschaftsordnung das Produkt der einstigen Unterdrückungssysteme, insbesondere des Sklavenhandels und der kolonialen Ausbeutung. Diese Weltordnung bringt einer großen Zahl von Männern, Frauen und Kindern des Südens unsägliches Leid und neue Demütigungen. Auch sie nährt den Hass auf den Westen.
Im zweiten Teil des Buchs untersuche ich die Grundlagen dieser kannibalischen Ordnung und ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein des Südens.
Seit Jahrhunderten versucht der Westen, das Wort »Humanität« zu seinem alleinigen Vorteil in Beschlag zu nehmen. In seinem meisterhaften Werk Die Barbarei der anderen, Europäischer Universalismus zeichnet Immanuel Wallerstein die historischen Etappen der Entstehung dieser »ethnozentrischen Humanität« nach.4
Der Westen sei ein Potentat, ohne es zu wissen, sagt er. Sein liebster Zeitvertreib bestehe darin, der ganzen Welt moralische Lektionen zu erteilen. Sein Gedächtnis sei aus Stein. Es vermische sich mit seinen wirtschaftlichen Interessen.
Seine Arroganz blendet ihn. Schon lange macht sich der Westen nicht mehr klar, wie viel Ablehnung er hervorruft.
Ob bei Abrüstung, Menschenrechten, Kontrolle von Atomwaffen, globaler sozialer Gerechtigkeit – der Westen spricht fortwährend mit gespaltener Zunge.
Und der Süden reagiert mit abgrundtiefem Misstrauen. Er hält diesen Westen, der in seiner Praxis ständig die von ihm verkündeten Werte Lügen straft, für schizophren.
Die Strategie der Doppelzüngigkeit lähmt die internationalen Verhandlungen. Sie verhindert den gemeinsamen Kampf des Südens und des Westens gegen die tödlichen Gefahren, die sie doch beide bedrohen.
Auf verschiedene Beispiele jüngeren Datums gestützt, analysiere ich im dritten Teil diese Gefahren und die Beweggründe für das schizophrene Verhalten des Westens.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit dem symptomatischen Schicksal Nigerias. Denn das bevölkerungsreichste Land Afrikas, das zugleich eines der reichsten der Welt ist, wird heute regelmäßig von den Beutejägern des Weltwirtschaftskriegs geschröpft.
Nigeria, der größte Erdölförderer Afrikas und der achte weltweit, wird seit 1966 von einer Reihe aufeinanderfolgender Militärjuntas regiert. Das Land war nie wirklich souverän. Heute ist es eine ohnmächtige Beute von Shell, BP, Total, Exxon, Texaco und anderen Plünderern. Und 70 Prozent seiner Bevölkerung vegetiert in unsagbarer Armut dahin. Natürlich ist diese Realität ein idealer Nährboden für den Hass auf den Westen.
In Bolivien residiert seit Januar 2006 Evo Morales Ayma, ein aymarischer Bauer, im Palacio Quemado. Seit den spanischen Verwüstungen des 15. und 16. Jahrhunderts ist er der erste indianische Präsident eines südamerikanischen Landes.
Morales hat einen historischen Bruch mit der kannibalischen Weltordnung vollzogen und dem Westen eine bittere Niederlage zugefügt. Dadurch mobilisiert das neu erwachte Identitätsbewusstsein der Aymaras, Quechuas, Moxos, Guarani die Kraft zum Kampf, zum Widerstand und zu ungeahnten schöpferischen Leistungen. Im fünften Teil werden wir betrachten, wie die bolivianische Renaissance auf den ganzen Kontinent ausstrahlt. Dabei geht es auch darum, ein genaues Maß anzulegen: Ist die fortwährende Aufwertung indigener Politik und Kultur, geboren aus dem Hass auf den Westen, mit den universellen Rechtsgrundsätzen vereinbar?
In der Zwickmühle zwischen der Doppelzüngigkeit des Westens und dem Hass der südlichen Völker vermag sich die internationale Gemeinschaft gegenwärtig nicht durchzusetzen. Die Vereinten Nationen sind am Rande des Ruins. Und das Verstummen des Dialogs bringt den Planeten in tödliche Gefahr.
So ist die Genfer Abrüstungskonferenz seit zweiundvierzig Jahren vollkommen lahmgelegt. Die Weiterverbreitung von immer mörderischeren Kernwaffen schreitet munter fort.
Im September 2000 versammelten sich einhundertzweiundneunzig Staats- und Regierungschefs in New York. Sie haben die »Millenniumentwicklungsziele« (engl.: Millennium Development Goals, MDGs) festgelegt, mit denen sie sich verpflichteten, innerhalb einer Generation Unterernährung, Hunger, Epidemien und die extreme Not von 2,2 Milliarden Menschen zu beseitigen. Doch bis heute ist auf diesem Weg nicht der geringste Fortschritt zu verzeichnen.
