Wilfried Loth

Europas Einigung

Eine unvollendete Geschichte

Campus Verlag
Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union zählt zu den zentralen Themen der Zeitgeschichte. Wilfried Loth erzählt sie, anschaulich und pointiert, erstmals auf der Grundlage interner Quellen der Mitgliedsländer und der Gemeinschaft – von der Lancierung des Europarats und des Schuman-Plans im Kontext der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis zur »Euro-Krise« unserer Tage.

Die Krisen der europäischen Integration beleuchtet er dabei ebenso wie die unzweifelhaften Erfolge. Loths Analyse verdeutlicht, welche Antriebskräfte hinter dem europäischen Integrationsprozess stehen und wie dieser Politik und Gesellschaft in Europa nachhaltig verändert hat. Im Mittelpunkt stehen dabei die Entscheidungsprozesse prominenter Akteure, etwa Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Robert Schuman, Jean Monnet, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Valéry Giscard d’Estaing, Jacques Delors, Helmut Kohl oder Angela Merkel. Mit Blick über den Tellerrand Deutschlands hinaus zeigt Loth außerdem auch auf, welche Alternativen nicht zum Zuge kamen. Auf der Grundlage dieser historischen Bilanz lässt sich ermessen, vor welchen Möglichkeiten die Europäische Union heute steht.

Über den Autor

Wilfried Loth

Wilfried Loth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Als langjähriger Vorsitzender der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission und Präsident des Deutsch-Französischen Historikerkomitees ist er einer der besten Kenner der Geschichte der europäischen Integration.

Inhalt

Prolog: Churchills Kongress

Vier Antriebskräfte

Das Ringen um den Kongress

Verhandlungen und Beschlüsse

Ein Meilenstein

1. Gründerjahre 1948–1957

Das Ringen um den Europarat

Die Entstehung der Montanunion

Das Drama um die EVG

Die schwierige »Relance«

Die Verhandlungen über Euratom und EWG

2. Aufbaujahre 1958–1963

Die Europäische Kommission

Das Ringen um die Freihandelszone

Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes

Fouchet-Pläne und britisches Beitrittsgesuch

Beitrittsverhandlungen und Deutsch-Französischer Vertrag

Der Erfolg der Wirtschaftsgemeinschaft

3. Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969

Erhards »Relance«

Hallsteins Offensive

Die Krise des »leeren Stuhls«

Die Zeit der Arrangements

Die Rückkehr der britischen Frage

Frankreich auf dem Weg zur Wende

4. Erweiterung und neue Perspektiven 1969–1975

Wendepunkt Haager Gipfel

Die Vollendung des Gemeinsamen Marktes

Die erste Erweiterung

Das Projekt der Währungsunion

Die Politische Zusammenarbeit

Krise und Neustart

5. Jahre der Konsolidierung 1976–1984

Der Weg zur Direktwahl

Das Europäische Währungssystem

Die Süderweiterung

Die Verteidigung der Détente

Thatcher, Genscher und Colombo

6. Jahre des Ausbaus 1984–1992

Die Einheitliche Europäische Akte

Das Binnenmarkt-Projekt

Das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion

Europäische Sicherheit und deutsche Einheit

Der Weg nach Maastricht

7. Von Maastricht nach Nizza 1992–2001

Die Umsetzung der Währungsunion

Die Norderweiterung

Der Weg nach Amsterdam

Sicherheits- und Ostpolitik

Der Nizza-Komplex

8. Verfassungsstreit und »Euro-Krise« 2001–2012

Die Osterweiterung

Der Verfassungsvertrag

Von Prodi zu Barroso

Die Verfassungskrise

Die »Euro-Krise«

Schlussbetrachtung: Die Zukunft der Union

Nachwort

Anmerkungen

Das Europäische Parlament 1979–2014

Die Präsidenten der Hohen Behörde und der Kommissionen

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Personenregister

Sachregister

Prolog
Churchills Kongress

Den Haag, 7. Mai 1948: An diesem Tag trafen sich 722 repräsentative Persönlichkeiten aus 28 europäischen Ländern am niederländischen Regierungssitz, um über Wege zu einer Einigung Europas zu diskutieren. Sechs ehemalige Premierminister europäischer Länder nahmen an der Veranstaltung teil, ebenso wie 14 aktive und 45 ehemalige Minister sowie westdeutsche Ministerpräsidenten, führende Abgeordnete, Wirtschaftsführer, Gewerkschafter, Kirchenführer, zahlreiche Professoren sowie einige Intellektuelle und Künstler. Winston Churchill, der britische Premier der Kriegsjahre und nunmehrige Oppositionsführer im Londoner Unterhaus, hielt die Eröffnungsansprache; etwa 40.000 Menschen kamen zu einer öffentlichen Kundgebung am dritten Verhandlungstag. Dieser Kongress, der bis zum 10. Mai dauerte, war ein Lichtblick in der Ruinenlandschaft, die der Zweite Weltkrieg in Europa hinterlassen hatte. Er führte zur Konstituierung der Europäischen Bewegung und mittelbar auch zur Gründung des Europarates.1

Vier Antriebskräfte

Der Haager Kongress stand damit am Anfang von Verhandlungen über die Schaffung europäischer Institutionen, die – anders als die Verhandlungen über »eine Art föderativer Verbindung« zwischen den europäischen Völkern, die der französische Außenminister Aristide Briand im September 1929 der Vollversammlung des Völkerbunds vorgeschlagen hatte – erfolgreich waren und jene Gemeinschaft ins Leben riefen, die heute als »Europäische Union« das Leben der Europäer in starkem Maße beeinflusst. In ihm verdichteten sich Bewegungen, die auf die Überwindung der Funktionsdefizite der Nationalstaaten und des nationalstaatlichen Ordnungssystems in Europa zielten und die zum Teil schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. Sie wurden von vier ganz unterschiedlichen Motiven angetrieben, zwischen denen freilich ein enger Zusammenhang bestand.2

Zunächst war dies das Problem der zwischenstaatlichen Anarchie, Auslöser aller »klassischen« Friedenssicherungspläne von Dante bis Kant: Als die Entwicklung der modernen Kriegstechnik Millionen von Menschen zu Kriegsopfern werden ließ und die wirtschaftlichen Schäden im Zeitalter der Kabinettskriege ungeahnte Ausmaße annahmen, wurde dieses Problem immer drängender. Die Erfahrung des verheerenden Ersten Weltkriegs führte darum zu einer Fülle europäischer Friedensinitiativen, von denen der »Paneuropa«-Feldzug des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi und Briands Europaplan nur die spektakulärsten waren. Als die Friedensordnung von Versailles ab 1938 schrittweise zerbrach, erhielt diese Bewegung einen weiteren Schub. »Man kann es vor aller Welt mit tiefster und unbeugsamster Überzeugung aussprechen«, schrieb etwa im Frühjahr 1941 der französische Sozialistenführer Léon Blum, Ministerpräsident der Volksfront-Regierungen von 1936 bis 1938: »Aus diesem Krieg müssen endlich durch und durch starke internationale Einrichtungen und eine durch und durch wirksame internationale Macht hervorgehen, sonst wird er nicht der letzte gewesen sein.«3

