Buch
In »Mein Rom« lädt der Bestsellerautor und Vatikanexperte Andreas Englisch, der seit drei Jahrzehnten in der Ewigen Stadt lebt, zu einer Entdeckungsreise. Er eröffnet neue Blicke auf vermeintlich Altbekanntes, blickt vor und zurück in der römischen Geschichte und enthüllt überraschende Geheimnisse über die berühmten Sehenswürdigkeiten der Tiberstadt. Voller erzählerischer Verve schöpft er aus einem riesigen Fundus an Erfahrungen, Wissen und Begegnungen. Ein außergewöhnliches Rom-Buch.
Autor
Andreas Englisch lebt seit drei Jahrzehnten in Rom und gilt als einer der bestinformierten Journalisten im Vatikan. Seine Bücher sind Bestseller. Zuletzt begeisterte er seine Leser mit »Der Kämpfer im Vatikan – Papst Franziskus und sein mutiger Weg« (2015) und mit der Bildbiografie »Franziskus« (2016).
Andreas Englisch
MEIN ROM
Die Geheimnisse der Ewigen Stadt
C. Bertelsmann
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© 2018 by Andreas Englisch
© 2018 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Autoren- und Verlagsagentur, München,
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Bildredaktion: Annette Mayer
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagfoto: © Musacchio & Ianniello
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23474-4
V004
www.cbertelsmann.de
Wie sagst du noch immer? Ey, Alter.
Also, dann versuch ich es jetzt auch mal:
Ey, Alter! Ja, du bist gemeint, Leonardo Englisch.
Dieses Buch ist für dich oder besser gesagt für uns, unsere Streite,
unsere langwierigen Versöhnungen und dafür, dass unsere
Heimatstadt Rom nie aufgehört hat,
uns beide zu verzaubern.
Inhalt
Auftakt
I
II
III
IV
Petersplatz
Schicksalsort Europas
Traumziel
Antikes Silicon Valley
Grausamkeit und Größenwahn
Zölibat und Kaiserkrönung
Alles Fake?
Was für ein Gott?
Petersdom
Inflation der Heiligen Jahre
Zauber und Gefahr
Spur des Hasses
Krieg im Namen Jesu
Enttarnt
Prüfung I
Letzte Chance
Nacht im Vatikan
Allein mit den Geheimnissen der Päpste
Sixtinische Kapelle
Bildersturm im erstaunlichsten Raum der Welt
Am Ende der Zeiten
Michelangelos neuer Christus
Vatikanische Museen
Borgia – ein Name wie Gift
Die Apokalypse des Raffael
Antlitz einer neuen Zeit
Die Schenkung des Konstantin
Brand im Borgo
Prüfung II
Fernandas Rache
Kolosseum
Inliner und Polterabend
Tödliche Vergnügungsmaschinerie
Santa Maria Maggiore
Die neue Macht von Rom
Santa Prassede
Es hört nie auf
Kapitol
Im Schutz der alten Götter
Stadt mit vielen Gesichtern
Pantheon
Magie der Ewigkeit
Dompteur der Geister
Dank
Register
Der Autor auf der Terrasse neben dem Kapitol: für ihn einer der schönsten Orte der Stadt Rom.
© Privat
Angekommen
Es geschah an der Rezeption eines kleinen, ruhigen, wundervoll auf einem Hügel der Toskana gelegenen Hotels. Der Portier am Empfang schaute skeptisch auf meine Familie: meine Frau Kerstin, meinen damals etwa 13-jährigen Sohn Leonardo und unseren Hund Toffifee. Er sagte nur ein Wort, um zu klären, woher wir kamen: »Roma?« Er hatte Leos Akzent erkannt. Leonardo war in Rom aufgewachsen und sprach wie ein Römer. Mir war klar, was das bedeutete: Römer galten als laut, unzuverlässig, chaotisch. Wenn der Portier uns als Römer einstufte, dann bekamen wir garantiert das schlechteste Zimmer.
Ich wollte also gerade meine Trumpfkarte ausspielen: den italienischen Personalausweis zurücknehmen und meinen deutschen Pass auf den Tresen knallen. Das würde sofort jeden Verdacht, dass wir Römer sein könnten, beseitigen. Deutsche Urlauber galten als vorbildlich leise und rücksichtsvoll und bekamen die besten Zimmer.