Zu Beginn dieses Jahrtausends stirbt auf einem Planeten von unermesslichem Reichtum alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. An Krankheit oder Hunger.
Der Wirtschaftskrieg schürt die Wut.
Erniedrigung, Ausgrenzung, Furcht vor dem Morgen sind das Schicksal hunderter Millionen Menschen. Besonders in der südlichen Hemisphäre. Für ihre Völker sind die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Charta der Vereinten Nationen nur hohle Phrasen.
Wie kann man den Westen dazu bringen, Verantwortung zu übernehmen und seine eigenen Werte zu respektieren? Wie kann man den Hass des Südens entschärfen? Unter welchen konkreten Bedingungen lässt sich der Dialog in Gang bringen?
Wie lässt sich eine Weltgesellschaft schaffen, die versöhnt und gerecht ist, die die Identität, die Erinnerungen und das Lebensrecht eines jeden Menschen achtet?
Ich möchte mit dem vorliegenden Buch alle Kräfte mobilisieren, die zur Lösung dieser Fragen beitragen und der Tragödie ein Ende setzen können.
ERSTER TEIL
An den Quellen des Hasses
I
Vernunft und Wahnsinn
Jean-Paul Sartre schreibt: »Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.«
In diesem Satz ist ein Wort entscheidend. Das Wort »was«. Ersetzen Sie es durch »wer«, und Sie rufen auf zum Hass auf Menschen und Nationen. Andernfalls sind die Unterdrückungsstrukturen, die geistigen wie die materiellen, hassenswert.
Die westliche Weltordnung beruht auf struktureller Gewalt. Der Westen geriert sich als Träger universeller Werte, einer Moral, einer Kultur, von Normen, kraft deren alle Völker der Welt aufgerufen sind, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.
Doch dieser jahrhundertealte Anspruch des Westens wird heute von der überwältigenden Mehrheit der südlichen Völker radikal in Frage gestellt. Sie sehen darin einen unerträglichen Beweis für Anmaßung, eine Vergewaltigung ihrer Identität, eine Verleugnung ihrer Besonderheit und ihrer Erinnerung.
Was umfasst der Begriff »Westen«?
Sein Ursprung ist das lateinische Wort occidere – »fallen«. In der Antike bezeichnete es die Region der Erde, in der die Sonne untergeht (Couchant im Französischen, von coucher - »untergehen«), im Gegensatz zu der Region, in der die Sonne aufgeht (lever), dem Osten, der Levante. Im Deutschen haben wir diese Bedeutung in den Wörtern Morgenland und Abendland.
Der Westen ist also zunächst einmal ein Gebiet. Allerdings haben sich seine Grenzen im Lauf der Jahrhunderte verschoben. Zunächst rein europäisch, wurde es mit der »Entdeckung« Amerikas euro-atlantisch.
Außerdem wird der Westen gleichzeitig definiert durch diejenigen, die sich ihm zurechnen, und diejenigen, die ihn ablehnen.
In den arabischen Chroniken der Schlacht, in der Saladin 1187 vor Jerusalem siegte, werden die europäischen Ritter – Engländer, Franzosen, Deutsche – als »Ungläubige«, »Christen«, »Abendländer« bezeichnet. Westen – Abendland – und Christenheit werden während des gesamten Zeitraums der Kreuzzüge, bis ins 14. Jahrhundert, gleichgesetzt. Für das heutige, weitgehend entchristlichte Europa gilt das nicht mehr. Der einzige Kontinent, auf dem die Christen noch wirklich zahlreich vertreten sind, auf dem das Christentum noch wahrhaft lebt, ist Amerika (insbesondere Südamerika).
Vom 16. bis 19. Jahrhundert, im Zeitalter der (europäischen) Kolonialeroberungen in Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien waren die Bewohner der westlichen Welt »die Weißen«. Weiß und westlich wurden deshalb in den Schulbüchern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts synonym verwendet. Heute ist jeder Verweis auf »Rasse«, da wissenschaftlich nicht haltbar, aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt. Außerdem spielen weiße Völker, die nicht aus der euro-atlantischen Welt stammen, mittlerweile eine wichtige politische, wirtschaftliche und militärische Rolle: Perser, Türken, libysche Berber und so fort.
Was ist die heute geläufige Bedeutung des Wortes »Westen«?
