Hans-Martin Schönherr-Mann

Was ist politische Philosophie?

Über das Buch

Die politische Philosophie spielt eine zusehends wichtige Rolle vor allem in Bezug auf die Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Ihre Grundfragen sind die Gerechtigkeit und Legitimität der politischen Ordnung, der Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit oder auch die humane Gestaltung der Biopolitik.

Neben dem klassisch traditionellen Modell von Platon bis Leo Strauss erläutert Hans-Martin Schönherr-Mann die Grundmodelle der modernen politischen Philosophie: das performative Modell (Machiavelli, Carl Schmitt und andere), das rationalistische (Kant, Marx, Rawls), das sprachphilosophisch ausgerichtete (Cassirer, Derrida) sowie eines, das die Beziehung zwischen Medien und Politik in den Vordergrund rückt (McLuhan, Baudrillard). Dabei geht es immer auch um die Frage, wie die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger bewahrt und gestärkt werden kann.

Über den Autor

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Essayist und Professor für Politische Philosophie an der LMU München.

 

Für Irmi

Einleitung

Was ist politische Philosophie? Eine sehr allgemeine Antwort darauf lautet: Nachdenken über die Formen, Perspektiven und Zusammenhänge des staatlich geregelten Zusammenlebens der Menschen.

Eine etwas differenziertere Antwort auf diese Frage gibt Leo Strauss, einer der einflussreichsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er unterscheidet in seiner programmatischen Schrift aus dem Jahr 1959 What is Political Philosophy? eine klassische von einer modernen Antwort auf diese Frage. Die klassische politische Philosophie wird vornehmlich von Platon und Aristoteles und anderen antiken Denkern entwickelt. An sie schließen Augustin, Thomas von Aquin und konservative moderne Theoretiker wie Leo Strauss selbst an.

Überblick

Im Zentrum der klassischen Antwort steht die Frage nach dem guten Leben, für das der Staat zu sorgen hat. Das gute Leben bringt alle Fähigkeiten des Menschen zu ihrer Blüte und realisiert folglich das Gute, also primär ethische Vorstellungen, die dadurch der Politik zugrunde liegen. Dementsprechend diskutiert die politische Philosophie die großen politischen Fragen: Was ist das Wesen der Freiheit? Wie legitimiert sich politische Herrschaft? Ein Gegensatz zwischen den BürgerInnen und dem Staat besteht für den klassischen Ansatz nicht – die Menschen sind auf den Staat ausgerichtet.

Heutige Vertreter der klassischen politischen Philosophie gehen davon aus, dass kompetente Eliten die Mehrheit lenken müssen, da Menschen gefährliche wie gefährdete Wesen sind.

Die meisten sind zudem unfähig, sich selbst zu regieren, sie müssen diese Aufgabe also anderen überlassen. So stellt Leo Strauss fest, dass es »eine fundamentale und gleichzeitig spezifische Übereinkunft unter allen klassischen politischen Philosophen gab: das Ziel des politischen Lebens ist die Tugend, und die dazu dienlichste Ordnung ist die aristokratische Republik, oder anders formuliert das gemischte Regime.« (1959: 40; eigene Übersetzung)

Die Republik wird von einer Elite regiert. Doch die Bürger dürfen daran partizipieren und wie im antiken Athen in der Volksversammlung mit abstimmen. Aber nicht alle Menschen sind Bürger. In der Antike trugen die politisch verantwortlichen Eliten ihre Staaten. Einen Gegensatz zwischen sich und ihrem Staat sahen sie gemeinhin nicht. Die große Mehrheit der Menschen war dagegen politisch unmündig. Im Mittelalter fanden sich alle Menschen immerhin in einer göttlichen Ordnung aufgehoben. Aber auch in diesen Epochen trug ohnehin nur ein kleiner Teil von ihnen politische Verantwortung.

Die moderne Antwort auf die Frage nach der politischen Philosophie verkürzt Leo Strauss darauf, dass diese sich nur in der Ablehnung dieser klassischen Antwort einig sei. Doch das ist eine etwas knappe Charakterisierung, die man sogar als solche in Frage stellen darf. Es gibt nicht nur politische Philosophen, die sich entweder – ähnlich wie Strauss – möglichst eng an die Antike anlehnen oder diese ablehnen. Manche bleiben ihr auch in starkem Maße treu, obwohl sie sich wie Jean-Jacques Rousseau auf modernen Wegen befinden. Hegel und Hannah Arendt vertreten originell und pointiert die moderne politische Philosophie, lehnen die Antike aber nicht ab, sondern greifen auf sie in starkem Maße zurück.

