Das Buch
Wegen seiner verschiedenfarbigen Augen von seiner Familie verstoßen, war der mächtige Vampirkrieger Qhuinn zeit seines Lebens ein Außenseiter in der strengen Welt des Vampiradels. Einzig sein bester Kumpel Blay steht immer zu ihm, und wenn Qhuinn ehrlich ist, empfindet er viel mehr für Blay als bloße Freundschaft. Doch Qhuinn kann nicht zu seinen Gefühlen für einen anderen Mann stehen: Er will mit keinem weiteren Makel behaftet sein. Denn eine Beziehung zwischen zwei Männern würde der Vampiradel niemals akzeptieren. Als sich die Ereignisse auf dem Anwesen der Bruderschaft der BLACK DAGGER überschlagen, erkennt Qhuinn, dass wahre Liebe stärker ist als alle Regeln. Er will um Blay kämpfen, doch um das Herz des Vampirkriegers zu erobern, ist es möglicherweise schon zu spät …
Die Autorin
J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER -Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.
Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.
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J. R. Ward
Sohn der
Dunkelheit
Ein Black dagger -Roman
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Titel der Originalausgabe:
LOVER AT LAST (Part 2)
Aus dem Amerikanischen
von Corinna Vierkant
Deutsche Erstausgabe 04/2014
Redaktion: Bettina Spangler
Copyright © 2013 by Love Conquers All, Inc.
Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe
und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagbild: Dirk Schulz
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Autorenfoto © by John Rott
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-11349-0
V005
Gewidmet: euch beiden.
Es ist an der Zeit, und niemand verdient es mehr als ihr.
Danksagung
Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger und ein Hoch auf die Cellies!
Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh, Claire Zion und Leslie Gelbman. Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!
Danke an all unsere Cheforganisatoren und Ordnungshüter für alles, was ihr aus reiner Herzensgüte tut!
Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.
Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.
Ach ja, und an die bessere Hälfte von WriterDog.
Glossar der Begriffe und Eigennamen
Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.
Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig bis gar keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.
Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.
Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.
Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.
Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.
Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.
Dhunhd – Hölle.
Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.
Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.
Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.
Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.
Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.
Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.
Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.
Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.
Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.
Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.
Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.
Lewlhen – Geschenk.
Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.
Lhenihan – Mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.
Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.
Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.
Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.
Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.
Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.
Novizin – Eine Jungfrau.
Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.
Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.
Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.
Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.
Rahlman – Retter.
Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.
Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.
Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.
Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.
Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.
Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.
Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.
Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.
Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.
Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.
Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.
Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.
1
Von Schlafen konnte keine Rede sein.
Layla hatte niemandem etwas vorgemacht, sie hatte Qhuinn aus dem Zimmer geschickt, um nicht vor ihm stark sein zu müssen. Seit sie mit Gewissheit erfahren hatte, dass sie ihr Kind verlor, war sie nicht mehr allein gewesen und hatte sich beherrschen müssen. Sie wollte endlich für sich sein. Doch merkwürdigerweise blieb der hysterische Zusammenbruch aus. Kein Weinkrampf. Kein Fluchen.
Sie lag einfach nur auf der Seite, Arme und Beine angewinkelt, und horchte in sich hinein. Wie unter Zwang überwachte sie jedes Ziehen und jeden Krampf in ihrem Unterleib. Es war zum Verrücktwerden, doch sie hatte keine Gewalt darüber. Ein Teil von ihr schien überzeugt, dass sie den Vorgang beeinflussen konnte, wenn sie nur wusste, in welchem Stadium sie sich befand.
Völliger Quatsch. Wie Qhuinn sagen würde.
Sie sah ihn noch vor sich, wie er Havers in der Klinik am Kragen gepackt und ihm den Dolch an den Hals gehalten hatte, eine Szene wie aus einem Buch in der Bibliothek des Heiligtums – eine dramatische Episode aus dem Leben eines anderen.
Doch sie hatte das alles vom Untersuchungsbett aus gesehen und nicht in einem Buch davon gelesen …
Es klopfte an der Tür, leise, weshalb Layla eine weibliche Person vermutete.
Sie schloss die Augen. Sosehr sie jede freundliche Zuwendung zu schätzen wusste, wäre sie doch lieber ungestört geblieben. Der Kurzbesuch der Königin war anstrengend gewesen, obgleich sie sich darüber gefreut hatte.
»Ja?« Ihre Stimme war so schwach, dass sie sich räuspern musste. »Ja?«
Die Tür ging auf. Erst erkannte Layla nicht, wessen Schatten da den Rahmen füllte. Groß. Kräftig. Doch kein männlicher Vampir …
»Payne?«, fragte sie überrascht.
