Italien

Cover

Inhaltsübersicht

Vorwort von Ingo Schulze

«Nein, es gibt wahrlich genug Bücher über Italien», erwiderte ich jedes Mal auf die Frage, ob ich als Stipendiat der Villa Massimo über Rom und Italien schreiben werde. Es gibt wohl kein anderes Land, über das sich deutsche Autoren so oft und so stetig schreibend verbreitet haben wie über Italien.

Aber warum würde ich dann nach Rom gehen? Um ein Jahr ungestört in schönster Umgebung zu arbeiten?

«Warum nicht?», sagte ich und hoffte, von weiteren Nachfragen verschont zu bleiben. Ich war überzeugt von dem, was ich sagte. Daran änderte auch meine Italiensehnsucht nichts, die ich seit langem hegte und die mit jedem Besuch in Italien nur noch größer wurde.

Italien war mir schon als Kind gegenwärtig gewesen. Das in lobender Absicht gebrauchte Synonym «Elbflorenz» für meine Heimatstadt Dresden hatte mich schon früh irritiert. Sollte die unvergleichliche Schönheit Dresdens denn etwas Abgeleitetes sein, nur der Abglanz von jenem Florenz, über das ich nichts wusste? Der Name «Italienisches Dörfchen» beschäftigte ebenfalls meine Phantasie. Ich zweifelte nicht daran, dass die italienischen Erbauer der Dresdner Hofkirche in jener Gaststätte (das Gebäude war erst 1913 als Begrenzung des Theaterplatzes zur Elbe hin errichtet worden) gelebt hatten. Der Zwinger, so hieß es, sei italienischer Barock, im Gegensatz zum französischen Barock in Preußen. Das wichtigste Bild der Dresdner Gemäldegalerie, die «Sixtinische Madonna» von Raffael, ja überhaupt die wichtigsten Bilder stammten aus Italien. Lange bevor ich Cesare Pavese zu lesen begann, war mir Turin ein Begriff. Im Herbst 1973 besiegte Dynamo Dresden Juventus Turin zu Hause zwei zu null und warf den «haushohen» Favoriten aus dem Pokal der Landesmeister, was niemand für möglich gehalten hätte. Spaghetti galten allgemein als Lieblingsgericht (Pizza, Espresso, Cappuccino blieben bis 1989 weitgehend unbekannt). Als ich in der zehnten Klasse Latein lernte, wurde die Antike gegenwärtig. In der Dresdner Skulpturensammlung lassen sich die Herkulanerinnen bewundern, die zu den frühesten Funden in Herculaneum zählen und über verschiedene Stationen bereits 1736 nach Dresden gelangten. An ihnen entwickelte Winckelmann in der Mitte des 18. Jahrhunderts sein Ideal von «edler Einfalt und stiller Größe» – in Abgrenzung zu dem von ihm verachteten Barock, der den Gelehrten auf Schritt und Tritt in Dresden umgab und sogar jenes Gebäude zierte, das die antiken Statuen beherbergte. Meine erste Arbeitsstelle, das Theater in der ehemaligen Residenzstadt Altenburg, schenkte mir die unmittelbare Nähe mit dem Lindenau-Museum, das die bedeutendste Sammlung frühitalienischer Tafelbilder nördlich der Alpen beherbergt. Das Faszinierende an der Sammlung ist, dass sich in höchster Qualität die Herausbildung der Kunst aus dem Kult nachvollziehen lässt, von der Ikone zum Altarbild, vom Altarbild zum Reisealtar und schließlich weiter zum Tafelbild, das man erwarb, weil man es schön fand und damit repräsentieren konnte, wie sich schon bei Petrarca nachlesen lässt. Es geht um nicht weniger als die Erfindung des Bildes in der Neuzeit.

Heute staune ich, wie ich mich als Student der Klassischen Philologie der Antike im Allgemeinen wie auch den Dresdner und Altenburger Sammlungen im Besonderen zuwenden konnte ohne Aussicht, die Welt, aus der all das stammte – das Bauwerk, die Stadt, die Landschaft, die Gesichter, die Stimmen, die Gerüche und Düfte, das Licht, das Klima –, in absehbarer Zeit zu sehen. Um zu begreifen, was mir vorenthalten worden war, musste ich erst nachvollziehen, was in Deutschland schon fast als platonisches Urbild einer Reise gelten kann: die Überquerung der Alpen gen Süden. Wir folgten diesem Vorbild zwei Tage vor Weihnachten 1990 zum ersten Mal, im Schlafwagen von München nach Venedig, unglücklich, uns um den Anblick der Bergriesen, vor allem des Brennerpasses – den ich mir äußerst erhaben vorstellte –, gebracht zu haben durch den Pragmatismus des Fahrplans und unseres Budgets. Ich hatte nie an der Wirklichkeit von Venedig gezweifelt. Die Stadt jedoch tatsächlich zu betreten war ein traumhaft schöner Schock, sicherlich nicht nur für uns Ostler.