Ein besonderer Aspekt des Problems der Friedenssicherung war die deutsche Frage: Wie sollte man sich Deutschland, das seit 1871 die stärkste Nation in der Mitte des europäischen Kontinents war, entfalten lassen, ohne gleichzeitig unter eine Hegemonie der Deutschen zu geraten? Oder umgekehrt: Wie ließen sich die Deutschen kontrollieren, ohne durch einseitige Diskriminierung neuen Revanchismus hervorzurufen? »Um den Widerspruch zu lösen«, so wiederum Blum stellvertretend für viele Autoren des Widerstands gegen die deutsche Besatzung und das nationalsozialistische Regime, und »um die Unschädlichkeit Deutschlands in einem friedlichen und gesicherten Statut zu erreichen, gibt es einen einzigen Weg: die Eingliederung der deutschen Nation in eine internationale Gemeinschaft.«4 Dies bedeutete also etwa nicht nur eine Kontrolle des Ruhrgebiets, sondern eine gemeinsame Lenkung der gesamten europäischen Schwerindustrie – und ebenso nicht nur eine Beschränkung der deutschen Militärhoheit, sondern ein gemeinsames Kommando für alle europäischen Streitkräfte. Nach den Erfahrungen des Scheiterns der Friedensordnung von Versailles und des Aufstiegs des Nationalsozialismus war dies ein Argument, das besonders viel Plausibilität für sich beanspruchen konnte.

Ein dritte Schwäche des Nationalstaatensystems ergab sich aus der Entwicklung der Produktivkräfte des industriellen Zeitalters: Die nationalen Märkte in Europa wurden – je länger, desto deutlicher – für rationale Produktionsweisen zu eng. Ihre wechselseitige Abschottung war nur temporär und sektoral sinnvoll; langfristig führte sie zu einem Verlust an Produktivität. Das hatte einen volkswirtschaftlichen und einen machtpolitischen Aspekt; vor allem in Gestalt der US-amerikanischen Konkurrenz waren beide seit den 1920er Jahren präsent. Entsprechend zahlreich waren die Einigungsinitiativen im wirtschaftlichen Bereich. Auch hier sorgte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs für einen zusätzlichen Motivationsschub: Während die Europäer ihre Ressourcen im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschlissen, weiteten die USA ihr Produktionsvolumen um mehr als das Doppelte aus, was durch ihre Funktion als wichtigster Materiallieferant der Anti-Hitler-Koalition ebenso begünstigt worden war wie durch die Abwesenheit der europäischen Länder vom Weltmarkt.

Ein vierter Motivationskomplex für europäische Einigungsinitiativen ist damit ebenfalls schon angesprochen: das Streben der Europäer nach Selbstbehauptung gegenüber den neuen Weltmächten. Sowohl die Sorge vor einer wirtschaftlichen und politischen Übermacht der USA als auch die Furcht vor einer Expansion der bolschewistischen Revolution waren schon in den 1920er Jahren Motive für europäische Einigungspläne. Beide wurden durch die machtpolitischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs verstärkt. Mit den USA als Weltführungsmacht und der Sowjetunion als stärkster Militärmacht des europäischen Kontinents verloren bisherige Interessendivergenzen zwischen europäischen Nationalstaaten an Bedeutung – zugunsten des gemeinsamen Interesses an Autonomie und an der Vermeidung eines militärischen Konflikts zwischen den beiden Hauptsiegern des Krieges.

»Sich einigen oder untergehen«, wie es 1939 der Führer der britischen Labour Party, Clement Attlee, Premierminister der Jahre 1945 bis 1951, so einprägsam formulierte,5 wurde damit zu einer in mehrfacher Hinsicht plausiblen Parole – und zwar schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und sichtbar werdend in der Kritik an dem Ungenügen der Friedensordnung von Versailles; dann erneut, seit mit dem Münchener Abkommen deutlich wurde, dass die Ordnung von Versailles nicht mehr hielt; und schließlich verstärkt, seitdem sich 1943 der Sieg der Anti-Hitler-Koalition abzeichnete. Diese Parole faszinierte in den unterschiedlichsten politischen Lagern, sie verband über nationale Grenzen hinweg, und sie war – das muss der späteren Fixierung auf den Ost-West-Konflikt und der daraus resultierenden ahistorischen Position gegenüber den Ländern, die bis 1990 zum sowjetischen Block gehört hatten, entgegengehalten werden – auch keineswegs nur ein westeuropäisches Phänomen. Die europäischen Verbände hatten ihre Sektionen genauso in Prag und in Budapest wie in Paris oder in Brüssel.6

Die zahlreichen Einigungspläne, die in der Résistance, dem Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus, überall in Europa entwickelt worden waren, verdichteten sich bei Kriegsende freilich nicht sogleich zu einer konkreten Einigungspolitik. Stalin blockierte jede Art von Zusammenschlüssen im östlichen Europa (und zwar so konsequent, dass die entsprechenden Pläne ganz aus der Erinnerung verschwunden sind); gleichzeitig drohte jeder Schritt zur Einigung im Westen Europas die Spaltung des Kontinents in Ost und West zu vertiefen. Damit wurde es fragwürdig, mit Einigungsinitiativen dem Ziel der Friedenssicherung gerecht zu werden. Entsprechend schreckten jetzt viele Handlungsträger vor substanziellen Entscheidungen zurück, darunter auch – und das war angesichts der Machtverhältnisse unter Hitlers Gegnern in Europa entscheidend – die britische Regierung unter Winston Churchill. Frankreich verstrickte sich unter der Führung von Charles de Gaulle zudem in die Forderung nach Abtrennung der linksrheinischen Territorien und des Ruhrgebiets vom deutschen Staatsverband, die bei den britischen Verbündeten wenig Gegenliebe fand.