Aber ich zögerte. Es stimmt: Ich war als Zuschauer nach Rom gekommen, hatte die Spanische Treppe in aller Ruhe fotografiert, während die Römerinnen auf dem Weg zur Arbeit in die Nobel-Boutiquen hinuntergehetzt waren. Ich hatte in den Seitenstraßen des Petersdoms Postkarten ausgewählt, während die Römer dort verzweifelt einen Parkplatz suchten. Rom war eine Kulisse gewesen; aber irgendwann hatte die Kulisse begonnen, uns in das große Theaterstück hineinzuziehen.
Zum Kolosseum gingen wir schon lange nicht mehr, um Selfies zu machen, sondern weil wir dort viele Jahre gewohnt hatten und es irgendwie zu uns gehörte. Unsere Ehe, die mittlerweile die Silberne Hochzeit hinter sich hat, nahm dort ihren Anfang. Am Abend vor unserer Hochzeit haben wir die Party unseres Lebens im Kolosseum gefeiert. Damals trafen sich viele junge Menschen aus unserem Stadtviertel nachts im Amphitheater. Wir hatten Bier, Wein und Pizza dabei und feierten in der Dunkelheit am wahrscheinlich unglaublichsten Party-Ort der Welt.
Nach Trastevere fuhren wir längst nicht mehr, um uns zu amüsieren. Wir hatten einen Großteil unseres Lebens in einer Wohnung in diesem Ausgehviertel verbracht, und inmitten der Unmengen Bars gab es eine, in der wir erfahren hatten, dass wir einen Sohn bekommen würden.
Und auch das beschlagnahmte Tierheim an der Via Ostiense, der Ausfallstraße zum Meer, gehört zu uns, weil wir dort aus einem rostigen Käfig einen verwahrlosten Jagdhund geholt haben, der nie in der Lage sein würde, irgendwas zu jagen – aber eines besonders gut konnte: bei und mit uns sein.
Ich hatte vergessen, dass der Portier auf eine Antwort wartete. Noch einmal fragte er: »Roma?« Und fast gleichzeitig mit meinem Sohn nickte ich und sagte: »Roma.« In diesem Moment begriff ich, dass Rom längst unsere Stadt geworden war.
Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leonardo eines Tages vor einer Aufgabe stehen würde, an der schon ganze Zivilisationen gescheitert waren: diese Stadt innerhalb von wenigen Tagen in den Griff zu bekommen.
Auftakt
I
»Du hast was?«
Ich hoffte eine Sekunde lang, einfach falsch verstanden zu haben. Mein fast erwachsener Sohn Leonardo sah mich mit einer Mischung aus Trotz und Schuldeingeständnis an, die den Auftakt bildet zu jedem heftigen Streit.
Und ich wiederholte, mühsam beherrscht: »Du hast was?«
»Die Aufnahmeprüfung für die Fremdenführerschule nicht bestanden. Ich bin durchgefallen. Fernanda hat gesagt, sie nimmt mich nicht.«
»Und wieso nimmt sie dich nicht?«
»Sie hat was gegen mich.«
»Fernanda hat gegen niemanden etwas. Sie will, dass man nach ihren Regeln spielt, das ist alles. Sie hat dir ein paar Fragen gestellt, das macht sie immer so. Also, sie hat gefragt, und was ist dann passiert?«
Leo schwieg und starrte auf den Küchenfußboden, als hätte er dort etwas verloren.
Ich sah Fernanda vor mir, mit ihrem entschlossenen Gesicht und den blond gefärbten Haaren, die, stets perfekt geschnitten und frisiert, wie ein Helm wirkten. Sie hatte den Satz immer wieder gesagt: Die staatliche Prüfung für die Fremdenführerlizenz in Rom ist ein Gang durch die Hölle. Die Kandidaten müssen über tausend komplizierte Fragen zu Geschichte und Kunstgeschichte beantworten können. Aber dafür verdient man mit der einmal erworbenen Lizenz in der Tasche wirklich nicht schlecht. Die Vorbereitung auf diese Prüfung in ihrer Schule dauert ein Jahr, und an Bewerbern mangelt es nicht. Fernanda hat es nicht nötig, junge Menschen in ihre Schule aufzunehmen, wenn sie nicht absolut motiviert sind. Deswegen ist schon ihre Aufnahmeprüfung gefürchtet. Ich hatte Fernanda versichert, dass mein Sohn der perfekte Kandidat sein würde.
»Was hat sie denn so Kompliziertes gefragt? Musstest du Mark Aurels Selbstbetrachtungen interpretieren, oder was war so unüberwindlich?«
»Es ging um den Petersdom.«
»Um den Petersdom? Und dazu konntest du nichts sagen? Du hast fast dein ganzes Leben in Rom verbracht! Du hast schon als kleiner Junge die Tauben auf dem Petersplatz gejagt!«
Er sah jetzt ziemlich niedergeschlagen aus. Das Kartenhaus, das er und ich uns zusammengebaut hatten, war mit einem einzigen Schlag zusammengestürzt. Er hatte sein Studium mit dem gut bezahlten Job als Fremdenführer finanzieren und vielleicht sogar diesen Beruf ergreifen wollen.