Ich war so euphorisch, dass ich meine Mitreisenden überredete, unsere Ankunft mittags in einem Fischrestaurant nahe der Accademia zu feiern. Danach war unser Reisebudget auf die Hälfte reduziert, Restaurantbesuche kamen nicht mehr in Frage. Doch vermisste ich nicht nur nichts, ich fühlte mich weiterhin privilegiert, weil wir an den Imbissständen und in den kleinen Läden Tag für Tag erlesene Speisen fanden, die wir bisher, wenn überhaupt, nur höchst selten genossen hatten.

Nicht zufällig beginnt mein zweites Buch – das erste, das Deutschland zum Hintergrund hat – mit einer Reise nach Italien: «Sie müssen mal versuchen, sich das vorzustellen. (…) Man befindet sich auf der anderen Seite der Welt und wundert sich, dass man wie zu Hause (…) einen Fuß vor den anderen setzt, als wäre das alles selbstverständlich. Wenn ich mich beim Zähneputzen im Spiegel sah, konnte ich noch viel weniger glauben, in Italien zu sein.» (Simple Storys, Kap. 1)

Ein Künstlerfreund belehrte uns darüber, zu welcher Uhrzeit man abends in ein Restaurant geht, in dem man zuvor reserviert hat, und in welcher Reihenfolge man bestellt – und verbot uns ganz allgemein Cappuccino nach elf Uhr.

Fortan bestanden unsere Ferien darin, über die Alpen zu fahren und uns langsam, als gelte es, Bluthochdruck oder Ärgeres zu vermeiden, nach Süden voranzutasten: Mantua, die Toskana, später Umbrien. In Orvieto wäre ich schon fast der römischen Gravitationskraft erlegen und für einen halben Tag nach Rom gefahren. Zum Glück ließ ich diesen Unsinn bleiben und erfüllte mir den Herzenswunsch später.

Und dann plötzlich ein ganzes Jahr Rom. Ich hatte mir genug Arbeit mitgenommen – und viele Bücher über Italien, die ich in der Hoffnung auf dieses Stipendium angehäuft hatte. Zwei Jahre nach dem römischen Aufenthalt erschien «Orangen und Engel – Italienische Skizzen», neun Erzählungen zusammen mit achtundvierzig fotografischen Skizzen von Matthias Hoch.

War ich wortbrüchig geworden, weil ich mich schreibend mit Italien anders hatte vertraut machen können? Weil ich versucht hatte, etwas ins Bild zu setzen, das ich anders kaum verstand? Weil mich der Alltag überrumpelt hatte?

 

Thomas Steinfeld nennt sein Italienbuch «Porträt eines fremden Landes». Zum einen setzt ein gelungenes Porträt – das kann man von einer Fotografin oder einem Maler lernen – immer Wissen und Kenntnisse um das Gegenüber voraus. Zum anderen «funktioniert» der Titel nur deshalb, weil uns Deutschen nach landläufiger Meinung Italien gerade nicht fremd ist. Liegt das an den jahrhunderte-, ja vielleicht sogar jahrtausendealten Erfahrungen der Italiener mit Pilgern, Kaufleuten und Reisenden? In keinem anderen Land fühle ich mich als Tourist so wenig fehl am Platz, so wenig störend, ja beinah dazugehörig wie in Italien. Allein schon die Speisekarten muten vertraut an. Ist unser Blick korrumpiert? Sehen wir nur, was wir schon wissen? Stellt der Titel eine Korrektur unseres Italienbildes in Aussicht? Und damit folgerichtig auch eine unseres Selbstbildes?

Bei diesem Buch habe ich den Verdacht, dass es nicht geplant war. Wer als Korrespondent für einige Jahre nach (und durch) Italien zieht, hat den Auftrag zu berichten. Aber dieses Buch hat noch einen anderen Ursprung.