Das vorliegende Buch skizziert diese klassische Position im ersten Kapitel, wendet sich dann aber intensiv dem zu, was Leo Strauss in seiner Schrift eher stiefmütterlich behandelt, nämlich die unterschiedlichen modernen Antworten auf die Frage: Was ist politische Philosophie?

Gemeinsam ist den modernen politischen Philosophen, zu deren Vorläufern Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes zählen, dass sie von einem Gegensatz zwischen den BürgerInnen und dem Staat ausgehen.

Im 18. Jahrhundert erheben bürgerliche Kreise Ansprüche auf politische Teilhabe. Sie sehen sich durch den von Adel und Klerus beherrschten Staat nicht vertreten. Im 19. Jahrhundert erhebt die Arbeiterklasse Ansprüche auf Mündigkeit. Bis heute emanzipieren sich diverse Bevölkerungsgruppen: Juden, Frauen, Farbige, Ausländer und Homosexuelle. Solche unterschiedlichen Interessen vermag der Staat kaum mehr zu integrieren, so dass er in Gegensatz zu vielen BürgerInnen und ganzen sozialen Gruppen gerät.

Seit der Renaissance entfaltet sich die Aporie zwischen Individuum und Staat als der große, neuzeitliche wie moderne Konflikt, der von der modernen politischen Philosophie unterschiedlich interpretiert wird. Die liberal orientierten Positionen betonen die Mündigkeit und Autonomie der BürgerInnen, so dass sich dieser Konflikt nicht aufheben, sondern höchstens moderieren lässt, bzw. der Staat muss den Interessen der BürgerInnen dienen. Doch diese sind so unterschiedlich, dass ihm dies kaum gelingt. Die gemeinschaftsorientierten Positionen, zu denen natürlich auch traditionalistisch konservative wie jene von Leo Strauss gehören, ordnen die Individuen dem Staat oder dem Gemeinwohl unter. Die Entstehung dieses Konfliktes schreiben sie zumeist der modernen Kulturentwicklung zu und betrachten diese Prozesse entweder als Niedergang (wie Rousseau) oder (wie Marx) als dialektischen Motor des Fortschritts.

Eine moderne, primär technische, somit performative Antwort entsteht wie alle anderen modernen Positionen seit dem 16. Jahrhundert. Sie wendet sich weit vom antik klassischen Konzept ab. Es geht ihr weder primär um das Gerechte noch um das Gute, sondern um Machterhalt, Sicherheit und um eine effiziente Politik. Deren Wirkung steht im Vordergrund – daher performativ: to perform bedeutet, etwas durchzuführen. So orientiert sie sich ethisch nicht an Normen oder Werten, sondern an den Wirkungen des Handelns, für die die Politik die Verantwortung übernehmen soll. Als ethischer Grundzug der Moderne tritt die Verantwortungethik an die Stelle der Normenethik.

Die performative politische Theorie lässt sich dabei durch zwei grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven beschreiben, nämlich primär mit der Formel Politik als eine Technik der Herrschaft, wie sie bereits von Machiavelli in seinem Buch Il Principe propagiert wird. Solcherart Politik orientiert sich nicht an Moral oder Ethik, also nicht mehr an der Frage nach dem guten Leben und damit am Guten schlechthin. Schließlich gibt es entweder keine derartigen Gemeinsamkeiten mehr oder die Menschen ordnen sich nun mal nicht mehr freiwillig dem Staat unter. Daraus entwickelt sich ein modernes Verständnis von Politik, das nach dem Funktionieren des Staates fragt und dabei dessen Legitimitätsgründe ebenfalls nur diagnostisch bzw. deskriptiv untersuchen will.

Daher geht es in der Politik primär darum, möglichst effizient oder geschickt einerseits für stabile politische Verhältnisse zu sorgen und andererseits mit diesen Verhältnissen einem bestimmten Teil der BürgerInnen Vorteile zu verschaffen. Denn Politik wird nicht die Interessen aller BürgerInnen gleichmäßig verwirklichen und mit dem immer wieder propagierten Gemeinwohl doch nur bestimmten Gruppen dienen. Der Konflikt zwischen Staat und Individuum wird in der Regel zu Lasten einer Mehrheit und zu Gunsten einer Minderheit ausgetragen. Doch selbst wenn es umgekehrt wäre, dürften die Interessen der Minderheit nicht vernachlässigt werden.