»Darf ich reinkommen?«
»Aber natürlich.«
Layla wollte sich aufsetzen, doch die Kriegerin bedeutete ihr, liegen zu bleiben, und schloss die Tür hinter sich. »Nein, nein, bitte … keine Umstände.«
Die einzige Lichtquelle war die Lampe neben der Kommode, und in ihrem sanften Schein wirkte Vishous’ Schwester nahezu bedrohlich, mit ihren diamantfarbenen Augen, die aus dem markanten Gesicht zu funkeln schienen.
»Sag mir, wie geht es dir?«, erkundigte Payne sich sanft.
»Sehr gut, danke. Und dir?«
Payne kam auf sie zu. »Das mit deinem … Zustand … tut mir so leid.«
Wie sehr wünschte Layla, Phury und die anderen hätten niemandem davon erzählt. Doch ihr Aufbruch aus dem Haus hatte ziemlichen Wirbel verursacht und sicher zu besorgten Nachfragen geführt. Dennoch hätte sie die Sache lieber für sich behalten und auf gut gemeinte Besuche verzichtet.
»Danke für dein Mitgefühl«, flüsterte sie.
»Darf ich mich setzen?«
»Selbstverständlich.«
Sie erwartete, dass Payne auf einem der Stühle Platz nehmen würde, die im Zimmer herumstanden. Doch sie trat ans Bett und setzte sich zu Layla.
Um wenigstens den Anschein einer Gastgeberin zu wahren, wollte Layla sich nach oben schieben, wurde jedoch jäh von einer Serie von Krämpfen erfasst.
Payne fluchte betroffen, während Layla sich wieder hinlegen musste. Mit rauer Stimme sagte sie: »Vergib mir, aber ich kann im Moment keinen Besuch empfangen – auch wenn es gut gemeint ist. Danke für dein Mitgefühl …«
»Ist dir bewusst, wer meine Mutter ist?«, fiel ihr Payne ins Wort.
Layla drehte den Kopf auf dem Kissen hin und her. »Bitte, geh …«
»Weißt du es?«, unterbrach Payne sie.
Layla war zum Heulen zumute. Sie hatte keine Kraft für eine Unterhaltung – und ganz bestimmt nicht über Mahmens. Nicht jetzt, da sie ihr Kind verlor.
»Bitte.«
»Ich wurde von der Jungfrau der Schrift zur Welt gebracht.«
Layla runzelte die Stirn, als diese Worte durch den Nebelschleier ihrer Qual – körperlicher wie seelischer – in ihr Bewusstsein drangen. »Wie bitte?«
Payne atmete tief durch, als würde ihr diese Enthüllung weniger Freude als Kummer bereiten. »Ich bin die leibliche Tochter der Jungfrau der Schrift. Ich wurde vor langer Zeit geboren, doch ich erscheine nicht in den Annalen der Auserwählten und meine Herkunft wurde vor aller Augen verborgen.«
Layla blinzelte schockiert. Im Heiligtum oben hatte Paynes außergewöhnliches Aussehen immer als Mysterium gegolten, doch sie hätte niemals danach gefragt, allein schon, weil es ihr nicht zustand. Doch in einem Punkt war sie sich sicher: An keiner Stelle wurde erwähnt, dass die heiligste Mutter der Spezies ein Kind zur Welt gebracht hatte.
Genau genommen war es die Grundlage des gesamten Glaubenssystems, dass eben jenes nicht der Fall war.
»Wie ist das möglich?«, hauchte Layla.
Paynes leuchtende Augen wirkten ernst. »Ich habe mir dieses Schicksal nicht ausgesucht. Und ich rede nicht darüber.«
Ein angespanntes Schweigen folgte, und Layla spürte instinktiv, dass Payne die Wahrheit sagte. Zudem spürte sie bitteren Zorn von ihr ausgehen, über dessen Ursache sie nur spekulieren konnte.
»Du bist eine Heilige«, flüsterte sie voller Ehrfurcht.
»Ganz und gar nicht, dessen sei dir sicher. Aber aufgrund meiner Abstammung besitze ich eine gewisse … wie soll ich sagen? Fähigkeit.«
Layla versteifte sich. »Und die wäre?«
Payne sah ihr mit ihren diamantfarbenen Augen fest ins Gesicht. »Ich möchte dir helfen.«
Layla legte die Hand auf ihren Bauch. »Wenn du damit andeuten willst, du könntest es schneller zu Ende bringen … dann nein.«
Sie hatte ihr Kind nur so kurz in ihrem Bauch. Ganz gleich, wie schmerzhaft es war, sie wollte keine Minute ihrer einzigen Schwangerschaft opfern.