Seine Voraussetzungen waren ideal: Er war in Rom aufgewachsen, kannte jeden Winkel der Stadt und wechselte mühelos zwischen Deutsch und Italienisch. Für seine italienischen Konkurrenten war es ebenso schwer, die Prüfung zu bestehen, aber Fremdsprachen konnten die wenigsten – und die Deutschen gehören mit über 600 000 Besuchern pro Jahr zu den wichtigsten Kunden.
Andreas und Leonardo Englisch vor dem Petersdom. Zusammenhalten zwischen Vater und Sohn ist gefragt: Nachhilfe bei der gemeinsamen Erkundung von Rom.
© Privat
Außerdem war mit der verhagelten Aussicht, Fremdenführer zu werden, sein gewachsenes Ansehen in unserem Stadtteil Trastevere futsch. Ich kenne Dutzende Römer, die noch nie im Kolosseum oder in der Sixtinischen Kapelle waren. Sie halten dieses Desinteresse für einen Ausweis ihres Privilegs. Sie sagen: Ich bin Römer, das Kolosseum ist einfach da, ich könnte es mir ansehen, wann immer ich will. Gleichzeitig empfinden sie es als ungemein schmeichelhaft, sobald jemand die Schätze ihrer Stadt wirklich genau studiert. Denn dann sind sie nicht mehr irgendwer, sondern Bewohner eines der erstaunlichsten Orte der Welt. Als Leo durchblicken zu lassen begann, dass er Fremdenführer werden wollte, überschütteten ihn unsere Bekannten in Trastevere regelrecht mit Wohlwollen, womit es jetzt wohl vorbei war.
Was mich aber am meisten ärgerte, war, dass ich wusste, wie gut er diesen Job machen würde. Ich begleite seit Jahrzehnten Gruppen in Rom, und ich hatte ihn oft mitgenommen. Leo war ein Naturtalent. Es war ihm gegeben, mit Fremden umzugehen, ihnen etwas zu erzählen, sie so zu behandeln, dass sie sich wohlfühlten.
Andreas Englisch in der Kirche Santa Maria Maggiore. Bitte genau hinsehen: Es gibt viel, sehr viel zu entdecken in Rom.
© Privat
Die Voraussetzungen für eine finanziell abgesicherte Zukunft als Fremdenführer waren perfekt, und jetzt hatte er es verbockt, den ersten kleinen, aber entscheidenden Schritt vergeigt, einfach weil er ein stinkfauler Teenager war, der lieber auf Youtube surfte, als Schulwissen zu pauken.
»Aber du hast doch gelernt?«, fuhr ich ihn an. »Ich habe in deinem Zimmer stapelweise Bücher gesehen, und wenn du dich eingeschlossen hast, um nicht gestört zu werden, hast du doch gelernt, oder?«
Hatte er nicht. Er hatte sich auf Fernandas kleinen Eignungstest schlicht nicht vorbereitet.
»Du riskierst deine Zukunft, weil du in einem Kurs für angehende Fremdenführer nichts über deine Heimatstadt weißt, die erstaunlichste Stadt der Welt. Hast du sie noch alle?«
Dass Leo, der in Rom aufgewachsen war, Probleme damit haben könnte, Fernanda etwas über die wichtigsten Monumente der Stadt zu erzählen, das hatte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen können. Vermutlich war es eine ziemliche Herausforderung für einen Schüler in Kuala Lumpur, den Baldachin des Bernini in der Peterskirche zu beschreiben, aber Leo hatte die barocken Prachtstücke Roms ungefähr so oft gesehen wie andere den nächsten Aldi-Markt in ihrer Heimatstadt.