Die meisten Positionen gehen dabei vom Faktum eines hierarchischen Staates aus, halten dieses denn auch normativ für geboten oder für unveränderlich. Andere Positionen unterstellen, dass sich diese Struktur durchaus verändern lässt und halten dergleichen für normativ geboten bzw. zielen darauf ab, die Strukturen dementsprechend wirklich zu verändern. Dabei wollen sozialistische und anarchistische Modelle die staatliche Herrschaft von Menschen über Menschen durch einen sachlichen Verwaltungsstaat ersetzen. Daher vertreten auch manche performativen Positionen emanzipatorische Absichten. In diesem Sinne analysiert eine zweite Grundkonzeption Politik als ein Geflecht von Machtbeziehungen, das bei Michel Foucault in politische, soziale und individuelle Techniken des Umgangs mit Macht ausläuft. Dabei wird das Individuum weder normativ noch machttechnisch dem Staat unterworfen. Vielmehr werden die individuellen Möglichkeiten analysiert, unter solchen Bedingungen eigene Vorstellungen und Interessen zu realisieren.

Eine weitere Position orientiert sich rationalistisch normativ. Auf die Frage »Was ist politische Philosophie?« antwortet sie mit einer möglichst allgemein akzeptablen Begründung des Rechts und der politischen Institutionen, die ersteres setzen, kontrollieren und ausgestalten, um damit eine gerechte politische Ordnung zu etablieren. Daher handelt es sich nicht um eine primär performative Antwort auf die politischen Herausforderungen, sondern um eine ethische Antwort. Die Frage »Was ist politische Philosophie?« lässt sich durch die Frage ersetzen: Was ist Gerechtigkeit? Genauer, wann sind politische Verhältnisse gerecht?

Darauf geben die vielen Vertreter dieses Ansatzes natürlich sehr unterschiedliche Antworten wie beispielsweise John Locke: wenn sie das Eigentum schützen! Oder John Stuart Mill: wenn sie die Freiheitsrechte der BürgerInnen sichern! Allen diesen Antworten ist gemeinsam, dass sie die Gerechtigkeit einer politischen Ordnung auf ein Legitimitätskriterium stützen, von dem sie jeweils unterstellen, dass alle BürgerInnen diesem Kriterium zustimmen können, also nach dem Muster: Wenn der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgt, dann schafft er gerechte Verhältnisse, somit eine sittliche Ordnung, der alle BürgerInnen nicht nur zustimmen können, sondern zustimmen müssen.

Einerseits betrachtet man unter bestimmten anthropologischen Prämissen analytisch die Strukturen des Staates und des Politischen. Andererseits kritisiert man diese realen Strukturen von normativen Geltungsansprüchen aus oder von utopischen Modellen als ethischen Idealen aus. Oder man entwirft normative Begründungsszenarien zur Legitimation von Grundprinzipien für die Grundstruktur von Staat und Gesellschaft. In der Aufklärung bedient man sich dabei vornehmlich naturrechtlicher und ethischer Ansätze. Im 19. Jahrhundert konzentriert man sich auf Staat und Rechtssystem. Im 20. Jahrhundert werden neben pragmatischen Konzepten vornehmlich normative Modelle entwickelt, die das aufklärerische Programm der Moderne vollenden sollen.

Das normativ rationale Modell unterscheidet sich vom technischen Modell durch ein klares Primat der Gerechtigkeit gegenüber dem Prinzip des Machterhalts und der Sicherheit.

Die vierte Antwort überschreitet sowohl den klassischen, den technischen wie den rational normativen Ansatz in einer Perspektive, die Leo Strauss nicht hinlänglich wahrnimmt, die ihm vielleicht gar nicht so stark bewusst werden konnte. Sie schließt an den linguistic turn an, somit an die Sprachphilosophie, die originäre und avancierteste Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Sprachphilosophie bemerkt, dass die Voraussetzung für das Weltverständnis, damit auch für jedes politische und soziale Denken nicht in hehren Vorstellungen vom ethisch Guten gründet, auch nicht in bestimmten materiellen oder sozialen Interessen, auch nicht in einer blanken Machttechnik, sondern in der Sprache selbst, in deren Funktionen und Strukturen.

Aus sprachphilosophischer Perspektive sind dementsprechend nicht politische Inhalte von erster Bedeutung, sondern politische Symboliken und deren Wirkungen.

Staat und Politik werden nicht mehr unter performativen Bedingungen des Handlungszwangs bestimmt, der Konsens verlangt, sondern sprachphilosophisch als Ort sozialer Konflikte, die ausgetragen und ausgehalten werden müssen, so dass an die Stelle des Konsenses der Dissens tritt. Damit situiert sich dieses Modell ausschließlich auf demokratischem Boden.

