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Martin Suter

Allmen und
der rosa Diamant

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2012 im Diogenes Verlag

 

 

Für Toni

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24197 6 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60220 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erster Teil

1

Allmen war etwas nervös. Jeden Moment würde die Rezeptionistin Montgomery melden.

Er saß hinter dem Mahagonischreibtisch eines Büros von Grant Associates in Knightsbridge. Durch das von schweren Vorhängen flankierte Fenster sah er auf den Verkehr des South Carriage Drive und den Hyde Park.

Es war der Sorgfalt zu verdanken, mit der er sein Netzwerk aus früheren, besseren Zeiten pflegte, dass er dieses Büro als Besprechungsort gefunden hatte. Diesmal war es ein alter Schulkamerad aus dem Charterhouse gewesen, der ihm beigesprungen war. Er hieß Tommy Grant, ein gutmütiger, etwas schwerfälliger Junge, aus dem, wie es die Familientradition verlangte, ein Anwalt und seit kurzem der Senior Partner von Grant Associates geworden war, einer vornehmen Anwaltskanzlei in vierter Generation.

[6] Tommy hatte sich über Allmens Anruf gefreut, ihn zum Abendessen mit seiner langweiligen Frau und seinen beiden gelangweilten halbwüchsigen Söhnen eingeladen und überließ ihm nun gerne ein Büro für einen Tag. Oder auch zwei oder drei. Seit sein Vater sich aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen habe, werde es ohnehin nur noch ein paarmal im Jahr benutzt.

Und so konnte er Montgomery im repräsentativsten Büro der alten Kanzlei empfangen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil bei Allmens Bestrebungen, Allmen International Inquiries endlich zum ersehnten internationalen Durchbruch zu verhelfen.

In den zwei Jahren seit der Gründung hatte sich ihr Tätigkeitsfeld vor allem auf die Schweiz beschränkt. Und auf eher kleinere Fälle. Bei keinem davon ging es auch nur annähernd um Beträge wie bei der spektakulären Wiederbeschaffung der Libellenschalen. Es handelte sich um Bilder und Kunstgegenstände im fünfstelligen Bereich von Auftraggebern aus dem Kunst- und Antiquitätensektor.

Die Website allmen-international.com hatte Carlos auf seinem Secondhandcomputer erstellt. Allmen hatte den Text entworfen und die Ästhetik bestimmt. Die Homepage hatte einen flanellgrauen [7] Hintergrund. Ganz oben am Bildrand, gleichmäßig über die ganze Breite verteilt, standen in einer silbernen, elegant spationierten klassischen Antiqua die fünf Städtenamen: New York, Zürich, Paris, London, Moskau. Darunter etwas größer: »Allmen International Inquiries«. Gefolgt von dem Slogan, auf den Allmen ziemlich stolz war: »The Art of Tracing Art.« Was mit »Die Kunst der Fahndung nach Kunst« nur sehr unvollkommen übersetzt wäre und deswegen nur auf Englisch dastand.

Dieser etwas großspurige Internetauftritt täuschte nur auf den ersten Blick darüber hinweg, dass Allmen International Inquiries es noch nicht geschafft hatte, sich von einer schäbigen Hinterzimmerdetektei zu unterscheiden.

Das Einkommen der Agentur bestand in der Hauptsache aus den Stundensätzen, die sie ihren Auftraggebern in Rechnung stellten, und hie und da einer Erfolgsprämie, ein paar Prozent vom Wert des Wiederbeschafften, also dementsprechend bescheiden.

Für Carlos genügte dieses Einkommen immerhin, um seine Tätigkeit als Gärtner und Hausbesorger für die Treuhandfirma, die Allmens Villa Schwarzacker gekauft hatte, auf einen Halbtagsjob zu reduzieren. Aber für Allmens Lebensstil waren es Peanuts. Immer wieder war er gezwungen, [8] Stücke aus seiner eigenen Sammlung schöner Dinge zu verkaufen. Und schon bald würde er wieder Objekte veräußern müssen, die er sich auf andere Art beschafft hatte. Irgendwo und irgendwie.

Deshalb mussten bei diesem Treffen mit Montgomery einfach alle Details stimmen.

»Will you see Mister Montgomery, Sir?«

Allmen zuckte zusammen. Die Stimme kam aus der für den etwas schwerhörigen alten Grant überlaut eingestellten altmodischen Gegensprechanlage. Er drückte auf die abgegriffene Sprechtaste und ließ bitten.