Churchill war dann aber der erste europäische Politiker von Rang, der das Thema der europäischen Einigung nach dem Ende des Krieges wieder auf die Agenda der internationalen Politik setzte. Nachdem er im Juli 1945, just nach seinem mühsam errungenen Sieg über Hitler, von den Wählern in die Opposition geschickt worden war, begann er im Winter 1945/46, sich Sorgen über die Gefahr einer Expansion des sowjetischen Machtbereichs über den »Eisernen Vorhang« hinaus zu machen. In einer spektakulären Rede in Fulton im amerikanischen Bundesstaat Missouri am 5. März 1946 warnte er zum ersten Mal öffentlich vor den »expansionistischen und Bekehrungstendenzen« Sowjetrusslands und des internationalen Kommunismus.7 Um die Gefahr einer solchen Expansion zu bannen, erschien es ihm jetzt notwendig, die Einigung jener europäischen Länder in die Wege zu leiten, die außerhalb des sowjetischen Machtbereichs verblieben waren. Ihren Zusammenschluss betrachtete er als Voraussetzung nicht nur für die wirtschaftliche Gesundung Europas, sondern auch für eine Stabilisierung der Demokratie. Darum forderte er in einer weiteren Rede am 19. Oktober 1946, diesmal vor Züricher Studenten, »eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen«, beruhend auf einer »Partnerschaft von Frankreich und Deutschland«. Großbritannien sah er dabei eher unter den »Förderern des neuen Europa« als unter seinen Mitgliedern; freilich sollte es eine höchst aktive Rolle bei seiner Konstituierung spielen.8

Um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung voranzutreiben, beauftragte Churchill seinen Schwiegersohn und engen politischen Mitstreiter Duncan Sandys mit der Organisation einer überparteilichen Gruppe repräsentativer Persönlichkeiten, die den europäischen Einigungsgedanken in Großbritannien fördern sollten. Sandys’ Bemühungen trugen bald Früchte: Am 16. Januar 1947 konnte er ein provisorisches »British United Europe Committee« präsentieren, dem neben konservativen Abgeordneten (unter anderen Robert Boothby) auch Labour-Politiker und Gewerkschaftsvertreter (Gordon Land, George Gibson, Victor Gollancz), Vertreter der liberalen Partei, der Kirchen und der Wissenschaft (darunter Bertrand Russell) angehörten; die britischen Föderalisten waren unter anderen mit Frances L. Josephy vertreten. Allerdings sprach sich das Exekutivkomitee der regierenden Labour Party gegen das Unternehmen aus, weil es weder Churchills Idee einer westlichen Blockbildung fördern noch dem damaligen Oppositionsführer eine Plattform für innenpolitische Erfolge bieten wollte. Infolgedessen entwickelten sich die Aktivitäten der Gruppe, die sich dann am 14. Mai 1947 definitiv als »United Europe Movement« (UEM) konstituierte, vorwiegend im konservativen und liberalen Milieu.9

Parallel zum UEM organisierten der ehemalige belgische Ministerpräsident Paul van Zeeland und Joseph Retinger, langjähriger Mitarbeiter des polnischen Exilpremiers Władysław Sikorski, in Belgien, Luxemburg, Großbritannien und Frankreich eine »Independent League of European Co-operation« (ILEC), die an die europäischen Zollunions-Komitees der 1920er und 1930er Jahre anknüpfte. Am 7. März 1947 konnten sie die Konstituierung eines provisorischen Zentralkomitees auf internationaler Ebene bekannt geben. Die Gruppe versammelte einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler, Bankiers und Manager, denen die Behinderung des Wiederaufbaus durch nationale Wirtschaftsgrenzen in Europa Sorgen machte. Sie teilten zwar keineswegs alle Churchills Furcht vor einer sowjetischen Expansion. Da sie aber auf einen raschen Beginn wirtschaftlicher Integration ohne Rücksicht auf sowjetische Vorbehalte drängten und ebenso wenig auf eine bestimmte Integrationsmethode festgelegt waren wie der britische Oppositionsführer, waren sie für eine Zusammenarbeit mit der Sandys-Gruppe geradezu prädestiniert. Manche Politiker, so der ehemalige Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, Harold Butler, und der spätere britische Premierminister Harold Macmillan, wurden in beiden Organisationen zugleich aktiv.10

Im Gefolge der Churchill-Rede wurde schließlich auch Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Paneuropa-Bewegung, wieder in der europäischen Politik tätig. Zunächst schlug er Churchill eine Wiederbelebung der Paneuropa-Union »unter unserer gemeinsamen Führung« vor. Nachdem dieser aber zurückhaltend reagiert hatte, organisierte Coudenhove im November 1946 eine Umfrage unter den Parlamentariern des westlichen Europa. Über 4.000 Abgeordnete wurden gebeten, sich – zustimmend oder ablehnend – zu der Frage zu äußern, ob sie »eine europäische Föderation im Rahmen der Vereinten Nationen« befürworteten. Damit sollte die Einigungsbereitschaft in den Ländern des westlichen Europa demonstriert und Druck auf die Regierungen ausgeübt werden, endlich mit Initiativen zur Schaffung eines westlichen Europas zu beginnen. Die zustimmenden Abgeordneten wurden aufgefordert, in den Parlamenten überparteiliche Komitees zu bilden, die sich dann im Juni 1947 zu einem Europäischen Kongress in Genf treffen sollten.11

Die Aktion zeigte freilich, dass die Idee eines Zusammenschlusses, der das östliche Europa von vornherein ausschloss und so die einsetzende Spaltung Europas vertiefte, im Winter 1946/47 noch nicht sonderlich populär war. Nur wenige Abgeordnete waren bereit, sich mit einem solchen Konzept zu identifizieren. Bis Ende April 1947 gingen nur 660 Antworten bei Coudenhove ein (wovon 646 positiv waren) – kaum mehr als ein Achtel der insgesamt erbetenen Antworten. Die ambitiösen Kongresspläne mussten daher zunächst vertagt werden. Ähnlich erfolglos verliefen die Bemühungen René Courtins, des Mitherausgebers von Le Monde, in Frankreich ein Parallelkomitee zu dem britischen UEM zustande zu bringen. Die französischen Europa-Anhänger scheuten zumeist das Risiko, mit Churchills Westblock-Konzeption in Verbindung gebracht zu werden.12 Die Stimmen, die eine Einigung auch ohne sowjetische Zustimmung befürworteten, wurden zwar allmählich zahlreicher, doch überwog die negative Reaktion auf Churchills Vorstoß insgesamt bei weitem.13

