Buch

Krebs. Dieser Befund trifft jedes Jahr eine halbe Million Deutsche. Auch die Fitnesstrainerin Verena Sam erhält die Diagnose: Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Nach dieser Hiobsbotschaft macht sie sich gemeinsam mit ihrem Partner, dem Ernährungsexperte Achim Sam, auf die Suche nach Informationen und Hilfe. Die beiden prüfen wichtige Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen, sie ziehen führende Experten zu Rate und entwickeln ein Navigationssystem, das durch die Wirren einer Krebserkrankung führt. In Der Krebskompass verbinden sie ihre Erkenntnisse über neueste Therapiemöglichkeiten mit ihren persönlichen Erfahrungen – und machen anderen Betroffenen Mut.

Autoren

Verena Sam ist seit ihrem 15. Lebensjahr ausgebildete Fitnesstrainerin und Personal Coach.

Ihr Mann Achim ist ein renommierter Ernährungswissenschaftler, Bestsellerautor und TV-Ernährungsexperte.

VERENA UND ACHIM SAM

DER

KREBS

KOMPASS

Wie wir mit Krebs leben lernen

Diagnose, Therapie,

Heilungschancen

C. Bertelsmann

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© 2020 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Verfasst mit Marc Bielefeld (persönliche Passagen)

und Franziska Pfeiffer (Ratgeber)

Lektorat: Eckard Schuster

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München; total italic/ Thierry Wijnberg

Covermotiv: Gulliver Theis

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25918-1
V002

www.cbertelsmann.de

Für jede Umarmung, für Mut,

Forschung und Erdnusseis

Für euch, die wissen, um was es hier geht

Für alle, die nach den Sternen greifen,

und alle, die bereits selbst welche sind

Inhalt

Vorwort

1   Plötzlich ist da was

Vom Supersommer in die Mammografie

2   Der Untersuchungsmarathon

Der Hindernislauf bis zur Diagnose

3   Hoffnungslos war gestern

Zwischen Leitlinie und neuen Therapien

4   Plädoyer für ein Umdenken

»Die Onkologie steht gerade vor einer Schallmauer.«

Von Dirk Jäger

5   Wissen: Die Krankheit Krebs

Ursachen, Therapien, Fakten: Was Sie über den Krebs wissen sollten.

6   Experiment Hoffnung

Meine eigenen Zellen als raffinierteste Waffe gegen den Krebs

7   Iss das! Bloß nicht!

Wie Ernährung plötzlich zu einem delikaten Thema wird.

8   Wissen: Ernährung

Alles, was dem Krebs nicht schmeckt

9   Bewegung ist Leben

Meine absolute Lieblingstherapie: Mit Sport läuft alles leichter.

10   Plädoyer für mehr Sport bei Krebs

Die einzige Therapie ohne Nebenwirkungen

Von Joachim Wiskemann

11   Wissen: Bewegung

Warum selbst kleinste Übungen Großes bewirken

12    Unterschätzte Kräfte

Die große Kraft der Natur nutzen

13   Wissen: Komplementärmedizin

Nebenwirkungen reduzieren, Lebensqualität erhöhen

14   Risiken und Nebenwirkungen von Worten

Wem sage ich was und wann?

15   Kopfsache Krebs

Du entscheidest, ob das Glas halb leer oder halb voll ist.

16   Wissen: Psychologie

Die große Kopfsache: Vom Umgang mit Untersuchungen, Umfeld und dem Ungewissen

17   Erste-Hilfe-Koffer

So finden Sie die passende Behandlung. Kontakte, Adressen, Anlaufstellen

18   Rettung in Sicht

Das Ende ist wie immer offen – aber es gibt Leuchttürme.

Dank

Bibliografie

Vorwort

Der Krebs klopft nicht an. Er klopft nie an. Und es ist ihm auch völlig egal, bei wem er einmarschiert. Er ist auf einmal da. Und dann drischt er wie ein gnadenloser Paukenschlag auf einen ein. Schlimmer kann es kaum kommen. Doch dann geht das Trommelgewitter erst richtig los. Der Krebs fordert alle Aufmerksamkeit und verbraucht dabei jede Kraftreserve. Er ist unsensibel, unberechenbar und unheimlich zugleich. Er kann kaltblütig sein und komplex. Er mischt sich kompromisslos ein und zwingt nicht nur die Gesundheit, sondern das gesamte Leben an seine Grenzen und weit darüber hinaus.

Mit solcher oder ähnlicher Wucht fällt der Krebs allein in Deutschland jedes Jahr über eine halbe Million Menschen her. Und dann steht man da. Ohnmächtig. Gewaltig gefordert, grenzenlos überfordert, geschunden vom Ringen mit der Krankheit und ihrem unheilvollen Ruf.

So donnerte der Krebs auch bei uns ins Leben. Schickte pechschwarze Wolken aus heiterem Himmel und trat einfach die Tür ein. Unter den mehr als 200 verschiedenen Gesichtern hat er sich bei uns ein besonders böses ausgesucht: Brustkrebs, metastasiert. Heilungschancen gleich null. Lebenserwartung? Gering.

Wir, das sind Verena und Achim Sam. Ein bis zum Sommer 2018 unbeschwertes Paar aus Hamburg im vermeintlich besten Alter, verliebt und frohgemut, sportlich und mitten im Leben stehend, versehen nicht nur mit Haus, Hund und Katze, sondern auch mit Plänen für die Zukunft und einem Bündel voller Träume.

Doch dann schnappte sich der Krebs unseren Lebensplan und setzte den Rotstift an.

Verena ist zum Zeitpunkt ihrer Diagnose 35 Jahre alt, von Beruf Fitnesstrainerin und auch privat ziemlich sportlich. Ärzte kannte sie nur vom Hörensagen, und die Medikamente summierten sich in ihrem Leben auf drei Aspirin. Keine Zigarette. Kaum Alkohol. Null krank. Dafür eine geballte Ladung positiver Lebensenergie. Und dann das. Krebs im fortgeschrittenen Stadium.