Montgomery war etwas jünger als Allmen, er mochte Ende dreißig sein. Er trug einen gutsitzenden Businessanzug, war sonnengebräunt, sein kurzgeschnittenes Haar war frühzeitig ergraut. Er betrat den Raum selbstsicher und ohne sich umzusehen, als wäre er solche Interieurs gewohnt.

Bei seinem Eintreten war Allmen aufgestanden und ihm entgegengegangen. Er registrierte bei der Begrüßung, dass sein Besucher nicht das Upper-Class-Englisch sprach, das zu seinem Aussehen gepasst hätte.

Er bot ihm einen Sessel aus der schweren Ledersitzgruppe an und setzte sich ihm gegenüber.

»Tee?«

Montgomery lehnte ab. Er legte einen [9] scharfkantigen, abgewetzten Executive Case vor sich auf das Clubtischchen, ließ die beiden Schlösser aufschnappen und entnahm ihm ein dünnes Mäppchen. Dann sah er Allmen in die Augen.

Die von Montgomery waren von einem durchsichtigen Blau. In dem Weiß um die Iris befanden sich ein paar schwarze Pigmentflecken, was es Allmen schwermachte, dem Blick standzuhalten.

»Wie viel Zeit haben wir?«, war Montgomerys erste Frage.

»So viel, wie Sie brauchen.«

»Also wenig.«

Allmen passte sich dem geschäftsmäßigen Ton an. »Ist auch in meinem Sinn.«

Montgomery kam zur Sache: »Ich brauche wohl nicht zu wiederholen, dass alles, was ich Ihnen hier mitteile, streng vertraulich ist.«

»Branchenüblich«, erwiderte Allmen.

Montgomery lehnte sich im Sessel zurück. »Ein rosa Diamant. Sagt Ihnen das etwas?«

Allmen, der Allesleser, hatte kürzlich in der Tagespresse die Versteigerung eines rosa Diamanten bei der Schweizer Niederlassung von Murphy’s verfolgt. Der Stein hatte einen Rekordpreis erzielt.

»Ja. Einer ging für über fünfundvierzig Millionen Franken an einen anonymen Käufer.«

»Dreißig Millionen Pfund.« Montgomery [10] machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er sagte: »Der Mann ist mein Auftraggeber.«

»I see. Der Diamant ist verschwunden.« Es klang nach einer Feststellung. Als wäre die Information nichts Neues für Allmen.

Kein Kommentar von Montgomery. Seine gescheckten Augen hielten den Blickkontakt.

Allmen nahm einen der bereitliegenden Briefbögen von Allmen International Inquiries und schrieb Ort, Datum und »Meeting Montgomery« unter den Briefkopf. Dann sah er Montgomery erwartungsvoll an.

Dieser beugte sich vor und stützte sich auf die Oberschenkel. »Über die genauen Umstände darf ich Ihnen nichts sagen. Nur so viel: Mein Auftraggeber gab einen privaten Empfang in einer seiner Villen an einem Ort, der nichts zur Sache tut. Seine Frau trug den Diamanten. Am nächsten Tag war er nicht mehr da.«

Allmen wartete, bereit zum Schreiben.

»Nicht viel, ich weiß«, sagte Montgomery.

»Und wie sollen wir«, Allmen sprach in der Pluralform, wenn er von seinem multinationalen Unternehmen redete, »wie sollen wir das Objekt finden ohne einen einzigen Hinweis?«

»Die Ermittlungen im Umfeld meines Auftraggebers wurden durch uns selbst vorgenommen. [11] Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo wir es für richtig halten, Dritte einzubeziehen.«

Allmen wartete immer noch auf etwas, das es wert war, notiert zu werden.

»Wir kennen den Verbindungsmann zu denen, die es getan haben.«

»Und weshalb lassen Sie ihn nicht festnehmen?«

Montgomery fasste in sein Jackett und brachte ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein. »Stört es Sie, wenn ich hier rauche?«

Allmen, der sich gerne als nicht-praktizierender Raucher bezeichnete, hasste es, wenn man in seinen Räumen rauchte. Aber er hatte diese Frage noch nie mit »ja« beantwortet. Er erwartete von den Rauchern unter seinen Gästen einfach genug Feingefühl, sie ihm nicht zu stellen. In diesem Fall brachte ihn die Frage in Verlegenheit. Tommy Grant hatte ihn eigens darum gebeten, im Büro nicht zu rauchen. Aus Rücksicht auf das Asthma seines Vaters.