Fernand Braudel hat in seinen Vorlesungen an der Johns-Hopkins-Universität eine Antwort versucht: Der Westen definiert sich im Wesentlichen über seine Produktionsweise, den Kapitalismus. Der ist mehr denn je seinem Traum von der globalen Eroberung verhaftet. Er stützt sich auf seine rechtlichen oder tatsächlichen Monopole, selbst wenn er, trotz der Globalisierung, weder in den eroberten Gebieten noch seinen Herkunftsländern den gesamten sozialen Raum beherrscht.1
Als wichtigster Vertreter der Braudel’schen Schule in den Vereinigten Staaten entwickelt Immanuel Wallerstein die Gedanken seines Mentors weiter. Er beschreibt verschiedene Erscheinungsformen des westlichen Eroberungswillens und universalistischen Anspruchs.
Zum einen behaupten die Herrscher der euro-atlantischen Welt, weltweit die »Menschenrechte« und die von ihnen »Demokratie« genannte Staatsform zu verteidigen und – notfalls – durchzusetzen. Der behauptete Universalismus ihrer Herkunftskultur veranlasst sie logischerweise zur Ablehnung und Negation aller anderen Kulturen und Zivilisationsformen. Auch wenn sie ihnen heute ein (exotisches, folkloristisches) Existenzrecht zubilligen, nehmen sie sie nicht ernst, falls sie mit anderen wirtschaftlichen Produktionsweisen einhergehen. Die Führer des Westens postulieren die Existenz »unwandelbarer«, »wissenschaftlicher« Marktgesetze, ähnlich den »Naturgesetzen«. Wenn sich also die nicht westlichen Völker »entwickeln« wollen, haben sie keine andere Möglichkeit, als sich diesen Gesetzen zu unterwerfen.2
Dieser Anspruch schürt den Hass. Doch der Hass, um den es hier geht, ist kalt und rational. In ihm äußert sich die radikale Ablehnung eines globalen Herrschaftssystems und eines totalisierenden Geschichtsbilds – beide vom Westen aufgezwungen. Und er manifestiert sich in Widerstandshandlungen, als Forderung nach Reue und Erinnerung.
Kurzum, dieser Hass nährt heute eine ethische, radikale, definitive Revolte, die so affektiv wie ökonomisch und politisch ist.
Mit Aimé Césaire sagen die Völker des Südens: »Wir können all diese Lügen, all diese Gräuel nicht mehr ertragen.«
Um unseren Gegenstand richtig zu verstehen, müssen wir zwischen dem rationalen Hass und seiner dunklen Seite, dem pathologischen Hass, deutlich unterscheiden.
Immer wieder kommt es in der Geschichte zu einer »Verfinsterung der Vernunft«, wie Max Horkheimer sagt.3 Die Vernunft kollabiert, und das Handeln der Menschen wird von den finstersten Instinkten, den abscheulichsten Perversionen beherrscht.
Francisco Goya war im besetzten Madrid Zeuge der Folterungen und Hinrichtungen, die die napoleonischen Truppen vornahmen, aber auch der Gräueltaten, die die spanischen Aufständischen an den wehrlosen französischen Gefangenen verübten. In seinen schwarzen Bildern (pinturas negras), einer Folge von albtraumhaften Gemälden, die zwischen 1819 und 1823 an den Wänden seines Hauses, der Quinta del Sordo, entstanden, lässt Goya diese soziale Pathologie lebendig werden. Denken Sie beispielsweise an die grauenhafte Darstellung von Saturn, der einen seiner Söhne verschlingt. Die Fresken in der Quinta sind abgenommen und im Madrider Prado konserviert worden. Eines seiner Bilder, eine Radierung, trägt den Titel »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«.
Auf exemplarische Art manifestierte sich dieser monströse Hass am Morgen des 11. Septembers 2001 in New York, in Washington und am Himmel von Pennsylvania. An diesem Tag haben bekanntlich neunzehn junge Leute, größtenteils aus Saudi-Arabien stammend, zwei Linienflugzeuge benutzt, um die beiden an der Südspitze Manhattans gelegenen Wolkenkratzer des World Trade Center zu zerstören. Ein drittes Flugzeug zerschellte im Ostflügel des Pentagons, des amerikanischen Verteidigungsministeriums in Washington. Eigentlich sollte ein viertes Flugzeug das Weiße Haus in Brand setzen, stürzte aber in eine Prärie Pennsylvanias, nachdem die Passagiere – auf ihren Handys über die Angriffe auf New York und Washington informiert – versucht hatten, die Terroristen in der Maschine zu überwältigen.
2973 Menschen (einschließlich der Luftpiraten), die zweiundsechzig verschiedenen Nationalitäten angehörten, kamen ums Leben.
Besonders schrecklich war das Massaker in New York.