Denn dieser Tortur würde sie sich kein zweites Mal unterziehen. In Zukunft würde sie sich während der Triebigkeit betäuben lassen.
Diesen schrecklichen Verlust einmal zu ertragen reichte für den Rest ihres Lebens.
»Und wenn du glaubst, es aufhalten zu können«, fuhr Layla fort, »dann irrst du dich. Das ist unmöglich.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Paynes Augen leuchteten. »Ich würde gern versuchen, dein Kind zu retten. Wenn du es zulässt.«
Mr C hatte sich im ehemaligen Rektorat auf dem Campus der leer stehenden Brownswick-Schule für Mädchen niedergelassen.
Das entnahm er dem angeknacksten Schild auf dem Gang.
Da man hier nicht heizen konnte, war die Raumtemperatur identisch mit der Außentemperatur, doch dank des Bluts von Omega stellte Kälte kein Problem dar. Ein Glück, denn im großen Schlafsaal auf dem Hügel gegenüber, hinter einem verwilderten, schneebedeckten Rasen, schliefen fast fünfzig Lesser wie die Toten.
Und hätten diese armen Schlucker Wärme oder Verpflegung gebraucht, wäre er echt aufgeschmissen gewesen.
Glücklicherweise musste er sie nur mit einem Dach über dem Kopf versorgen. Den Rest erledigte ihre Initiation – und dass sie alle vierundzwanzig Stunden eine Phase der Bewusstlosigkeit einlegen mussten, kam ihm sehr gelegen.
Er brauchte Zeit zum Denken.
Gütiger Himmel, was für ein Chaos.
Der Drang umherzuwandern wurde übermächtig, und er wollte seinen Stuhl zurückschieben. Da fiel ihm ein, dass er auf einem umgedrehten Eimer Wandfarbe saß.
»Verdammt.«
Er sah sich in seiner schäbigen Behausung um. Der Putz war von der Decke gebröckelt, die Fenster waren vernagelt, in einer Ecke klaffte ein Loch in den Bodendielen. Diese Schule glich den Konten, die er vorgefunden hatte.
Nirgends Geld. Keine Munition. Stumpfe Gegenstände als Waffen, und das war auch schon alles.
Nach seiner Beförderung zum Haupt-Lesser war er zunächst völlig im Rausch gewesen, voller Tatendrang. Jetzt sah er die Defizite. Es fehlte an Geld, es fehlte an Mitteln, es fehlte an allem.
Dennoch erwartete Omega Erfolge. Was er bei seiner kleinen Stippvisite in der letzten Nacht überdeutlich zum Ausdruck gebracht hatte.
Und das war ein weiteres Problem: Mr C hasste diese Übergriffe.
Gegen den Rest konnte er wenigstens etwas unternehmen.
Er streckte die Arme über den Kopf, ließ die Schultern krachen und dankte dem lieben Herrgott für zweierlei: erstens, dass die Handys noch nicht abgeschaltet waren – er konnte also weiterhin mit seinen Jungs im Einsatz in Verbindung bleiben und das Internet nutzen. Und zweitens, dass ihn all die Jahre auf der Straße mit einer eisernen Faust ausgestattet hatten, wenn es darum ging, halbwüchsige Idioten im Drogengeschäft zu befehligen.
Er brauchte Zaster. Und zwar schnell.
Dafür hatte er auch schon einen verdammten Beschaffungsplan gehabt: Vergangene Nacht um Mitternacht hatte er drei seiner Jungs mit den letzten neuntausenddreihundert Dollar losgeschickt. Die Aufgabe dieser Schwachköpfe hatte darin bestanden, das Geld zu übergeben und mit dem Stoff zurückzukommen, damit er ihn strecken und auf kleine Tütchen verteilen konnte. Und dann hätte er seine neuen Rekruten losgeschickt, um das Zeug auf der Straße zu verkaufen.
Dummerweise wartete er noch immer auf die verdammte Lieferung.
Langsam fragte er sich wirklich, was aus seinem Stoff respektive Geld geworden war.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass diese Penner damit durchgebrannt waren. In diesem Fall würde er sie jagen und einfangen wie räudige Hunde und dann ein Exempel an ihnen statuieren, sodass allen klar war, was sie riskierten, wenn sie …
Sein Handy klingelte. Er griff danach, sah auf das Display und nahm den Anruf an.
»Wurde aber auch Zeit. Wo steckt ihr, und wo ist mein Stoff?«
Pause. Dann antwortete eine Stimme, die nicht im Geringsten nach dem pickligen Schieber klang, dem er das Handy, die Kohle und die letzte funktionsfähige Schusswaffe der Gesellschaft anvertraut hatte.