Leo murmelte kleinlaut: »Vielleicht gibt es noch eine Chance.«
»Was für eine Chance?«
»Signora Fernanda war ziemlich sauer, aber dann sagte sie: ›Pass auf, Leo, ich gebe dir die Gelegenheit, mich ein echtes Wunder erleben zu lassen. Du behauptest, du hattest einen Blackout. Ich glaube, du weißt gar nichts. Aber nehmen wir einmal den unwahrscheinlichen Fall an, dass du tatsächlich einen Blackout hattest, dann kommst du am Montag noch einmal und beeindruckst mich mit dem profundesten Wissen, das je ein Schüler vor mir ausgebreitet hat.‹«
Ein bisschen Hoffnung stand im Raum. »Und worüber will sie dich befragen?«
»Über den Petersdom.«
»Nur den Petersdom?«
»Sie sagt, für den Anfang. Möglicherweise stellt sie später auch andere Fragen.«
»Wonach will sie fragen?«
»Na ja, es geht immer um Rom.«
»Es gibt ganze Bibliotheken über Rom.«
»Ich denke, es geht nur um das wirklich Wichtige.«
»Selbst das Wichtigste füllt Bände«, schrie ich, »und du hattest fast ein Jahr Zeit, dich vorzubereiten, und hast gar nichts getan. Wie willst du das an einem Wochenende aufholen?«
»Dass du mir sagen würdest, ich schaffe es sowieso nicht, darauf hätte ich schwören können«, brüllte Leo zurück.
»Wenn du ein paar Monate früher angefangen hättest, dann wäre es zu schaffen gewesen. Was hast du denn das ganze Jahr in deinem Zimmer gemacht? Filme gestreamt und Facebook-Posts geliked, statt mal in deine Bücher zu schauen?«
Er drehte sich um, stampfte die Treppe hinauf zu seinem Zimmer und knallte die Tür zu.
II
Ein paar Stunden später stand Daniele in der Haustür, der beste Freund meines Sohnes, und es geschah etwas Außergewöhnliches: Er nahm mich wahr, als Mensch. Ich war nicht nur, wie sonst, ein Teil des Mechanismus, der die Tür zum Haus seines Freundes öffnete, sondern ein denkendes und möglicherweise fühlendes Wesen. Er nickte mir sogar zu, blieb zu meinem Erstaunen stehen, statt wie sonst immer mit seinem personalisierten Playstation-Controller in der Hand im Keller zu verschwinden, um mit meinem Sohn Zombies den Kopf wegzuballern.
Ich hatte mich früher gefragt, ob er einfach zu schüchtern war, um mit mir zu sprechen. Da er aber keinerlei Hemmungen zeigte, sich am Samstagabend vor einer Party in meiner Küche an mir vorbeizudrücken, sich am Kühlschrank zu bedienen, um sich ein paar Lachsbrote auf dem Tresen zu machen und diese mit meinem besten Weißwein hinunterzuspülen, hegte ich den Verdacht, er habe kein Problem mit Hemmungen, sondern nur fürchterliche Manieren.
Vor unendlich langer Zeit hatte er mich mit »Herr Englisch« angesprochen, aber jetzt war er zu einem »Hörnsema« übergegangen. Er schaute mich an, äußerte das vertraute »Hörnsema« und fuhr dann vertraulich fort: »Sie sind wahrscheinlich ziemlich sauer auf Leo wegen der verhauenen Prüfung, oder?«
»Das ist hoffnungslos untertrieben«, sagte ich, »ich bin stinksauer. Ich kann mir nicht erklären, wie ein Schüler, der Fremdenführer werden will, der in Rom aufgewachsen ist, nichts über diese Stadt sagen kann.«
»Sie sollten vielleicht was wissen«, unterbrach er mich.
»Und was?«
»Na ja, wenn Leo die Aufnahme doch noch schaffen sollte, dann ist er im nächsten Jahr im Fremdenführerkurs mit Carlotta, aber wenn nicht, und es sieht wohl nicht so gut aus, dann wird das wohl nichts.« Er sah mich prüfend an, um sicherzugehen, dass ich die Tragweite des Gesagten verstanden hatte.
Das hatte ich. Carlotta war das mit weitem Abstand schönste Mädchen an der Schule meines Sohnes, sie ging in die Parallelklasse, und er war seit vielen Jahren heimlich in sie verliebt. Ihm schoss schon die Röte ins Gesicht, wenn sie nur auf der anderen Straßenseite vorbeikam. Sie anzusprechen oder einzuladen, hätte er sich nie getraut, und jetzt hätte er also fast den Hauptgewinn gezogen in Form einer Arbeitsgruppe mit ihr. Diese Chance war nun sehr wahrscheinlich vertan, weil er nichts über Rom wusste. Sein Pech.