Achim ist 37 Jahre alt, als die Hiobsbotschaft ins Haus kracht. Er ist ein bekannter Ernährungswissenschaftler, Autor von Food- und Fitnessratgebern, die Bestseller wurden. Er war mal sehr sportlich und ist es zwischendurch immer mal wieder. Früher war er ein erfolgreicher Radrennfahrer, dann geht er in anderen Bereichen an seine Grenzen. Erst feiert er, bis der Arzt kommt. Später arbeitet er bis zum Burnout. Und dann kriegt nicht er Krebs, sondern sie. Verena, sein liebster Mensch. Sein Gesundbrunnen. Seine Sonne.

Nach dem Befund taumelte das »Wir« erst mal über ein Trümmerfeld, überfordert von tausend Fragen, die auf uns einprasselten. Wie geht es weiter? Was sind die ersten Schritte? An wen sollen wir uns wenden? Sind die Standardtherapien gut genug? Oder gibt es bereits bessere Alternativen, die schon viel weiter sind?

Die Fragen krempelten den Alltag bis in die letzte Ritze um. Weiter Sport treiben oder ab jetzt doch lieber ausruhen? Fasten oder besser Kohlenhydrate essen und den Selleriepropheten huldigen? Wir hätten es nie für möglich gehalten – doch mit der Krankheit wogen selbst leichte Themen plötzlich schwer: Denn tatsächlich entscheiden Bewegung und Ernährung mit darüber, wie gut und wie lange das Leben mit der Krankheit weitergehen kann.

Aber so läuft es im wilden Krebskarussell. Es schleudert dich hin und her und hat immer wieder schwindelerregende Sonderfahrten im Programm. Wir erlebten dabei Situationen, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Wem zum Beispiel erzähle ich von der Krankheit? Wem besser nicht? Ein Punkt, der uns vorher gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Doch auch diese Entscheidung wird Konsequenzen haben – im Beruf wie im Privatleben. Am Ende rührte die Krankheit am Job, nagte an Freunden und zerrte sogar an der Familie.

Mittendrin wurden wir immer wieder von Medienberichten und zahllosen Meinungen bombardiert, von gut gemeinten Ratschlägen und haltlosen Unkenrufen. In der Tat, die Zentrifugalkräfte sind nicht ohne. Der Krebs reißt und zerrt an allem.

Und schon bald stellten wir fest: Trotz aller medizinischen Fortschritte, trotz aller neuen digitalen Kommunikationswege und hochmodernen medizinischen Einrichtungen – die wenigsten Betroffenen wissen anfangs, was auf sie zukommt. Wissen nicht, was sie als Nächstes tun sollen und welchen Strohhalmen sie trauen dürfen.

Inzwischen – anderthalb Jahre nach der Diagnose – sind wir schlauer. Im Laufe der Therapie haben wir viele Erfahrungen gesammelt. Haben viele wichtige Studien und relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen gelesen, mit zahlreichen Ärzten gesprochen und uns mit vielen Betroffenen ausgetauscht. Es gab auf dieser Reise viel zu tun und zu verdauen. Aber es gab auch viel zu lernen. Denn es ist auch so: Man kann wachsen mit dem Krebs. Wie an jeder größeren Aufgabe, wenn man sich ihr stellt.

Unser Wissen und unsere Erfahrungen wollen wir im vorliegenden Buch versammeln und verdichten. Wollen Fragen beantworten und Rat geben. Wollen Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die wir nicht nur für gut befinden, sondern die jeweils auch mit renommierten Experten aus den jeweiligen Bereichen abgestimmt sind. Mit Professoren, Schul-, Sport- und Komplementärmedizinern, mit Ernährungswissenschaftlern und Psychologen.

Es geht um das wichtigste Wissen rund um den Krebs. Es geht um moderne Therapieverfahren. Es geht um die gesunde Dosis Sport und Ernährung. Um Aprikosenkerne und Genscheren, um die Macht der Worte und die Kraft der Hoffnung. Und es geht auch und vor allem: um unsere Seelen, unsere Herzen.

Sie und die ganze Einstellung zur Krankheit sind essenziell. Darum wollen wir Ihnen nicht nur mit Fakten und Wissen, sondern auch mit unserer ganz persönlichen Geschichte helfen, einen Weg, einen guten Weg durch die Zeiten der Krankheit zu finden.

Um es ganz klar zu sagen: Dieses Buch ist kein Präventionsbuch. Es ist ein Überlebensbuch. Und zwar für alle Betroffenen: für die Erkrankten in allererster Linie, aber auch für Ärzte und das Klinikpersonal und besonders auch für Angehörige und Partner. Sie sind die Ko-Betroffenen. Sie sitzen mit im Boot, ob sie wollen oder nicht.

Wir haben uns darum dazu entschieden, unsere Geschichte im Kanon zu erzählen: aus Sicht der Betroffenen und aus Sicht des Partners. Zu eng sind unsere beiden Rollen miteinander verknüpft, zu dick die Stränge, an denen wir beide ziehen, um mit der komplexen Situation klarzukommen.

Der Krebs kommt einem Universum gleich. Die einzig wahre Lösung und den einen Fixstern gibt es nicht. Doch wollen wir zusammen versuchen, einen klärenden Kurs einzuschlagen.

Darum dieses Buch. Eine Navigationshilfe für das Leben mit dem Krebs. Wir hätten gern etwas Ähnliches gehabt, als wir plötzlich dastanden mit der Krankheit, jedoch völlig ohne Orientierung.

Wir fanden wenig, dem wir Vertrauen schenken konnten. Und deshalb begannen wir selbst zu recherchieren und aufzuschreiben.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum uns dieses Buch am Herzen liegt. Weil wir wissen, wie viele andere Menschen gerade von einem ähnlichen Erdbeben durchgerüttelt werden.

Ihnen allen wollen wir Mut machen.