Die meisten Europäer sahen ein vereintes Europa als »Dritte Kraft«, die unter der Führung des von Labour regierten Großbritannien zwischen den rivalisierenden Weltmächten USA und Sowjetunion vermitteln und so eine Spaltung Europas vermeiden sollte. Auch die Anhänger der organisierten föderalistischen Bewegung, die sich im Dezember 1946 als »Union Européenne des Fédéralistes« (UEF) konstituierte, hofften auf ein letztlich sozialdemokratisch strukturiertes Europa, das gegenüber den USA wie der Sowjetunion Eigenständigkeit bewahren konnte: »Wir wollen«, hieß es in ihrer ersten Programmerklärung, verabschiedet in Amsterdam am 15. April 1947, »nicht ein dahinsiechendes Europa als Spielball widerstreitender Interessen, beherrscht durch entweder einen angeblich liberalen Kapitalismus, der die menschlichen Werte der Macht des Geldes unterordnet, oder einen Staatstotalitarismus, dem jedes Mittel recht ist, sein Gesetz auf Kosten der Menschenrechte und der Rechte der Gemeinschaften durchzusetzen. Wir wollen ein Europa als offene Gesellschaft, d.h. dem Osten wie dem Westen gegenüber freundschaftlich gesinnt, bereit, mit allen zusammenzuarbeiten.«14

Erst nachdem der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow am 2. Juli 1947 die amerikanische Einladung zur Beteiligung am Marshall-Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas abgelehnt hatte, änderte sich dies. Die vielen Anhänger eines Europas der »Dritten Kraft« rangen sich jetzt zu der Einsicht durch, dass die europäische Einigung realpolitisch nur noch im Westen beginnen konnte; und allgemein wuchs die Überzeugung, dass im Hinblick auf den europäischen Wiederaufbau und die Integration des westlichen Deutschlands, die beide durch den Marshall-Plan gefördert werden sollten, nicht mehr viel Zeit zu verlieren war. Courtin konnte am 16. Juli 1947 die Gründung eines »Conseil français pour l’Europe unie« bekannt geben, der sich als französisches Pendant zu Churchills UEM verstand. Führende Vertreter der französischen Sozialisten erklärten sich zur Mitarbeit bereit, so Robert Lacoste, Francis Leenhardt, André Le Trocquer und Ministerpräsident Paul Ramadier. Die Christdemokraten waren unter anderem durch Paul Coste-Floret, François de Menthon und Pierre-Henri Teitgen vertreten, die Linksliberalen durch Paul Bastid und René Mayer, die Unabhängigen Republikaner durch Paul Reynaud, die sozialliberale UDSR durch Édouard Bonnefous, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Nationalversammlung. Weiter gehörten dem Rat an: Michel Debré als Vertreter der Gaullisten, Emmanuel Monick als Gouverneur der Banque de France, Gewerkschaftsführer, Vertreter der Kirchen, herausragende Publizisten und Wissenschaftler (unter anderen Raymond Aron, Paul Claudel, André Siegfried und Edmond Vermeil). Den Ehrenvorsitz übernahm Édouard Herriot, der langjährige Ministerpräsident der III. Republik.15

Coudenhoves Umfrage erhielt jetzt viel größere Resonanz. Nachdem er die Abgeordneten, die bislang noch nicht geantwortet hatten, im April 1947 noch einmal gemahnt hatte, erhöhte sich die Zahl der positiven Antworten bis Ende September auf 1.735. Damit sprachen sich insgesamt 43 Prozent der angeschriebenen Abgeordneten im Prinzip für eine »europäische Föderation« aus, darunter 64 Prozent der italienischen Abgeordneten, 53 Prozent der niederländischen Abgeordneten und jeweils 50 Prozent der französischen und belgischen Abgeordneten. Von den britischen Abgeordneten reagierten allerdings nur 26 Prozent positiv, von den skandinavischen Abgeordneten sogar nur zwölf Prozent.16 Nachdem sich in Frankreich, Belgien, Italien und Griechenland föderalistische Parlamentarier zu sammeln begonnen hatten, konnte Coudenhove-Kalergi vom 8. bis 10. September 1947 an seinem Wohnsitz in Gstaad zwar kein »Vorparlament«, aber immerhin doch eine Versammlung von 114 aktiven Abgeordneten aus zehn Ländern organisieren. Diese gründeten eine »Europäische Parlamentarier-Union« (EPU) und beschlossen, für die Einberufung einer Europäischen Verfassunggebenden Versammlung zu arbeiten.17

Für Duncan Sandys kam es nun darauf an, die Einigungsbewegung in den verschiedenen Ländern nicht nur zu stärken, sondern auch unter Kontrolle zu halten. Er war davon überzeugt, dass eine solche Bewegung nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie sich zunächst auf eine funktionale Zusammenarbeit der Regierungen konzentrierte: Nur dann schien ihm eine britische Beteiligung erreichbar zu sein. Ohne Großbritannien, so fürchtete er, würde es Frankreich nicht wagen, einem starken Westdeutschland in einer europäischen Gemeinschaft gegenüberzutreten. Folglich war für ihn, und zwar viel eindeutiger als für seinen Schwiegervater, ein britisches Mitwirken an dem Einigungswerk unverzichtbar.18 Schon im Vorfeld der Konstituierung des »Conseil français« lud er darum die übrigen Europa-Verbände zur Bildung eines »Verbindungskomitees« der Europa-Bewegungen ein. Sie erfolgte am 20. Juli 1947 in Paris, im Rahmen eines Mittagessens auf den Champs Elysées. Neben dem UEM, dem französischen Rat, der ILEC und der EPU waren auch die »Europa-Föderalisten« um den Niederländer Hendrik Brugmans und den Franzosen Alexandre Marc vertreten.19

Das Ringen um den Kongress

Die Föderalisten waren davon überzeugt, dass die Zeit für eine föderale Neuorganisation der Völker Europas reif war. Ihnen schwebte daher die Einberufung von »Generalständen Europas« vor, die sich gegen die nationalen Regierungen und Parlamente zur Verfassunggebenden Versammlung des Vereinten Europas entwickeln sollten. Basierend auf einer umfassenden Mobilisierungskampagne sollten dort die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten sein, »etwa Angestellte, Arbeiter, Landwirte, Vertreter der Mittelklasse, Verbraucherorganisationen, politische und parlamentarische Körperschaften, Jugendbewegungen«. Die »spektakuläre Versammlung« sollte nicht nur »die öffentliche Meinung beeindrucken«, sondern auch »ständige Ausschüsse« zur Bearbeitung der anstehenden rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen einrichten. Die Vorsitzenden dieser Ausschüsse sollten »den Kern einer künftigen europäischen Regierung bilden«.20 Als Tagungsort für diese revolutionäre Manifestation wurde Versailles ins Auge gefasst.