III
Natürlich hätte ich etwas tun müssen. Verständnis zeigen, nach einem Ausweg suchen, positiv verstärken oder irgendetwas anderes, was in Elternratgebern steht. Stattdessen war ich nur wütend auf ihn, und ich genoss es zu sehr, um ihm zu helfen. Ich hatte ihm die Gelegenheit gegeben, in der wahrscheinlich schönsten Stadt der Welt aufzuwachsen – und hatte ihn diese Stadt im Mindesten geschert? Nein! Die Menschen des Mittelalters hatten ihr Testament gemacht, bevor sie sich auf die damals lebensgefährliche Reise nach Rom begaben, um einmal im Leben die Ewige Stadt zu sehen. Und mein Sohn? Er hätte jeden Tag seines Lebens die unvorstellbaren Kunstwerke Roms verinnerlichen können, eine unfassbare Schatztruhe, wie es sie in keiner anderen Stadt der Welt gibt. Aber mein Sohn hatte das alles ignoriert.
Ich bin sicher, dass ich nicht in der Lage gewesen wäre, über meinen Schatten zu springen und ihm zu helfen, wenn ich nicht in einen Chat seiner WhatsApp-Gruppe geschaut hätte. Natürlich war es mir nicht gestattet, die Peinlichkeiten und Eingeständnisse meines Sohnes auszuspionieren, aber ich hatte mich erfolgreich eingehackt. Das hatte aber nichts mit meinen Hackerqualitäten zu tun; die sind außerordentlich begrenzt. Ich hatte in einem Getränkemarkt einen Mitschüler meines Sohnes gesehen, der versuchte, zwei Kisten Bier, eine Kiste Wein und etwas Schnaps für seine Geburtstagsparty zu kaufen, aber die Kassiererin hatte sich den Ausweis zeigen lassen und gesehen, dass er erst 17 war. Ich hatte ihm den Stoff gekauft und mir dafür die Zugangsdaten zum Chat geben lassen – und vermutlich damit einen jungen Menschen in die lebenslange Alkoholabhängigkeit getrieben.
Ich checkte den Chat routinemäßig, und da war es: Eine Erklärung von Carlotta, die Leo betraf. Ich las es und begriff augenblicklich. Jetzt hatte er eine Chance. Mein Sohn besitzt die Fähigkeit vieler junger Menschen, mit annähernd Lichtgeschwindigkeit auf seinem Smartphone zu tippen. Er war vermutlich der Ansicht, dass er einen sofortigen tödlichen Entzug erleiden würde, wenn er nicht alle paar Minuten alle Chats checkte. Es konnte also nur ein paar Augenblicke dauern, bis Leo den Eintrag von Carlotta las. Ich machte mir einen Kaffee und arbeitete ein wenig, dann war ich sicher, dass Leo Carlottas Message bereits gelesen haben musste. Ich ging zu seinem Zimmer, klopfte an, bekam keine Antwort und machte daher die Tür auf. Er lag in der vollkommenen Verzweiflungshaltung mit dem Bauch auf dem Bett und quetschte seinen Kopf in das Kissen. Es war die gleiche Haltung, die er einnahm, wenn er noch sehr müde war und meine Frau oder ich ihn wecken mussten: achtzig Kilo Verzweiflung, verbunden mit der einzigen Hoffnung, durch schlichtes Liegenbleiben die Tatsache wegzuwischen, dass er in einer Welt aufgewacht war, in der es Prüfungen gab.
Der Autor vor dem Kolosseum. In diesem Stadtviertel am Amphitheater der Flavier wohnte der Autor viele Jahre; für ihn ist es das schönste der Stadt.
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»Sie will dich zuerst über die Peterskirche prüfen, also, was weißt du über die Peterskirche?«
»Papa, es hat keinen Sinn«, schnaufte mein Sohn in das Kissen. »In meinem Kopf geht alles durcheinander, Michelangelo, Bramante, Barock, Borromini.«
Ich sah auf seinen Schreibtisch, auf dem sich Bildbände türmten.
»Ich verwechsle alles. Giorgio Vasari, Raffael, Canova. Ich kann das einfach nicht; ich hätte eine andere Ausbildung wählen sollen.«
»Und wenn wir zusammen hingehen und uns die Kirche einfach anschauen?«
Mir schlug Stille entgegen. Das pubertäre Hirn, das elterliche Vorschläge nur tröpfchenweise durchlassen kann, schien zu arbeiten. Mein Sohn schnaufte in das Kissen.
»Es geht nicht«, murmelte er schließlich.
»Wieso nicht?«
»Am Nachmittag kann ich nicht. Um 13 Uhr kommt der Mathe-Nachhilfelehrer und bleibt bis zum Abend, weil ich am Montag eine entscheidende Matheklausur habe, und ich kann jetzt nicht auch noch das Abi versauen.«
»Dann gehen wir eben am Vormittag in die Kirche, wenn du am Nachmittag nicht kannst.«
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. An diesem Sonntagvormittag las der Papst die Messe in der Peterskirche. Wenn ich während des päpstlichen Gottesdienstes meinem Sohn die Kirche zeigte, war ich meinen Job los. Wir konnten uns am Sonntagvormittag die Kirche nicht ansehen, unmöglich.