Denn das Leben nach der Krebsdiagnose muss nicht sofort zu Ende sein. Das Leben mit dem Krebs ist möglich. Und mehr als das: Das Leben mit dem Krebs kann ein gutes Leben sein – vielleicht eines mit weniger prognostizierter Quantität, dafür eines, das in anderer Hinsicht wertvoller wird, reicher. Es hat uns vorangebracht. Es ist ein Leben, das bewusster ist als früher, mit einer ebenfalls zuvor ungeahnten Qualität. Wir haben viel gelernt. Über die Krankheit, über uns selbst. Über die Menschen. Und vielleicht sogar ein wenig über das Leben.

Wir wollen nicht das Blaue vom Himmel holen. Wollen keinesfalls Unmögliches versprechen. Unbedingt aber wollen wir die Kulissen zur Seite schieben, die das Thema Krebs oft genug verstellen, verzerren und verbauen. Es eröffnen sich dabei Perspektiven, neue Sichtweisen. Es eröffnen sich neue Einsichten und Aussichten. Und damit letztlich auch völlig neue Wege, diese komplizierte Krankheit besser zu verstehen und ihr effektiver zu begegnen. Wir leben – zum Glück – in einer Zeit, in der sich die Krebsforschung und auch -bekämpfung rasant entwickeln. Dank auch menschlicher Größen, die dies überhaupt ermöglichen und fördern.

Und inzwischen glauben wir nicht nur fest daran, sondern wissen es: Der Krebs trifft das ganze Leben. Aber das Leben kann auch den Krebs treffen. Kann ihn in die Schranken weisen, ihn erträglicher machen oder – niemand weiß es – ihn vielleicht sogar besiegen.

1

Plötzlich ist da was

Vom Supersommer in die Mammografie

Was auf Betroffene zukommt, wenn plötzlich der Verdacht Krebs im Raum steht. Welche Fragen stellen sich? Welche Rolle nimmt der Partner ein? Und warum ist es nicht immer ratsam, alle Ratschläge zu befolgen?

Verena: In Griechenland schien noch die Sonne. Es war Juni 2018, und wir hatten uns den Urlaub auf der Insel Kos redlich verdient. Vor unseren Füßen lag dieser schneeweiße Strand, das Meer war warm, und ich ging jeden Morgen joggen. Ich lief durch die nahen Dünen, am türkisen Wasser entlang. Sport ist für mich wie atmen. Achim lag auf der Terrasse, ein Buch auf dem Bauch, und genoss das Leben. In sein Mailsystem hatte er eine Abwesenheitsnotiz »gedonnert«, wie er sagte. »Ich mache jetzt Digital Detox – Nachrichten werden weder gelesen, gehört noch beantwortet.«

Wir aßen gut, tranken bunte Früchtecocktails, und die einzige Sorge, die uns in diesen Tagen in Griechenland durch den Kopf ging, kreiste um unsere Blumen zu Hause im Garten: ob sie diesen deutschen Supersommer überleben würden.

Nach der ersten Nacht in unserem Ferienapartment hatte ich Achim in die Badewanne verbannt. Jawohl, zum Schlafen. Er schnarcht nämlich wie ein intervallgesteuerter Mähdrescher und war deswegen kürzlich sogar in einer Schlafklinik. Zwei Nächte hatte er dort verbracht. Kameras und Messgeräte sollten seine nächtlichen Säge-Arien aufzeichnen und analysieren. Aber da war nichts. Nur Stille. Nur ein friedlich und ganz leise schlafender Achim Sam.

Glaubt man’s? Ich jedenfalls konnte nicht fassen, dass er ausgerechnet in diesen beiden Nächten in der Schlafklinik die Stille in Person gab: Denn in Griechenland war er diesbezüglich prompt wieder in Hochform. Für die zweite Nacht buchte Achim uns in eine Familiensuite um. Zwei getrennte Schlafzimmer. Es ging nicht anders. Ich war schließlich auch zur Erholung hier. »Denk an die Schlafklinik«, sagte ich abends zu ihm. »Da ging’s doch auch.« Und während ich ihm diese Worte ins Ohr küsste, hatte ich noch keinen blassen Schimmer, dass wir schon bald erneut eine Klinik aufsuchen sollten.

Diesmal allerdings sollte ich die Kandidatin fürs Krankenhaus sein. Und der Besuch gänzlich anderer Natur.

Das Leben war in diesen Tagen ein Traum. Wir lehnten uns zurück, taten endlich mal nichts außer genießen. Und das konnten wir besten Gewissens tun. Achim hatte zu Hause eine leitende Stellung in einem Medienkonzern, er hatte erfolgreiche Bücher über gesunde Ernährung geschrieben, die zu Bestsellern wurden. Er saß danach in zahllosen Talkshows, wurde zum gefragten Food-Experten in Funk und Fernsehen und in vielen Printmagazinen. Bis er am Rand eines Burnouts stand.

Auch im Sportstudio, das ich zusammen mit meinem Bruder aufgebaut hatte, lief es endlich rund. Es ist eine »Box«, so nennt man Sportstudios, die nicht mit den klassischen Geräten ausgestattet sind, sondern mit allen möglichen Utensilien für ein funktionelles Kleingruppentraining. Da sind Stangen für Klimmzüge und Turnübungen, Kletterseile, um sich daran hochzuziehen, Flächen mit Gummimatten und Langhanteln zum Gewichtheben. Eben alles erdenkliche Zeug, das fitter und stärker macht. Der Begriff »Box« entstand aber in erster Linie durch die Tatsache, dass die vier Wände zu einem wesentlichen Bestandteil der Work-outs werden, weil man an ihnen Handstand übt, sie mit schweren Gymnastikbällen bewirft oder schlicht Dehnübungen an ihnen verrichtet. Man kann sich so eine Box in etwa vorstellen wie einen Schuhkarton, in dem man von links nach rechts turnt und die Wände hochgeht.