Während er noch mit der Antwort zögerte, steckte Montgomery die Zigaretten kommentarlos wieder ein. »Aus zwei Gründen lassen wir ihn nicht festnehmen. Erstens: Mein Auftraggeber will auf keinen Fall die Behörden einschalten für die Suche nach etwas, was er offiziell gar nie besessen hat. Zweitens: Der Mann ist untergetaucht.«

[12] Allmen nickte. Die Erklärung schien ihm plausibel. »Und wenn wir ihn gefunden haben? Was tun wir, wenn Sie die Behörden ausschließen wollen?«

»Wenn Sie ihn gefunden haben, beschatten Sie ihn und informieren Sie uns. Dann besprechen wir das weitere Vorgehen.«

Montgomery reichte ihm das Mäppchen, das er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Es enthielt ein Blatt, das auf den ersten Blick aussah wie ein Curriculum. Es trug die Überschrift »Artjom Sokolow«. Eine Büroklammer hielt am oberen rechten Bildrand ein Foto. Es zeigte einen schmalen Mann mit schütterem, nach hinten gekämmtem Haar und tiefliegenden Augen.

Die Angaben zur Person waren karg: Geboren 1974 in Jekaterinburg, ca. 190 cm groß, ca. 85 kg schwer, mittelblond. Studium zum Elektroingenieur, Abschluss als Informatiker, arbeitet als freiberuflicher IT-Spezialist. Letzter bekannter Aufenthaltsort: Schweiz. Dazu gab es eine Adresse: Gelbburgstraße 14, Ap. 12, 8694 Schwarzegg.

Allmen sah vom Blatt auf und begegnete Montgomerys Augen, die ihn während der kurzen Lektüre angestarrt haben mussten. »Wie sind Sie auf uns gekommen?«

»Ich habe Erkundigungen eingeholt. Ihr Leistungsausweis hat mir gefallen. Vor allem die Sache [13] mit den Libellenschalen. Fast zehn Jahre sucht die Polizei danach, und Ihr Büro findet sie in kurzer Zeit. Hut ab.«

Allmen lauschte dem Satz nach, ob er ironisch geklungen habe, und entschied sich dagegen.

»Uns gefällt auch, dass Sie ein kleiner Laden sind, in dem der Namensgeber noch persönlich aktiv ist. Und auch Ihre internationale Präsenz kommt unseren Bedürfnissen entgegen.«

Immer noch keine Ironie festzustellen.

»Aber Hand aufs Herz…«

Allmen blickte vom Mäppchen auf, wohin er den Blick während des Lobes bescheiden gesenkt hatte.

»Ist die Sache für Sie nicht zu groß? Jetzt wäre der Moment, es mir zu sagen. Last exit.«

Wie sollte jemand, der einen großen Teil seines Lebens über seine Verhältnisse gelebt hat, einschätzen können, wann eine Sache für ihn zu groß ist? Allmen lächelte nur. »Danke für die Chance.« Dann wandte er sich seinem Blatt zu und machte sich eine stenographische Notiz.

Er hatte in seiner Zeit als internationaler Bummelstudent einen Stenographiekurs nach Stolze-Schrey absolviert. Nicht weil er sich davon einen direkten Nutzen versprach, sondern weil er damit unter seinen Mitstudenten und bei seinem Vater [14] Aufsehen zu erregen hoffte. Was ihm auch immer wieder leidlich gelungen war.

Diese Fertigkeit hatte er sich erhalten. Seine immer persönlicher gewordene Stenographie war zu seiner Geheimschrift geworden. Er liebte sie, wie alles Geheimnisvolle.

Auch Montgomery schien beeindruckt zu sein. Als Allmen aufblickte, sah dieser zum ersten Mal nicht in seine Augen, sondern auf das Blatt.

»Wie lauten Ihre Konditionen?«, wollte er wissen.

So wichtig das Finanzielle für Allmen war, so ungern sprach er darüber. Carlos hatte ihm ein Blatt vorbereitet, auf dem die wichtigsten Punkte aufgelistet waren. Allmen hatte dieses nicht bereitgelegt, um die Nebensächlichkeit des Themas zu unterstreichen. Er stand auf, ging zum Schreibtisch, tat, als müsse er suchen, und kam endlich mit zwei Blättern zurück, die beide mit »Fee Agreement« überschrieben waren.