Der erste Turm brannte sechsundfünfzig Minuten, der zweite hundertzwei Minuten lang. Von den Flammen eingeschlossen, sprangen Hunderte von Männern und Frauen aus den Stockwerken oberhalb der Einschlagspunkte der beiden Flugzeuge, also aus der hundertsten oder hundertzehnten Etage, in die Tiefe. Im Fallen hielten sich Paare und Freunde an den Händen, bevor sie auf dem Bürgersteig zerbarsten.
Mehrere hundert Opfer erstickten in den Treppenhäusern, wo auch fast vierhundert Feuerwehrmänner, städtische Wachleute und Polizisten bei dem Versuch, den Eingeschlossenen zu helfen, den Tod fanden.
Die beiden Türme stürzten fast gleichzeitig in sich zusammen. Der Vorgang dauerte zwölf Sekunden. Beim Einsturz eines benachbarten Gebäudes (Cantor Fitzgerald), wurden weitere 658 Frauen und Männer getötet.
Der Untersuchungsbericht der New Yorker Hafenbehörde (November 2001), aus dem diese Zahlen stammen, verwendet drei gleichermaßen makabre Kategorien: 1. Bodies found intact (»unversehrte Leichen«): 289; 2. Body parts found (»Leichenteile«): 19 858; 3. Families who got no remains (»Familien, die keine Überreste erhielten«): 1714.
1714 Familien haben also vergeblich darauf gewartet, auch nur einen Teil ihrer toten Angehörigen zu erhalten. Ihre Söhne, Töchter, Väter, Mütter oder Brüder wurden vollständig von den Flammen verschlungen oder beim Zusammenbrechen der Stahlträger bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt.
Selten hat der pathologische Hass in der jüngeren Geschichte so hemmungslos gewütet.
Al-Qaida, die salafistischen Splittergruppen im Maghreb, die Dschihadisten des Mittleren Ostens – sie alle gehören der gleichen Wahnwelt an. Ihre Anschläge, die sich im Allgemeinen gegen die Zivilbevölkerung richten, sind ungeheuerlich. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass sie behaupten, nur auf die Aggressionen zu reagieren, die von der amerikanischen Soldateska und ihren Verbündeten gegen die irakische, afghanische und palästinensische Bevölkerung verübt werden.
Diese Bewegungen, die sich auf den Koran berufen, praktizieren genau das Gegenteil dessen, was der Koran lehrt. Die Pathologie ist sicherlich einem tiefen Leiden entsprungen. Das macht die Menschen labil, vor allem die jungen. Es macht sie anfällig für Verführung, Manipulation und andere Methoden der Anwerbung, die es noch zu analysieren gilt.4 Der rationale Hass ist aus dem gleichen Leiden hervorgegangen. Doch der rationale Hass, der heute zahlreiche südliche Völker zum Widerstand gegen die moralische Autorität des Westens und sein globales wirtschaftliches Ausbeutungssystem aufruft, ist das genaue Gegenteil der wiederkehrenden Explosionen des pathologischen Hasses.
Denn das sei von Beginn an klargestellt: Lichtjahre trennen Nabil Sahraoui, alias Mustafa Abu Ibrahim, Amari Saif, genannt Abderrezak el Para, und Abdelaziz Abi, genannt Okada el Para, die toten Chefs der Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf im Maghreb oder auch Abdelaziz al-Mourkine, al-Qaida-Chef für die arabische Halbinsel, von einem Evo Morales Ayma oder einem Wole Soyinka – von denen unten noch ausführlich die Rede sein wird.
Wir erleben eine Zeit der Wiederkehr der Erinnerungen. Plötzlich besinnen sich die Völker auf die Demütigungen, die Schrecken, die sie in der Vergangenheit erlitten haben. Sie haben sich entschlossen, vom Westen Rechenschaft zu fordern.
Das verwundete Gedächtnis der einstigen Kolonialvölker ist zu einer geschichtsmächtigen Kraft geworden. Aber warum erhebt der Süden diese Forderung nach Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Reue gegenüber dem Westen erst heute, das heißt über hundert Jahre nach Abschaffung des Sklavenhandels und fünfzig Jahre nach Beendigung der kolonialen Besetzung?
II
Die rätselhaften Wege des Gedächtnisses
Das kollektive Gedächtnis folgt Rhythmen, die kein analytischer Verstand vollständig erklären kann. Von allen sozialen Strukturen ist es wahrscheinlich am rätselhaftesten.
Es gibt einen Forscher, der sich in seinem Werk fast ausschließlich damit beschäftigt, die Morphologie und die Etappen der Entstehung des kollektiven Bewusstseins zu untersuchen: Die Rede ist von Maurice Halbwachs. Zwei seiner Bücher sind in unserem Zusammenhang besonders aufschlussreich: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen
5 und Das kollektive Gedächtnis, ein Werk, das postum 1950 in Frankreich erschien.6
Maurice Halbwachs starb 1945 in Buchenwald, kurz vor der Befreiung des Lagers.