Wir hatten dort inzwischen tolle und treue Mitglieder, und ich konnte nach Herzenslust dem nachgehen, was für mich nicht nur Beruf, sondern auch Berufung ist: Sport. Bewegung. Fit sein und gesund leben – und andere Menschen dafür begeistern. Meine Güte, das machte ich ja schon als kleines Mädchen. Durch die Gegend turnen, agil sein. Wenn es mit der Familie in die Ferien ging, schleppte ich freiwillig die Koffer ins Auto, packte mit an, wo ich nur konnte. Hauptsache Training!

Wir hatten in Hamburg, in Deutschland und auf der Welt verteilt viele Freunde. Dazu ein schönes Häuschen mit Garten, zwei Autos und einen Sportwagen für Achim zum Schrauben. Wir hatten eine Katze und bald noch fünf weitere, die regelmäßig in unserem »Katzenkiosk« vorbeischauten. Achim bastelte im Keller in letzter Zeit immer an seinen alten Mountainbikes herum, die er so liebt. Er hatte sich kürzlich extra einen türkisfarbenen Nappaledersattel bestellt und irgendeine eloxierte Gangschaltung im Knallbonbon-Look. Was weiß ich.

Und jetzt Griechenland. Sonne. Wellen. Pool. Die Dorade im Salat kam frisch aus dem Meer, das Olivenöl aus den nahen Bergen. Unten am Beach bogen sich die Sonnenschirme im warmen Wind. Elf Tage lang tankten wir in diesem Ferienhimmel auf, dann flogen wir zurück nach Hause. Home sweet Hamburg.

Es war heiß bei uns im Norden. 2018, dieser ewige Sommer. Die Temperaturen hatten die Elbe auf Tiefststände verdampfen lassen, und in unserem kleinen Viertel grillten die Nachbarn draußen auf den Wiesen um die Wette. Deutschland lief in diesem Sommer in Badehose und Bikini durch die Straßen.

Zurück zu Hause, ließen wir es ruhig angehen. Chillen. Nur bei jedem dritten Anruf mal wieder ans Handy gehen, den Urlaub langsam ausklingen lassen. Ich hatte mir ein Magazin geschnappt, lag in der Hängematte und schaukelte so vor mich hin. Achim kam zu mir, sagte irgendwas über die Hitze und strich mir dabei gedankenverloren über den Bauch. Dann ein bisschen seitlicher, ein bisschen höher.

»Was ist da denn?«, sagte er.

»Ach, so ein Knubbel«, sagte ich. »Ist da schon ein paar Tage.«

Achim tastete noch etwas weiter. Ich spürte nichts, es tat nicht weh. Ich spürte nur seine Hand auf meiner Haut.

»Das ist nichts«, sagte ich. »Ist bestimmt nur ein geschwollener Lymphknoten oder so was.«

Einen Moment schwiegen wir. Es war hypnotisch heiß draußen, vor dem Haus nebenan duschte der Nachbar unter seinem Gartenschlauch.

Ich weiß nicht, ob wir Menschen einen siebten Sinn haben. So wie Katzen. So wie die Rehe, die Bären und die Fledermäuse. Aber irgend so etwas in der Art müssen wir doch noch besitzen. Wir spüren das nicht mehr oft. Aber in diesem Moment in der Hängematte spürten wir es. Es fühlte sich an wie ein seltsames, tief verborgenes Wissen. Da war etwas, und wir beide, Achim Sam und Verena Ziemann, ahnten, dies war nichts Gutes.

Es sollte das Ende dieses ewigen Sommers sein.

Meine Frauenärztin weilte gerade im Urlaub, aber Achim und ich meinten am Ende beide, dass ich den »Knubbel« besser jetzt prüfen lassen sollte. Und zwar schnell. Es dauerte eine Woche, bis ich einen Termin bekam.

Wir fuhren durch die brütend heiße Stadt bis zur Radiologischen Allianz an der Schanze. Neben dem gläsernen Eingang standen schon die Schilder mit diesen eisigen Begriffen. Nuklearmedizin. Strahlentherapie. Neuroradiologie.

Mamma Diagnostik. Ich schaute nicht hin, ich ging rein. Dachte an meine Schwester, die hatte auch mal so eine Stelle gehabt.

Stelle. Was für ein harmloses kleines Wort. Doch wie fies konnte es mal eben an Bedeutung gewinnen – und zu einem perfiden Euphemismus mutieren? Bei meiner Schwester war es am Ende zum Glück nur eine Zyste gewesen.

Die Ärztin kam, tastete meine Brust ab und sagte, dass auf jeden Fall ein Ultraschall gemacht werden müsse. Ich lag auf der Pritsche, lag da wie auf Glas und starrte an die weiße Decke des Untersuchungszimmers. Achim saß draußen im Wartezimmer, ich hatte noch seinen Blick im Kopf. Wie er mich angeschaut hatte, als ich in den Untersuchungsraum gebeten wurde. Seine braunen Augen. Es ist der Wahnsinn, was Augen sagen können, ohne dass man ein einziges Wort verliert.

Nach der Untersuchung wurde gleich festgestellt, dass »Ultraschall nicht reichen« würde. Ich vernahm die Worte; wie Drohnen flogen sie durch den Raum. Man müsse sich die Sache genauer ansehen, so in etwa drückte das Klinikpersonal sich aus, und als Nächstes sollte eine Mammografie erfolgen. Ich ging aus dem Untersuchungszimmer und sagte Achim, dass es »Auffälligkeiten« gebe. Dass wir jetzt noch klären müssten, wie und wann genau es weitergeht. Eine weitere Untersuchung auf jeden Fall, vielleicht auch zwei. Heute, morgen, in den nächsten Tagen.

Auffälligkeiten? Und was denn klären? Achim starrte mich an. Die kleinen Glücksbringer, die er sich in seine Hosentasche gestopft hatte, waren schon halb zerquetscht.

Ich wurde in den nächsten Raum zur Mammografie gebeten. Diesmal lag ich nicht da. Ich stand vor einem weißen Monstrum von Gerät, das eine durchsichtige Platte besaß, diverse Hebel und Schalter und diesen großen vorstehenden Kopf mit der Röntgenkamera. Das ganze Teil sah aus wie ein Roboter.