Leo ahnte nichts von meiner Panik. »Aber selbst wenn wir dahin gehen, ich kann mir das einfach nicht merken.«
»Leo, wenn wir uns eines nach dem anderen ansehen und ich dir was darüber erzähle, dann kannst du dir das merken. Es ist mein Job, das erzählen zu können.«
»Ich kann mir nicht merken, was mir jemand erzählt.«
»Dann nimmst du es mit dem Smartphone auf.«
Was machte ich da? Versprach ich meinem Sohn gerade, dass er mit dem Handy während eines Gottesdienstes des Papstes fotografierend durch die Peterskirche laufen könnte? Ich musste verrückt geworden sein oder ein verzweifelter Vater, was gelegentlich auf das Gleiche hinausläuft.
»Ich könnte die wichtigsten Sachen mit dem Handy fotografieren, und ich glaube, das könnte ich mir merken«, sagte er plötzlich, als habe er jetzt erst verstanden, worüber wir sprachen. Dann geschah etwas äußerst Seltenes: Energie erwachte in ihm für ein Projekt, an dem auch Eltern beteiligt waren, während im Normalfall jede Energie aus diesem jungen Menschen wich, sobald er etwas mit seinen Eltern unternehmen sollte.
»Ja klar, wir sehen uns die Kirche an, du fotografierst mit dem Handy, wir besprechen alle wichtigen Kunstwerke – dann hast du eine Chance, den ersten Prüfungstag bei Fernanda zu bestehen.«
Jetzt war ich komplett übergeschnappt.
Er setzte sich auf. Hoffnung keimte offensichtlich in ihm, dass er Informationen, die einmal in sein Handy gelangt waren, verstehen und behalten könnte. Ich habe einen Freund, der in der Museumsverwaltung der Stadt Rom arbeitet. Er nannte dieses Phänomen GAH, Gehirn-Ausfall-Hilfe. Sie hatten die GAH für Schüler zufällig entdeckt. In den Museen werden die ausgestellten Kunstwerke in der Regel beschriftet. Genannt werden meist der Künstler, der Titel des Werks und wann es geschaffen wurde. Die Erfahrungen hatten gezeigt, dass Schüler sich über Generationen hartnäckig weigerten, diese Beschriftungen zu lesen. Verzweifelte Lehrer unternahmen alles Mögliche, von der Schmeichelei bis zur offenen Androhung von Sanktionen, um die Schüler dazu zu bringen. In den Schülerköpfen schien es aber eine Art automatischer Blockade zu geben.
Ein Zufall führte zur Entdeckung einer GAH. Ein Computerfreak in der Verwaltung hatte aus Spaß zwei Bildunterschriften digitalisiert. Die Nutzer mussten einen Barcode in das Smartphone einlesen, dann erschien dort die Bildunterschrift. Das Ergebnis ist das gleiche: Auf dem Handy-Display erschienen der Titel des Werks, der Maler, das Jahr der Entstehung. Und es geschah etwas, das kein Mensch für möglich gehalten hatte. Die Schüler waren geradezu hingerissen von den Bildunterschriften, aber nur wenn sie den Text vorher mit dem Barcode in ihr Handy eingescannt hatten – und sie lasen sie dort tatsächlich. Während die analoge Bildunterschrift für einen Gehirn-Ausfall sorgte, schufen der Barcode und das Handy Hilfe, GAH.
Vater und Sohn Englisch am Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona: Lust auf eine unvergleichliche Stadt, Kunstwerke anschauen statt YouTube, echtes Leben statt Computerspiele.
© Privat
Hier schien eine Art moderner Zauber am Werk: Sobald irgendetwas in ein Smartphone gelangte, schaffte der Inhalt auch den Weg in den Kopf eines Schülers, egal, ob ein Youtube-Video oder Infos über Renaissance-Maler.
»Okay«, hörte ich mich sagen. »Dann gehen wir morgen früh in die Peterskirche.«
Sag ihm sofort, dass das nicht geht – die Stimme in meinem Kopf klang flehend. Ich schwieg und wusste, dass ich dabei war, eine Katastrophe heraufzubeschwören.