Halbwachs formuliert eine empirisch verifizierbare Theorie: Wie Individuen erleben auch menschliche Gesellschaften einen Schockzustand, einen lähmenden Schrecken, hervorgerufen durch eine äußere Aggression, die unvermutet erlitten wird, von extremer Gewalttätigkeit zeugt und sich durch keine bekannte Kategorie des sozialen Denkens erklären lässt. Doch wie reagiert eine Gesellschaft im Schockzustand? Indem sie das verstörende Ereignis, das ihr Bewusstsein nicht bewältigen kann, in die tiefsten Tiefen ihres Gedächtnisses verbannt. Es gibt also deutliche Erinnerungen und dunkle Erinnerungen. Jean Duvignaud, Exeget und Herausgeber von Halbwachs, schreibt: »Historische Gesellschaften besitzen Erinnerungen, die sich vorübergehend der Geschichte entziehen.«7
Je traumatischer ein Ereignis für eine Gesellschaft ist, desto tiefer vergräbt diese es in ihrem Gedächtnis. Dann muss das kollektive Bewusstsein den erlebten Schrecken langsam zähmen. Erst nach einer langen Reifungszeit wird die Kommunikation möglich, verwandelt sich der erlebte Schrecken in einen Analysegegenstand.
In dem Buch Alle Flüsse fließen ins Meer, dem ersten Band seiner Autobiografie, und 2006, in seiner Rede beim Internationalen Literaturfestival in Mantua, hat Elie Wiesel diese geheimnisvollen Rhythmen analysiert.8 Die Überlebenden des Holocaust haben sich lange geweigert zu reden: entweder weil sie sich dazu nicht in der Lage fühlten – zu schrecklich waren die Erinnerungen, die ihr Gedächtnis aufbewahrte -, oder weil sie – wegen der Monstrosität der begangenen Verbrechen – Angst hatten, man würde ihnen nicht glauben.
Bekanntlich sind die die französischen (und aus anderen Ländern stammenden) Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager vom Roten Kreuz 1945 im Hotel Lutetia auf dem Boulevard Raspail in Paris aufgenommen und gepflegt worden. Aber sie sind dort kaum befragt worden. Wie Marguerite Duras bitter anmerkt, wollte niemand ihnen zuhören.
Robert Antelme war der Mann von Marguerite Duras. Als engagierter Widerstandskämpfer hatte er dem gleichen Netz wie François Mitterrand angehört. Die Gestapo verhaftete, folterte und verschleppte ihn nach Buchenwald.
Beim Vorrücken der Roten Armee verlegte die SS die überlebenden Häftlinge mittels endloser Todesmärsche nach Westen. An Ruhr erkrankt und zu einem unkenntlichen Skelett abgemagert, gehörte Antelme zu der letzten Kolonne, die Buchenwald verließ.
François Mitterand, in der Regierung de Gaulle damit betraut, die Kriegsgefangenen und Deportierten zu repatriieren, entdeckte Antelme in Dachau.
Er brachte ihn nach Paris zurück.
Marguerite Duras beschreibt die Rückkehr in ihrem Buch Der Schmerz.
Robert Antelme war selbst ein feinsinniger und hochtalentierter Schriftsteller. 1947 veröffentlichte er L’Espèce humaine
9, ein Buch, in dem er schildert, was er selbst im Lager Buchenwald und im Lager Bad Gandersheim, einem Außenlager von Buchenwald, erlebte.
François Mitterrand hielt L’Espèce humaine für »eines der größten Bücher über die Konzentrationslager« und fügte hinzu: »Es wurde kaum gelesen und geriet fast augenblicklich in Vergessenheit.«10
In dem 1955 erschienenen Buch Le Square
11 von Marguerite Duras findet sich der Satz: »Sie wurden ins Schweigen zurückgetrieben.«
Paris wollte sich vom Albtraum der Besatzung befreien, die Nazi-Gräuel vergessen – die, die im eigenen Land verübt, und die, die den Deportierten in den Lagern im Osten zugefügt worden waren.
Nun konnte aber niemand beim Ende des Dritten Reichs, wie Elie Wiesel eindrücklich in Erinnerung ruft, von sich behaupten, er habe von den Verbrechen der Nazi-Mörder nichts gewusst.
Bereits im Oktober 1945 erhoben der amerikanische Chefankläger Robert Jackson12 und sein Stellvertreter Robert Kempner vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei gingen sie mit einem Höchstmaß an Strenge, aber auch – und völlig zu Recht – einem Höchstmaß an Öffentlichkeit zu Werke.