Schon wenige Seiten genügen, um Zutrauen zu dieser Prosa zu fassen. Hier buhlt keiner um Leser, keine Sensationen locken in den Text. Eher kam es mir so vor, als hätte mich der Autor auf einem Parkplatz aufgelesen und eingeladen, mit ihm zu gehen. Schnell überträgt sich der Rhythmus der Sätze wie ein Schritttempo auf mich als Leser.

Die Reise beginnt mit den Wegen nach Italien und führt dann, grob skizziert, vom nördlichen Westen über die Toskana und Umbrien nach Rom, von dort über Neapel in den Südwesten nach Tarent, den Südosten nach Sizilien und schließlich auf der Ostseite des Apennin wieder hinauf in die Poebene, um dann über Venedig, das Friaul und Triest in Mailand zu enden.

Für den Autor ist Italien ein Land, das sich «im Großen fremd geworden ist», ein Land, «das Fremde abweist und anzieht» und «das in dem Maß, in dem es die Vertrautheiten von einst enttäuscht, neu entdeckt werden muss».

An diesen «Entdeckungen» ist das Buch reich, selbst in jenen Landstrichen, in denen ich mich auszukennen glaubte, wurde ich überrascht. Manche Beobachtung erscheint zuerst simpel. Italien, so Thomas Steinfeld, unterscheidet sich in einem wichtigen Aspekt von anderen großen europäischen Staaten: «Die Städte, allesamt schön, eigenartig und interessant, liegen im Abstand von meist dreißig Kilometern zueinander, und das Wetter lädt oft dazu ein, sich im Freien aufzuhalten.» Und man selbst möchte hinzufügen: Stimmt, in Italien liegt das Schöne immer nah. Aber habe ich mir das je bewusst gemacht?

Und so geriet ich auch im Buch von einer Betrachtung und Anregung zur nächsten, ohne je eine Ödnis durchqueren zu müssen. Neben den sparsam gesetzten Vergleichen des Autors sind es oft Passagen aus der Literatur, dem Film oder der Musik, in denen Betrachtungen kulminieren und noch eine zusätzliche und unerwartete Dimension gewinnen. Wer will, kann darin aber auch den Anfang eines Fadens sehen, Anregungen, denen zu folgen jedem freisteht.

Dieses Buch ist die Frucht eines Journalistenlebens, in dem es auf Reaktionsschnelligkeit und Effektivität ankommt. Jetzt aber spielt Zeit keine Rolle mehr. Das akkumulierte Wissen kann mit Muße gesichtet und verdichtet werden und wird mir, dem Leser, eher als Frage denn als Gewissheit vorgelegt. So fragt Steinfeld zum Beispiel, ob es nicht «in Italien einen Typus von Modernität gibt, der Vormodernes anders integriert hat, als dies etwa in Deutschland oder Frankreich der Fall war».

Ohne mir dessen immer bewusst zu sein, gleiche ich beim Lesen die eigenen Italienerfahrungen unentwegt mit jenen des Buches ab. Trotz meines privilegierten Aufenthaltes als Bewohner der Villa Massimo begegneten mir zwischen Kindergarten, Supermarkt, Spielplatz- oder Arztbesuchen, Besichtigungstouren und Ausflügen viel öfter als in Deutschland jene, die am Rand der Gesellschaft mitunter versteckt, ja fast unsichtbar leben oder, besser gesagt, ihr Dasein fristen. Von den Männern, die uns vor dem Supermarkt die Einkaufswagen bereitstellten, nach der Kasse die Einkäufe in Tüten packten und zum Auto oder nach Hause trugen, über einen Hausmeister aus Darfur, der auch auf Sizilien die Erinnerungen an die Metzeleien zu Hause kaum ertrug, und den in eine Phantasieuniform gesteckten afghanischen Jungen, der als Hausangestellter auch das Servieren der Speisen zu übernehmen hatte, oder die Parkplatzanweiser und Straßenverkäufer, die sich davonmachten, sobald Polizei auftauchte, bis hin zu den Prostituierten aus afrikanischen Ländern, die die letzten Kilometer der Straße zum Strand hin säumten. Für die meisten von ihnen ist die Freizügigkeit des Reisens noch immer kein Menschenrecht, sondern etwas, das illegal, mit all den dazugehörigen Gefahren, Demütigungen und Unsicherheiten, erschlichen werden muss. In Italien wurde für mich etwas sichtbar – und in diesem Buch begegnete es mir wieder –, das ich damals in Deutschland entweder in meinem Alltag umgangen hatte oder das einfach noch nicht so sichtbar existierte, weil sich die Staaten nördlich der Alpen hinter dem sogenannten Dublin-Abkommen verstecken konnten, das alle Verantwortung jenen Staaten zuschob, die die Frauen, Kinder und Männer auf ihrem Weg in den Norden als Erstes betraten. Als ich die Passagen dieses Buches über Prato bei Florenz oder die Poebene (eine meiner Lieblingsstellen) las, rieb ich mir die Augen, in welchem Maß Arbeiter aus China und Indien, aus afrikanischen Ländern oder aus Rumänien und Albanien nicht nur legal in die italienische Wirtschaft eingebunden sind, sondern diese gerade in traditionellen Zweigen überhaupt noch am Leben halten.