Achtzig bis hundertfünfzig betrug das Stundenhonorar, je nach Qualifikation der Mitarbeiter und Komplexität von deren jeweiliger Tätigkeit. Recherche- und Fahndungsaufgaben waren zum Beispiel teurer als einfache Überwachung. Dazu kamen Spesen und gegebenenfalls eine Erfolgsprämie von entweder zehn Prozent der Rechnungssumme, [15] oder, falls der Wert des Wiederbeschafften höher lag, zehn Prozent desselben. Ob das Honorar in Franken, Pfund, Euro oder Dollar fällig wurde, hing vom Auftragsland ab.

Diese Honorarvereinbarung reichte er Montgomery. Der überflog sie und legte sie auf das Clubtischchen.

»Und wie fakturieren Sie?«

In diesem Punkt hatte er mit Carlos Flexibilität vereinbart. Je nach Reaktion des Klienten berechnete Allmen International entweder die erbrachten Leistungen oder stellte Akontorechnungen. Montgomerys Reaktion sprach für das zweite Modell.

»Wir stellen Akontozahlungen in Rechnung und gleichen den Saldo – ob zu Ihren oder unseren Gunsten – bei Beendigung der Zusammenarbeit aus.«

»Und wie hoch ist das Akonto?«

»Zwanzigtausend. In Ihrem Fall Pfund.«

Montgomery fischte aus dem Executive Case ein Kuvert und schob es über das Clubtischchen. »Zehn, okay?«

Allmen nahm es ohne Kommentar zur Kenntnis. Das Kuvert ließ er nonchalant dort liegen, wo Montgomery es hingeschoben hatte.

»Und dann ist da noch die Erfolgsprämie. In unserem Fall können Sie ja schlecht von zehn Prozent [16] ausgehen.« Montgomery schraubte den Deckel seines Füllfederhalters ab.

»Ich denke, hier könnten wir Ihnen ausnahmsweise acht Prozent anbieten.«

»Vier«, bestimmte Montgomery. Er strich auf beiden Ausfertigungen die Zehn, schrieb »vier« daneben, datierte und unterschrieb die Vereinbarungen und gab sie Allmen. Dieser unterschrieb ebenfalls und legte sein Exemplar zum Kuvert mit dem Geld.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stellte Allmen sich ans Fenster und sah auf die Straße hinunter. Er sah Montgomery aus der Haustür treten. Er hatte sein Handy am Ohr, klappte es zusammen und steckte es ein. Keine Minute später hielt ein schwarzer Range Rover am Straßenrand. Auf der Beifahrerseite stieg ein Mann aus, überließ Montgomery seinen Platz und machte die Tür zu. Er wartete, bis der Wagen eine Lücke in der Kolonne nutzte und losfuhr, und nutzte dann seinerseits eine Lücke, überquerte rasch die Straße und verschwand im Park. Der Mann trug eine schwarze Sporttasche über der Schulter.

Drei Dinge tat Allmen danach, die er bei weniger günstigem Verlauf des Meetings unterlassen hätte:

Er ging zu Fuß ins Wilton Arms, sein [17] Lieblingspub in Knightsbridge, und trank zwei herrliche lauwarme, randvolle, schaumfreie half pints of bitter.

Er stattete seinem Maßschneider an der Savile Row einen Überraschungsbesuch ab und bestellte einen Dreiteiler aus wunderbarem Donegal.

Und er ließ sich im Claridge einen Upgrade seiner Junior Suite zu einer richtigen Suite machen.

Als er sich am nächsten Morgen zum Flughafen fahren ließ, fiel ihm ein Mann auf. Er fotografierte die Hoteleinfahrt und trug eine schwarze Sporttasche über der Schulter.

2

Carlos empfing ihn in der blauen Schürze, die er zum Schuhputzen trug. Er nahm Allmen Gepäck und Regenmantel ab und folgte ihm in die gläserne Bibliothek.

Er hatte an diesem Sommernachmittag die ausgebleichten orangefarbenen Rollos auf dem Dach heruntergelassen, die früher die Pflanzen und heute die Bücher vor der direkten Sonneneinstrahlung schützten. Auch die Vorhänge waren zugezogen. Die Sonnenstreifen, die da und dort grell durch die Lücken der Verdunkelung fielen, gaben dem großen Raum etwas Theatralisches.

[18] Der Klavierhocker stand schon bereit, umgeben von einem großen Teil von Allmens Schuhen. Kein Paar hatte eine Reinigung wirklich nötig.

Allmen setzte sich und stellte den rechten Fuß auf die schwarzlackierte Schuhputzkiste. Carlos begann zu bürsten. Er stellte keine Fragen, wartete nur darauf, dass Allmen zu erzählen begann.