So folgten mehr als fünfhundert Journalisten aus aller Welt den Verhandlungen.
Die Nazi-Henker waren penible und fleißige Männer. Hunderttausende von Dokumenten, die ihre Verbrechen belegten, waren den Alliierten in die Hände gefallen. Jackson hatte Dutzende von Juristen damit beauftragt sie durchzusehen und die scheußlichsten herauszusuchen. Außerdem stand ihm das Material zur Verfügung, welches die Amateurfilmer der alliierten Truppen bei der Befreiung der Lager gedreht hatten.
Jackson ließ diese Filme vorführen.
Schließlich wurden noch mehrere Augenzeugen gehört.
So berichtete Marie-Claude Vaillant-Couturier, die als Widerstandskämpferin deportiert worden war, über die Schrecken, die sie in Auschwitz erlebt hatte.
Wassili Grossman hatte als erster sowjetischer Korrespondent die Ruinen des Vernichtungslagers Treblinka betreten. Auch er sagte als Zeuge aus.
Mit einem Wort: Ab November 1945 konnte niemand in Europa und der Welt vorgeben, über die Vernichtung von über sechs Millionen Menschen – Juden, Zigeunern, psychisch Kranken, Homosexuellen und Widerständlern – durch die Nazis nichts zu wissen.
Und doch geriet der Holocaust mehr als zwei Generationen lang praktisch in Vergessenheit. Das universelle Bewusstsein verdrängte ihn in seine tiefsten Tiefen.
Aufschlussreich ist das Schicksal von Raul Hilberg. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Holocaust-Historiker, als Wissenschaftler von Weltruf, dabei ist seine Forschung zuerst überall auf Gleichgültigkeit gestoßen. Mit großer Genauigkeit hat er einen Prozess analysiert, an dem praktisch die gesamte deutsche Gesellschaft beteiligt war – Eisenbahner, Chemiker, Architekten, Ärzte, Bürokraten etc. -, und so den Mechanismus des Völkermords freigelegt.
Als österreichischer Jude in die Vereinigten Staaten geflohen, schloss er seine Dissertation mit dem Titel Die Bürokratie Nazi-Deutschlands 1955 ab. Es gelang ihm jedoch nicht, sie publizieren zu lassen.
1961 erschien in einer limitierten Auflage sein monumentales Werk Die Vernichtung der europäischen Juden. Das Buch blieb praktisch ohne Resonanz.
Als außerordentlicher Professor an der relativ unbedeutenden University of Vermont in Burlington setzte Hilberg, fast völlig unbekannt, trotzdem seine Forschungs- und Publikationstätigkeit fort.
Seine Situation veränderte sich erst zwanzig Jahre später13 – dann allerding radikal -, als 1985 die zweite Auflage der Vernichtung der europäischen Juden erschien. Dieses Mal war die Resonanz beträchtlich. Hilbergs wissenschaftliche Autorität fand weltweite Anerkennung. 14
Seinem geheimnisvollen Rhythmus folgend, war das kollektive Bewusstsein endlich an einen Punkt gelangt, wo es bereit war, die schreckliche Realität des Holocaust zuzulassen.
Wir erleben heute den Einbruch einer anderen verdrängten Erinnerung, jener der einstigen Kolonialvölker der südlichen Hemisphäre. »Ich bewohne ein langes Schweigen, ich bewohne einen unstillbaren Durst«, schrieb Aimé Césaire.15 Wie das jüdische Gedächtnis hat das der einstigen Kolonialvölker ein langes Schweigen durchlebt, dem ein plötzliches Erwachen folgte.
In der Zeit vom 18. bis 24. April 1955 kamen im Westen der indonesischen Insel Java, in Bandung, die Staatschefs von siebenundzwanzig südlichen Ländern zusammen: fünfzehn aus Asien, neun aus dem Mittleren Osten und drei aus Afrika. Die Konferenz war von einem kleinen Ausschuss vorbereitet worden, in dem Indien, Burma, Sri Lanka16, Pakistan und Indonesien mitgewirkt hatten. Dabei war es darum gegangen, eine gemeinsame militärische, kulturelle und wirtschaftliche Politik zu definieren, um den westlichen Kolonialmächten Paroli zu bieten und eine eigene kulturelle und politische Identität zu vertreten.
Die Bandung-Konferenz schuf eine gut organisierte, mächtige Bewegung mit rotierender Präsidentschaft, einem ständigen Sekretariat und kontinentalen Koordinierungskomitees. Alle drei Jahre mussten Generalversammlungen abgehalten werden. Aus diesem hochbedeutsamen Treffen entstand die Bewegung der blockfreien Staaten.