Für Sandys waren diese Pläne eines korporatistischen Föderalismus gefährliche Hirngespinste, die geeignet waren, die europäische Einigungsbewegung zu diskreditieren und die Chancen für eine Mitwirkung Großbritanniens an dem Einigungsprozess zunichte zu machen. Noch ehe die UEF-Führer mit der organisatorischen Umsetzung ihres Vorhabens beginnen konnten, vereinbarte er darum mit der Führung der ILEC Ende September 1947 die Vorbereitung eines ganz anders gearteten Kongresses: einer »Konferenz von 500 bis 800 prominenten Europäern«, die »am ersten Wochenende nach Ostern 1948« zusammentreten sollte, um die europäischen Regierungen zu drängen und zu ermutigen, mit ersten Schritten zur Einigung Europas zu beginnen. Der niederländische Senator und ehemalige Wirtschaftsminister Pieter Kerstens, der sich um die Konstituierung einer niederländischen Sektion des ILEC bemühte, sagte zu, die nötigen Gelder für die Finanzierung eines solchen Kongresses zu besorgen. Dementsprechend wurde Den Haag als Tagungsort gewählt. Die Föderalisten wurden eingeladen, sich als Mitveranstalter an dem Kongress zu beteiligen und zu diesem Zweck auch das Verbindungskomitee auszubauen.21

Für die Föderalisten war diese Einladung ein Danaergeschenk: Nahmen sie sie an und gingen ein Bündnis mit den konservativen Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern ein, so drohte »die schöpferische und revolutionäre Dynamik verloren zu gehen, die die föderalistische Doktrin mit sich gebracht hatte« und deren Durchbruch sie sich von den »Generalständen« erhofften. Beharrten sie dagegen auf ihren eigenen Kongress-Plänen, so spalteten sie nicht nur die europäische Bewegung, sondern gingen auch »das Risiko rascher Destruktion und Niedergang zu einer Sekte ein«.22 Den Ausschlag gab schließlich der höhere Realitätsgehalt des britischen Projekts: Es würde auf jeden Fall durchgeführt werden und beträchtliche Resonanz haben; demgegenüber war unklar, wie die »Generalstände« finanziert werden könnten und ob sie angesichts der Konkurrenzveranstaltung der etablierten Kräfte noch die angestrebte Wirkung haben konnten. Insbesondere Brugmans warb in diesem Sinne für ein Annehmen der Einladung. Marc und auch die italienischen Föderalisten um Altiero Spinelli waren zwar im Grunde dagegen, hielten sich aber zurück. Am 15. November 1947 beschloss das Zentralkomitee der UEF, sich am Haager Kongress zu beteiligen und dem Ausbau des Verbindungskomitees zu einem »Koordinierungskomitee« zuzustimmen.23

In der vagen Hoffnung, den Haager Kongress vielleicht doch noch »in Generalstände Europas verwandeln« zu können,24 nahmen die Föderalisten es hin, im Koordinierungskomitee mit einem Viertel der Stimmen in der Minderheit zu sein: UEM, französischer Rat und ILEC, die programmatisch auf einer Linie lagen, verfügten jeweils über die gleiche Stimmenzahl. Den Vorsitz mussten sie Sandys überlassen, den Posten eines Sekretärs Retinger.25 Notgedrungen akzeptierten sie auch die Vorgaben für die Organisation des Kongresses, die Sandys bei einer weiteren Zusammenkunft des Komitees am 13. und 14. Dezember 1947 präsentierte: Er sollte »in eindrucksvoller Weise die mächtige und weitreichende Unterstützung der europäischen Idee demonstrieren, die bereits existiert«, und »Material zur Diskussion, Propaganda und technischen Studien produzieren«. Dazu sollte er so repräsentativ wie möglich zusammengesetzt sein; die Entscheidung über die Einladungen sollte aber dem Koordinationskomitee vorbehalten bleiben. Als Name für die Veranstaltung wurde »Congress of Europe« festgelegt, und das Präsidium des Kongresses wurde Churchill angetragen.26

In der Praxis bedeutete die Entscheidung über die Einladungspolitik, dass Sandys und Retinger Vorschläge über einzuladende Persönlichkeiten sammelten, danach entschieden, an wen Einladungen ausgesprochen wurden, und schließlich die Zusagen registrierten. Was die Zahl der Delegierten pro Land betraf, so setzte Sandys eine Formel gemäßigter Repräsentativität durch: 15 Repräsentanten pro Land plus zwei weitere für je eine Million Einwohner. Für Frankreich ergab das 104 Delegierte, für Großbritannien 118, für Belgien und die Niederlande jeweils 33 und so weiter. Länder, deren Regierungen Vertretern des Koordinierungskomitees die Einreise verweigerten und keine Zusagen gaben, Bürger ihres Landes mit den nötigen Visa für die Teilnahme am Kongress auszustatten, sollten nur mit kleinen Beobachter-Gruppen vertreten sein.27 Das lief darauf hinaus, das westliche Europa so umfassend wie möglich zu sammeln und im Übrigen den Selbstausschluss der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Länder noch einmal zu bekräftigen.

Zur organisatorischen Abwicklung ließ sich das Koordinierungskomitee von einer großen niederländischen Bank ein repräsentatives Büro einrichten. Kerstens sammelte so viele Spendengelder ein, dass den über 700 Teilnehmern des Kongresses nicht nur ein kostenloser Aufenthalt in Den Haag, sondern auch die Übernahme aller Reisekosten angeboten werden konnte. Angesichts der immer noch prekären Lebensverhältnisse in dem vom Krieg zerstörten Europa war das eine bemerkenswerte Leistung, die für den Erfolg des Unternehmens ganz entscheidend war. Als sich dennoch eine Lücke in der Finanzierung des Kongresses auftat, ließ sich Sandys von Prinz Bernhard der Niederlande beim Vorstand des Philips-Konzerns einführen. Dieser half dann mit einer sehr großzügigen Spende aus. Ende Januar 1948 wurde der Termin des Kongresses endgültig auf den 7. bis 10. Mai 1948 festgelegt; danach konnte Retinger als Sekretär die offiziellen Einladungen verschicken.28