Einen Augenblick später fragte Leo: »Was meinte Carlotta wohl mit dem, was sie geschrieben hat? Was denkst du?«
Ich spürte, dass ich rot wurde. Wie zum Henker hat er herausbekommen, dass ich den Chat gehackt hatte? Ich hatte mich als Paolo_66 getarnt. Es musste in der verdammten Gruppe doch irgendeinen Paolo geben.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Tu nicht so blöd«, schnappte er, »erspar mir das Theater, dass du angeblich nicht weißt, was sie geschrieben hat. Bitte, es ist für mich wichtig. Was, meinst du, heißt das?«
Ich war erwischt worden und beschloss, das Beste daraus zu machen. »Sie schreibt, dass es ihr leidtut, dass sie mit dir vielleicht im nächsten Jahr nicht die Arbeitsgruppe machen kann, weil du bei Fernanda durchgefallen bist und den Stoff nachzuholen, kaum zu schaffen ist. Entweder ist sie einfach nur höflich, oder aber sie mag dich besonders, und sie ist enttäuscht, dass sie dich nächstes Jahr vielleicht nicht sehen wird.«
»Und wie bekomme ich heraus, ob sie nur höflich ist oder mich mag?«
»Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit. Du musst die Prüfung bestehen. Das heißt immer noch nicht, dass sie dann deine Freundin wird, aber du hättest eine Chance.«
IV
Wie soll ich meinen Sohn Leonardo vorstellen? Im Allgemeinen bin ich zurzeit ziemlich schlecht darin, junge Menschen vorzustellen. Das liegt an meinem Alter. Ich werde fürchterlich sentimental, sobald ich die Mädchen und Jungs sehe, die mit meinem Sohn aufgewachsen sind. Ich habe sie noch aus der Zeit in Erinnerung, als sie mir bis zur Kniescheibe reichten. Dass sie jetzt Erwachsene sind, nimmt mich sehr mit. Dabei bin ich leider nicht sonderlich geschickt darin, ihnen meine Anteilnahme auszudrücken. Als Susi, Leos Freundin seit dem Kindergarten, mich zu ihrem achtzehnten Geburtstag besuchte und ihren Freund mitbrachte, erzählte ich voller Rührung aus ihren Kindertagen. Ich hatte sie immer ihre kleinen Hände in unser Bidet mit kaltem Wasser halten lassen, denn dann musste sie sofort aufs Klo, und ich konnte sicher sein, dass sie nicht im Schwimmbad Pipi machte. Susi verabschiedete sich mit ihrem Freund überraschend schnell.
Leo wüsste, wie er sich vorstellen könnte. Er hat mir erklärt, dass es für einen Jugendlichen absolut unerlässlich ist, sich mit einer Schulnote einzuordnen. Man musste herausfinden, ob man eine Vier oder gar eine Fünf oder eine Eins oder Zwei war. Als Drei hatte man gute Chancen, eine Drei als Freundin zu bekommen, wenn man Glück hatte, sogar eine Zwei minus, niemals aber eine Eins.
Leo schätzt sich als Drei ein. Zu viel Speck und zu unsicher, um es zu einer Zwei zu schaffen. Er ist muskulös und ziemlich sportlich, aber nicht schlank genug, um als athletisch zu gelten; er kann sehr witzig und charmant sein, aber es reicht nicht zum Leader in der Gruppe. Sein größter Nachteil ist seine Eifersucht. Er hasst es, ausgeschlossen zu werden oder etwas zu verpassen. Sein größter Vorteil ist, dass er viel Mut hat, dass er ziemlich gut einstecken kann und ein ungewöhnlich ehrlicher Mensch ist. Sein dichtes lockiges Haare und seine kräftige Statur lassen ihn etwas älter erscheinen, als er ist. Seine Gesichtszüge sind ständig in Bewegung, denn er macht häufig andere nach, wie in einer Pantomime; er ist in seinem Inneren ein Schauspieler.
Die erstaunlichste Entdeckung, die Leo betraf, machten wir, als er etwa dreizehn Jahre alt war. Meine Frau und ich gehören zu einer Generation, die Mittagessen aus einem Grund, den ich nicht mehr vollkommen nachvollziehen kann, spießig, überholt, also irgendwie doof fanden, möglicherweise hatten wir uns beide während des Mittagsbratens unserer Eltern zu Tode gelangweilt. Soweit ich mich erinnern kann, scheint meine Aversion gegen Mittagessen als junger Erwachsener begonnen zu haben: wenn ich nach Feten am Samstag kurz vor halb zwölf mittags aus dem Bett geworfen wurde, um mich zum Schweinebraten mit meinen Eltern an den Mittagstisch zu setzen, obwohl ich mich eigentlich nur nach einem starken Kaffee sehnte. Wie auch immer. In Rom probierte ich alle möglichen Formen der Nahrungsaufnahme aus, die das Mittagessen ersetzten. Aber die Hauptmahlzeit gab es bei uns zu Hause immer abends. In Rom kostete es mich sogar eine Freundschaft, dass ich das sich endlos in den Nachmittag hineindehnende Pranzo (Mittagessen) der Römer nicht ausstehen konnte. Ich hatte einen süditalienischen Freund, der ständig wollte, dass wir uns mit den Frauen am Wochenende zum Mittagessen trafen. Ich wollte das nicht; ich fand es albern und altmodisch, diese endlose Nudelesserei. Irgendwann rief er mich nicht mehr an.