Bandung war für die Völker der südlichen Hemisphäre ein entscheidender Augenblick für die Rückgewinnung ihres Gedächtnisses und für die Rekonstruktion ihrer Identität angesichts des westlichen Imperialismus.
Auf den drei Kontinenten lebten noch etliche hundert Millionen Menschen unter dem Joch des Kolonialismus oder der von den Metropolen eingesetzten Satellitendiktaturen.
Bandung war aber vor allem eine Identitätsbewegung. Durch die Stimmen einiger ihrer prominentesten Führer brachten die südlichen Völker – allein dadurch, dass sie diesen Gipfel abhielten – ihre kulturelle, politische und historische Besonderheit zum Ausdruck.
Hören wir Jawaharlal Nehru, Chef der Kongresspartei und Ministerpräsident Indiens: »[…] Viele Inder meiner Generation dachten, die Niederlage der aufständischen Sepoy bedeute eine tödliche Verwundung unserer Völker. Wir haben uns getäuscht. Die Auferstehung kam 1947 […]. Die britische Herrschaft war nur ein Zwischenspiel […]. In unserem Land gibt es viele verschiedene Kulturen. Einige von ihnen sind mehr als fünftausend Jahre alt […]. Die britische Herrschaft war grausam und zerstörerisch, tagtäglich brachte sie Tod und Erniedrigung. Doch grundsätzlich betrachtet, bedeutete diese Herrschaft, so abscheulich sie auch war, lediglich ein Zwischenspiel, eine vorübergehende Unterbrechung unserer Geschichte. Indien erhebt sich aus seiner Erniedrigung und nimmt stolz den uralten Gang seiner Geschichte wieder auf.«17
Liest man die Dokumente und Protokolle der Bandung-Konferenz, ist man verblüfft, welche zentrale Rolle Identitätsthemen und die Forderung nach Wiederherstellung der kulturellen Besonderheit spielten.
Einen besonderen Eindruck hinterließ ein junger Oberst von siebenunddreißig Jahren mit schwarz umschattetem Blick, mattem Teint und leidenschaftlicher Stimme.
Durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen,18 sah sich Gamal Abdel Nasser als »Einiger«, »Befreier«, »Erlöser« des ägyptischen Volks. Die Karawane brauchte einen Führer, und er wollte dieser Führer sein.
Die Befreiung des Volkes vollziehe sich über die Wiederentdeckung der historischen, präkolonialen Gemeinschaft, sagte Nasser: »Das Mittel zur Lösung eines Problems besteht darin, zu seinem Ursprung zurückzukehren, bis zu den Wurzeln des Übels zu gehen. Nach meiner Meinung darf man weder das pharaonische Ägypten vernachlässigen noch die wechselseitige Beeinflussung der griechischen und unserer Kultur. Die römische Invasion und die islamische Eroberung sowie die nachfolgenden Wellen arabischer Völkerwanderungen haben unser Land geprägt […].«
Und dann: »Wenn die Kreuzzüge in Europa den ersten Schimmer der Renaissance ankündigten, so haben sie für unser Land den Beginn des dunklen Zeitalters eingeläutet. Unser Volk hat ganz allein den Schock dieser Schlachten erlitten; sie ließen es vollkommen verarmt und hilflos zurück […].«
Nasser schloss mit den Worten: »Vorbei sind die Zeiten, wo die kolonialistische Piraterie einige Völker zugunsten anderer ohne gesetzliche oder moralische Kontrolle um ihren Reichtum brachte. Wir müssen alle fortbestehenden Nachwirkungen dieser Situation beenden.«
Auch Achmed Sukarno, Chef der Nationalpartei und seit 1950 Präsident der Republik Indonesien, beschwor immer wieder die vorkoloniale Vergangenheit, indem er dem kollektiven Gedächtnis die Namen der großen Könige von Sumatra und Java entlehnte, vor allem Vijaya, Hayam Wuruk, Airlangga. In seinen Reden verwendete er häufig den Ausdruck »die Weißen«, womit er den Gedanken nahelegte, dass die Sowjetunion keine grundsätzlich andere Politik machte als der Westen …
Noch einmal: Bandung kennzeichnet die Geburt einer Identitätsbewegung. Der westliche Unterdrücker wird im Namen der überlieferten Erinnerungen, Identitäten, besonderen Kulturen der südlichen Völker gemaßregelt.
Régis Debray: »Das Archaische ist der harte Kern. Was am ältesten ist, ist am aktivsten.«19
Die Schlusserklärung der Bandung-Konferenz zeigt, wie wichtig es den Teilnehmern war, der universalistischen Anmaßung des westlichen Beherrschers den eigenständigen Identitätsanspruch entgegenzusetzen.