Ein zweiter Aspekt gerät beim Lesen dieses Buches regelmäßig ins Blickfeld: Nahezu unausweichlich ist man in Italien mit historischen Tiefen und Schichtungen konfrontiert. Schon an der nächsten Straßenecke kann man wie zufällig auf ein Bauwerk oder einen Ort treffen, das oder der einen fünfhundert Jahre, tausend Jahre, zweitausendfünfhundert Jahre oder noch weiter in die Vergangenheit führt, ja gewissermaßen in einen «Schacht» stürzen lässt. Sei es die Kirche unter der Kirche oder der Mysterienschrein unter beiden.

In einer Ferienpension nahe Syrakus machten wir Station und entdeckten beim Lesen eines Reiseführers, dass sich unser Quartier genau auf jenem Landstück befand, auf dem im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Athener ihr Feldlager aufgeschlagen hatten, als sie im Peloponnesischen Krieg die Strafexpedition nach Syrakus unternahmen, während der sie entweder im Kampf fielen oder ertranken oder vor die Wahl gestellt wurden, als Gefangene gleich abgestochen zu werden oder etwas langsamer in den Bergwerken zu verenden. Und am selben Tag betritt man den Dom von Syrakus und begreift, noch während sich die Augen an das Dunkel gewöhnen, dass man in einem antiken Tempel steht, an dessen abgegriffene Säulen, deren Kanneluren erst oberhalb der Reichweite menschlicher Körper wieder sichtbar werden, sich schon Platon angelehnt haben könnte, als er den Tyrannen von Syrakus besuchte, um bei ihm seinen Idealstaat zu verwirklichen. Ein Raum, der ungefähr tausend Jahre lang ein Tempel gewesen war und nun seit tausendfünfhundert Jahren eine Kirche ist, ein Raum, den seit zweieinhalbtausend Jahren Menschen Tag für Tag aufsuchen, um Trost, Hoffnung, Schutz oder Ruhe zu finden.

Die heutigen Konflikte werden durch die Gegenwart von zweitausendfünfhundert Jahren Geschichte nicht schlimmer oder besser. Aber ich konnte mich nie des Eindrucks erwehren, als würde all das, was ich im Studium, in Büchern, in Kirchen und Museen, in Straßen und auf Marktplätzen über die Vergangenheit gehört, gesehen und gelernt habe, durch die Anwesenheit derjenigen, die bei uns Schutz suchen, verlebendigt und vergegenwärtigt. Auf bedrängende Art und Weise erlebte und erlebe ich in Italien Geschichte als ein Kontinuum, dessen Teil ich bin.

Mitunter verfalle ich in einen Wettstreit mit dem Autor dieses Buches und will ihm beweisen, manches zu wissen, das er zumindest nicht erwähnt. Wie kann man nur über Italien schreiben und dabei die wunderbaren Socken und Strümpfe der Marke «Gallo» ignorieren, die es seit einigen Jahren nur noch in Italien zu kaufen gibt? Und wie soll man den neuen Heiligen von Neapel überhaupt erkennen, wenn er ohne alle Rangabzeichen als «offensiver Mittelfeldspieler namens Diego Maradona» ein einziges Mal, und das beiläufig, erwähnt wird? Da braucht es viele gute Betrachtungen der musikalischen Szenen Italiens, um das wiedergutzumachen.

Dieses Buch stellt Fragen, die letztlich, ohne dass dies explizit wird, auch immer wieder zu uns zurückführen. Aufschlussreich sind die Analogien in der Geschichte Italiens und Deutschlands, sei es der späte Nationalstaat, sei es die noch in den Anfängen steckende Aufarbeitung ihrer Rollen als Kolonialmächte, sei es die jeweilige Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus. Vielfach ist das heutige Erscheinungsbild von Bauwerken, Plätzen oder Festen – die wir nicht selten gerade als besonders «echt» oder «archaisch» bewundern – letztlich durch eine faschistische Ästhetik bestimmt. Denn sie isolierte das Kunstwerk von seiner Umgebung, tilgte die «Verunreinigungen» des alltäglichen Lebens, seien es An- oder Überbauungen, erfand oder vereinheitlichte Rituale und Ensembles.