Es dauerte nicht so lange. Der Raum war hell wie grauer Schnee, und die Platte fühlte sich kalt an. Die Ärztin, die mich jetzt untersuchte, stand ein paar Meter weiter hinter ihrem Monitor, und bald sagte sie das erste Mal, dass es wohl nichts Gutes sei. Dass es nach etwas Bösartigem aussehe. Und dass jetzt unbedingt noch eine Biopsie gemacht werden müsse, eine »Stanze«. Im Klartext: Gewebeproben entnehmen. Wir müssten dafür einen Termin ausmachen, hieß es erst, und schon die Aussicht, jetzt womöglich noch ein paar Tage warten zu müssen, kam mir zu diesem Zeitpunkt unerträglich vor. Ein Blindflug durchs Ungewisse. Wie die Fahrt durch einen Tunnel ohne Licht.

Es gab dann plötzlich eine Lücke im Terminkalender. Eine Patientin war nicht gekommen, und so konnte ich zum Glück noch am selben Nachmittag zur Biopsie. Und nun lag ich wieder da, diesmal lokal betäubt. Mehrere Stiche drangen in meine Brust, in meine rechte Seite. Ich spürte nichts, es tat nicht weh. Es war ein Dienstag, und erst am Freitag sollten die Ergebnisse vorliegen. Ich zählte im Kopf. Zwei Tage, drei Nächte. Eine gefühlte Unendlichkeit.

Wir verließen die Radiologie. Draußen war es heiß. Wir hatten das Gebäude in Flipflops betreten, mit Bleischuhen kamen wir wieder heraus.

Zwei Tage warten also bis zur nächsten Stufe, bis zum ersten hieb- und stichfesten Befund. Es war das erste Mal, dass Achim und ich am eigenen Leib erfuhren, was Warten bedeuten kann. Du sitzt bei dieser Art des Wartens in keinem Wartezimmer, stehst in keiner Schlange. Du wartest nicht auf einen verspäteten Zug, nicht darauf, dass die Bank öffnet. Du wartest auch nicht auf einen Flug, der vielleicht gestrichen wurde und erst am nächsten Tag abgeht. Du wartest auf ein nächstes Urteil. Auf ein paar Worte und Sätze von einem Arzt, auf einen verdammten Befund, der unter den acht Milliarden Menschen auf dieser Erde zunächst einmal nur dich betreffen wird. Dann deinen Partner. Und dann ein paar ausgewählte Menschen aus dem Kreis deiner Familie und deiner engsten Freunde, die dieser Befund treffen wird wie eine Abrissbirne.

An diese sehr spezielle Form des Wartens würden wir uns ab jetzt gewöhnen müssen. Dieses Warten würde Teil eines Untersuchungsmarathons werden. Teil der folgenden Therapien. Teil der Suche nach Wissen und gutem Rat. Teil des ganzen Prozedere, bis endlich der Anruf von mal wieder einem Arzt kommen würde oder du ihm höchstpersönlich gegenübersitzen würdest. Diese sehr spezielle Form des Wartens kennt ganz eigene Gesetzmäßigkeiten. Sie kann sehr groß und kalt ausfallen. Sie kann dich aus den Träumen reißen und deine Tage in Achterbahnfahrten verwandeln. Doch diese ganze Warterei auf Ergebnisse und Antworten, darauf, wie es weitergeht, sie wird jetzt ein Teil deines Lebens werden.

Doch wir sollten uns daran gewöhnen. Sollten lernen, auch damit umzugehen.

Nach der Biopsie hatten sie mir nebenbei noch diesen Satz mit auf den Nachhauseweg geschickt: Ich sollte in den nächsten Tagen keinen Sport machen.

Wie bitte? Keinen Sport? Mich nicht mehr bewegen? Nicht mehr meinem Beruf nachgehen, meinem Lebenselixier? Ich wollte das nicht glauben und schon gar nicht befolgen. Und ich befolgte es auch nicht. Ich ging weiter in die Box, ging noch am selben Abend zum Training und zu den Kursen – und hatte natürlich noch überhaupt keine Ahnung, wie eng diese beiden großen Themen am Ende miteinander verwoben sein würden.

Der Sport und die Krankheit. Die Bewegung und der Krebs. Die Wirkung eines gesunden und fitten Körpers auf ein paar Zellen, die aus dem Ruder gelaufen waren. Nun, ich sollte es später noch erfahren.

Doch auch weit über das Thema Sport hinaus wissen wir heute: Es geistert eine Menge Halbwissen und Unwissen durch die Gegend, sobald es um Krebs geht. Da flattern einem zahllose Meinungen, Warnungen und Weisungen entgegen – befolgen allerdings sollte man sie keinesfalls alle.

Achim hatte während der Biopsie draußen gewartet. Wir stiegen danach ins Auto und fuhren erst einmal ziellos durch Hamburg. Natürlich unterhielten wir uns, sprachen über die Details, die wir gehört hatten. Was hatte die Ärztin vorhin noch gesagt? Da war angeblich ein auffälliger Lymphknoten. Achim hatte das so verstanden und ich auch. Ich wollte auf meinem Handy schon googeln, aber ich ließ es sein. Dr. Google sei ein Killer in so einer Situation, hatte ich mal gehört. Drei Klicks bis zum Tod. Ich hielt mich daran, auch wenn die Versuchung groß war, schnell Gewissheit zu erlangen, sich beim Scrollen durch digital generierte Suchergebnisse zu beruhigen oder mal eben Wissen und Fakten anzusammeln.

Nein, ich verzichtete darauf – und ich würde das auch weiterhin tun. Das Internet ist in so einer Lage nicht dein Freund, es kann ganz schnell zu deinem Feind werden. Es sei denn, du gehst gezielt auf eine verifizierte Homepage, wie etwa auf die ausgewiesene Seite des Krebsinformationsdiensts. Oder du willst nur mal eine Telefonnummer herausfinden, eine Adresse.