»Ich habe hier etwas, das Sie wollen.«
Mr C runzelte die Stirn. Die Stimme klang sehr tief. Den Tonfall kannte er von der Straße, aber den Akzent konnte er nicht einordnen.
»Es ist nicht das windige Handy, von dem aus Sie anrufen«, sagte Mr C gedehnt. »Von denen habe ich jede Menge.«
Denn wenn man nichts in der Hand hatte, kein Halfter, kein Portemonnaie, blieb einem nur noch zu bluffen.
»Wie schön für Sie. Aber haben Sie auch jede Menge von dem, was Sie mir geschickt haben? Geld? Arbeitskräfte?«
»Wer zum Teufel spricht da?«
»Ihr Feind.«
»Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten, wenn Sie mein Geld genommen haben.«
»Tatsächlich ist das eine vereinfachte Antwort auf ein ziemlich komplexes Problem.«
Mr C sprang auf und warf dabei den Eimer um. »Wo ist mein verficktes Geld, und was haben Sie mit meinen Männern gemacht?«
»Ich fürchte, sie können nicht mehr ans Telefon kommen. Aus diesem Grund rufe ich an.«
»Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie hier sprechen«, presste Mr C hervor.
»Aber nein, ganz im Gegenteil. Sie sind es, der sich diesbezüglich im Nachteil befindet – wie in so vielerlei Hinsicht.« Bevor Mr C aufbrausen konnte, wurde ihm das Wort abgeschnitten. »Wir machen es so: Ich rufe Sie bei Anbruch der Nacht an und gebe Ihnen bekannt, wo Sie mich treffen können. Allein. Sollte Sie jemand begleiten, weiß ich davon, und Sie hören nie wieder von mir.«
Mr C war es gewöhnt, Verachtung für andere zu empfinden – das brachte seine Betätigung mit sich, bei der er ausschließlich mit miesen Kleinganoven und mittellosen Junkies zu tun hatte. Aber dieser Typ hier an der Strippe war beherrscht. Ruhig.
Ein Profi.
Mr C unterdrückte seinen Zorn. »Ich habe es nicht nötig, mich auf irgendwelche Spielchen einzulassen …«
»Doch, das haben Sie. Denn wenn Sie Drogen zum Verkauf benötigen, kommen Sie nicht um mich herum.«
Mr C verstummte. Das hier war entweder ein größenwahnsinniger Irrer oder … jemand, der wirklich Macht besaß. Zum Beispiel der Typ, der im Laufe des letzten Jahres nach und nach die Mittelsmänner im Drogenhandel von Caldwell getötet hatte.
»Wo und wann?«, fragte er mürrisch.
Ein kehliges Lachen tönte aus dem Handy. »Gehen Sie bei Anbruch der Nacht ans Handy, und Sie finden es heraus.«
2
Layla brauchte eine Weile, um Paynes Worte zu erfassen.
»Nein«, hauchte sie. »Nein, Havers sagte mir … es ließe sich nicht aufhalten.«
»Aus medizinischer Sicht mag das stimmen. Aber ich weiß möglicherweise einen anderen Weg. Ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber wenn du mich lässt, würde ich gern mein Möglichstes versuchen.«
Einen Moment lang konnte Layla nur atmen.
»Ich …« Sie betastete ihren flachen Bauch. »Was wirst du mit mir anstellen?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es auch nicht genau.« Payne zuckte die Schultern. »Tatsächlich wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich dir in deiner Situation helfen könnte. Aber ich habe schon öfters geheilt. Wir könnten es versuchen – und es wird dir nicht schaden. So viel kann ich versprechen.«
Layla erforschte das Gesicht der Kriegerin. »Warum … willst du das für mich tun?«
Paynes Gesicht verdüsterte sich, und ihr Blick schweifte ab. »Meine Gründe müssen dich nicht interessieren.«
»Doch, das müssen sie.«
Jetzt versteinerte sich Paynes Profil. »Die Tyrannei meiner Mutter macht uns zu Schwestern, wir sind beide Opfer ihrer Vorstellung vom großen Weltgefüge. Sie hat uns auf unterschiedliche Weise eingekerkert – dich als Auserwählte, mich als leibliche Tochter. Ich würde alles tun, um dir zu helfen.«
Layla hatte sich noch nie als Opfer der Jungfrau der Schrift betrachtet. Doch als sie jetzt an ihre Sehnsucht nach einer Familie dachte, an das Gefühl, keine Wurzeln zu haben, keine eigenständige Identität jenseits ihrer Dienste als Auserwählte … geriet sie ins Grübeln. Die Willensfreiheit hatte sie in diese missliche Lage gebracht, aber zumindest war es ein selbst gewählter Weg. Als Auserwählter war ihr keine Wahl vergönnt gewesen, zu keinem Aspekt ihres Lebens.