Sandys, Retinger und auch Brugmans suchten nun prominente Persönlichkeiten in den verschiedenen Ländern auf, um sie zur Mitarbeit an dem Unternehmen zu bewegen. In den meisten Fällen waren sie damit erfolgreich. »Wir haben eine sehr große Arbeit geleistet«, konnte Retinger dem ehemaligen rumänischen Außenminister Gregor Gafencu schon zum Jahresende 1947 berichten. »Von den großen Staatsmännern (aber das ist noch vertraulich) haben uns ihre Unterstützung zugesagt: Mister Churchill und Sir Stafford Cripps aus Großbritannien, die Monsieurs Herriot und L. Blum aus Frankreich, die Herren van Zeeland und Spaak aus Belgien, sowie Sforza aus Italien. Die niederländische Regierung mit ihrem Ministerpräsidenten an der Spitze wird uns dort empfangen, wo unsere Sitzungen stattfinden werden: im historischen Rittersaal.«29

Paul Ramadier und der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi sagten ihre Teilnahme ebenfalls zu. In den westdeutschen Besatzungszonen konnten die Organisatoren unter anderen den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, und die Regierenden Bürgermeister von Hamburg und Bremen, Max Brauer und Wilhelm Kaisen, gewinnen, ebenso Konrad Adenauer als Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone, Martin Niemöller vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gustav Heinemann als Justizminister von Nordrhein-Westfalen sowie Thomas Dehler, Heinrich von Brentano und Walter Hallstein als Vorsitzenden der Süddeutschen Rektorenkonferenz.30

Ebenso gelang es, die christdemokratischen »Nouvelles Équipes Internationales« (NEI) für die Mitarbeit an dem Kongressvorhaben zu gewinnen. Vom Februar 1948 an gehörten sie als weitere einladende Organisation dem Koordinierungskomitee an.31 Dagegen blieben alle Bemühungen der Föderalisten vergeblich, auch das sozialistische »Comité international pour les Etats-Unis socialistes d’Europe« (EUSE) mit ins Boot zu nehmen. Seine britischen Mitglieder »verfielen auf jede einfache Nennung des Namens Churchill in einen Trance-Zustand und jede Möglichkeit vernünftigen Verstehens lag in Ohnmacht«, klagte Henri Frenay von der französischen Sektion des Komitees nach einem Besuch in London. Mit neun zu sieben Stimmen lehnte der Vorstand des Komitees eine Beteiligung am Haager Kongress ab.32 Coudenhove-Kalergi weigerte sich, die Vereinbarung über die Bildung des Verbindungskomitees vom Juli 1947 zu ratifizieren, und nannte dann immer neue Bedingungen für seine Mitarbeit, die im Grunde darauf hinausliefen, dass er selbst die Führung des Unternehmens übernahm und dessen programmatische Ausrichtung kontrollierte. Erst Anfang April 1948 fand er sich zu einer Teilnahme an dem Kongress ohne Vorbedingungen bereit, freilich zu einem Zeitpunkt, als die meisten inhaltlichen Entscheidungen schon gefallen waren. Entsprechend marginal blieb sein Beitrag zur Ausrichtung des Kongresses.33

Schwererwiegend als die Absage des Sozialistenkomitees und das lange Zögern Coudenhoves und seiner Parlamentarier-Union war die Opposition des Exekutivkomitees der britischen Labour Party. Labour-Führer wie Morgan Phillips, Hugh Dalton und Denis Healey waren entschiedene Gegner einer britischen Beteiligung an einem supranationalen Europa. In dem Kongress-Plan sahen sie darum ein höchst gefährliches Unternehmen, das zudem die Handlungsfreiheit von Außenminister Ernest Bevin beeinträchtigte und der konservativen Opposition Auftrieb gab. Bei einer Konferenz der sozialistischen Parteien all jener Länder, die sich am Marshall-Plan beteiligten, am 21. und 22. März 1948 in London setzten sie die Entscheidung durch, der Einladung des Koordinierungskomitees nicht zu folgen; 40 Labour-Abgeordnete, die sich schon zur Teilnahme am Haager Kongress entschlossen hatten, wurden aufgefordert, ihre Zusage wieder rückgängig zu machen. Um die Solidarität des internationalen Sozialismus zu wahren, verboten die Parteivorstände der französischen Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) und der deutschen SPD ihren Funktionsträgern ebenfalls die Teilnahme.34

Nicht alle sozialistischen oder sozialdemokratischen Europapolitiker ließen sich von den Verboten beeindrucken. So hielten 23 der 40 Labour-Abgeordneten an ihrer Zusage fest, darunter Ronald W. G. Mackay, der Initiator der »All-Party Group for European Unity« im britischen Unterhaus, der unterdessen als Stellvertreter Coudenhoves auch eine führende Rolle in der Europäischen Parlamentarier-Union spielte. Léon Blum, Paul-Henri Spaak, Carlo Schmid und Max Brauer blieben dem Kongress fern; dagegen nahmen Paul Ramadier und Wilhelm Kaisen in offener Auflehnung gegen die Beschlüsse ihrer Parteivorstände teil. Sie konnten freilich nicht verhindern, dass die Veranstaltung eine liberal-konservative Schlagseite bekam. Ganz so repräsentativ, wie Sandys es mit guten Gründen angestrebt hatte,35 wurde der Haager Kongress also nicht.

Verhandlungen und Beschlüsse

Dennoch hatte die Versammlung, die am Nachmittag des 7. Mai 1948 in Anwesenheit von Prinzessin Juliane und Prinz Bernhard der Niederlande eröffnet wurde, starkes politisches Gewicht. Insgesamt 722 Delegierte waren der Einladung schließlich gefolgt, hinzu kamen etwa 250 Gäste und journalistische Beobachter. Die stärkste Delegation stellte mit 185 Mitgliedern Frankreich; ihr gehörten neben Ramadier unter anderen Édouard Bonnefous, Édouard Daladier, Edgar Faure, André François-Poncet, Edmond Giscard d’Estaing, Pierre-Olivier Lapie, François de Menthon, François Mitterrand und Paul Reynaud an. Aus Großbritannien kamen 147 Delegierte, darunter Anthony Eden und Harold Macmillan. Italien war nicht ganz so prominent vertreten: De Gasperi und andere führende Politiker mussten wegen der Regierungsneubildung im Anschluss an die Wahlen vom 18./19. April absagen. Die Vertreter Portugals, für die immerhin 20 Plätze vorgesehen waren, blieben nach einer Missfallenskundgebung Salazars ganz zu Hause. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien waren nur durch Exilpolitiker vertreten. Spanien musste sich mit einer Beobachterrolle begnügen; sie wurde von vier Delegierten wahrgenommen, an ihrer Spitze der Philosoph und Ex-Minister Salvador de Madariaga. Jeweils nur ein Delegierter kam aus Island und der Türkei.36