Mein Motto jedenfalls ist – und es hat sich bis heute bewahrheitet: Bestell dir von mir aus Schuhe im Netz, aber hol dir dort nicht dein Todesurteil ab – von Wildfremden willkürlich und vorschnell zusammengeschustert.

Wir gingen erst mal irgendwo einen Kaffee trinken. Mussten diese ersten Untersuchungen irgendwie verarbeiten, mussten nachdenken und einordnen. Immer wieder kreisten die Szenen im Zimmer der Ärztin in meinem Kopf, es war ja gerade erst eine gute Stunde her. Die Ärztin hatte sich mit ihren Worten zurückgehalten. Aber ich hatte schon heraushören können, dass es sich hier um etwas Gravierendes handelte.

Wir tranken noch einen Espresso, dann fuhren wir nach Hause.

Nach einer Nacht mit dünnem Schlaf lagen wir noch im Bett, als am nächsten Vormittag das Telefon klingelte. Es war überraschend die Ärztin von gestern, und sie sagte, dass die Ergebnisse der Biopsie nun doch schon gekommen seien. Sie machte eine kleine Pause, dann sagte sie das erste Mal das Wort.

Krebs.

Brustkrebs.

Danach verschwamm alles.

Ich sah Achims altes Surfboard an der Wand lehnen, die getrockneten Blumenkränze aus Hawaii, die darüber hingen und Glück bringen sollen. Ich sah unser Stoffnilpferd mit dem roten Lederbezug, auf dem ein paar Bücher lagen. Ich hörte die Stimme der Ärztin. Die Terrassentür stand offen, draußen war es noch immer unverschämt heiß.

Ich hörte die Worte wie Flusen.

Achim war längst nach unten gekommen. Ein Klingeln hatte genügt, allein die Tonalität dieses Gesprächs ausgereicht, damit die Dringlichkeit des Anrufs sich sofort im ganzen Raum verteilte. Achim stand wie ein Schießhund hinter mir.

Als Nächstes ein Brustzentrum suchen, sagte die Ärztin. Vertrauen haben. Vielleicht doch noch ein CT und MRT machen lassen. Verschiedene Anlaufstellen. Ganz sichergehen. Wie Sand rieselten die Worte durch meinen Geist. Folgeuntersuchungen. Überlegen, wohin. Weitere Schritte. Dann: Auf Wiedersehen.

Ja, auf Wiedersehen.

Achim stand für ein paar Sekunden da wie ein Marmorblock. Ich ging kurz nach draußen vor die Tür. Es war Mitte Juli 2018. Ich war 35 Jahre alt, und alles Unbeschwerte in meinem Leben hatte sich in den letzten fünf Minuten am Telefon für immer aufgelöst.

Achim: Der Typ mit den braunen Augen, der Verena ansah, bevor sie in den Behandlungsraum ging, das bin ich. Achim Sam, 38 Jahre alt. Man könnte auch sagen: Ich bin der schnarchende Mähdrescher. Verena übertreibt manchmal ein bisschen, aber sie hat ja recht. Ohne dass ich es merke, zersäge ich nachts manchmal halbe Wälder.

Sie ist gerade beim Sport. Mal wieder und wie fast jeden Tag. Genauer gesagt: sechs Tage die Woche. Verena hat nicht übertrieben, wenn sie schreibt, dass sie Sport liebt. Dass sie ohne Sport und Bewegung nicht leben kann und auch jetzt in keinster Weise vorhat, ihre Work-outs, Gewichthebeeinheiten und Laufrunden an den Nagel zu hängen. Einen Teufel wird sie tun. Und in der Tat: Wir beide wissen heute – das ist gut so. Das ist sogar sehr richtig und sehr gesund so. Und genau dies längst auch wissenschaftlich erwiesen.

Ich würde auch gern wieder mehr Sport machen. So motiviert und fit sein wie Verena. Nun, das wird eh nichts mehr, wenn ich mir meinen Bauch anschaue – und dann ihren. Sie hat einen Schildkrötenpanzer. Absolviert ohne Probleme fünfzig Liegestütze am Stück und könnte aus dem Stand heraus dreißig, vierzig Kilometer laufen – wahrscheinlich sogar mehr und ebenfalls am Stück.

Ich hingegen, ach, lassen wir das. Ich habe zwar auch viel Sport gemacht in meinem Leben, fuhr eine Zeit lang sogar in der deutschen Radcross- und Straßenrad-Nationalmannschaft mit. Ich habe Ernährungswissenschaften studiert, Bücher über effektive Diäten geschrieben und darüber, wie man sich gesund ernährt. All das ist wahr und ein wichtiger Teil von mir. Wahr ist aber auch, dass ich aus Großwallstadt bei Miltenberg komme, dort, wo der Odenwald und Spessart um die Ecke liegen, am äußersten Rand Bayerns, wo Hessen nie weit ist. Zudem: Ich stamme aus einer Metzgerfamilie. Sie wissen, was das bedeutet. Viel Wurst. Reichlich Deftiges. Schon als Kind hörte ich diesen inzwischen durchgereichten Satz, der bei uns allerdings keinesfalls nur als Kalenderspruch galt: »Salat schmeckt am besten, wenn du ihn kurz vor dem Verzehr durch ein Schnitzel ersetzt.«

Ich war ein moppeliger Junge. In der Schule wurde ich gehänselt. Bis ich mit dem Sport anfing, deutlich abnahm und später auch ziemlich fit und austrainiert war. Zwischenzeitlich. Vorübergehend. Immer mal wieder. Ich bezeichne mich selbst als einen Figurpendler. Mal schnellen die Kilos nach oben, dann wieder diszipliniere ich mich, esse gesünder und reduzierter, mache viel Sport und nehme wieder bis auf die Muskeln ab. Das geht dann so hin und her. Mal oben, mal unten. Mal runder, mal schlanker.