In der neueren Zeit sind die Auswirkungen des Umbruchs von 1989/1990 auf die Parteienlandschaft Westeuropas wahrscheinlich nirgendwo so deutlich zu fassen wie in Italien. Die Kämpfe um die Deutung der Vergangenheit sind Kämpfe um den unmittelbaren Machtanspruch hier und jetzt. Und auch wenn es immer um Italien geht, stellt sich oft der Eindruck her, der Autor spreche über Deutschland: «Die Vorstellung, Kultur setze einen deutlichen Abstand zum großen Staat voraus, hat sich allerdings erhalten.»

Dieses Buch zu lesen ist wie eine Reise mit einem kundigen Führer, der, so scheint mir, das Buch in einem Moment geschrieben hat, in dem sich Wissen und Fremdheit die Waage hielten, in dem das Maß an Kenntnis groß genug war, um nicht an der Oberfläche zu verbleiben, und der Blick trotzdem noch voller Fragen und Neugier war, der das, was die Einheimischen für selbstverständlich halten, gar nicht selbstverständlich findet.

Man braucht keinen Vorwand (zum Beispiel ein Buch), um Italien zu bereisen, um dem Genuss und der Kunstbegeisterung zu frönen, sich treiben zu lassen, zu schauen. Aber vielleicht sind Aufzeichnungen unabdingbar, weil einen das Schreiben zwingt, öfter stehen zu bleiben, genauer hinzusehen, ja den Dingen eher auf den Grund zu gehen, auch dann, wenn die Anstrengung größer als die Neugier zu sein scheint. Das Schreiben bringt einen dazu, eine Beobachtung tatsächlich zu formulieren, es bewahrt einen davor, einem Gedanken nur ein paar Stunden oder Tage nachzuhängen, statt ihn weiterzudenken und ihm Kontur zu geben. Diese Anstrengung kommt vor allem dem Schreiber selbst zugute, eine Freude, die sich selbst genug ist. Deshalb vermute ich, dass Thomas Steinfeld dieses Buch für sich selbst geschrieben hat. Für uns als Leser hat es den Vorteil, dass er niemanden überzeugen will, aber selbst zu verstehen sucht. Und jede gute Beobachtung, jeder eigene Gedanke ist ansteckend. Dieses Buch macht einen selbst munterer, wacher, entdeckungsfreudiger und auch selbstkritischer. Und immer wieder ließ es mich Reisen planen.

Mitunter erfüllt sich ja eine Reise erst im Moment der Heimkehr, in der das Eigene fremd erscheint, als hätten sich die Dinge in unserer Abwesenheit ein wenig verschoben oder als betrete man die eigenen vier Wände durch eine bisher übersehene Tür. Von diesen freudig-unheimlichen, in jedem Fall aber erkenntnishaften Augenblicken beschert einem dieses Buch sehr viele.

Eine plötzliche Eintrübung des Blicks

Groß war, über die vergangenen drei Jahrhunderte hinweg, die Zahl der Menschen, denen Italien als eine höhere, freundlichere und irgendwie bessere Form des Lebens erschien. Die meisten kamen nur für ein paar Wochen, wie zu einem Besuch. Sie kamen aber immer wieder. Manche von ihnen wollten darüber hinaus in Italien wohnen, möglichst auf Dauer und oft verbunden mit der Vorstellung, überhaupt erst in diesem Land zu ihrem eigentlichen Dasein zu finden. So innig jedenfalls war der Wunsch, dass einige dieser Menschen sogar verlangten, in Italien sterben zu dürfen, so als bewohne man das Land noch mit der Seele, während der Körper dahingegangen ist. Kein anderes Land gibt es, Frankreich vielleicht ausgenommen, dem außerhalb der eigenen Grenzen derart hochgespannte Gefühle gelten: um der Schönheit seiner Landschaften willen, seiner historischen Stätten und seiner Kunstschätze wegen, ob seiner zivilisierten und geselligen Bevölkerung oder des guten Essens. Italiensehnsucht nennt man dieses Gefühl, das vor allem, aber nicht nur, von Deutschen gehegt wird. Erwartungen dieser Art setzen, sollte man meinen, ein hohes Maß an Vertrautheit voraus.