Sie verlor ihr Kind, das war offensichtlich. Und wenn Payne glaubte, dass da eine Möglichkeit bestand …
»Tu, was du für richtig hältst«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Und ganz gleich, wie es ausgeht, ich danke dir.«
Payne nickte. Dann hob sie die Hände und spreizte die Finger. »Darf ich deinen Bauch berühren?«
Layla schob das Laken zurück. »Muss ich mein T-Shirt ausziehen?«
»Nein.«
Umso besser. Denn selbst das Zurückschieben der Decke löste einen erneuten Krampf aus, die Verlagerung dieses Federgewichts reichte, um …
»Solche Schmerzen«, murmelte Payne.
Wortlos legte Layla ihren Bauch frei. Ihr Gesicht sagte offensichtlich genug.
»Entspann dich. Es dürfte eigentlich nicht wehtun.«
Als Payne die Hände auf ihren Unterleib legte, riss Layla den Kopf hoch. Die Berührung war ganz sanft und warm, wie ein Vollbad. Und auch so wohltuend. Wohltuend auf merkwürdige Art, um genau zu sein.
»Tut es weh?«, wollte Payne wissen.
»Nein. Es fühlt sich …« Als der nächste Krampf sich zusammenbraute, umklammerte Layla das Laken und machte sich gefasst auf …
Doch der Schmerz erreichte nicht den Höhepunkt, er stieg an wie ein mächtiger Berg, dem der Gipfel fehlte.
Es war die erste Linderung seit Beginn des Ganzen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Layla den Kopf in die Kissen sinken, und eine plötzliche Mattheit führte ihr vor Augen, wie groß ihr körperliches Unbehagen gewesen war.
»Und jetzt fangen wir an.«
Unvermittelt begann die Lampe gegenüber zu flackern … und erlosch.
Doch bald schon erstrahlte ein neues Licht.
Paynes sanfte Hände begannen schwach zu leuchten, die Wärme ihrer Berührung intensivierte sich, und diese merkwürdige, wundervolle Linderung durchdrang ihre Haut, die Muskeln, alle im Weg befindlichen Knochen … und ergoss sich in ihren Mutterleib.
Dann gab es eine Art Explosion.
Mit einem Fauchen ergab Layla sich dem Kraftstrom, der sie urplötzlich durchflutete, der Hitze, die nicht brannte und doch den Schmerz einkochte und aus ihrem Fleisch löste, bis er entwich wie Dampf aus einem Topf und davongeweht wurde.
Aber es war noch nicht vorüber. Eine immense Euphorie ergriff von ihr Besitz und breitete sich mit goldenen Tentakeln von ihrem Becken her aus, durchdrang ihren Oberkörper, erfasste ihren Geist und ihre Seele, während es in Armen und Beinen kribbelte.
Welch herrliche Erlösung …
Welch unglaubliche Kraft …
Welch Segen …
Doch die Heilung war noch nicht vollendet.
Mitten im Mahlstrom fühlte Layla ein … was war es? Eine Regung in ihrem Schoß. Als würde sich etwas zusammenziehen, aber nicht krampfartig, nein, diesmal nicht. Mehr so, als fände das, was gezaudert hatte, eine belebende Kraft.
Da wurde ihr bewusst, dass ihre Zähne klapperten.
Sie blickte an sich herab und sah, dass sie am ganzen Leib schlotterte. Doch das war noch nicht alles.
Sie leuchtete. Ihre Haut war wie ein Lampenschirm, durchdrungen vom inneren Strahlen ihres Körpers, das selbst durch ihre Kleidung hindurchschien.
Paynes Gesicht wirkte hart in diesem Licht, als würde sie teuer für die Übertragung ihrer wundersamen Heilkraft bezahlen. Und Layla wäre abgerückt, hätte es beendet, wäre es ihr möglich gewesen – denn Payne wirkte schon ganz ausgezehrt. Doch die Verbindung ließ sich nicht unterbrechen, sie hatte keine Kontrolle über ihre Gliedmaßen, konnte nicht einmal mehr sprechen.
Sie schien ewig zu dauern, diese Leben spendende Verbindung zwischen ihnen beiden.
Schließlich riss Payne sich ruckartig los, glitt vom Bett und blieb reglos auf dem Boden liegen.
Layla öffnete den Mund, um zu schreien. Sie wollte nach ihrer Retterin greifen und kämpfte gegen die bleierne Schwere ihres noch immer leuchtenden Körpers an.