Aber Verena? Vergessen Sie’s.

Es ist jetzt genau anderthalb Jahre her, dass sie die Diagnose bekam. Krebs. Brustkrebs. Und dann kam es noch schlimmer. Sie ist, wie gesagt, gerade beim Sport. Und mehr als das. Sie ist – hier und heute, und dafür lege ich meine Hand ins Feuer – eine der fittesten Frauen, die ich je in meinem Leben gesehen habe.

Und ich weiß, wovon ich rede. Nach meinem Studium nämlich arbeitete ich zunächst mehrere Jahre bei einem bekannten Fitness-magazin und habe dort so einige Sportskanonen erlebt. Aber kaum eine vom Kaliber Verena.

Wie kann das sein, dass sie so fit ist? Das kann doch gar nicht sein! Nicht nach so einer Diagnose und mit so einer Krankheit. Aber so ist es. Verena geht es, wenn ich das hier einmal für sie sagen darf, gut. Sogar sehr gut. Wir haben weitergelebt. Und wir leben weiter. Wir lachen. Sie macht weiter Sport. Ich gehe in das Büro meines Medienunternehmens. Wir waren in Kalifornien, vier Wochen. Wir standen auf dem El Capitan, Verena joggend und ganz oben auf dem Gipfel, ich keuchend auf halber Höhe, fix und fertig aus dem Wasserfall saufend.

Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch, neben dem alten Hawaii-Poster von United Airlines und der King-Kong-Figur, die wir aus Kalifornien mitgebracht haben. Ich schreibe diese Zeilen, und Verena wird nach dem Sport auch noch an ihren Zeilen weiterschreiben. Diese Zeilen werden jetzt so langsam zu Seiten, und bald werden diese Seiten zu dem Buch, das Sie gerade lesen.

Unser Buch erzählt im Grunde eine sehr einfache Geschichte. Es handelt von einem jungen Paar, das von einer ziemlich bösen Krankheit erwischt wird: Verena Ziemann, inzwischen Sam, athletisch, Sporttrainerin, tätowiert und verdammt hübsch, wie ich finde, bekommt mitten in ihren besten Lebensjahren Krebs.

Die Krankheit überfiel uns aus heiterem Himmel. Mitten in der Rushhour unseres Lebens: von hundert auf null an einem einzigen heißen Sommertag. Es lief bisher alles so gut. Wir fühlten uns, als könnten wir nach den Sternen greifen. Ich hatte Auftritte im Fernsehen, stand vor Tausenden Zuschauern auf der Bühne. Ich dachte, alles ist machbar. Du musstest eben nur etwas dafür tun.

Was ich, was wir beide nicht wussten: Der hellste, der einzig wirklich wichtige Stern ist die Gesundheit. Dieser Stern war jetzt in den Schatten eines dunklen Monds geraten. Die Prioritäten verschoben sich mit einer solchen Macht, dass alles andere zur Nebensache wurde. Was uns eben noch wichtig und erstrebenswert erschien, was uns eben noch lockte und beschäftigte, große Ziele, kleine Ziele – all das verpuffte auf der Stelle. Es zählte nicht mehr.

Alle Wünsche werden klein gegen den, gesund zu sein.

So waren wir völlig unversehens aus unserer Umlaufbahn gerissen worden. Und saßen nun auf einmal mit Zigtausenden in einem Boot. Im Boot der Krebskranken. Auf Augenhöhe mit den kalten Fakten und den vielen anderen Betroffenen.

Es sollte am Ende eine krasse Diagnose sein. Brustkrebs, der in die Lunge gestreut hat. Das geschieht sehr selten, aber hier ist es geschehen. Der Krebs von Verena ist systemisch, wir reden von über zwanzig Metastasen in beiden Lungenflügeln. Das bedeutet palliative Einstufung. Nicht heilbar. Die Ärzte, die so befanden, sprachen zunächst von ein bis fünf Jahren.

Vielleicht wissen Sie, was das bedeutet. Vielleicht sind Sie selbst betroffen. Als Erkrankter oder Partner, als Freund, Arzt oder als ein Teil des klinischen Personals.

Wir wissen inzwischen auch, was das bedeutet. Vor allem und selbstverständlich Verena. Wir haben viel erlebt seit der Diagnose. Viel durchlebt. Da waren Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit. Da war die Wut. Warum ausgerechnet sie? Wie kann das sein, so fit, wie sie ist? So unfassbar gesund, wie sie immer gelebt hat? Da waren all die Fragen. Was jetzt? Wie weiterleben? Wen fragen? Was tun? Was nicht tun?

Doch trotz aller Rückschläge: Es gibt Grund zur Hoffnung. Und inzwischen haben wir einen Satz mehrfach gehört. »Es ist besser, heute Krebs zu haben als noch vor fünf oder gar zehn Jahren.«

Der Satz verweist auf die rasanten Fortschritte, die bei der Behandlung von Krebs gemacht werden. Heute, jetzt. Und schon morgen. Neue Technologien und Verfahren spielen hier eine entscheidende Rolle – beflügelt durch immer größere Datenmengen und Rechenleistungen, die zu neuen Erkenntnissen führen. In der Forschung, immer öfter aber eben auch in der Anwendung. Mit anderen Worten: Nicht nur unsere Handys und Autos, sondern auch viele andere Produkte, Technologien, Herstellungsmethoden oder Logistikprozesse werden immer besser, smarter und effizienter. Mit den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und drastisch gesteigerter Rechnerkapazität durchlaufen derzeit fast alle Bereiche des modernen Lebens kleinere und größere Revolutionen.

Und das gilt auch für die Bekämpfung von Krebs.

Verena zum Beispiel setzt neben der klassischen Leitlinien-therapie inzwischen zusätzlich auf eine experimentelle Therapie, die nicht pauschal schlechte wie gute Körperzellen tötet. Diese Therapie versucht vielmehr, ihr eigenes Immunsystem wieder scharfzustellen, den Krebs gezielt zu erkennen und schließlich aus eigener Kraft zu bekämpfen. Den eigenen Körper also sozusagen als Waffe gegen den Krebs einsetzen – vielleicht ist das die effektivste Methode, die es derzeit gibt. Die es überhaupt gibt.