Es gibt hierbei allerdings auch verschiedene Bemühungen, das soziale Band unter Bedingungen des sprachphilosophisch unhintergehbaren Dissenses zu restabilisieren. Entweder versucht man den mit dem linguistic turn verbundenen Nominalismus materiell und pragmatisch rückzubinden oder man begreift die Sprache selbst als einigendes Band. Obwohl sich die Idee der Gerechtigkeit nicht mehr universell normativ aufladen lässt, bleibt sie als formaler Anspruch an die Sprache bestehen, die den Dingen doch gerecht werden sollte.

Das linguistische Modell ist posttraditionell und emanzipatorisch orientiert. Was ist politische Philosophie? Das linguistische Modell stellt die Frage der Gerechtigkeit jetzt als Konflikt verschiedener Sprachen oder Diskurse, die sich nur schwierig ineinander übersetzen lassen bzw. die sich gegenseitig schlicht kaum verstehen können. Mit dieser sprachlichen Orientierung spiegelt dieses Modell die Vielfalt der Lebensformen wider und erhebt somit emanzipatorische Ansprüche. Das Individuum ist zwar in die Sprache als Lebensform eingebunden. Doch es formuliert nun eigene Forderungen gegenüber dem Staat, denen er gerecht werden muss.

Die fünfte Antwort schließt an das Problem der Sprache an, wendet sich allerdings einer neuen technologischen Entwicklung zu, die es in dieser Form zuvor nicht gab, nämlich den Massenmedien, die die Politik heute in starkem Maße prägen. Zwar bemerkt Hannah Arendt, dass bereits im Mythos politische Ereignisse nur durch den Beobachter bzw. den Dichter als solche erfasst und überliefert werden. Ohne Homer wüssten wir nichts vom Trojanischen Krieg und von Odysseus.

Doch die modernen Massenmedien, die sich technologischen Entwicklungen verdanken, sind mehr als bloße Beobachter und Berichterstatter. Sie interagieren mit der Politik. Ohne sie als Vermittler könnte die zeitgenössische Politik nicht funktionieren. Daher lassen sich die Medien kaum noch als vierte Gewalt im Staat bezeichnen, wie man sie im 20. Jahrhundert gerne auffasste, während andere in ihnen totalitäre Bedrohungen diagnostizieren. Entweder behindert das reine Zusammenspiel von Politik und Medien die Eliten beim Regieren oder es schränkt die demokratischen Rechte der BürgerInnen ein. Dadurch kann es auch die Bemühungen um Emanzipation diverser Minderheiten beeinträchtigen.

In dieser Perspektive geht die medial orientierte politische Philosophie einerseits von einem Primat des Staates gegenüber dem Individuum aus: der große Bruder. Eine andere Tendenz sieht jedoch in den modernen Massenmedien sich eröffnende Chancen der Demokratisierung und der Emanzipation. Denn während die alten Medien – Zeitungen, Radio und Fernsehen – im 20. Jahrhundert noch weitgehend als Mittel zur Verstärkung politischer Macht verstanden wurden, haben die neuen Medien der mobilen und netzgestützten Kommunikation in den letzten Jahrzehnten Chancen der Demokratisierung und der Emanzipation eröffnet. Sie ermöglichen Kommunikation zwischen sehr vielen Menschen, die sich auf diese Weise politisch organisieren können. Sie bieten eine Ebene der Öffentlichkeit, auf der jeder seine Kritiken und Meinungen sehr vielen anderen mitteilen und zugleich mit anderen darüber diskutieren kann.

Daher kann man in der politischen Philosophie davon sprechen, dass sich mit der Internetgesellschaft neue Perspektiven des Politischen eröffnet haben – das Internet avanciert zu einem neuen zentralen Gegenstand der politischen Philosophie.

So wie auch die Globalisierung verstärken die neuen Medien den sozialen Pluralismus. Sie greifen auf das linguistische Modell zurück, indem sie an die Stelle von klassischen Vorstellungen vom Guten eine Vielzahl medialer Bilder mit hoher psychologischer Symbolkraft setzen.

Doch dadurch ergeben sich Veränderungen in den sozialen und politischen Institutionen. Das Internet ermöglicht Menschen, die von ihren Peergroups oder sozialen Gruppen weit entfernt und isoliert leben, permanent miteinander zu kommunizieren. Dadurch mildert sich der Integrationsdruck auf Einwanderer, die den Kontakt zu ihrer Herkunft in einem hohen Maße aufrechterhalten können. Eine Integration oder Assimilation erscheint ob der neuen Medien schwieriger. Die Verflechtung wird zunehmen, ohne dass sich die Differenzen abschleifen. Toleranz wird umso nötiger sein, ja, verlangt ist Achtung vor dem Anderen in seiner Andersheit.