Doch sie war machtlos.
Ihr letzter Gedanke vor der Ohnmacht galt der Sorge um den Zustand ihrer Wohltäterin. Und dann wurde es dunkel.
3
Qhuinn erwachte mit einem Ständer.
Er lag auf dem Rücken, und seine Hüften wiegten sich ohne sein Zutun, sodass seine Erektion sich an Daunendecke und Laken rieb. Einen Moment lang verharrte er in diesem halbwachen Dämmerzustand und stellte sich vor, es wäre Blay, der ihn da streichelte, der seine Hand an ihm auf und ab gleiten ließ … als Vorspiel zu Aktivitäten, die den Mund einschlossen.
Erst als er die Finger in dem roten Haarschopf vergraben wollte, wurde ihm bewusst, dass er alleine war: Seine Hände griffen lediglich in das Laken.
Da er die Hoffnung nicht aufgab, streckte er den Arm aus und tastete neben sich im Bett herum, in der Erwartung, auf den warmen Körper des Freundes zu stoßen.
Doch er fand nichts als Laken. Kalte Laken.
»Scheiße«, keuchte er.
Als er die Augen aufschlug, traf ihn die Realität wie ein Fausthieb. Schlagartig sank seine Erektion in sich zusammen.
Obwohl sie zweimal übereinander hergefallen waren, wachte Blay in diesem Moment neben Saxton auf.
Hatte vermutlich Sex mit ihm.
Verflucht, ihm wurde schlecht.
Die Vorstellung, dass Blay einen anderen berührte, einen anderen ritt, einen anderen mit Händen und Zunge befriedigte – seinen verfickten Cousin, um genau zu sein –, war beinahe so unerträglich wie die Sache mit Layla. Denn dank der jüngsten Ereignisse übte Blay nun eine noch viel größere Anziehung auf Qhuinn aus, statt uninteressant geworden zu sein.
Super. Noch so eine freudige Entwicklung.
Völlig antriebslos schleppte Qhuinn sich vom Bett ins Bad. Eigentlich wollte er kein Licht anmachen, wollte nicht sehen, wie beschissen er aussah, aber rasieren rein nach Gefühl wäre auch nicht gerade clever gewesen.
Also betätigte er den Schalter und blinzelte ins Licht, während hinter seinen Augäpfeln ein pochender Schmerz einsetzte. Zweifellos sollte er wieder einmal etwas essen, aber Scheiße, die permanenten Forderungen seines Körpers gingen ihm allmählich auf den Zeiger.
Er ließ das Waschbecken volllaufen, gab einen Klacks Rasiergel in die hohle Hand und verrieb ihn zu Schaum. Dabei dachte er an seinen Cousin. Obwohl er es nicht wusste, hatte er den Verdacht, dass Saxton einen altmodischen Rasierpinsel benutzte, um sich Kinn und Wangen einzuseifen. Und keinen Einwegrasierer. Sicher verwendete er ein Barbiermesser mit Perlmuttgriff.
Qhuinns Vater hatte so eines besessen. Und sein Bruder hatte zur Transition ein eigenes geschenkt bekommen, mit seinen Initialen darauf.
Zusammen mit dem Siegelring.
Tja, schön für die beiden. Doch da sie nun tot waren, rasierten sie sich ohnehin nicht mehr.
Er betupfte sich mit Schaum, bis sein Gesicht aussah wie die verschneite Landschaft draußen, und griff nach dem gewöhnlichen Mach 3 mit Wegwerfkopf …
Unvermittelt überlegte er, dass er diesen vielleicht mal wieder wechseln sollte.
Ja, einen frischen, superscharfen, sauberen.
Qhuinn verdrehte die Augen. Es ging doch nichts darüber, sein Selbstwertgefühl durch drei kleine Klingen und einen Gleitkopf zum Ausdruck zu bringen. Eine verdammt bestechende Logik.
Dennoch fing er an, in den Schubladen unter dem Waschtisch herumzukramen, und stieß dabei auf alle möglichen Badezusätze und Kosmetikprodukte, die er nie benutzte oder auch nur ansah.
Als er die letzte Schublade rauszog, die ganz unten, hielt er inne. Stutzte. Bückte sich.
Da war ein kleines schwarzes Samtkästchen, ähnlich einem Behältnis für Schmuck. Doch er besaß keinen Schmuck, und schon gar nicht von Reinhardt, diesem stinkteuren Laden in der Stadt. Da aber sonst niemand in diesem Zimmer wohnte, fragte er sich, ob das Kästchen vielleicht bereits vor seinem Einzug hier gelegen und er es nur nie wahrgenommen hatte.