Die Deutschen waren der politischen Zielsetzung entsprechend, wie sie Churchill vorgegeben hatte, als Delegierte mit vollem Status geladen. Da es darüber im Koordinierungskomitee noch einmal zu Diskussionen gekommen war, hatte sich ihre Einladung verzögert. Für manche der Eingeladenen konnten daraufhin nicht mehr rechtzeitig die erforderlichen Ausreisegenehmigungen der Besatzungsbehörden und Devisen beschafft werden, sodass die deutsche Delegation schließlich nur 51 Persönlichkeiten zählte. Sie genossen es sehr, von Churchill in seiner Eröffnungsansprache ausdrücklich als notwendige Partner beim Aufbau Europas begrüßt zu werden und zum ersten Mal seit Kriegsende auf internationaler Ebene wieder auf gleicher Augenhöhe auftreten zu können. In den Diskussionen des Kongresses hielten sie sich allerdings meistens zurück, im Bewusstsein fortdauernder Abhängigkeit von den Entscheidungen der Besatzungsmächte. Stattdessen nutzten sie die Gelegenheit, Kontakte mit den prospektiven Partnern zu knüpfen. So traf Adenauer nach der Eröffnungsveranstaltung zum ersten Mal mit Churchill zusammen und fand sich »von ihm mit gewinnender Freundlichkeit behandelt«.37 Innerhalb der deutschen Delegation lernte er Walter Hallstein kennen, der später sein engster europapolitischer Mitarbeiter werden sollte.38

Auf Churchills Eröffnungsansprache folgten Reden von Ramadier, Coudenhove-Kalergi, Brugmans39 und van Zeeland. Ein Versuch der Föderalisten, die Veranstaltung durch das Verlesen einer »Präambel«, die auf die Schaffung einer europäischen Versammlung der »lebendigen Kräfte aller unserer Nationen« zielte, gleich nach der Rede Churchills doch noch stärker in die Richtung von »Generalständen« zu bugsieren, wurde abgewiesen. Denis de Rougement, der die Proklamation einer solchen Zielsetzung des Kongresses zur Bedingung für seine Mitarbeit an der Kongressvorbereitung gemacht hatte, konnte den von ihm redigierten Text nur als »Botschaft an die Europäer« verlesen, nach Statements von Sandys, de Madariaga und Ramadier. Die den Föderalisten zunächst zugestandene Unterzeichnung der Botschaft durch alle Delegierten unterblieb, nachdem 30 Teilnehmer Einspruch gegen die Forderung nach einer gemeinsamen Verteidigung erhoben hatten.40

Auf der anderen Seite sorgte die Kongressregie aber auch dafür, dass Churchill die Veranstaltung keineswegs dominieren konnte. Die Mitglieder des Koordinierungskomitees waren schon fünf Tage vor Kongressbeginn angereist und hatten sich im Detail über den Ablauf der Veranstaltung verständigt.41 Die Berichte zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen, an denen die Komiteemitglieder seit Jahresbeginn in unterschiedlicher Zusammensetzung gearbeitet hatten, wurden nicht einfach zur Abstimmung gestellt, sondern in entsprechenden Ausschüssen des Kongresses während des ganzen zweiten Verhandlungstages und dann noch einmal am Abend des dritten Tages intensiv diskutiert und dabei zum Teil auch noch einmal substantiell verändert. Eugen Kogon, der von der UEF als deutscher Teilnehmer rekrutiert worden war, hielt gleich nach der Rückkehr aus Den Haag in seinen Frankfurter Heften fest: »Den beteiligten Sozialisten, Christlich-Sozialen, Syndikalisten und Fortschrittlichen gelang es eindeutig zu verhindern, dass Churchill, dessen Bedeutung für die Einigung Europas im Übrigen von jedermann anerkannt wird, und seine meist ebenso reichen wie stockkonservativen Gefolgsleute dem Kongress ihr Gepräge geben konnten.«42

Die Verhandlungen des Politischen Ausschusses wurden von Auseinandersetzungen um das Ziel, die Methoden und das Tempo der europäischen Einigung geprägt. Indirekt stand damit auch die Frage einer britischen Beteiligung im Raum, obwohl das vielen Teilnehmern gar nicht bewusst war. Sandys hatte in einem Rahmenentwurf für die Politische Resolution des Kongresses, den er Ende 1947 unter den Komiteemitgliedern zirkulieren ließ, verlangt, der Kongress solle sich »für das Endziel der europäischen Einheit« aussprechen, dabei aber nur »in höchst allgemeinen Formulierungen die verschiedenen Formen erläutern, die diese Einheit annehmen könnte«. Als Institution zur Förderung des Einigungsprozesses wollte er einen »Europäischen Rat« fordern, bestehend aus »einem System regelmäßiger Konferenzen europäischer Minister«, die »soweit als möglich einen gemeinsamen europäischen Standpunkt entwickeln sollten«, und einem »ständigen internationalen Sekretariat«, das die laufenden europäischen Probleme studiert und dem Rat Vorschläge unterbreitet.43

In dem Bericht, der den Delegierten nach der Abstimmung im Koordinierungskomitee vorgelegt wurde, wurde auf Drängen der Föderalisten die supranationale Dimension der zu schaffenden »Politischen Union« klarer angesprochen: »Früher oder später« müsse der schrittweise politische Zusammenschluss »den Verzicht auf, oder um genauer zu sein, die gemeinsame Ausübung gewisser Souveränitätsrechte einschließen«. Als Endziel der Entwicklung wurde »die Bildung einer vollständigen Föderation mit einem gewählten europäischen Parlament« genannt. Der Europäische Rat wurde jetzt als »Emergency Council« bezeichnet, der »für die Durchführung gemeinsamer Aktionen zur Sicherung nicht nur des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der militärischen Verteidigung, sondern auch des Erhalts der demokratischen Freiheit verantwortlich« sein sollte. Außerdem sollte der Rat »die weiteren Stufen der politischen und wirtschaftlichen Integration Europas planen«. Hinzu kam die Forderung, eine »Europäische Beratende Versammlung« einzurichten, die den Europäischen Rat »unterstützen und beraten« sollte. Ihre Mitglieder sollten zunächst von den nationalen Parlamenten entsandt werden; »später« sollte »ein System direkter Wahl eingerichtet werden«.44