Für die Führer der südlichen Hemisphäre war diese westliche Anmaßung eine Form des Rassismus.
In der Schlusserklärung heißt es: »Asien und Afrika sind die Wiege großer Religionen und großer Zivilisationen, die andere Kulturen und andere Zivilisationen bereichert haben. Die asiatischen und afrikanischen Kulturen beruhen auf universellen geistigen Grundlagen. […] Die Konferenz verurteilt den Rassismus als Mittel kultureller Unterdrückung.«
Fortan folgten die Konferenzen der blockfreien Staaten einander im Dreijahresrhythmus – Kairo, Jakarta, Colombo, Lusaka, Algier, Neu-Delhi, Harare, Cartagena de las Indias, Kuala Lumpur.
Doch schon sehr bald interessierte sich niemand mehr für die Entscheidungen, die dort getroffen wurden. In Ritualen und hohler Rhetorik erstarrt, blieben diese Zusammenkünfte weitgehend folgenlos. Die Bewegung der blockfreien Staaten geriet in Vergessenheit.
Andere, regionalere Bewegungen entstanden. So beherbergten jahrzehntelang baufällige Büros in Héliopolis, Kairo, das Sekretariat der Organisation der Afro-Asiatischen Staaten. Und so wurde auch im Januar 1966 in Havanna die »Trikontinentale« gegründet. Ihre offizielle Bezeichnung: Konferenz für die Solidarität mit den Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Dort waren nationale Befreiungsbewegungen aus zweiundsechzig afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern vertreten. Durch die Vermehrung der antiimperialistischen Widerstandsfronten wollten die Initiatoren der Bewegung die westlichen Unterdrückungsmächte dazu bringen, sich zu verzetteln. In einem zweiten Schritt wollte die Trikontinentale das Vorgehen aller dieser Fronten durch eine gemeinsame Strategie koordinieren und so den endgültigen Sieg des Südens über den Westen vorbereiten.
Das Zustandekommen der Trikontinentale war zwei Jahre lang sorgsam vorbereitet worden. Drei Exekutivsekretäre waren die Seele des Vorbereitungsausschusses: Mehdi Ben Barka, Ernesto Che Guevara und Amilcar Cabral.
Amilcar Cabral, Gründer und Chef des Partido Africano da Independencia de Guinea e do Cabo Verde (PAIGC), fasst die Zielsetzung der Trikontinentale wie folgt zusammen: »[…] denn die Geschichte der Kolonialkriege – und auch unsere eigene Erfahrung aus zehnjährigem Kampf – lehrt uns, dass die kolonialistischen Aggressoren nur eine einzige Sprache verstehen, die des Kampfes, nur eine Realität zur Kenntnis nehmen, die Zahl ihrer Leichen«.20
Doch trotz der minutiösen Vorbereitung der Konferenz, trotz der Begeisterung, welche die Debatten bestimmte, kam die gemeinsame Organisation des Kampfes, die aus all den Resolutionsentwürfen resultieren sollte, nicht zustande.
In Havanna, in einem bescheidenen Gebäude der Quinta Avenida, fristete das Sekretariat jahrzehntelang sein Dasein. Es lockte nur deshalb ausländische Besucher an, weil es von der charismatischen und mutigen Haydée Santamaria geleitet wurde, einer Überlebenden des Angriffs auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953, Auftakt der kubanischen Revolution …
Ich erinnere mich an einen Novemberabend des Jahres 2005 in New York. Das milchige Dämmerlicht drang durch die großen Fenster im Erdgeschoss des UN-Wolkenkratzers am Ufer des East River. Auf dem braunen Wasser des Flusses entfernten sich die letzten Boote in Richtung Brooklyn.
Ich hatte gerade meinen Bericht zum Recht auf Nahrung vor der dritten Kommission der Generalversammlung verteidigt. Da zahlreiche Botschafterinnen und Botschafter westlicher Staaten meinen Vorschlägen feindselig gegenüberstanden, war die Debatte hitzig gewesen.
Ich schickte mich an, ins Helmsley Hotel und dann zum Kennedy Airport zu fahren.
Da reichte mir ein Assistent einen Zettel. Lakhtar Brahimi wünschte mich dringend zu sprechen.
Brahimi ist ein einflussreicher Diplomat und außerordentlich intelligent, einer von denen, die die Geschichte der Vereinten Nationen geprägt haben. Als ehemaliger Außenminister Algeriens hat er das Abkommen von Taif ausgehandelt, das den fünfzehnjährigen libanesischen Bürgerkrieg beendete. 2004 war es wieder Brahimi, der die neue afghanische Verfassung aufgesetzt und dann bei den Paschtunen und Tadschiken durchgesetzt hatte.