Er holte das Schächtelchen raus, klappte den Deckel auf und …
»Ach, sieh mal einer an.«
Darin lagen die stahlgrauen Ohrringe und der Hufeisenstecker, den er früher immer in der Unterlippe getragen hatte, als handelte es sich um kostbare Stücke.
Fritz musste sie bei einer nächtlichen Putzaktion aufgesammelt und in dieses Kästchen gelegt haben. Anders konnte Qhuinn es sich nicht erklären – denn er hatte sich ganz gewiss nicht mehr darum gekümmert, seit er sie nach und nach rausgenommen hatte. Er hatte sie einfach ganz hinten in das Badezimmerschränkchen geworfen.
Qhuinn betastete die stählernen Stecker und erinnerte sich, wie er sie gekauft und angelegt hatte. Sein Vater war entsetzt gewesen, seine Mutter auch – sie war vom Letzten Mahl aufgestanden und hatte sich für vierundzwanzig Stunden in ihre Privatgemächer zurückgezogen, nachdem er mit den Dingern im Esszimmer eingelaufen war.
Im Piercingstudio hatte man ihm gesagt, dass er warten solle und die frisch gestochenen Löcher erst heilen müssten, ehe er die medizinischen Stecker gegen die anderen austauschte. Doch dieser Rat mochte für Menschen gelten. Bei ihm war nach ein paar Stunden alles verheilt, und er hatte seine eigenen Stecker eingesetzt.
Bei Blay auf dem Klo, um genau zu sein.
Qhuinn zog die Stirn in Falten und erinnerte sich an den Moment, als er aus der Toilette ins Schlafzimmer seines Kumpels getreten war. Blay hatte mit einem Corona auf dem Bett gesessen und ferngesehen. Er hatte sich nach ihm umgeschaut, und sein Ausdruck war offen und gelöst gewesen – bis er Qhuinn sah.
Da hatte seine Miene sich unmerklich verhärtet. So dezent, dass es nur jemandem auffallen konnte, der ihn wirklich sehr gut kannte. Aber Qhuinn war es nicht entgangen.
Damals hatte er geglaubt, dass dieser Goth-Look vielleicht eine Spur zu krass für seinen konservativen Freund war. Doch als er jetzt an diese Szene zurückdachte, erinnerte er sich an ein weiteres Detail: Blay hatte sich wieder dem Fernseher zugewandt … und sich beiläufig ein Kissen in den Schoß gestopft.
Er musste hart geworden sein.
Als Qhuinn sich dies vergegenwärtigte, schwoll auch sein Schwanz aufs Neue an.
Doch das war reine Zeitverschwendung.
Er starrte die verdammten Ohrringe an und dachte an seine Rebellion und die Wut und die verkorksten Vorstellungen, was ihm zu einem glücklichen Leben fehlte.
Eine Vampirin. Wenn er eine fand, die ihn akzeptierte.
Er hatte sich etwas vorgemacht.
Schon komisch. Feigheit gab es in allen erdenklichen Ausformungen. Man musste nicht bibbernd in der Ecke kauern wie ein Jammerlappen. O nein. Man konnte ein vorlauter Muskelprotz sein, der einen auf harten Kerl machte, das Gesicht voller Piercings, und der Welt mit einem abfälligen Lächeln entgegentreten … und trotzdem nichts als ein erbärmlicher Feigling sein. Denn Saxton mochte zwar Dreiteiler mit Krawatten und Loafers tragen, er stand aber dennoch zu dem, was er war, und hatte keine Angst, sich zu nehmen, was er wollte.
Prompt wachte er zusammen mit Blay im Bett auf.
Qhuinn schloss das Kästchen und steckte es zurück in die Schublade. Dann sah er in den Spiegel. Was wollte er gleich wieder hier?, fragte er sich und betrachtete sein Gesicht.
Ach ja. Rasieren.
Das war’s.
Ungefähr zwanzig Minuten später verließ Qhuinn sein Zimmer. Er ging den Flur mit den Statuen runter, vorbei an der geschlossenen Tür von Wrath’ Arbeitszimmer und weiter.
Es war unmöglich, in den Salon im ersten Stock zu schauen und nicht an den unglaublichen Sex mit Blay vor nur wenigen Stunden zu denken. Besonders schwer fiel es ihm, cool zu bleiben, als das Sofa in Sicht kam.
Er würde dieses Möbelstück nie mehr mit den gleichen Augen sehen können. Scheiße, vielleicht waren alle Sitzgarnituren für ihn verdorben, auf ewig.