Umso beunruhigender wirken die schlechten Nachrichten, die seit einigen Jahren in dichter Folge aus Italien kommen. Einige von ihnen

Als wäre das alles nicht genug, war Italien das erste europäische Land, in dem das Virus SARS-CoV-2 Menschen in großer Zahl befiel. Zehntausende starben, weil weder die Medizin noch die Politik irgendeine Erfahrung mit der Krankheit besaßen. Vulkane brechen aus, und Seilbahnen stürzen ab. Brücken brechen ein, und plötzlich eintretende Überschwemmungen werden zu einem häufigen Phänomen. Italien ist, so ein mittlerweile weitverbreiteter Eindruck, vielleicht immer schon ein anderes Land gewesen, als man jeweils glaubte. Gegenwärtig aber scheint das Land immer fremder zu werden, was offenbar sogar für seine größten Liebhaber gilt: «Im Norden ist sehnsüchtig oder tadelnd immer vom Schönheitskult der Italiener die Rede», sagt der Schriftsteller Martin Mosebach. «Sind damit etwa die bläulich weißes Licht ausgießenden Neonröhren gemeint, die hier überall die gebräunten Sommergesichter grau und faltig machen? Ob in Wirtshäusern oder Wohnungen – die eiskalte Lichtdusche von der Zimmerdecke lässt alles darunter totenstarr werden.» Es mag sein, dass diese Fremdheit erst entsteht, wenn man sehr vertraut miteinander war. Doch ist es mittlerweile, als gäbe es dort jenseits aller Sehnsuchtsbilder etwas Unheimliches, etwas, das in jederlei Hinsicht das Vertraute unterminiert.

Diese Kontinuität ist nichts Abstraktes. Sie lässt sich aus fast jedem alten Gemäuer, aus jedem Gemälde, aus den Speisen herauslesen, sie wohnt den Landschaften inne, die, fast seit ewigen Zeiten bewirtschaftet, selbst ein gleichsam menschliches Antlitz angenommen haben. Wohin man auch blickt: Man sieht, dass es Menschen gab, die sich mit Klugheit und Umsicht, voller Ideen und mit viel Phantasie in ihrer Welt einzurichten suchten, und zwar keineswegs nur in praktischer Hinsicht, sondern stets auch mit einem Überschuss an Schönheit. Unzählige Kriege wurden in Italien geführt, es gab Erdbeben und Überschwemmungen. Und doch blieb das Land von den ganz großen Umbrüchen verschont, so dass manches Alte zwar dahinsank, nie aber ein historisches Ereignis zu einem völligen Umbruch in der Gesellschaft führte. All diese Dinge lassen sich betrachten, und auf diese Weise erfährt man auch, dass der technische Fortschritt nur einer der Aspekte ist, an denen sich die Qualität eines Lebens messen lässt.

Zu jener Zeit, Ende des Jahres 2013 also, war nicht nur deutlich absehbar, dass Italien schon bald ein großer Konfliktfall innerhalb Europas wie innerhalb der Europäischen Union werden würde, sondern auch, dass die nicht zuletzt kulturell inspirierte Liebe der

Meine Erlebnisse und Erfahrungen in den darauffolgenden Jahren sind in dieses Buch eingegangen. Es ist das Ergebnis zahlloser Unternehmungen und Aufenthalte, nicht etwa einer einzelnen, längeren Reise. Dennoch ergeben die Kapitel in ihrer Folge einen Weg, der im Piemont beginnt, an der Westküste Italiens entlang bis nach Sizilien führt und sich dann an der Ostküste hinaufzieht bis nach Venetien und in die Lombardei. Dabei ging es mir vor allem um gesellschaftliche Verhältnisse, die sich dem Ausländer erst allmählich, nach genauem Beobachten, nur mit Unterstützung italienischer Mittler und durch einiges Nachdenken erschließen. Was eine Piazza ist, wollte ich wissen, wie die Landschaft der Toskana entstand, was es mit der Popularität des Padre Pio auf sich hat oder warum man im Norden Italiens so viele ältere Herren sieht, die am Wochenende auf Rennrädern über Hügel fahren. Ich hatte ein Buch im Sinn, in dem die Erfahrungen, die man auf Reisen macht, Anlass sind, über die Gründe dieser Erfahrungen nachzudenken. Ich wollte die Dinge, die ich sah, die Städte und Landschaften, aber auch die Menschen und manchmal auch die Ereignisse, selbst sprechen lassen.