»Carlos, das ist der internationale Durchbruch von Allmen International Inquiries.«

»No me diga«, erwiderte Carlos, »was Sie nicht sagen.« Er nahm einen Lappen aus der Kiste und träufelte aus einer kleinen Plastikflasche eine Flüssigkeit auf den Schuh. Er hatte ihm nie gesagt, was es war, und Allmen hatte nie danach gefragt. Aber es hätte ihn nicht überrascht, wenn es einfach nur Wasser gewesen wäre.

Allmen erzählte ihm von dem rosa Diamanten, der fünfundvierzig Millionen wert war, und den eins Komma acht Millionen Erfolgsprämie.

Stumm hörte Carlos zu. Klopfte mit dem Zeigefinger unter die Fußspitze, wenn Allmen den Fuß wechseln musste, und murmelte »por favor«, wenn er wollte, dass sein Kunde ein neues Paar anzog.

Die Schuhe standen spiegelblank in Reih und Glied auf dem Teppich, Allmen war am Ende seines Berichts angelangt, und Carlos hatte noch immer kaum etwas gesagt.

[19] »Qué pasa, Carlos? Weshalb sagen Sie nichts?«, fragte Allmen.

Carlos hatte begonnen, die Schuhe in einen Wäschekorb zu schichten, um sie dann in Allmens Schuhschrank zu räumen. Jetzt unterbrach er seine Arbeit. »Die Sache ist zu groß für Allmen International, Don John. Wir sollten den Auftrag ablehnen.«

»Sie meinen, es geht um zu viel Geld?«

»Es geht um zu viel von allem.«

Allmen verstand nicht genau, was Carlos meinte. Vielleicht das Gefühl, das auch ihn auf dem Rückflug kurz befallen hatte: Dass er im Begriff war, sich in eine Welt zu begeben, in der andere Größenordnungen herrschten. Leute, die fünfundvierzig Millionen für einen Fingerring ausgeben wollen und können, sind zu allem fähig. Und Leute, die Fingerringe für fünfundvierzig Millionen klauen wollen und können, erst recht.

»Allmen International wird daran wachsen«, antwortete Allmen.

Carlos schüttelte den Kopf: »Con todo el respeto, bei allem Respekt: Ich fände es klüger, wenn Allmen International Inquiries den Auftrag ablehnte.«

»Denken Sie doch daran, wie viel wir schon investiert haben. Die Reise, das Hotel…«

[20] Genau genommen war es nicht Allmen International, die die Investitionen getätigt hatte. Es war Carlos. Er hatte – nicht zum ersten Mal seit Firmenbestehen – aus seinem Teil der Libellen-Erfolgsprämie und persönlichen Ersparnissen der Agentur ein Darlehen gewährt. Nach seiner Buchhaltung schuldete sie ihm mehr als das Stammkapital von zwanzigtausend Franken, das sie bei der Gründung der GmbH zu gleichen Teilen einbezahlt hatten. Streng genommen gehörte Allmen International Inquiries Carlos Santiago de Leon. Aber da er aus Gründen, die mit seinem Status als Illegaler zu tun hatten, nur ein stiller Teilhaber sein konnte, stand im Handelsregister nichts von dieser kalten Enteignung Allmens.

Mit der Erwähnung der Investitionen hatte Allmen Carlos’ wunden Punkt getroffen. Auch bei ihm war das Finanzielle eine Schwachstelle, nur im umgekehrten Sinn: Während sich bei Allmen wegen seiner Verschwendungssucht alles ums Geld drehte, war es bei Carlos wegen seiner Sparsamkeit.

Und Allmen setzte eins obendrauf: »Kommt dazu, dass Allmen International Inquiries bereits einen Vorschuss bezogen hat.«

Carlos entgegnete nichts darauf. Er kannte seinen Patrón gut genug, um ihm nicht [21] vorzuschlagen, das Geld zurückzugeben. Er wusste, dass er froh sein konnte, wenn noch etwas fürs Haushaltsgeld übriggeblieben war.

3

Allmen hatte Herrn Arnold gebeten, den 1978er Cadillac Fleetwood in der Garage zu lassen und ihn mit seinem normalen Mercedes Diesel zu fahren. Er hatte es ungern getan, aber es lag nun mal im Interesse der Anonymität des Ermittlers.

Sie fuhren durch das zersiedelte Umland der Stadt Richtung Schwarzegg, eine Ortschaft in Flughafennähe. Der dunstige Himmel war mit Kondensstreifen schraffiert. Allmen hatte die Scheibe heruntergelassen. Es roch nach Teer und Sommer.