Vor Laylas Zimmer blieb er stehen und legte das Ohr an die Kassettentür. Nichts zu hören, doch er fragte sich, was er eigentlich glaubte, auf diese Weise herauszufinden.
Er klopfte leise. Als keine Antwort kam, schnürte ihm eine plötzliche, irrationale Angst die Kehle zu, und er stieß die Tür auf.
Licht strömte in die Dunkelheit.
Sein erster Gedanke war, dass sie tot war, dass dieser Penner von Havers gelogen hatte und sie an den Folgen des Schwangerschaftsverlusts gestorben war: Layla lag reglos in den Kissen, den Mund leicht geöffnet, die Hände über der Brust gefaltet, wie von einem Bestattungsunternehmer arrangiert, der Respekt für seine Toten hatte.
Doch … etwas hatte sich geändert, und es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, was es war.
Der penetrante Geruch von Blut war fort. Genau genommen lag nur ihr feiner Zimtduft in der Luft und erfrischte es auf eine Art, dass das ganze Zimmer heller wirkte.
War der Schwangerschaftsabbruch endlich überstanden?
»Layla?«, sagte er, obwohl er versprochen hatte, sie nicht zu wecken, wenn sie schlief.
Erleichtert sah er, wie ihre Brauen zuckten, als ihr Unterbewusstsein ihren Namen selbst im Schlaf registrierte.
Er hatte den Eindruck, dass sie aufwachen würde, wenn er sie noch einmal rief.
Doch es erschien ihm grausam, sie aus dem Schlaf zu reißen. Denn was erwartete sie beim Erwachen? Schmerzen? Ein Gefühl des Verlustes?
Vergiss es.
Qhuinn zog sich leise zurück, schloss die Tür und stand einfach nur da. Er wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. Wrath hatte ihm gesagt, er solle zu Hause bleiben, selbst wenn John Matthew das Haus verließ – was vermutlich eine Art Sonderurlaub von seinen Ahstrux-nohtrum-Pflichten aufgrund von Laylas Zustand war. Und er war froh darüber. Er konnte so gut wie nichts für Layla tun – auf diese Weise war er wenigstens in ihrer Nähe, für den Fall, dass sie irgendetwas brauchte. Etwas zu trinken. Aspirin. Eine Schulter, an der sie sich ausheulen konnte.
Das ist dein Werk, klangen ihm die Worte von Phury im Kopf.
Dem Uhrenschlag aus diesem gottverlassenen Salon nach zu schließen, hatte er wohl das Erste Mahl verpasst. Neun Uhr. Ja, er hatte es verschlafen, und das war nur gut so. Eine Dreiviertelstunde an der Tafel zu sitzen, in Gesellschaft von zwei Dutzend Hausbewohnern, die sich bemühten, ihn nicht anzustarren, hätte ihn vermutlich in den Wahnsinn getrieben.
Jemand lief unten durch die Eingangshalle, und er hob den Kopf.
Ohne groß darüber nachzudenken, ging er zur Balustrade und sah hinab.
Payne, Vs knallharte Schwester, kam aus dem Esszimmer.
Er kannte sie nicht sonderlich gut, hatte aber einen Höllenrespekt vor ihr. Kein Wunder, so wie sie sich im Einsatz schlug … tough, supertough. Doch im Moment sah Dr. Manellos Shellan aus, als hätte man sie in einer Kneipe vermöbelt: Sie schlurfte in gebeugter Haltung über das Bodenmosaik, am Arm ihres Hellren, der alles zu sein schien, was sie noch aufrecht hielt.
War sie in einen Kampf geraten?
Er roch kein Blut.
Dr. Manello sagte etwas zu ihr, das nicht bis zu Qhuinn drang, doch dann nickte er in Richtung Billardzimmer – als würde er vorschlagen, dorthin zu gehen.
Sie bewegten sich im Schneckentempo darauf zu.
Da er niemanden sehen wollte, trat Qhuinn vom Geländer zurück und wartete, bis die Luft wieder rein war. Dann joggte er die große Freitreppe hinunter.
Essen. Training. Noch einmal nach Layla sehen.
Das war sein Programm für die Nacht.
Er ging Richtung Küche und ertappte sich bei dem Gedanken, wo Blay stecken mochte. Was er wohl gerade tat. Ob er draußen war und kämpfte oder heute frei hatte und …
Weil er aber nicht wusste, wo Saxton sich aufhielt, führte er diese Überlegung nicht weiter.
Denn hätte Qhuinn die Möglichkeit gehabt, sich mit Blay zurückzuziehen, hätte er genau gewusst, was er tun würde.
Und Saxton, sein nervtötender Cousin, war kein Idiot.