Selbstverständlich ergeben die Reisen, die diesem Buch zugrunde liegen, kein vollständiges Bild des Landes. Den Aspromonte, das Bergmassiv im Süden Kalabriens, die vermutlich verlorenste Landschaft Italiens, habe ich nur aus der Ferne erblickt. Es fehlt die Maremma, es fehlt Molise und vieles mehr, und auch von Sardinien ist kaum die Rede. Alle Orte aber, die vorkommen, habe ich mehr als en passant besucht. Fünf Jahre hatte ich Zeit für meine Ausflüge in ein fremdes Land. Für die Neuausgabe dieses Buches war ich wieder dort. Ich kehre heute ebenso gern nach Italien zurück, wie ich damals dorthin gezogen bin.

*

Etwas Älteres setzt sich in diesem Verschwinden und Verfehlen, in der vermeintlichen Abkehr Italiens von sich selbst fort, etwas, das in verschiedenen Graden der Intensität immer schon da gewesen sein muss – zumindest seit es Italien als Nationalstaat gibt, also seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Denn diese Vereinigung vollzog sich nicht so, wie es in Deutschland geschah, wo der mit Abstand größte Teilstaat zur tragenden Kraft des Nationalstaats wurde, sondern als eine Art von Inbesitznahme des Großen durch das Kleine. Gestützt auf Frankreich und Großbritannien, auf fremde Mächte also, übernahm eine Provinz im Nordwesten das ganze Land und brachte seine Herrschaftsform, einen aufgeklärten, bürokratisch durchgestalteten Absolutismus, gleich mit. Daraufhin wurde die Vereinigung im Süden als eine Art Eroberung wahrgenommen: als erzwungene Eingemeindung einer bäuerlichen Gesellschaft in eine andersartige, nördliche Welt, die schon von einer bürgerlichen Mittelschicht beherrscht wurde.

Überhaupt scheint die innere Befriedung des Landes eine keineswegs abgeschlossene Angelegenheit zu sein. Die Carabinieri bilden nicht zufällig eine militärische Organisation, die innerhalb des

Ein Gefühl der erzwungenen Eingemeindung scheint vor einigen Jahren, unter anderen Vorzeichen, wiedergekehrt zu sein (es war nie vollständig verschwunden) und ganz Italien ergriffen zu haben. Der Journalist Mario Giordano, in Silvio Berlusconis Konzern Mediaset für die Sendeformate zuständig, hatte mit seinem Buch «Italien ist nicht mehr italienisch» im Frühjahr 2019 in Italien beachtlichen Erfolg. Das Werk ist ein Klagelied auf einen Ausverkauf: Es handelt von den Ansprüchen, die Italien an sich selbst stellen sollte, von ehemals stolzen italienischen Firmen, die Weltgeltung besaßen. Und es handelt von nationaler Schmach, vom Gefühl, als Italiener degradiert worden zu sein, von einem Gefühl, das umso absurder erscheint, je offensichtlicher ist, dass es ja Italiener waren, die den Ausländern ihre Unternehmen verkauften, sei es freiwillig oder unter Zwang. Anlässe für die Behauptung, Italien sei nicht mehr italienisch, gibt es in großer Zahl: Der Reifenhersteller Pirelli gehört einem chinesischen Konzern, aus Fiat ist ein niederländisches Unternehmen geworden, die Mailänder Modefirma Versace ist amerikanisches Eigentum. Die Villen der Toskana befinden sich in den Händen von Amerikanern, Briten und Deutschen, einige der besten Weingüter in Montalcino, im Chianti, im Piemont wurden an ausländische Investoren verkauft, und die Geschäfte der Camorra werden von Nigerianern kontrolliert. Unterdessen lassen sich russische Oligarchen, wie die Journalisten Jacopo Iacoboni und Gianluca Paolucci berichten, bevorzugt auf großen Gütern in der Maremma nieder.