Die Gelbburgstraße lag am Ortsrand. Eine Siedlung aus öden Mehrfamilienhäusern aus den achtziger Jahren, umgeben von eintönigen Rasenflächen. Zu jedem Haus führte ein schnurgerader Plattenweg an Müllcontainern und Fahrradständern vorbei.

Vor dem Plattenweg der Nummer vierzehn stieg Allmen aus. Das Haus war kürzlich etwas aufgemotzt worden. Über dem Eingang sollte eine Art Baldachin aus Chrom und Glas den Eindruck von [22] moderner Gediegenheit vermitteln. Allmen betrat die Halle. Es roch nach Reinigungsmitteln. Ein Mann in Arbeitskleidung saß auf einer Maschine und bohnerte den Boden aus gelbem gesprenkelten Kunststein. Er beachtete Allmen nicht.

Der Briefkasten von Apartment 12 trug keinen Namen, nur die Überreste eines abgerissenen Namensschildes. Im Lift stand neben dem Knopf der dritten Etage »Ap. 8  12«.

Auch die Klingel an der Wohnungstür war nicht beschriftet. Allmen drückte darauf.

Zu seiner Überraschung wurde die Tür sofort geöffnet. Der abgestandene Mief einer ungelüfteten Wohnung schlug ihm entgegen. Ein mittelgroßer blonder Mann stand vor ihm. Er trug ein Hemd mit geöffnetem Kragen und gelockerter Krawatte zu einer bunten Jogginghose. Die Füße steckten in nicht mehr ganz sauberen weißen Hotelpantoffeln.

»Ja?«, fragte er und brachte es fertig, in diese zwei Buchstaben so viel Akzent zu packen, dass Allmen sofort erriet, dass er einen Ungarn vor sich hatte.

»Verzeihen Sie die Störung, ich suche Herrn Sokolow.«

»Kenne ich nicht.«

»Nach meinen Informationen ist er an dieser [23] Adresse zu finden.« Allmen hielt ihm sein Notizbuch mit der Adresse unter die Nase.

Der Mann warf einen flüchtigen Blick darauf. »Die Adresse stimmt, aber der Name nicht. Die Leute kommen und gehen. Business Apartments.«

»Verstehe. Ihr Vorgänger.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Oder dessen Vorgänger. Fragen Sie doch im Büro.«

»Welchem Büro?«

»Der Immobilienfirma. Die das vermietet. Warten Sie.«

Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld. Allmen hörte das Ploppen von Tennisbällen und die trägen Bemerkungen eines Fernsehkommentators. In der Diele stand ein halboffener Koffer und gab den Blick auf den unordentlichen Inhalt frei.

Der Mann kam mit einer Agenda zurück. »›Immolandia‹ heißt die Firma. Ich dachte, ich hätte eine Karte, aber die muss ich einem Ihrer Vorgänger gegeben haben.«

»Vorgänger?«

»Sie sind der Dritte, der sich nach Sokolow erkundigt.«

Er diktierte ihm die Adresse ins Notizbuch. Noch ehe sich Allmen bedankt hatte, war die Tür wieder geschlossen.

[24] 4

Der Firmensitz von Immolandia lag in einem ehemaligen Quartierladen in einem Außenbezirk. In dem kleinen Schaufenster hingen ein paar Werbefotos von eleganten Apartments und als Businessmänner verkleideten Models. Darüber stand: »Immolandia. Ihr Spezialist für temporäre Business Apartments!«

Allmen ging die drei Treppenstufen zur Eingangstür hinauf und betrat das Geschäft.

Zwei Schreibtische mit Desktops, eine Sitzgruppe für vier Personen, an den Wänden Anschlagbretter mit Fotos der tatsächlichen Objekte. Sie waren um einiges weniger elegant als die symbolischen im Schaufenster.

Es roch nach Zigaretten und dem warm gehaltenen Filterkaffee, der auf einer Heizplatte vor sich hin köchelte.

An einem der Schreibtische saß eine Enddreißigerin hinter dem Bildschirm. Bei Allmens Eintreten sah sie unwirsch auf und taxierte den Störenfried. An der Art, wie er gekleidet war, erkannte sie wohl einen potentiellen Kunden und lächelte ihm zu. Sie erhob sich halb und bot ihm den Besucherstuhl an, der an der Frontseite ihres Schreibtischs stand.

[25] CEO