Als Leo in die Schule kam, blieb es dabei, dass wir abends zusammen aßen. Mittags gab es ein Stück Pizza, manchmal Sushi, irgendwas, das schnell ging. In den Ferien und an den Wochenenden mieden wir Mittagessen weiterhin strikt. Wer nach dem Frühstück irgendwann Hunger hatte, machte sich einen schnellen Snack. Eines Tages, mitten in den Ferien, stellte Leo einen Topf Wasser auf den Herd, deckte für eine Person, also sich selbst, den Tisch, kochte Nudeln und zelebrierte ein über eine Stunde sich hinziehendes Mittagessen. Feierlich verkündete er uns, dass es ihm reiche in dieser Familie; ab jetzt mache er sich das Pranzo selber. Mittags um 13 Uhr gibt es seitdem jeden Tag einen großen Teller mit Pasta (Nudeln). Von einer Sekunde auf die andere verstand ich damals, dass wir mit einem Italiener unter einem Dach lebten. Von diesem Tag an verzichtete unser Sohn nie wieder auf das Mittagessen, und es muss Nudeln geben; jede andere Speise zu Mittag lehnt er ab, egal, ob wir in Italien oder irgendwo im Ausland sind. Er akzeptiert weder Pommes frites noch Schnitzel, Bratwurst, Sashimi oder Kebab. Leo isst Nudeln. Basta. Bei Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Italien begann er, die Azzurri (die Italiener) anzufeuern, und sang mit Inbrunst die italienische Nationalhymne mit.
Ich weiß nicht, ob es die Hitze in Rom war, das Essen, einfach die Luft oder was auch immer, irgendwie verwandelte sich mein Sohn, der in einer deutschen Familie aufgewachsen war, in einen Italiener, um genau zu sein, in einen Römer. Er fühlte sich nur dann wohl, wenn wir in eine der sehr lauten Trattorien der Römer in Trastevere gingen. Meine Frau und ich hatten uns in Erinnerung an unsere deutschen Wurzeln einmal in der Woche eines der sehr seltenen, guten, aber leisen Restaurants in Rom gegönnt, wo man nur die Gläser klirren hört. Leo fand das entsetzlich. Er brauchte den enorm hohen römischen Geräuschpegel, um sich wohlzufühlen.
Der jahrtausendealte Zauber des Pantheon. Streifzüge durch den Alltag einer ganz besonderen Heimatstadt.
© Privat
Er verlor vollkommen die deutsche Angewohnheit, sich abzukapseln. Ich bemerkte das zum ersten Mal auf dem Flughafen in Hamburg. Wie in Deutschland üblich, saßen die wartenden Passagiere für sich allein, also weit verstreut auf den Bänken, mit mindestens einem leeren Platz zwischen sich und dem Nebenmann. Römer sitzen dagegen vor einem Flug auf einem Haufen so eng wie möglich beieinander, und genauso verhielt sich Leo. Er setzte sich immer neben eine(n) der Wartenden, quatschte den Nebenmann/die Nebenfrau hemmungslos an, selbst wenn der oder die las oder an seinem Handy herumspielte.
Allein – also nur mit der Familie – zu Abend zu essen, begann Leo zu hassen. Er fühlte sich nur dann gut, wenn die üblichen Massenabendessen an unseren fünf Meter langen Tischen stattfanden, mit zwanzig oder mehr Freunden, die stets alle durcheinander redeten und ein infernalisches Geschrei veranstalteten.
Leider entwickelte Leo auch eine andere typisch römische Eigenart: eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber seiner Stadt. Ich habe Freunde in Rom, die in der vierten Generation hier leben und noch nie im Kolosseum oder in der Sixtinischen Kapelle waren. Wenn man sie fragt, wieso das so ist, sagen sie immer dasselbe: Das alles ist ja immer da. Wozu sollte man hingehen? Das kann man auch den Touristen überlassen – und genau dieses Problem musste ich jetzt ausbaden.