Immer mehr Bars, Hotels und Ladengeschäfte im ganzen Land

Und während so immer größere Teile Italiens in ausländische Hände geraten, gibt es in fast jedem Dorf, jeder Kleinstadt eine Piazza Garibaldi, benannt nach dem Helden der italienischen Einheit, eine Statue Viktor Emanuels II., des ersten Königs von Italien, eine Via Mazzini, die nach dem patriotischen Journalisten Giuseppe Mazzini heißt, dem Kopf der italienischen Einheit, und einen Corso Cavour, benannt nach Camillo Benso Graf von Cavour, dem ersten Ministerpräsidenten des Königreichs Italien. Dieser Nomenklatur gehorchen öffentliche Einrichtungen vom äußersten Norden bis in den tiefsten Süden, von Aosta bis Otranto. Zugleich folgt die Namensgebung halböffentlicher Orte völlig anderen Regeln, vor allem im Süden: In Itri findet man nunmehr sogar eine Osteria Murat, benannt nach dem Abenteurer Joachim Murat, dem Schwager Napoleons, der zwischen den Jahren 1808 und 1815 König von Neapel war, bevor er von den Spaniern standrechtlich erschossen wurde. In Gaeta existiert, wie in vielen anderen Städten des Südens, ein Restaurant namens Re Ferdinando II., an den letzten König von Neapel erinnernd, der sich bis zuletzt der

Das Land ist anders, als es die Leidenschaft für Italien je wahrhaben wollte. Viele Italiener wissen das, was man daran bemerkt, mit welcher Gründlichkeit und Hingabe sie nicht nur ihre Regierung, sondern auch ihre Landsleute verachten. Der gewöhnliche Italiener, behauptete vor einigen Jahren der im eigenen Land hochgeachtete Journalist Ermanno Rea, sei ein Kleinbürger, dem man das Rückgrat gebrochen habe: «ein wenig Muttersöhnchen, ein bisschen Zyniker, ein bisschen Gauner sowie arrogant, eilfertig, prahlerisch, heuchlerisch, übellaunig, verlogen». Vielleicht ist es auch ganz anders, vielleicht lassen sich die alten Klimatheorien umkehren, woraufhin die Sonne mit der Melancholie in einem viel innigeren Verhältnis stünde, als man es sich nördlich der Alpen je vorstellen wollte. Vielleicht sah man bislang zwar die Armut, aber nicht das Traurige und Bittere daran. Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie die Würde des Verlierers in einem Land, das, wie der britische Historiker David Gilmour in seinem Buch «Auf der Suche nach Italien» behauptet, nie einen Krieg gewann und womöglich nicht einmal eine Schlacht. Und vielleicht geht die gegenwärtige Situation tatsächlich auf etwas Älteres und Beständiges zurück. Das muss nichts Archaisches sein. Es könnte aber bedeuten, dass es in Italien einen Typus von Modernität gibt, der Vormodernes anders integriert hat, als dies etwa in Deutschland oder Frankreich der Fall war. Vielleicht war diese Differenz nur lange Zeit überlagert durch den Faschismus und dessen Überwindung, durch den Gegensatz von Christdemokraten und Kommunisten mit ihren jeweiligen Heilsversprechen – und zuletzt durch einen Aufbruch in ein angeblich vereintes Europa, der sich in vielerlei Beziehung als ruinös erwies.

*

An ihre Stelle hat sich eine lokale Folklore mit neuen oder wiedererfundenen Festivitäten gesetzt. Sie gelten den Kastanien oder dem Wein, der Polenta oder einem Pferderennen, dem Käse oder den Eseln, den Schnecken, den Eiern oder den Muscheln. Gewiss verbirgt sich in jedem dieser Feste ein Kalkül mit dem Tourismus, auch wenn sich bei etlichen kaum Besucher aus der Ferne einfinden, weil die Dörfer oft zu abgelegen und touristisch zu unbedeutend sind. Vielleicht irren sich die Arrangeure in ihrer Hoffnung auf die Gäste aus dem Norden, vielleicht überschätzen sie, wie es oft geschieht, den Reichtum und das Interesse der Reisenden. Doch selbst wenn das so wäre, läge darin nur die halbe Wahrheit. Denn diese Feste richten sich ja ebenso an die Einheimischen, denen sie sich als Folklorisierung ihrer selbst anbieten. Sie stellen Versuche dar, das Eigene als Fremdes zurückzugewinnen.

So wird eine zumindest halb fiktive Ausbeutung der Vergangenheit betrieben, indem man jahreszyklische Feiern an Orten einrichtet, wo solche Feiern lange nicht oder gar nie stattfanden, zu einem doppelten Zweck: Man sucht eine halbwegs konsistente

In dieses Italien, das sich im Kleinen feiert, weil es sich (und anderen) im Großen fremd geworden ist, soll dieses Buch führen, in ein Land, das Fremde abweist und anzieht, in ein Land, das in dem Maß, in dem es die Vertrautheiten von einst enttäuscht, neu entdeckt werden muss.