Vor zehn Jahren wäre dies noch undenkbar gewesen. Wir sind darum regelmäßig auch in Heidelberg, im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (National Center for Tumor Diseases). Und wenn man dieses NCT betritt, hat man das Gefühl, im Silicon Valley der Medizin zu sein. Ja, ein Krankenhaus. Aber eines, in dem man sich gut fühlt. Ein Ort, der einen bestärkt und der einem Energie gibt. Im Wartebereich hängt ein gerahmtes Bild mit den Worten: »Unser Ziel ist es, den Krebs zu besiegen!« Es sind nicht nur Worte. Dieser Wille ist in jeder Pore des modernen Baus zu spüren.

Und dabei geht es nicht nur um moderne Methoden und Therapien, sondern um noch etwas ganz anderes. Etwas, das ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt, wenn man mit dem Thema Krebs konfrontiert ist. Nämlich darum, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ein altes Bild, eine Metapher des Volksmunds. Hier und jetzt aber wird dieser Spruch wichtiger denn je. Denn ja: Allein die Sichtweise der Situation kann darüber entscheiden, ob du aufgibst und den Glauben verlierst – oder ob du weitermachst. Ob du dich reinhängst, mehr erträgst, als du je für möglich gehalten hast – und weiterlebst.

Im NCT ist das Glas halb voll. Nicht nur reagieren, sondern agieren. Denn es geht den Ärzten und Spezialisten um den Chef Prof. Dr. Dirk Jäger, den wir inzwischen gut kennen, um nichts Geringeres als um die Entschlüsselung des Kuriosums namens Krebs – und zwar bei jedem einzelnen Patienten. Wissenschaftliche Anerkennung und Auszeichnungen treten hier in den Hintergrund. Im Vordergrund steht der Patient. Der Mensch. Und zwar jeder Einzelne. So wie er ist. So wie eben nur er die Krankheit bekommen hat. Und so, wie vielleicht auch nur er diese besiegen kann.

Der Krebs wird hier nicht über einen Kamm geschert. Er bekommt ein individuelles Gesicht, eine persönliche Geschichte. Denn jeder einzelne Fall von Krebs wird hier bis in die DNA, bis in jedes einzelne Molekül aufgeschlüsselt (siehe Immuntherapie [>>], und Kapitel 6, »Experiment Hoffnung« [>>]). Schlüssel, ja, das ist ein gutes Wort. Damit lassen sich bekanntlich Türen öffnen. Damit lässt sich dieser heimtückischen Krankheit vielleicht beikommen.

Professor Jäger kam einmal in den besagten Wartebereich und rief eine Patientin aus. Sie entgegnete: »Ich bin hier, Herr Professor Jäger! Sie haben mich wohl übersehen.« Der Professor antwortete: »Nein, Frau Koch, ich übersehe Sie ganz bestimmt nicht, ich habe Sie nur nicht gleich gesehen.«

Der Satz spricht Bände. Er steht für eine ganz neue Richtung, steht für die sehr persönliche Betrachtung eines jeden einzelnen Krebsfalls.

Und das hilft. Es hilft ungemein.

Wundern Sie sich übrigens nicht, dass ich ständig von »uns« schreibe und an vielen Stellen das »wir« verwende. Verena ist die Betroffene. Selbstverständlich. Ohne Wenn, ohne Aber. Den Partner jedoch (ebenso wie die Familie und enge Freunde) treffen andere Aspekte der Krankheit. Der Partner ist mit im Boot, das ist sehr wichtig. Doch auch hier sind die Nebenwirkungen keinesfalls zu unterschätzen, und es hilft enorm zu wissen, was auch auf ihn zukommt. Was er tun kann, was er nicht tun soll. Denn der Partner wird – wie der Ko-Alkoholiker an der Seite des Alkoholikers – zum Mitbetroffenen.

Eine wichtige Rolle – für beide.

Und dann ist da natürlich noch etwas, das von Anfang an zählt. Es steht ganz oben auf der Liste: die Einstellung. Die eigene Haltung gegenüber der Krankheit. Verena sagte von Anfang an: Ich schaffe das. Ich gehe das an. Ich gehe das an, so gut ich nur kann. Ich nehme diese Krankheit an wie eine Aufgabe, die mir gestellt worden ist. Aus irgendeinem Grund. Von ganz oben, von irgendwoher. Es hat einen Grund. Es muss einen Grund geben.

Verena will diese Aufgabe wie ein knallhartes Work-out betrachten. Wie eine Lebensaufgabe im wahrsten Wortsinn, die sie fordert, bei der sie an Grenzen kommt, schweißgebadet, bei der sie irgendwann nicht mehr kann, aber dann eben doch noch ein paar Züge durchhält – um dann im besten Fall gestärkt herauszugehen.

Wir wissen, dass es diese Einstellung nirgends zu kaufen gibt. Wir wissen, wie schwierig es ist, einer solch unerbittlichen Situation entgegenzutreten. Woher den Willen nehmen, zu ändern, was zu ändern ist? Woher die Kraft, zu ertragen, was zu ertragen ist? Und woher die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden?

Es gibt hier kein Rezept mehr, keine Apotheke, keinen Zauberer. Und wir werden uns unterstehen, hier pauschalen Rat zu erteilen. Wir würden uns jedoch über beide Ohren freuen, wenn Ihnen dieses Buch vielleicht ein wenig Kraft mit auf den Weg gibt. Wenn es guten Rat weiß. Wenn es Gedanken eröffnet, Ideen schenkt und ein ganz klein wenig die Einsamkeit nimmt.

Und wenn es nur die eine Zeile ist, die Sie in Ihr Herz schließen. Der eine Satz, der Mut macht. Das eine Wort, das Sie wissen lässt, dass Sie nicht allein sind.