In den Verhandlungen des Ausschusses rückte unter dem Einfluss von Mackay die Idee einer Europäischen Versammlung in den Mittelpunkt des Forderungskatalogs. Sie sollte »sofortige praktische Maßnahmen empfehlen, die geeignet sind, die notwendige wirtschaftliche und politische Union Europas in fortschreitendem Maße zu verwirklichen«, und Pläne für »die rechtlichen und verfassungsmäßigen Folgerungen« ausarbeiten, »die sich aus der Schaffung einer derartigen Union oder Föderation ergeben«. Die Forderung nach Einrichtung eines Europäischen Rates entfiel. Stattdessen wurde erklärt, »dass die Zeit gekommen« sei, »zu der die europäischen Nationen einen Teil ihrer Souveränitätsrechte übertragen und verschmelzen müssen«.45 Die Forderung der italienischen Föderalisten, aus der Europäischen Versammlung gleich eine verfassunggebende Versammlung zu machen, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch für einen Antrag Reynauds, die Direktwahl der Versammlung schon für die erste Wahlperiode zu verlangen, konnten sich nur wenige Delegierte begeistern. Zu Recht warnte Mackay davor, die britische und auch die französische Regierung mit einem solchen Vorschlag zu provozieren: Er würde die Chancen nur mindern, tatsächlich eine Versammlung zu bekommen, die mit der Ausarbeitung eines mehrheitsfähigen Verfassungsentwurfs beauftragt wurde. Die Resolution wurde schließlich in der Nacht zum 10. Mai verabschiedet. Von den über 300 Delegierten, die im Politischen Ausschuss mitgearbeitet hatten, stimmten weniger als ein Dutzend dagegen.46

Im Wirtschafts- und Sozialausschuss stießen die liberalen Integrationsvorstellungen der ILEC, die bei der Vorbereitung federführend gewesen war,47 auf die Kritik der Sozialisten und Gewerkschaftsvertreter. Das Bild der anzustrebenden »wirtschaftlichen Union« blieb damit notwendigerweise etwas vage. Immerhin hielt man aber fest, dass der europäische Wiederaufbau »nicht erfolgreich sein« könne, »wenn er auf der Grundlage streng geteilter nationaler Staatshoheiten durchgeführt« und nicht »auf jeder Stufe von einer gleichlaufenden Politik immer engeren politischen Zusammenschlusses begleitet wird«. Als Maßnahmen forderte man: die schrittweise Beseitigung der Handels- und Zollschranken, einen gemeinsamen, wenn auch niedrigen Außenzoll, Haushaltsstabilisierung, Angleichung von Preisen und Löhnen, freie Konvertierbarkeit der Währungen und schließlich eine Währungsunion, ebenso gemeinsame Planung zur Entwicklung der Landwirtschaft und der Grundindustrien und eine Koordinierung der Haushalts- und Kreditpolitik sowie der Sozialgesetzgebung.48

Der Kritik der Linken kam die Mehrheit der Kommission mit Bekenntnissen zu sozialstaatlichen Prinzipien entgegen. So appellierte man an die beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Organisationen der einzelnen Länder, »Mittel und Wege zu einer weiteren Steigerung der Erzeugung und Vereinfachung der Verteilung bei gleichzeitiger Besserung der sozialen Verhältnisse und Sicherung einer gerechten Verteilung der Erzeugnisse der wirtschaftlichen Tätigkeit gemeinsam zu untersuchen«. Die Förderung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte sollte mit der »Sicherung des Lohnstandards und der sozialen Sicherheit« verbunden werden; die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder sollte einander »angeglichen« werden, »um eine Vollbeschäftigung zu gewährleisten«.49 Auf konkrete Maßnahmen wie eine supranationale Kontrolle des Kapitalverkehrs und eine Europäisierung der Ruhrindustrie wollte sich die Mehrheit der Delegierten jedoch nicht festlegen. Auch für eine Unterstützung der Forderung, die Arbeiter und ihre Organisationen an den europäischen Gremien zu beteiligen, fand sich keine Mehrheit. Der Protest der Gewerkschaftsvertreter gegen diese Abfuhr konnte nur dadurch aufgefangen werden, dass der Ausschuss nach langwierigen Verhandlungen – die bis in den frühen Morgen des 10. Mai andauerten – einem »post-Congress Economic Committee« den Auftrag gaben, »eine Kompromiss-Politik für Europa auszuarbeiten, die die besten Grundzüge von Kapitalismus und Sozialismus enthalten sollte«.50

Dem kulturellen Ausschuss wurde ein Bericht vorgelegt, den Denis de Rougement im Kontakt mit Autoren wie Étienne Gilson, Ignazio Silone und Salvador de Madariaga erarbeitet hatte. Er sprach von einem »gemeinsamen christlichen Erbe sowie anderen geistigen und kulturellen Werten« und der »gemeinsamen Verpflichtung gegenüber den menschlichen Grundrechten«, die für die Mitglieder einer »Europäischen Union« gelten sollten. Allzu föderalistische Passagen waren nach einer Intervention Retingers im letzten Moment aus der Vorlage entfernt worden. Konkret wurde dann die Einrichtung eines »europäischen Kulturzentrums« verlangt, das unabhängig von jeder Regierungsüberwachung »das Bewusstsein der europäischen Einheit fördern« und als Forum des Austauschs der »geistigen Führer« Europas dienen sollte. Weiter wurde die Schaffung einer »europäischen Zentrale für Kinder und Jugendliche« gefordert, die Kinder- und Jugendforschung betreiben sowie »den Austausch von Jugendlichen aller Schichten in Europa« fördern sollte. Zuletzt sah der Entwurf auch noch vor, einen Obersten Gerichtshof zur Einhaltung der Menschenrechte einzurichten, der sowohl von einzelnen Bürgern als auch von »kollektiven Einheiten« angerufen werden konnte und »befähigt« sein sollte, »die Einhaltung der Erklärung der Menschenrechte zu sichern«.51

Die Debatte über den kulturellen Report »entfaltete sich in der üblichen Konfusion«, wie de Rougement sarkastisch kommentierte. Während der Schriftsteller Charles Morgan die kulturellen Angelegenheiten ganz in den Händen der nationalen Regierungen lassen wollte, verlangten andere Delegierte die sofortige Einrichtung einer Körperschaft, die die Arbeit des Kongresses fortsetzen sollte. Ein Hauptmann Cheshire von der Bewegung für moralische Aufrüstung wollte die Rückkehr zu Gott in dem Dokument verankert sehen und griff den Entwurf als »anti-christlich« an. Schließlich sprach sich Bertrand Russell nachdrücklich für das vorgeschlagene Kulturzentrum aus: Es werde den Menschen der verschiedenen Länder helfen, miteinander engen Kontakt zu halten und die Standpunkte der jeweils anderen verstehen zu lernen. Seine Autorität trug dazu bei, dass die materiellen Vorschläge des Berichts schließlich alle einstimmig angenommen wurden.52

Ein Meilenstein

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